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Leseprobe

Rügenträume und Strandgeflüster

Inselträume 2

Evelyn Kühne

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1

 

 

Mit forschendem Blick durchstöberte Emma die Erdbeerschüssel vor sich und pickte schließlich ein besonders schön anzusehendes Exemplar heraus. Sorgfältig und mit ruhiger Hand platzierte sie die Frucht neben den beiden bereits arrangierten. Dann trat sie einen Schritt zurück und betrachtete aus der Ferne ihr Werk. Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Dieser Erdbeercheesecake war ihr wirklich hervorragend gelungen. Die weiße Vollmilchganache auf seiner Oberfläche schimmerte wie frisch gefallener Schnee. Und die Kombination mit den roten Beeren erinnerte sie einen winzigen Moment an die Einleitung aus Schneewittchen: ›Weiß wie Schnee und rot wie Blut.‹ Das Farbspiel war wieder einmal perfekt geraten und der Geschmack sowieso. Das wusste sie schon jetzt.

Emma wischte ihre Hände an der Schürze ab, nahm ihr Handy vom Fensterbrett und schoss einige Bilder. Diese würde sie später auf ihrer Instagram-Seite platzieren. Sie wusste, ihre Fanschar wurde immer größer, und die Menschen warteten jeden Tag auf neue Fotos.

Bevor die Torte morgen ihren Weg Richtung Café antreten würde, wanderte sie zunächst einmal in den großen neuen Kühlschrank in ihrer Speisekammer und zu den dort bereits wartenden Kameraden. Auf dem Holzbrett gleich daneben standen noch zwei weitere Kuchen. Emmas berühmter Quarkkuchen nach dem Rezept ihrer Urgroßmutter Hanni und ein einfacher Pflaumenkuchen, der es in sich hatte. Genauer gesagt eine reichliche Menge Alkohol, die für den perfekten Geschmack sorgte. Für morgen war genug getan, diese Kuchen mussten reichen.

Als Emma vor anderthalb Jahren, aus einer dringenden finanziellen Notlage heraus, ihrer Schwester Hanna den Vorschlag gemacht hatte, ein Café als zusätzliche Einnahmequelle zur Pension Strandkieker zu eröffnen, hätte sie niemals mit diesem durchschlagenden Erfolg gerechnet. Die Leute rannten ihr im wahrsten Sinne des Wortes die Bude ein. Was aus einer Laune begonnen hatte, war inzwischen eine feste Institution in Glowe geworden. Das hatte anfangs nicht allen gefallen, und mancher fürchtete die Konkurrenz der Hobbybäckerin mit ihren verrückten Kreationen, doch inzwischen hatten sich die Gemüter weitestgehend beruhigt.

Die Idee war gewesen, den tagsüber leerstehenden Frühstücksraum ihrer Pension zu nutzen. Die war das Kerngeschäft des alten Hauses am Meer. Doch etwas in die Jahre gekommen und unmodern geworden, waren irgendwann die Buchungen ausgeblieben. Jahrelang hatte ihre Schwester Hanna sich mit vielen Sorgen allein herumschlagen müssen. Denn Emma war beruflich, als Gästemanagerin einer großen Hotelkette, in der ganzen Welt unterwegs gewesen. Erst als Vater Wilhelm einen Schlaganfall erlitten hatte, war sie zurückgekommen und auf Rügen geblieben. Zu groß waren die Sorgen gewesen, die auf ihrer Schwester gelastet hatten. Nach anfänglichen Problemen hatten sich die beiden ungleichen Zwillinge zusammengerauft und gemeinsam die Wende im Strandkieker eingeleitet.

Doch dann hatte Hanna endlich die Liebe ihres Lebens gefunden, und Emma war es gewesen, die sie beschworen hatte, ihrem Glück zu folgen. Seitdem hatte sie das Ruder hier fest in der Hand. Dank kleinerer, aber wirkungsvoller Modernisierungen, einem knallharten Sparkurs und steigender Einnahmen ging es allmählich aufwärts im Strandkieker. Und das stimmte nicht nur die beiden Schwestern froh, sondern auch deren Eltern.

Dieses Stück Land am Meer, bebaut mit der Pension und ihrem Elternhaus, war schon seit langen Zeiten in Familienbesitz. Ihr Urgroßvater hatte den Strandkieker damals neben dem Hauptgebäude errichtet, als Gästehaus für reichere Städter, die eine Auszeit am Meer brauchten. Seitdem standen die beiden Reetdachhäuser wie Geschwister nebeneinander, und jede Generation hatte ihnen ihren ganz eigenen Stempel aufgedrückt. Und auch sie hatte das getan und eine weitere Wendung Richtung Moderne vollzogen.

 

Emma kehrte in die Küche zurück und verstaute alle Backmaterialien in den entsprechenden Schränken. Nebenbei schaute sie aus dem Fenster. Einige Tische des Cafés Strandkieker waren noch immer besetzt. Ihr Blick schweifte zur Uhr. Es war schon nach sieben. Für gewöhnlich schlossen sie um sechs. Aber wer wollte es den Gästen schon verdenken, dass sie ein wenig länger sitzen blieben und die tolle Aussicht auf Strand und Meer genossen. Noch dazu, da Emma kuschelige Decken bereitgelegt hatte, die an kühlen Abenden Wärme spendeten.

Als Letztes bestückte sie den Geschirrspüler und drückte auf die Start-Taste. Ein beruhigendes Brummen ertönte. Einen Moment blieb Emma stehen, presste die Faust ans untere Ende ihrer Wirbelsäule und massierte einen imaginären Punkt. Der stechende Schmerz ließ langsam nach. Was hatte die Physiotherapeutin gleich nochmal zu ihr gesagt? ›Machen Sie täglich Ihre Übungen! Sonst wird es immer schlimmer.‹

Doch dafür war meist keine Zeit. Zeit, das war einer der Faktoren, der Emma am meisten Probleme bereitete. Manchmal wünschte sie sich, ihr Tag hätte achtundvierzig Stunden. Denn so viel war zu tun.

Da war die Pension, in der Frühstück zubereitet und Zimmer gereinigt werden mussten. Dazwischen kam so mancher kleine Schwatz mit den Gästen, der einfach dazugehörte.

Dann war da das Café, für das Kuchen gebacken und Besorgungen gemacht werden mussten. Seit die Temperaturen stiegen und die Tage lauer wurden, konnten die Gäste nicht nur im Inneren sitzen, sondern Emma hatte den Sommergarten mit ein paar zusätzlichen Tischen eröffnet. Diese standen neben dem alten Haus auf einer gepflasterten Fläche, die mit Blumentöpfen, Strandholz und Steinen rustikal geschmückt war. Doch mehr Tische bedeuteten natürlich mehr Arbeit.

Zwar hatte sie inzwischen Personal eingestellt, doch Emma hielt es mit den Worten ihres Vaters: ›Der Chef muss alles im Blick haben, dafür ist er der Chef.‹ Und dabei wusste sie, dass sie sich auf ihre Mitarbeiter blind verlassen konnte.

Dann waren da noch ihre Eltern, die seit dem Schlaganfall von Vater Wilhelm in einer kleinen Wohnung in Bergen lebten. Hatte Emma am Anfang befürchtet, dass ihr Vater dort niemals heimisch werden würde, durfte sie inzwischen feststellen, dass ihre Eltern sich sehr wohlfühlten. Sie hatten Nachbarn, mit denen man einen Schwatz halten konnte, und das Gebiet um den Rugard, was zu Spaziergängen einlud. Von Zeit zu Zeit schauten sie im Strandkieker vorbei und hatten sogar zweimal wieder in ihrem ehemaligen Schlafzimmer, was jetzt ein Gästezimmer war, übernachtet. Auch Vater Wilhelms Alzheimererkrankung schien ein wenig zum Stillstand gekommen zu sein, doch diese Einschätzung konnte täuschen. Schließlich sah Emma ihren Vater nur ab und zu, und ihre Mutter wollte sie nicht noch zusätzlich mit weiteren Sorgen belasten und hielt so manche Dinge bestimmt von ihr fern.

Und so schleppte Emma ein schlechtes Gewissen mit sich herum, denn sie besuchte ihre Eltern viel zu selten. Vorn, neben der Küchentür hing ihre To-do-Liste, und darauf standen ganz oben Fahrten nach Bergen und regelmäßige Telefonate mit Schwester Hanna. Dann stellte Emma fest, dass wieder eine Woche vergangen war, während der sie nichts von beidem geschafft hatte. Da war das Gefühl, sich zerteilen zu müssen, und sosehr sie ihre neue Aufgabe liebte, gab es Momente, in denen Emma sich nach Australien zurückwünschte.

Abends lag sie manchmal in ihrem Bett und starrte das leere Kissen auf der anderen Seite an, auf dem nur ihr Kuschelbär lag. Ein Kuschelbär war kein Typ, und sie sehnte sich nach einem Typen. Doch vor einiger Zeit hatte Emma eine Entscheidung getroffen.

Männer konnten ihr den Buckel runterrutschen und waren maximal für eine heiße Nacht ohne die geringsten Verbindlichkeiten und für Frühstück am nächsten Morgen gut. Diesen Plan zog Emma durch, denn er war purer Selbstschutz. Nie wieder wollte sie so verletzt werden wie in ihrer letzten Beziehung. Und so hatte es den einen oder anderen One-Night-Stand gegeben. Es waren oberflächliche Geschichten gewesen, die sich verflüchtigt hatten wie eine Wolke auf dem Weg nach Hiddensee.

Doch auch diese kleinen Abenteuer hatte sie vor einiger Zeit eingestellt. Kein Wunder, wo sollte sie einen Typen kennenlernen, zwischen Kuchen backen und Zimmer putzen? Emma redete sich mantramäßig ein, bestens allein klarzukommen. Und so bewachte seit einigen Monaten nur noch Teddybär ihren Schlaf.

 

Seufzend machte Emma sich auf den Weg quer über den Hof zur Pension. Sie betrat die kleine Küche des Cafés und stieß als Erstes auf ihre Mitarbeiterin Fine. Fine war ihr größtes Glück, und sie gratulierte sich jeden Tag zu der Entscheidung, der jungen Frau, die sich damals ohne Zeugnisse bei ihr vorgestellt hatte, eine Chance gegeben zu haben.

Denn Fine war ein Goldstück, das hatten inzwischen sogar ihre Eltern eingesehen. Die waren anfangs von der jungen Kellnerin mit den bunten Haaren und den vielen Ringen in Nase, Ohren und Augenbrauen nicht gerade begeistert gewesen. Der Norm, wenn es denn eine gab, entsprach Fine nicht. Im Gegenteil, sie war jung, flippig und ziemlich verrückt. Unzählige Ausbildungen hatte sie begonnen und nach kurzer Zeit wieder abgebrochen. Durch irgendeinen Typen war sie damals hier auf Rügen gestrandet und hatte einen Job für den Sommer gesucht.

Bei ihrer ersten Begegnung hatte Emma geglaubt, irgendetwas in ihren Augen wahrzunehmen, und ihr Gespür hatte sie nicht getäuscht. Denn hinter dem schrillen Aussehen steckte eine fleißige, freundliche Frau, die mit den Gästen, egal wie alt, super umgehen konnte. Und die trotz einiger Pfunde zu viel erstaunlich beweglich und sportlich war und eine bessere Kondition besaß als Emma.

Inzwischen war Fine zu Emmas engster Bezugsperson geworden. Eigentlich waren sie mittlerweile Freundinnen und verstanden sich blind. Viele kleine und große Sorgen hatten sie sich in den letzten Monaten gegenseitig anvertraut.

Am besten aber war, dass Fine fast immer einen Rat wusste. Dieser war manchmal ein wenig naiv und ziemlich verrückt, doch Emma hatte einige dieser Ideen umgesetzt, und sie funktionierten erstaunlich gut.

»Einfach raushauen und nicht lange überlegen«, sagte Fine immer, und bei Emma war sie damit genau an der richtigen Adresse.

»Na, fertig mit deinen Torten?«, fragte Fine.

»Ja, die Torten sind fertig«, antwortete Emma und warf einen Blick in den Garten. Immer noch war ein Tisch besetzt. Roter Wein schimmerte darauf im Schein der Kerzen.

»Ich hab die letzten Gäste gerade ganz charmant abkassiert und darauf hingewiesen, dass wir eigentlich schon lange geschlossen haben, sie aber bei ihrem Glas Wein nicht stören wollen. Daraufhin haben sie sich überschwänglich bedankt und versprochen, am letzten Urlaubstag wiederzukommen.«

»Gut gemacht. Und wie war der Tag sonst so?«

Fine deutete mit ihrem Kopf Richtung Tisch.

»Einfach super. Auch heute waren wieder Leute da, die dich von Instagram kennen. Wir bräuchten einfach mehr Platz oder zumindest bald eine Security, die dafür sorgt, dass sich eine ordnungsgemäße Schlange bildet.«

Augenblicklich hob Emma abwehrend die Hände.

»Bloß nicht mehr Platz, dann schaffe ich ja gar nichts mehr. Lass mal, so wie es ist, so ist es gut.«

»Vielleicht hast du recht. Egal, lass uns den Frühstücksraum für morgen fertig machen. Immerhin wollen wir beide dann noch runter zum Strand.«

Emma runzelte die Stirn.

»Zum Strand? Was wollen wir am Strand? Ich will nur noch in mein Bett und schlafen, schlafen, schlafen.« Dann fiel ihr es ihr ein. Heute sollte die erste Strandparty des Jahres stattfinden, und Emma hatte sich vorgenommen, wenigstens einmal den Tag anders ausklingen zu lassen als in ihrer Backküche oder über ihren Büchern. »Ach ja, die Fete.« Unsicher schaute sie durch die Fenster des Frühstücksraums Richtung Strand. »Ich glaube, ich komm nicht mit. Ich bin eh so müde, dass ich vermutlich auf der Stelle einpenne.«

Fine stemmte ihre Hände in die Hüften. Dadurch schob sich ihre Brust nach vorn und drohte beinahe das dunkle, mit glitzernden Strasssteinen besetzte Shirt zu sprengen. Mit ernstem Gesichtsausdruck blickte sie Emma an.

»Natürlich kommst du mit. Endlich ist mal was los in diesem Kaff, ähm, sorry, und du willst dich ins Bett legen. Das könnte dir so passen. Außerdem kommt Arne auch.«

»Ach Arne, was soll das schon heißen.«

Arne Dörner war ein bärtiger Surfer, den Emma kurz nach ihrer Ankunft in Glowe kennengelernt hatte. Durch Zufall waren sie ins Gespräch gekommen, und sie hatte erfahren, dass er als Surflehrer auf der Insel arbeitete, doch im Stillen von einem Segelboot träumte. Einst hatte er wohl eines besessen, doch es durch irgendwelche Umstände verkaufen müssen. Während ihrer Unterhaltung waren seine Blicke über ein Segelboot gewandert, das im Hafen gelegen hatte, genau vor ihrer Nase. Dass dieses Boot Emmas Familie gehörte, war ein reiner Zufall gewesen.

Segelboot Trude befand sich schon lange in Familienbesitz, und früher waren sie mit ihren Eltern manchmal rausgefahren. Leider viel zu selten, da die Pension immer an erster Stelle gestanden hatte. Als es Vater Wilhelm zunehmend schlechter gegangen war, hatte Trude schließlich nur noch im Hafen gelegen und war nach und nach verfallen. Erst gute Freunde von Hanna hatten das Boot als Überraschung für sie wieder flottgemacht.

Und dann, eines Tages, war Emma eine Idee gekommen. Wie es denn wäre, wenn man die gute alte Trude vermietete, an eigene Gäste oder andere Urlauber. Dafür brauchten sie natürlich einen Kapitän und einen Mann, der sich um das Boot kümmerte. Diese Stelle hatte seitdem Arne Dörner inne. Er hegte und pflegte Trude, als wäre sie sein Eigentum, und war mit ihr beinahe jeden Tag auf der Ostsee unterwegs.

Arne war ein attraktiver Mann, groß, sportlich, mit einem adretten Vollbart und ostseeblauen Augen. Wann immer sie sich begegneten, begrüßte er Emma mit einem breiten Lachen. Sie glaubte darin eine gewisse Begeisterung für ihre Person zu spüren, aber das konnte auch täuschen. Denn Arne konnte gut mit anderen Menschen umgehen, war offen und charmant. Immerhin war es sein Job, die Gäste zu unterhalten. Und als Surflehrer hatte er natürlich ein ganz besonderes Faible für jüngere Damen, die er mit seinem Grinsen bezaubern konnte.

Emma fand ihn attraktiv, sogar sehr attraktiv. Manchmal ertappte sie sich, wie sie seine Lippen musterte und dabei ein Ziehen in ihrer Magengegend spürte. Auch Fine hatte sie schon auf diese flirrende Energie zwischen ihnen angesprochen.

Jedes Mal wenn sich dieses seltsame Gefühl in ihren Bauch schlich, kniff sie sich in den Unterarm, und der kurze Zauber verschwand. Es stimmte, Arne war ein interessanter Mann, und Emma konnte sich mit ihm durchaus mehr vorstellen. Doch gleichzeitig war sie auch seine Arbeitgeberin, und somit fielen jegliche Annäherungen schon mal aus.

»Was das heißen soll, fragst du?« Fine schaute sie irritiert an. »Arne war vorhin, als du gebacken hast, extra noch mal hier, um sich zu erkundigen, ob du auch wirklich kommst. Ich konnte ihn nur mit großer Mühe davon abhalten, dich in deiner Backstube zu besuchen oder dich gleich persönlich abzuholen.«

Emma lachte laut auf.

»Du lügst. Arne war nur da, um die Tourdaten für morgen zu checken. Er hat nämlich einen Törn mit Gästen.«

Fines Miene war die Unschuld in Person.

»Stimmt, und dabei hat er sich erkundigt, ob du heute Abend kommst. Und seine Augen haben geleuchtet wie bei einem Vierjährigen am Weihnachtsabend. Emma, nun los. Wir decken gemeinsam den Frühstücksraum ein, dann schmeißen wir uns in Schale und machen Party. Und wenn es nur für eine Stunde ist. Einfach mal wieder tanzen, einen trinken und neue Leute kennenlernen. Und vielleicht auch ein Tänzchen mit Arne wagen. Wie er mir verraten hat, soll er sehr gut tanzen. Gib dir einen Ruck, sonst wirst du deiner Schwester Hanna immer ähnlicher.«

Augenblicklich wollte Emma protestieren. Sie und Hanna, das war wie Feuer und Wasser. Die beiden Schwestern konnten unterschiedlicher nicht sein. Hanna, die eher Stille, die meist nachgab und zurücksteckte. Sie dagegen, durchsetzungsfähig, mit dem festen Willen, alles durchzuziehen, was sie angefangen hatte, und mit einer Sturheit, gegen die schwer anzukommen war.

Doch dann wurde Emma klar, dass an Fines Worten etwas Wahres war. Denn die Schwestern hatten sich verändert. Die stille Hanna war selbstbewusster geworden und lebte ihr Leben. Und Emma stellte bei sich in letzter Zeit zunehmend weichere Züge fest, die sie früher nie besessen hatte. Jahrelang hatte sie sich über Hannas kleine Welt aufgeregt, und nun drohte sie selbst in so einem Minikosmos zu hocken und nur noch behutsam über den eigenen Tellerrand zu schielen.

»Also gut, lass uns anfangen, ich komme mit«, meinte Emma seufzend. »Vielleicht wäre es wirklich schön, das Tanzbein mal wieder zu schwingen. Es muss ja nicht unbedingt mit Arne sein.«

»Da ist sie doch endlich, die alte Emma.« Fine grinste und machte sich an die Arbeit.

Beide Frauen waren ein eingespieltes Team, ihre Handgriffe saßen, und es brauchte keine großen Erklärungen und Absprachen. Jede wusste, was sie zu tun hatte. Und schon eine Viertelstunde später waren die Tische der Pension einladend gedeckt und bereit für die hungrigen Frühstücksgäste am nächsten Morgen.

 

2

 

 

Tief zog Emma die frische Seeluft in ihre Lungen, während sie an der Seite von Fine die Partylocation ansteuerte. Es war ein milder Abend, der erste in diesem Jahr, obwohl es schon Anfang Juni war. Deswegen hatte sie eine leichte Strickjacke nur lose um ihre Schultern geschlungen. Ein letzter Lichtschein lag über der Ostsee. Er schimmerte blutrot und erinnerte an den tollen Sonnenuntergang von gerade eben. Unten am Strand vernahm Emma leise Gespräche, Lachen. Vor einigen Wochen hatten die Verantwortlichen die Strandkörbe aufgestellt. Und auch ihre fünf Exemplare standen jetzt unterhalb der Pension und warteten an jedem Morgen auf die Gäste des Hauses. Einen Moment schaute Emma Richtung Strand und widerstand nur mühevoll dem Wunsch, zurückzugehen, den Schlüssel zu holen, sich in einen der Strandkörbe zu setzen und einfach nur still aufs Wasser zu schauen.

»Emma, kommst du?«, ertönte von der Ferne Fines Stimme. Ihre Freundin war stehen geblieben und sah ungeduldig in ihre Richtung. Entschlossen kam sie zurück, nahm Emmas Arm und hakte sie ein. »Nur zur Sicherheit. Nicht dass du mir noch die Flucht ergreifst und dich heimlich nach Hause schleichst.«

Emma stöhnte innerlich nur leise. Manchmal erschien es ihr, als könnte Fine in ihren Kopf blicken. Denn so ähnliche Gedanken waren ihr gerade tatsächlich gekommen.

Schon von hier aus bemerkte Emma die bunten Lichtergirlanden schimmern, die den Platz neben der Glower Ostseeperle erhellten. Dieser wurde tagsüber als Parkplatz genutzt. Doch für diese Nacht wurde er zur Partylocation.

Je näher sie kamen, umso mehr Menschen erspähte Emma. Die Fete war gut besucht. Im vorigen Jahr hatte der Besitzer der Ostseeperle einfach mal einen Versuchsballon gestartet und eine Tanzveranstaltung unter freiem Himmel anberaumt. Tanz am Strand und unter den Sternen, so ähnlich war das Motto gewesen. Viele hatten ihn belächelt. Emma nicht, denn auch mit ihrem Strandcafé war sie andere Wege gegangen.

Die erste Party war wie eine Bombe eingeschlagen, und bis Saisonende waren es vier Veranstaltungen geworden.

Und so war es nur konsequent, dass man dieses Event auch im neuen Jahr fortführte. Dabei war es keine krachende Party, die bis in die frühen Morgenstunden ging und mit ihrem Beat den halben Ort erschütterte. Nein, gegen Mitternacht erlosch das Licht, die Musik verstummte, und Glowe versank wieder in Stille.

Doch heute hatte man unter den Kiefern Strandkörbe und Liegestühle aufgestellt. Eine einfache Bar, aus Paletten gebaut, diente dem leiblichen Wohl, und an einer Bude gab es gegrillte Steaks und Würste. Überall leuchteten bunte an den Bäumen befestigte Lichterketten und schwangen in einer leichten auflandigen Brise hin und her. Es war eine durchaus malerische Location und entbehrte nicht einer gewissen Romantik. Denn nicht weit entfernt rauschte das Meer, und einen Moment fühlte Emma sich in ihre Zeit in Australien zurückversetzt. Sie musste nur in ihrer Fantasie die alten knorrigen Kiefern in schwankende, mit ihren Wedeln raschelnde Palmen umwandeln.

Noch war die Tanzfläche leer. Die meisten Besucher standen am Rand, nippten an ihren Gläsern, unterhielten sich oder musterten die anderen Gäste. Es war eine bunte Mischung aus Einheimischen und Urlaubern – genauso, wie es geplant gewesen war.

Gleich nach ihrem Eintreffen wurde Emma von verschiedenen Bekannten begrüßt.

Da gab es ein »Hallo, schön dich zu sehen« oder ein »Mensch, sehen wir uns endlich auch mal wieder«.

Emma grüßte zurück und wollte gerade das Wort an Fine richten, als sie bemerkte, dass ihre Freundin verschwunden war. Kein Wunder, hatte sie doch Emma sicher an der Location abgeliefert.

Hier in Glowe kannte man sich und wusste übereinander Bescheid. Manchmal mehr als es einem selber lieb war. Und so schlenderte Emma zwischen den anwesenden Gästen hindurch, wechselte hier und da ein Wort und arbeitete sich langsam zur Bar vor. Mittlerweile kam sie mit den meisten Bewohnern des Ortes gut klar. Am Anfang war das anders gewesen. Viele hatten in ihr die arrogante Zicke gesehen, die sich lange Zeit kein bisschen um die Pension geschert hatte und nun urplötzlich nach Hause zurückgekommen war. Die Sympathien hatten damals eindeutig ihrer Schwester Hanna gegolten.

Doch je länger Emma geblieben war und je mehr Verantwortung sie übernommen hatte, umso mehr Kontakte hatten sich ergeben. Das hatte vielleicht auch an ihrem Verhalten und Aussehen gelegen, welches sich im Laufe der Zeit geändert hatte. Das früher unabdingbare starke Make-up wurde immer mehr reduziert und bequeme Sachen angeschafft. Inzwischen radelte Emma sogar jeden Morgen zu Bäcker Arndt, gesellte sich zu den anderen in die lange Schlange, plauderte und holte die Brötchenbestellung für die Pension ab. Sie war nicht mehr die, die in Australien ein Luxusressort geleitet hatte. Sie war wieder Emma, eine von ihnen, ein Ostseekind.

Geduldig stellte sie sich in die Reihe an der Bar und gönnte sich in der Zwischenzeit einen kleinen Schwatz mit einer Nachbarin. Es waren diese immer gleichen Gespräche: Ob das Wetter hielt, wie der Sommer werden würde und wie es denn ihren Eltern so ging. Ein paarmal schaute sie sich nach Fine um. Doch von ihrer Freundin gab es nicht die geringste Spur. Minuten später war Emma an der Reihe und musterte die Getränkekarte, die aus einem einfachen Holzbrett bestand und mit bunter Schrift beschrieben war.

»Na, was soll`s denn sein, schöne Frau?«, fragte der Typ hinter der Bar und grinste sie an. Emma hatte ihn noch nie vorher gesehen. Er gehörte definitiv nicht zum Stammpersonal der Ostseeperle.

Unschlüssig ließ sie ihre Blicke über das Cocktailangebot streifen.

»Ich glaube, ich nehme einen Ipanema«, meinte Emma spontan.

»Einen Ipanema?« Ein ungläubiger Blick traf sie. Mit seinen dunklen Locken, den knallbunten Shorts und dem weißen Shirt wirkte er wie ein waschechter Karibianer. »Ein Ipanema ist ohne Alkohol«, erklärte er grinsend. »Darf ich stattdessen meine absolute Spezialität empfehlen? Ein Geheimtipp, der nicht mal auf der Karte steht?« Mit blitzenden Augen sah er sie an. »Dieser Cocktail vermittelt dir das unglaubliche Gefühl, tief im Süden zu sein. Sterne, Palmen, heiße Nächte, ein Drink nur für die allerschönsten Frauen.«

Ohne dass Emma es verhindern konnte, musste sie lächeln. Der Typ war süß, vermutlich zehn Jahre jünger als sie und durchaus geschäftstüchtig. Er flirtete, auf eine charmante und alles andere als unangenehme Art.

»Wirklich?« Emma klapperte mit den Wimpern und befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge. »Hm, das klingt verführerisch.« Amüsiert beobachtete sie den leichten Triumph in seinen dunklen Augen. »Aber ich bleibe bei einem Ipanema. Mir reicht vollkommen das Gefühl, an der Ostsee zu sein.«

»Was soll man dazu sagen?« Der Barkeeper seufzte tief und machte sich ans Werk. In rasender Geschwindigkeit füllte er die entsprechenden Zutaten in seinen Shaker und vollführte dann einige rhythmische Bewegungen, die seinen ganzen Körper tanzen ließen. Eine Minute später schob er den fertigen Drink über den Tresen. »Und falls du es dir doch anders überlegst, du weißt, wo du mich findest.« Mit diesen Worten wandte er sich der nächsten Wartenden zu, und das Spiel begann von Neuem.

Emma schnappte sich ihr Glas und begab sich absichtlich in den Schatten einer Kiefer zurück. Von diesem Platz hatte sie alles gut im Blick. Vorsichtig zog sie an dem blauen Strohhalm, worauf die eiskalte Flüssigkeit durch ihre Kehle rann. Der Ipanema schmeckte hervorragend, das musste man dem jungen Mann lassen. Er hatte genau die richtige Mischung aus Rohrzucker, Ginger Ale, Fruchtsaft und Limetten getroffen. Emma konnte das beurteilen, denn während ihrer Reise um die Welt war ein Ipanema stets ihr Lieblingscocktail gewesen. Er sorgte für südliches Flair und ließ sie wegen des fehlenden Alkohols dennoch die Kontrolle behalten.

Einen Moment schloss sie die Augen, und plötzlich waren sie da, die Erinnerungen an Australien. Emma sah sich wieder in diesem Hotel am Meer, das für vier lange Jahre ihr Zuhause gewesen war. Damals hatte sie gedacht, dass es für immer so bleiben würde.

Emma war für die Gästebetreuung zuständig gewesen, hatte Events und Hochzeiten organisiert und sich darum gekümmert, dass die Urlauber sich wie im siebenten Himmel vorkamen. Diese Aufgabe hatte ihr sehr viel Freude bereitet, was nicht zuletzt am kollegialen Miteinander der Angestellten gelegen hatte. Zumindest mit den meisten war Emma gut ausgekommen und hatte einige Freundschaften geschlossen.

Sie hatte einen kleinen Bungalow bewohnt, unten direkt am Strand. Als Mitarbeiterin der Hotelleitung hatte ihr das zugestanden, und gleich beim ersten Betreten hatte sie sich in ihr neues Zuhause verliebt. Es war diese einmalige Lage gewesen, die sie immer wieder verzauberte – egal ob am Morgen oder am Abend. Unzählige Male hatte Emma den Sonnenuntergang von ihrer Terrasse aus bewundert und dem Zirpen der Grillen gelauscht.

Ohne dass sie es verhindern konnte, tauchte ein Gesicht in ihren Erinnerungen auf. Ein Gesicht, welches sie tief in ihrem Herzen vergraben hatte. Emma sah ein Lachen, verschmitzt blitzende Augen und spürte eine zärtliche Berührung auf ihrer Haut. An all das hatte sie nicht mehr denken wollen. Und ihre Verdrängung hatte in den letzten Monaten ziemlich gut funktioniert. Warum war Australien plötzlich wieder so präsent? Mit aller Macht kniff Emma in ihren Arm und brachte sich durch den kurzen Schmerz wieder ins Hier und Jetzt.

Erschrocken zuckte sie zusammen. Vor ihr, nur wenige Zentimeter entfernt, stand ein Mann und betrachtete sie forschend – Arne.

»Es sah aus, als würdest du mit offenen Augen träumen«, sagte er. »Ich wollte dich nicht stören, denn es schien ein schöner Traum zu sein. Zumindest hast du gelächelt.«

Emma schluckte und versuchte ihren schnellen Atem unter Kontrolle zu bekommen.

»Hallo Arne«, meinte sie daher bewusst lässig. »Ich war nur ein wenig in Gedanken.«

Er lachte auf. »Tatsächlich, ich hatte gedacht, du bist gerade meilenweit von hier entfernt, an einem ganz anderen Ort. Ich beobachte dich schon eine ganze Weile, und du hattest einen verzauberten Gesichtsausdruck, wie ich ihn noch nie bei dir gesehen habe.« Arne nahm einen kurzen Schluck aus seinem Glas. »Trotzdem, schön, dass du gekommen bist. Fine hatte heute Nachmittag noch gemeint, du hättest keine Lust und würdest dich bestimmt drücken.«

Na prima, bei der nächstbesten Gelegenheit musste Emma sich ihre Freundin mal vorknöpfen. Wie konnte sie ausgerechnet zu Arne so etwas sagen.

»Fine hat mich mitgeschleift. Eigentlich hätte ich noch Arbeit gehabt.« Das war nur eine halbe Lüge. Denn Emma hatte im Grunde immer Arbeit.

Während sie an ihrem Strohhalm zog, musterte sie Arne unauffällig. Ihr Schiffsverantwortlicher trug knielange Shorts und ein dunkelblaues Shirt mit einem weißen Segel darauf. Weiße Turnschuhe vervollständigten das Outfit. Er spürte ihren Check und ließ auch seine Blicke über ihren Körper wandern.

»Du solltest öfters mal ein Kleid tragen, es steht dir nämlich hervorragend, besonders die Farbe«, sagte er.

Emma sah ihn von unten kurz an und bemerkte, dass seine Augen sie immer noch festhielten. Am liebsten wäre sie zurückgewichen, doch schon jetzt bohrte sich die raue Rinde des Stammes schmerzhaft in ihren Rücken.

Hastig sah Emma in eine andere Richtung. Er hatte recht, in letzter Zeit hatte sie kaum ein Kleid getragen. Warum auch? Bei der täglichen Arbeit waren Jeans einfach praktischer, und ansonsten gab es nicht allzu viele Gelegenheiten, ein Kleid auszuführen.

Und überhaupt – auch dieses Kleid gehörte in den Koffer mit Erinnerungen an Australien. Emma wusste noch genau, wo sie es gekauft hatte und vor allem mit wem. Es war in einer kleinen Boutique gewesen, direkt am Meer. Das Kleid hatte auf einem Bügel gehangen und wie eine Fahne im Wind geweht. Dadurch war es ihr sofort aufgefallen. Anfangs war Emma der Meinung gewesen, die Farbe würde ihr nicht stehen. Diese Mischung aus Grün und Meerblau, die dennoch kein Türkis war. In der Umkleidekabine hatte sie zugeben müssen, dass die Farbe perfekt zu ihrer leicht gebräunten Haut und den hellblonden Haaren gepasst hatte. Es stand ihr sogar so gut, dass sie immer noch glaubte, das Strahlen in den Augen ihres Begleiters zu sehen.

Heute Abend, vor dem Schrank hatte sie einen Moment gezögert und es dann doch übergestreift. Erst mal nur probeweise natürlich. Lange hatte Emma ihr Spiegelbild betrachtet, und eine Sekunde war sie kurz davor gewesen, ein anderes Outfit zu wählen. Doch dann war ihr bewusst geworden, dass es einfach nur ein Stück Stoff war, dem sie eine neue Bedeutung geben konnte. Denn wenn es danach ging, hingen an ihrem halben Kleiderschrank irgendwelche Erinnerungen an Ereignisse, die schön oder unschön gewesen waren.

Arne wechselte den Platz, stellte sich direkt neben sie und betrachtete die Gäste. Augenblicklich fühlte Emma sich wohler. Kein Wunder, sie war nicht mehr in seinem direkten Sichtfeld. Ganz leise vernahm sie seinen Atem. Irgendwie erstaunlich, war doch die Musik relativ laut.

Schließlich hielt Emma es nicht mehr aus. Stille zu ertragen war schon immer schwierig für sie gewesen. Es gab nur wenige Menschen, mit denen sie gut schweigen konnte, und Arne schien definitiv nicht dazuzugehören.

»Wie war die heutige Tour?«, fragte Emma und suchte nach Fines Gesicht. Die blieb nach wie vor unauffindbar. Vielleicht hatte ihre Freundin sie hier nur abgeliefert und war dann wieder heimlich Richtung Pension verschwunden. Zuzutrauen war ihr das auf jeden Fall.

»Die Tour war gut«, antwortete Arne. »Sehr nette Leute. Der Mann verstand was von Booten und hatte wohl früher selbst eins.«

»Aha, das klingt spannend.« Emma nippte an ihrem Drink und fragte sich, was es war, das Arne gerade in ihr auslöste.

Er machte sie nervös und auf eine gewisse Art auch unsicher. Wenn sie eines hasste, dann Unsicherheit, speziell, wenn es um Männer ging. Arne war ihr Angestellter, und sie war die Chefin, das war`s. Das waren klare Verhältnisse, geklärte Fronten – oder etwa doch nicht?

Denn im Laufe der Zeit, ganz besonders aber seit einem Abend im Februar, hatte sich ihr Verhältnis verändert.

Arne hatte in ihrer Küche gesessen. Gemeinsam waren sie die Planung für die kommenden Monate durchgegangen. Draußen hatte es geregnet, und Tropfen waren gegen die Scheibe geprasselt.

Emma hatte wie immer einen großen Zettel vor sich gehabt, auf dem ihre Notizen standen. Peinlich genau hatte sie Punkt für Punkt abgearbeitet, wichtige Dinge notiert und kleine Haken dahinter gemacht.

Arne hatte spontane Einwürfe gemacht, Ideen vorgeschlagen, doch Emma hatte ihn abgewimmelt, auf ihrem Plan beharrt.

Irgendwann hatte er ihre Hand ergriffen und sie festgehalten.

»Kannst du auch mal nur deinem Gefühl folgen und deinen Verstand für einige Minuten ausschalten? Kannst du deinen Kopf verlassen und dich mal ganz deinem Bauchgefühl anvertrauen?«

Es war nicht nur diese Frage gewesen, die Emma in grenzenlose Verwirrung gestürzt hatte. Es war die Empfindung, die seine Berührung in ihr ausgelöst hatte. Arne hatte einfach ihre Hand gehalten, und ihr Herz war in ihrer Brust wie wild galoppiert. Ganz nah war sein Gesicht gewesen, und es hatten nur wenige Millimeter gefehlt, bis ihre Lippen sich berührt hätten.

So schnell wie er sie gepackt hatte, ließ er sie auch wieder los. Danach war die Stimmung verändert gewesen.

Lange hatte Emma über diesen Abend nachgedacht. Am nächsten Morgen waren sie sich scheinbar wieder normal begegnet. Und doch war irgendetwas anders als vorher. Die Leichtigkeit war verschwunden, die Blicke gingen tiefer.

Und jetzt, in diesem Moment, verwirrte er sie erneut mit seiner bloßen Anwesenheit. Der Drang, einfach die Flucht zu ergreifen, wurde immer stärker.

»Hm, spannend, na ja, es war halt eine Tour«, erwiderte Arne leise und warf ihr einen forschenden Seitenblick zu. Emma wusste schon gar nicht mehr, welche Frage sie ihm gestellt hatte.

»Und welche Route seid ihr gefahren?« So langsam gingen ihr die Fragen aus. Am liebsten hätte sie Arne ihr Glas in die Hand gedrückt und wäre nach Hause gestürmt. Zurück in die Sicherheit ihrer Pension, zu ihren Torten und Kuchen und ihrem Teddybären. Oh Gott, dachte sie wirklich schon wie Hanna?

»Sag mal, interessiert dich das?«, fragte Arne spöttisch. »Tja, vielleicht interessiert es dich wirklich, also gut. Wir sind einmal nach Hiddensee und wieder zurück. Das sollten wir übrigens auch wieder einmal machen. Erinnerst du dich noch, so wie letztes Jahr.«

Emma erinnerte sich nur zu gut, und die bloße Vorstellung, mit Arne auf der einsamen Trude auf dem noch einsameren Meer zu sein, verursachte bei ihr eine Gänsehaut. Deswegen zuckte sie nur leicht mit den Schultern.

»Erst mal wird das nichts, ich hab einfach so viel zu tun. Das Café läuft immer besser, und meine Eltern und so …«

»Das Café gab es letztes Jahr auch schon, und dennoch hast du dir die Zeit genommen.«

Emma seufzte. Dieser Abend entwickelte sich immer besser.

»Du siehst nicht gut aus, blass, erschöpft«, fuhr Arne fort. »Ich glaube einfach, du arbeitest zu viel, und du selbst kommst zu kurz. Warum nimmst du dir nicht einfach mal einen Tag frei, zum Beispiel am nächsten Montag? Montags ist nicht so viel los bei euch. Und außerdem hast du Fine und deine Mitarbeiter. Die kommen einen Tag bestens ohne dich aus.«

Und meine Eltern und der Einkauf im Großhandel und die vielen Ideen für die vor mir liegende Saison, hätte Emma am liebsten geschrien. Doch sie schwieg trotzig. Vielleicht weil sie wusste, dass all das nur Ausreden waren.

»Ich habe das Boot jedenfalls für nächsten Montag freigehalten und auch schon mal den Wetterbericht gecheckt«, stellte Arne fest.

Emma zog energisch an ihrem Strohhalm, ein glucksendes Geräusch ertönte. Na Klasse, das wurde ja immer besser.

»Das musst du nicht. Das Boot ist für unsere Gäste da, und wir brauchen jeden Cent«, entgegnete sie abweisend.

»Okay.« Arne trat erneut in ihr Blickfeld. »Ich bezahle das Boot selbstverständlich, damit du keine Ausfälle hast.«

Diese Worte trafen wie ein Pfeil ins Schwarze. Sie machte sich lächerlich, Arne wollte ihr nur etwas Gutes tun.

»So hab ich das doch nicht gemeint«, erwiderte Emma kleinlaut und warf einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht. »Es ist nur, die viele Arbeit und meine Eltern und all das.«

»Das nützt dir alles nichts, wenn du irgendwann mal umkippst. Die Saison geht erst los, und du musst dir einfach kleine Auszeiten gönnen. All das wird dir sonst irgendwann über den Kopf wachsen.«

Verbissen kaute Emma auf ihrem Strohhalm herum und versuchte, an Arne vorbeizuschauen. Ja verdammt, er hatte recht, doch das hätte sie um nichts in der Welt zugegeben.

»Aber wir wollen diesen schönen Abend nicht mit Diskussionen verbringen. Dazu ist später noch genug Zeit. Deswegen würde ich vorschlagen, wir tanzen. Kommst du?«

Arne entwand Emma einfach ihr Glas und stellte es auf eine flache Holzkiste, die als eine Art Tisch fungierte. Dann ergriff er ihre Hand.

Perplex starrte sie ihn an.

»Was jetzt? Auf keinen Fall.« Störrisch blieb Emma an ihrem Platz, entzog ihm ihre Hand und verschränkte ihre Arme. »Ich tanze nicht, hab keine Lust.«

»Ach, und warum zucken dann deine Beine bei jedem Lied im Takt mit?« Arne grinste sie an und drohte schelmisch mit seinem Zeigefinger. »Du bist ertappt, also los, nun komm.«

»Es ist niemand auf der Tanzfläche, wir wären die Ersten. Ich hasse es, wenn mich alle anstarren. Und außerdem … Vielleicht kann ich gar nicht mehr tanzen.«

Arne stemmte seine Hände in die Hüften und stöhnte.

»Herrgott Emma, nun stell dich doch nicht so an. Früher warst du die Erste bei der Disko.«

Sofort sprühten ihre Augen Funken.

»Wer hat dir das gesagt?«

»Das verrate ich nicht. Ich hab halt meine geheimen Informanten.« Auffordernd streckte er seine Hand aus. »Bitte, lass uns tanzen.«

In diesem Moment legte der DJ eine neue Scheibe auf. Es erklang ein Lied aus ihrer Jugend, und Emma erinnerte sich, dass der Titel damals in Dauerschleife im Radio gelaufen war. Ohne dass sie es verhindern konnte, ergriff sie Arnes Hand und ließ sich von ihm zur Tanzfläche ziehen. Aus dem Augenwinkel nahm sie zahlreiche Blicke wahr, die neugierig auf ihnen ruhten. Doch da umfasste er schon ihren Körper, nahm eine Tanzhaltung ein und setzte die ersten Schritte. Auf der Stelle fanden sie einen gemeinsamen Takt. Arne dirigierte, und Emma folgte. Er wirbelte sie um sich herum, schob sie von sich und zog sie dann wieder ganz nah an seinen Körper. Sie trennten sich und fanden zueinander, als wären sie zwei Magnete. Arnes Augen waren der Kompass, nach dem sie sich ausrichtete. Auch wenn Emma sie in der Dunkelheit kaum sah.

Sie schwebte. Um sie herum blitzten Lichter, und ab und zu strich eine kühle Brise über ihre erhitzte Haut. Die leichte Strickjacke nahm Arne ihr irgendwann ab und übergab sie jemandem, der am Rand der Tanzfläche stand. Lied folgte auf Lied, und zu ihrem Drink zurückzukehren, war kein Thema mehr.

Dann erklangen die ersten Takte eines langsamen Stückes. Arne sah sie an, als würde er auf eine Reaktion von ihr warten. Emma schaute ihm nur in die Augen. Und so zog er sie schließlich an sich und begann seine Hüfte geschmeidig hin und her zu bewegen. Nur leicht umfassten seine Arme ihren Körper, und es schien Emma, als würden sie in diesem Augenblick eins werden. Irgendwann wanderten ihre Hände seinen Rücken empor und legten sich um seinen Nacken. Dann schmiegte sie ihren Kopf an seine Schulter. Emma gab sich dem Rhythmus hin und schloss die Lider.

Ewig hätte sie mit ihm tanzen können. Es tat gut, wie er sie hielt. Seine Bauchmuskeln pressten sich an ihre und lösten ein angenehmes Prickeln aus. Emma spürte seinen Geruch, der sich mit der salzigen Luft vermischte, und musste ein Seufzen mit aller Macht unterdrücken. In diesem Moment war die Pension ganz weit weg.

Doch auch dieses Lied endete irgendwann, und Arne schob sie sacht von sich. Mit seinem Daumen strich er über ihre Wange und lächelte.

»Von wegen, du hast das Tanzen verlernt, du bist eine Lügnerin. Ich glaube, du übst jeden Abend heimlich vorm Spiegel.«

»Du bist eben ein guter Tanzpartner«, entgegnete Emma. »Aber jetzt habe ich riesigen Durst.«

»Okay, ich besorge uns was. Ich nehme an, das war Ipanema da in deinem Glas?«, fragte er verschmitzt.

»Woher weißt du das?«

»Ich bin eben ein Hellseher.«

Mit unsicheren Schritten lief Emma zurück zu ihrem Platz und ließ sich dabei ihre Strickjacke reichen. So allein, ohne die Gegenwart seines Körpers, spürte sie schlagartig die abendliche Kühle. Unbewusst suchte sie ihn und entdeckte Arne in der Schlange vor der Bar. Und wieder trafen sich ihre Augen, das Prickeln in ihrem Bauch wurde stärker. Emma biss sich auf die Lippen. Du lieber Himmel, was machte er nur mit ihr.

Plötzlich war es glasklar – sie begehrte Arne, sie wollte mit ihm schlafen. Das klang jetzt irgendwie ziemlich lüstern, und dennoch war es die reine Wahrheit. Das zwischen ihnen waren pure Lust und tiefes Begehren.

Diese Erklärung fühlte sich total logisch an. Denn einen Moment hatte Emma befürchtet, dass ihr irgendwelche Gefühle einen Strich durch die Rechnung machen würden. Mit ihr war alles in Ordnung, sie brauchte einfach nur mal wieder ein wenig Sex.

Nach einer geraumen Weile kam Arne mit den Gläsern zurück und prostete ihr zu. Emma zog hastig an ihrem Strohhalm, und der Drink rann eiskalt ihre Kehle nach unten. Augenblicklich wurden ihre Sinne wieder klarer, und das Begehren in ihrem Körper erlosch.

»Ganz schön was los hier«, meinte Arne nachdenklich und betrachtete die vielen Gäste.

Auch Emma ließ ihre Blicke schweifen. Doch plötzlich zuckte sie zusammen. Da, genau auf der anderen Seite der Tanzfläche war ein Gesicht. Ein Gesicht, das einfach unmöglich hier sein konnte. Emma blinzelte und starrte auf diesen imaginären Punkt. Aber da war nichts, nur ihr vollkommen unbekannte Menschen. Sie musste sich getäuscht haben. Vermutlich hatten ihr Arne und der gemeinsame Tanz den Kopf verdreht.

Hastig sah sie auf ihre Uhr.

»Gleich elf, ich glaube, ich werde mich dann mal auf den Heimweg begeben.«

»Jetzt schon?« Arne machte ein enttäuschtes Gesicht.

»Morgen früh um fünf klingelt mein Wecker«, erwiderte sie lächelnd und stupste mit ihrem Zeigefinger gegen seine Brust.

»Das kannst du mir nicht antun. Nur noch drei Lieder«, bettelte er. »Ich verspreche dir auch hoch und heilig, ich bringe dich danach ganz brav nach Hause.«

»Das musst du nicht«, protestierte Emma lachend. »Ich bin schon ein großes Mädchen und kann auf mich selbst aufpassen.«

»Aber ich würde gerne auf dich aufpassen, notfalls mit vollem Körpereinsatz.« Ein Lächeln umspielte seine Lippen, und schlagartig wurde Emmas Mund trocken. »Nur noch die kommenden drei Lieder.« Seine Miene erinnerte Emma an das Gesicht des Dackels ihrer Nachbarin. Immer wenn der ein Stückchen Wurst erbetteln wollte, schaute er ähnlich wie Arne in diesem Moment. »Sag Ja, sonst falle ich vor dir auf die Knie.«

»Bloß nicht.« Sicherheitshalber ergriff Emma seinen Arm. »Also gut, aber wirklich nur noch drei Lieder«, gab sie sich geschlagen. »Und bevor wir heimgehen, versuchen wir Fine zu finden.«

Arne hob zwei Finger. »Indianerehrenwort. Ist Fine verschwunden?« Suchend sah er sich um. »Um deine Kellnerin würde ich mir nun echt keine Gedanken machen. Ich bin sicher, Fine kann bestens auf sich aufpassen. Also dann, lass uns tanzen.«

Erneut schwebte er mit ihr über die Tanzfläche. Emma spürte Arnes magnetische Wirkung und hoffte inständig, sich nach drei Liedern tatsächlich von ihm lösen zu können.

Sie legte den Kopf kurz in den Nacken und schaute Richtung Himmel. Sterne schienen zu sprühen, die Lichterketten in den Bäumen verschwammen.

Doch plötzlich, mitten in den vielen Menschen, glaubte Emma erneut, das Gesicht aus ihrer Vergangenheit gesehen zu haben. Wie ein Geist schwebte es zwischen den anderen und war gleich darauf verschwunden.

Ruckartig blieb Emma stehen und brachte Arne damit beinahe zu Fall. Sie taumelten einige Schritte über die Tanzfläche. Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. Emmas Herz raste, ihre Pupillen flimmerten, weil sie noch immer diesen einen Punkt fixierte. Sie rieb sich über die Augen und verschmierte damit ihre Wimperntusche. Schwarze Farbe klebte an ihren Fingern. Geistesgegenwärtig umschlang Arne ihren Körper und hielt sie fest.

»Emma, was ist denn? Du siehst kreidebleich aus, wie als hättest du einen Geist entdeckt.« Besorgt schaute Arne sie an, umklammerte ihre Oberarme und folgte dann ihren Blicken.

Benommen sah sie ihn schließlich an. Mit aller Macht zwang Emma ein Lächeln auf ihr Gesicht und merkte selbst, wie es misslang.

»Lass uns gehen«, stammelte sie unsicher. »Mir ist irgendwie ganz schwummrig. Die letzten Drehungen waren wohl ein bisschen zu viel.«

»Soll ich dir was zu trinken holen?« Arne ergriff ihren Arm und geleitete sie sicher an die Seite.

Emma lehnte sich an ihn und hatte das Gefühl, jeden Augenblick umzukippen. Ihr war speiübel.

»Willst du dich setzen?«

Heftig schüttelte sie den Kopf. »Nein, ich will nur noch nach Hause. Bitte lass uns gehen.«

Emma schlang die Strickjacke eng um ihren Körper.

»Also gut. Dann komm, ich bring dich.« Arne ergriff ihre Hand. Diesmal protestierte sie nicht. Im Gegenteil, sie war heilfroh, dass er an ihrer Seite war. Noch einmal drehte Emma sich um. Natürlich war niemand zu sehen. Ihr Geist und diese verdammten Erinnerungen mussten ihr einen Streich gespielt haben.

Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie in diesem Moment Fine. Diese stand mit einem jungen Mann in der Nähe der Bar und war in ein ziemlich angeregtes Gespräch vertieft. Einen Moment wollte Emma zu ihr, entschied sich dann aber dagegen. Sollte Fine einfach den Abend genießen.

Mit stocksteifen Beinen setzte Emma die ersten Schritte. Doch nach einigen Metern ging es allmählich leichter. Ihre angespannten Muskeln lockerten sich, und ihr Atem floss regelmäßiger.

»Lass uns unten am Wasser entlanglaufen«, schlug sie Arne vor und zog ihn bereits zu einem Strandübergang.

Tief versanken ihre Füße im losen Sand, als sie die Dünen durchquert hatten. Emma streifte ihre Schuhe ab, und Arne tat es ihr gleich. Langsam schlenderten sie zum Meer und betraten schließlich den feuchten Sand.

Es war eine klare Nacht, und die Ostsee zeigte sich glatt wie ein Spiegel. Es schien fast, als könnte man einzelne Sterne auf der Oberfläche erkennen. Weit hinten am Horizont zogen zwei Schiffe ihre Bahnen und warfen ihre Positionslichter über das Meer. Nur winzige Wellen rollten an Land und umspülten sanft ihre Füße. Das Wasser war eiskalt, und dennoch störte Emma sich nicht daran.

Hand in Hand liefen sie weiter und schwiegen. Emma verspürte nicht den Drang, das Schweigen zu brechen, im Gegenteil. Sie atmete tief ein und aus und genoss die Stille. Diese Luft, diese Weite, dieses vertraute Heimatgefühl. All das hatte sie nur hier. Egal, wo immer sie auf der Welt gewesen war, ihre Heimat war und würde auf ewig dieses kleine Dorf am Meer sein.

»Willst du mir nicht verraten, was vorhin los war?«, fragte Arne behutsam.

Emma schüttelte den Kopf, bis ihr einfiel, dass er das vielleicht in der Dunkelheit gar nicht bemerken würde.

»Ich glaubte, einen Geist aus meiner Vergangenheit gesehen zu haben«, erwiderte sie leise.

»Einen guten oder einen schlechten Geist?«, hakte er nach.

Die Antwort darauf war gar nicht so einfach, musste Emma feststellen. »Sowohl als auch. Er war ein guter Geist und wurde am Ende zu einem schlechten.«

»Ich verstehe«, sagte Arne mit rauer Stimme.

Und dann waren da wieder nur die kleinen Wellen, die an den Strand plätscherten, und die sich langsam entfernende Musik. Der Wind trug die Töne fort von ihnen, Richtung Darßwald, und immer weniger hörte Emma die dumpfen Beats.

Schließlich tauchte vor ihnen der Glower Hafen auf, in dem unter anderem die Trude lag. Die Schiffe streckten ihre Masten hinter der Mole in die Höhe und zeichneten schwarze Muster vor den Nachthimmel.

Sie schlugen den Weg nach oben, Richtung Ort ein und passierten die pensionseigenen Strandkörbe. Die Pension selbst lag im Dunkeln. In keinem der Fenster brannte mehr Licht. Nur die Nachtlampe flammte auf, als sie den Hof betraten.

Emmas Schritte wurden immer langsamer, je näher sie der Tür des Haupthauses kamen. Doch irgendwann war sie erreicht, und ihr Spaziergang endete, so wie dieser Abend. Es war Zeit, sich zu verabschieden. Doch beim Gedanken, allein in ihrem Bett zu liegen, bildete sich ein Kloß in Emmas Magen. Es war eine Mischung aus Angst und Einsamkeit.

Arne erfasste ihre beiden Hände und sah sie an. Das Licht erlosch wieder, und ihre Gesichter versanken in der Dunkelheit.

Emmas Herz klopfte so laut, dass sie sicher war, er musste es hören. Ihre Finger zitterten, und Arnes Griff wurde fester.

»Was würdest du sagen, wenn ich noch auf einen Drink mit nach drinnen kommen möchte?«

Die Gedanken in ihrem Kopf rotierten. Es war alles dabei, angefangen bei ›Bloß nicht‹, ›Auf keinen Fall‹, hin zu ›Bitte, Gott sei Dank, dass du es sagst‹. Zwischen all diesen Varianten galt es eine Entscheidung zu treffen. Und die konnte nicht aus ihrem Kopf kommen. Emma begriff, dass es an der Zeit war, auf ihren Bauch zu hören.

Und so holte sie schweigend den Schlüssel aus ihrer Tasche und steckte ihn ins Schloss. Dann zog sie Arne einfach hinter sich her. Sie konnte und wollte in dieser Nacht nicht allein sein. Und was morgen früh sein würde, hatte jetzt noch keine Bedeutung.

 

3

 

 

Da war ein Arm, der quer über ihrem Körper lag. Schwer, doch nicht unangenehm. Emma öffnete ein Auge, blinzelte und schaute direkt in Arnes Gesicht. Im Schein der Straßenbeleuchtung konnte sie ihn deutlich erkennen.

Seine Lider waren geschlossen. Er schlief tief und fest und irgendwie friedlich. So als würde er hierhergehören, in dieses Bett und an ihre Seite.

Emma dachte an den gestrigen Abend. Daran, wie die Haustür hinter ihnen ins Schloss gefallen war. Im Flur hatten sie sich gegenübergestanden, und irgendwann hatte Arne auf den Lichtschalter gedrückt. Hell war die Deckenlampe über ihnen aufgeflammt und hatte Emma eine Sekunde geblendet.

»Ich hab dieses Licht schon immer gehasst«, hatte sie leise gemurmelt.

»Viel zu hell«, hatte Arne geflüstert.

Dann waren seine Augen über ihren Körper gewandert, und Emma hatte das Gefühl gehabt, als ob seine Hände sie bereits berührten.

Die Energie zwischen ihnen war kaum noch auszuhalten gewesen. Bis Arne endlich einen Schritt auf sie zugemacht und Emma in seine Arme gerissen hatte. Sich küssend waren sie die Treppe nach oben getorkelt und auf ihr Bett gefallen.

Es war kein langsames Herantasten zwischen ihnen gewesen, sondern nur Leidenschaft und tiefes Begehren. Als ihre nackten Körper sich zum ersten Mal berührt hatten, war es Emma unmöglich gewesen, ein Stöhnen zu unterdrücken. Sie hatte ihre Arme und Beine um Arnes Leib geschlungen, so fest sie nur konnte. Sie hatte ihn spüren wollen, seine festen Muskeln, seine heiße Haut. Und wie vorher beim Tanzen waren sie zu einer Einheit verschmolzen.

Später hatten sie erschöpft nebeneinandergelegen und an die Decke gestarrt. Arnes Finger war sanft über ihren Arm geglitten, hoch und runter. Es war eine beruhigende Geste gewesen, die alle Zweifel aus Emmas Kopf vertrieben hatte.

Noch einmal hatten sie sich geliebt, diesmal behutsamer. Sie hatten sich und ihre Körper erforscht, und Arne war so langsam ihn sie eingedrungen, dass sie es vor lauter Begierde kaum noch ausgehalten hatte. Mit weit aufgerissenen Augen hatte sie ihn angesehen, und das grenzenlose Verlangen auf seinem Gesicht hatte ihr den Atem geraubt.

 

Emma drehte vorsichtig ihren Kopf und musterte den Wecker auf ihrem Nachttisch. Es war kurz vor vier, bis zum Aufstehen blieb ihr noch eine Stunde. Doch ihr war jetzt schon klar, dass sie kein Auge mehr zubekommen würde.

Sanft strich sie noch einmal über Arnes Rücken, löste sich sacht aus seiner Umarmung und erhob sich aus dem Bett. Emma öffnete ihre Schranktür und nahm die Joggingsachen heraus, die im untersten Fach lagen. Seit sie wieder auf Rügen war, hatte sie sich das Laufen angewöhnt. Zunächst hatte sie nach irgendeiner sportlichen Betätigung gesucht. Hanna, ihre Schwester, hatte sich allmorgendlich in die Ostsee gestürzt, egal bei welchem Wetter. Dafür war Emma zu frostig. Allein die Vorstellung des dunklen Wassers zauberte ihr eine Gänsehaut auf den Körper. Und so hatte sie mit dem Laufen angefangen. Nicht jeden Morgen, doch wenn sie rechtzeitig wach wurde, lief sie ihre Runde.

Emma schlüpfte in ihre Sachen und betätigte, kurz bevor sie das Zimmer verließ, noch schnell die Aus-Taste des Weckers. Dann schlich sie die hölzerne Treppe nach unten und vermied dabei die am schlimmsten knarrenden Stufen. Im Flur zog sie ihre Turnschuhe an und ging aus dem Haus.

Es war still, genauso still wie gestern Abend. Nicht das kleinste Lüftchen war zu spüren. Etwas, das hier am Meer sehr selten vorkam. Automatisch schlugen ihre Füße den Weg Richtung Strandpromenade ein. Dort angelangt wandte Emma sich nach links und gab Gas. Sie rannte dem Darßwald entgegen, dessen finstere Kulisse sich vor dem zaghaft heller werdenden Himmel abzeichnete. Die links von ihr stehenden Häuser und Hotels lagen noch im Dunklen.

Emma erreichte die Partylocation von letzter Nacht. Nur die verlassene Bar erinnerte daran, dass sie hier gestern Abend durch die Dunkelheit getanzt war. Die Liegestühle und Strandkörbe waren von fleißigen Helfern bereits wieder an ihre eigentlichen Plätze geschafft worden.

Dann war sie im Wald. Der würzige Duft der Kiefern hüllte sie ein. Emma versuchte, noch einmal schneller zu laufen. Erst als ihre Waden brannten und ihre Lunge heftig pumpte, drosselte sie das Tempo. Dann war ihr Strandübergang erreicht. Ihr morgendliches Ziel, an dem sie wieder den Weg Richtung Heimat antrat. Sie warf einen knappen Blick zum Meer, welches hinter den Dünen verborgen lag, und joggte langsam zurück.

Erst jetzt begann sie über letzte Nacht nachzudenken. Während Emma locker Richtung Pension trabte, fühlte sie sich mit jedem Schritt unsicherer. Wie würde es werden, wenn sie und Arne sich im ersten Tageslicht in die Augen blickten? Was würde er von ihr denken? War nicht alles ein riesiger Fehler gewesen? Hoffentlich sah er es ähnlich unverbindlich wie sie selbst. Sie hatten miteinander geschlafen, und Emma musste zugeben, dass der Sex mit ihm fantastisch gewesen war. Aber mehr war nicht geschehen. Und vor allem, mehr würde nicht geschehen. Es war eine einmalige Sache gewesen, ohne Chance auf eine Wiederholung. Doch allein bei dem Gedanken an Arnes Lippen auf ihrem Körper flatterte es in ihrem Bauch. Emma kniff sich in den Unterarm und beschleunigte ihr Tempo.

Daheim angekommen, schlich sie die Treppe empor. Emma ergriff die Türklinke und atmete einige Male tief ein und aus. Dann öffnete sie die Tür zu ihrem Schlafzimmer. Sie sah zerwühlte Kissen und ein verlassenes Bett. Arne war verschwunden. Erleichterung machte sich in ihr breit.

Da war kein Zettel und kein Zeichen. Wieso auch? Schließlich hatte sie das Bett als Erste verlassen und auch keine Nachricht für ihn hinterlegt. Es schien gerade so, als wäre Arne niemals hier gewesen. Erleichtert streifte Emma ihre Sachen ab und sprang unter die Dusche.

 

»Sag mal, ist irgendwas los?« Fine betrachtete sie aufmerksam. »Du bist schon den ganzen Tag ziemlich durch den Wind. Und ich frage mich, ob das vielleicht mit dem gestrigen Abend etwas zu tun hat. Du und Arne wart jedenfalls das Traumpaar auf der Tanzfläche, und ich könnte mir vorstellen, dass diese Nacht nicht einfach nur so geendet ist.«

Wie jeden Tag saßen die beiden Frauen auf der Bank neben dem Wintergarten der Pension und schauten Richtung Meer. Das Frühstück war vorüber, das Café noch nicht geöffnet. Oben waren die beiden Zimmermädchen dabei, die Zimmer zu reinigen.

Es war Fines und ihr festes Ritual, einen gemeinsamen Kaffee zu trinken und die anstehenden Dinge zu besprechen. Emma legte normalerweise großen Wert auf diese Abstimmungen und hatte immer etwas zu erzählen.

Doch heute lehnte sie mit ihrem Kopf an der Hauswand und hielt ihren Kaffeepott fest umklammert. Sie fühlte sich todmüde, erschöpft, geradeso, als hätte sie letzte Nacht gar keine Minute geschlafen. Vielleicht hätte sie doch heute Morgen nicht joggen gehen sollen. Emma nippte an ihrem kochend heißen Kaffee, schluckte langsam und schwieg. Anscheinend war ihr Schweigen für Fine Antwort genug.

Denn ihre Banknachbarin grinste und nickte begeistert.

»Ha, hab ich´s mir doch gedacht. Da ist so ein verräterisches Leuchten in deinen Augen.«

»Bist du sicher, dass es ein Leuchten ist? Ich fühle mich eher, als hätte ich keine Sekunde geschlafen.« Erst in diesem Moment wurde Emma die zweifelhafte Bedeutung ihrer Worte bewusst. Sie biss sich auf die Lippe und schielte zu Fine.

Diese lachte auf.

»Aha, ihr wart in der Kiste, stimmts?«

Emma versuchte sich um eine Antwort zu drücken, doch sie wusste, wie hartnäckig Fine war. Also nickte sie leicht. Jegliches Leugnen würde nichts bringen, denn Fine bekam immer alles heraus.

»Das ist sehr vernünftig. Denn immerhin schleicht ihr beiden schon seit Wochen umeinander herum wie die Katze um den heißen Brei. Manchmal befürchtete ich schon, einen kleinen Stromschlag zwischen euch zu erleiden.«

»Ich bin nicht um ihn herumgeschlichen«, protestierte Emma. »Es hat sich einfach so ergeben, spontan irgendwie. Ich hatte Bock auf Sex und er auch. Gott sei Dank leben wir im einundzwanzigsten Jahrhundert. Früher wäre ich geteert und gefedert worden.« Emma seufzte. »Trotzdem habe ich das Gefühl, einen großen Fehler begangen zu haben.«

»Ach Quatsch.« Fine schlug die Beine übereinander und zog eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Tasche. Seit sie bei Emma angefangen hatte, versuchte sie sich dieses Laster abzugewöhnen. Bisher allerdings nur mit mäßigem Erfolg. »Mach dir nicht zu viele Gedanken. Lass es einfach auf dich zukommen.«

»Du hast leicht reden, immerhin bin ich in gewisser Weise Arnes Chefin.«

»Emma, du lieber Himmel, jetzt klingst du aber wie deine eigene Großmutter. Noch vor einem Jahr hab ich dich um einiges lockerer erlebt. Was ist denn schon passiert? Du warst mit ihm in der Kiste, und niemand verlangt, dass du ihn morgen heiratest. Hattest du noch nie einen One-Night-Stand?«

»Klar, schon einige. Also nicht unzählige, vielleicht drei oder vier«, gab Emma zögerlich zu.

Fine hob die Hände. »Bitte keine Details. Hauptsache, du behältst den Überblick.«

»Ach, was soll`s, es war eine einmalige Sache.« Emma richtete sich auf und schaute Fine dann streng an. »Jedenfalls finde ich es nicht in Ordnung, dass du meine freien Tage verplanst. Von wegen, am Montag Segelausflug mit Arne, das kommt überhaupt nicht infrage, und schon gar nicht nach letzter Nacht.«

Fine plusterte ihre Wangen auf und stieß dann die Luft aus. »Wir meinen es alle nur gut, nicht dass du noch überschnappst. Es ist alles organisiert. Du kannst also ruhig Ja sagen und dir einen Tag freinehmen. Und wenn ihr eh schon zusammen im Bett wart, ist jetzt sowieso alles egal.«

 

Diese Worte gingen Emma nicht aus dem Kopf, während sie am Nachmittag die Kuchenbestellungen der Gäste auf den entsprechenden Tellern platzierte. Sorgfältig schnitt sie Scheiben vom Erdbeercheescake ab und drapierte als kleine Zugabe eine frische Erdbeere daneben. Dann betrachtete Emma den Teller und war zufrieden. Sie legte Wert darauf, dass alles liebevoll und besonders serviert wurde. Die Gäste sollten sich im Strandkieker wie in einer anderen Welt fühlen, und das schien ihr auch heute perfekt zu gelingen.

Wie jeden Tag war das Café gut besetzt. Nur die Plätze im Inneren blieben bei dem strahlenden Sonnenschein leer. Doch am Horizont, weit draußen über dem Meer, ballten sich bereits dunkle Wolken zusammen.

Ihre Freundin folgte ihren Blicken und runzelte die Stirn.

»Ich glaube, das wird gleich einen kräftigen Schauer geben«, meinte Fine, griff lässig die bereitgestellten Teller und verteilte sie auf ihrem Unterarm. Ein heftiger Windstoß ließ die blau-weiß karierten Tischdecken nach oben wehen. Die Sonne verschwand, und schlagartig wurde es kühler.

Erste Gäste schnappten sich vorsichtshalber ihre Kaffeetassen und suchten das Innere des Cafés auf. Andere machten es ihnen nach, und binnen weniger Minuten waren alle Tische besetzt. Keine Sekunde zu früh, denn dicke Tropfen prallten bereits gegen die Scheiben der Veranda. Nun begriffen auch die Letzten, dass es Zeit war, nach drinnen zu gehen. Allmählich wurde es eng.

Doch die beiden Frauen improvisierten und schafften zusätzliche Stühle herbei. Alle rückten ein wenig zusammen, und schließlich hatte jeder Gast ein Plätzchen gefunden. Leises Gemurmel erfüllte den Raum, während draußen ein heftiger Regenschauer herniederging. Gerade diese kuschelige Stimmung mit den flackernden Kerzen auf den Tischen war es, die ihr Strandcafé so besonders machte. Emmas Herz ging auf.

In der Küche checkte sie die Wetterdaten auf ihrem Handy.

»Hm, das sieht nicht gut aus. Der Regen soll mindestens bis heute Abend anhalten. Die Terrasse wird also für den heutigen Tag flachfallen.« Nachdenklich schaute Emma nach draußen, wo das Haupthaus gerade hinter einer Regenwand verschwand. »Ich frage mich, ob du den Rest zusammen mit Birte schaffst. Die müsste jeden Moment mit dem Abnehmen der Wäsche fertig sein. Zumindest hoffe ich das, denn ansonsten sind die Handtücher wieder nass.«

In diesem Augenblick tauchte die Gesuchte in der Tür auf.

»Ist die Wäsche noch zu retten gewesen?«

Birte nickte. »Julie hat mir geholfen, sie legt gerade die Handtücher zusammen.«

»Prima, dann springst du jetzt im Café ein.«

Augenblicklich holte diese ihre Kellnerschürze aus dem Schrank.

Lächelnd schaute Emma ihr zu. Es war schön, so flexibles Personal zu haben.

»Ach, und du hast wohl was vor? Gib zu, du willst Arne heimlich auf dem Boot aufsuchen?«, raunte Fine ihr verstohlen zu.

Emma stieß ihr gespielt den Ellenbogen in die Seite. »Du und deine Fantasie. Nein, ich will mal wieder bei meinen Eltern vorbeischauen. Ich hab schon ein richtig schlechtes Gewissen. Der letzte Besuch ist einige Wochen her.«

Augenblicklich wurde Fine ernst. »Alles klar. Fahr ruhig, Birte und ich kriegen das schon hin. Und grüß Wilhelm und Anita von mir. Wobei eher Anita, Wilhelm erinnert sich ja nicht mehr an mich.«

Emma lachte. »Ach, wenn ich schöne Grüße von der Verrückten mit den vielen Ohrringen ausrichte, da weiß er vielleicht schon, wer gemeint ist.«

Spontan umarmte sie ihre Mitarbeiterin. Mochte Fine auch so manches Mal eine spitze Zunge haben, so war sie doch eine wirklich gute Freundin. Emma eilte in die Küche, holte eine Dose aus dem Schrank und packte einige Stücke Kuchen hinein. Bei dem Regenwetter würden die restlichen Torten ganz sicher reichen.

Auch wenn ihr Vater Emmas Kreationen immer als sehr speziell bezeichnete, so aß er sie doch ziemlich gern. Wollte das aber für nichts in der Welt zugeben.

Voller Freude lief sie über den Hof nach nebenan. Kurz bevor Emma den Eingang erreichte, bog sie noch kurz in den Garten hinter dem Haus ab und pflückte im strömenden Regen einen kleinen Strauß Blumen für ihre Mama. Dabei wurde sie zwar pitschenass, doch das war egal.

Minuten später rollte sie mit ihrem Auto Richtung Bergen. Emma hatte die Fenster ein kleines Stück nach unten gedreht und ließ die frische Luft hereinströmen. Sie mochte diesen Geruch nach feuchter Erde. Regenschleier wurden über Felder und Wiesen geweht. Der

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Evelyn Kühne
Bildmaterialien: www.buerosued.de
Cover: Bürosüd
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 05.05.2021
ISBN: 978-3-96714-144-3

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