Rügenträume und Meeresrauschen
Inselträume 1
Evelyn Kühne
1
Tapp, tapp – da waren Schritte auf der Treppe. Und jetzt knarzte auch noch eine der alten Holzstufen. Sekunden später erkannte Hanna, dass das Geräusch nicht mehr Bestandteil ihres Traumes, sondern Realität war. Stöhnend drehte sie sich auf die andere Seite und musterte mit einem Auge die Leuchtziffern ihres Weckers.
1.05 Uhr – sie hatte gerade mal zwei Stunden geschlafen. Immerhin, das war für sie schon eine reife Leistung. Denn seit einigen Wochen konnte sie nachts kein Auge zutun. Zu erdrückend waren die Sorgen, die sie einfach nicht zur Ruhe kommen ließen.
Die tappenden Schritte erreichten die obere Etage und verstummten dann. Hanna schob das Kissen in ihrem Rücken ein wenig höher und beobachtete atemlos die Türklinke, die im Mondschein deutlich zu erkennen war. Jeden Moment würde sie heruntergedrückt und die Tür geöffnet werden, dessen war sie sich sicher. Hanna hielt den Atem an und wartete. Doch nichts geschah. Stattdessen knarrten erneut die Dielen und anschließend die Tür des Nachbarzimmers. Jemand betrat das ehemalige Schlafzimmer ihrer Eltern. Kurze Zeit herrschte Stille, dann ertönte das Klack des Lichtschalters. Schranktüren wurden geöffnet, und ein hektisches Rascheln und Stöbern setzte ein. Etwas fiel zu Boden und polterte überlaut in dem stillen Haus. Eine männliche Stimme fluchte unterdrückt.
Hanna zählte innerlich bis zehn und wollte gerade aufstehen, als weitere Schritte auf der Treppe ertönten. Diese waren schneller, zielgerichteter, die knarzenden Stufen wurden mit viel Erfahrung vermieden. Die Person schien die Treppe beinahe hinaufzufliegen. Die Nachbartür klappte auf, und Hannah hörte durch die dünnen Wände die beruhigende Stimme ihrer Mutter. Liebevoll sprach sie auf den Mann ein, der dort drüben herumwirtschaftete und nach Dingen suchte, die vermutlich längst nicht mehr da waren. Harsche Widerworte folgten, doch nach und nach wurde es nebenan immer leiser, bis schließlich Stille herrschte. Hanna lauschte und glaubte ein Schluchzen zu hören. Sie fixierte den Wecker auf ihrem Nachttisch, dessen Sekundenzeiger wie angestemmt erschien.
Etwa zehn Minuten später öffnete sich die Tür, und die beiden machten sich wieder auf den Weg nach unten. Erneut knarrten die Stufen, und jeder einzelne Ton trieb Hanna die Tränen in die Augen. Denn verursacht wurde er von ihrem Vater. Vor einigen Monaten hatte er noch genau gewusst, wo er seinen Tritt setzen musste, um niemanden im Haus zu wecken. Jeden einzelnen Winkel hatte er im Schlaf benennen können. Er kannte die knarrenden Dielen und die Dinge, die repariert werden mussten, er wusste genau, wo was zu finden war. Es war sein Haus, er hatte das meiste davon ganz allein modernisiert. Wie sagten alle immer? ›Ja, der Wilhelm, der hat goldene Hände.‹
Doch mit jedem einzelnen Tag, der verging, verschwand ein winziger Teil seiner Erinnerungen und würde nie mehr zurückkehren. Es gab Tage, an denen Wilhelm ganz der Alte zu sein schien. Dann hatte Hanna oft das Gefühl, eine gänzlich falsche Diagnose erhalten zu haben. Vielleicht hatten die Ärzte sich schlicht und ergreifend geirrt, und es würde doch wieder alles gut werden. Doch schon am nächsten Morgen war alles anders. Dann saßen sie zu dritt am Frühstückstisch, und sie merkte, wie er sie plötzlich mit einem vollkommen leeren Blick musterte. Hanna spürte dann, dass ihr Vater nachgrübelte und in seinen Erinnerungen kramte wie gerade nebenan in seinem ehemaligen Schlafzimmer.
Alzheimer, die Diagnose, die alles veränderte, hatte ihr langjähriger Hausarzt vor zwei Jahren ausgesprochen und dabei selbst Tränen in den Augen gehabt. Viele Jahre kannten sich die beiden Männer schon. Hatten einst zusammen auf einer Schulbank gesessen und waren auch gute Freunde geblieben. Dr. Bergmann hatte eine ganze Weile herumgedruckst und nach der richtigen Formulierung gesucht. Je weiter er es aufschob, umso deutlicher wusste Hanna, dass sie jetzt die Bestätigung für das bekommen würden, was sie alle eigentlich schon längst ahnten. Krampfhaft hatte sie die Hand ihrer Mutter umklammert, die mit weit aufgerissenen Augen neben ihr saß.
Wilhelm hatte Alzheimer, zwar mit einem milden Verlauf, mit ausgedehnten Phasen des Stillstandes, doch eine Gesundung war unmöglich. Medikamente wurden ihm verordnet, wo ihr Vater doch jegliche Medizin so hasste. Beinahe angewidert hatte er das Rezept angestarrt und war aus der Praxis gestürmt.
Nach der Diagnose waren sie nach Hause gefahren, und niemand hatte ein Wort gesagt. Wilhelm hatte auf dem Beifahrersitz gesessen und aus dem Fenster gestarrt. Seine Hände waren zu Fäusten geballt gewesen, der Atem war schwer gegangen. Nicht einmal, als Hanna wie üblich etwas schneller über die Holperstraße in Sagard gefahren war, hatte er einen Ton der Kritik von sich gegeben. Beim Einbiegen auf den Hof hatte er kaum reagiert und war nicht mit nach drinnen gekommen, sosehr Hannas Mutter auch gebettelt hatte. Besorgt hatte Anita ihm hinterhergeschaut, als er davongegangen war. Hanna hatte versucht, sie zu beruhigen.
»Lass ihm ein bisschen Zeit. Ich glaube, er braucht Ruhe, um die Diagnose zu verarbeiten. Du kennst ihn ja.«
Erst am späten Abend war Wilhelm leicht schwankend nach Hause zurückgekehrt. Hanna und ihre Mutter hatten schon den ganzen Ort nach ihm abgesucht. Außer sich vor Angst hatte Anita die Polizei rufen wollen. Deutlich rochen Hanna und sie bei seiner Heimkehr eine Bierfahne und sagten dennoch nichts zu ihm.
Wie groß musste der Schock für den Mann gewesen sein, der Hannas Held war, der immer alles reparierte und Probleme einfach verschwinden ließ? Der die Pension durch gute und schlechte Zeiten geführt und sich sogar zu DDR-Zeiten mit der SED-Kreisleitung angelegt hatte? Die Erkenntnis, dass dieses Problem nicht zu beseitigen war, egal was man tat, musste ihn am schwersten treffen.
Die folgenden Monate waren relativ glimpflich abgelaufen, und eine gewisse Entspannung und Zuversicht hatte sich ausgebreitet. Ihr Vater hatte die Medikamente genommen, die den Krankheitsverlauf ein wenig in Schach hielten. Doch seit einigen Wochen ging es spürbar abwärts. Wilhelm geisterte nachts durchs Haus, fand keine Ruhe und suchte die aberwitzigsten Dinge an den unmöglichsten Orten. Bei der kleinsten Kleinigkeit fing er heftig an zu streiten. Hinterher tat es ihm leid, und er brach in bittere Tränen aus. Alle versuchten sich mit der Situation zu arrangieren, doch es wurde immer schwerer. Entscheidungen standen an, die geradezu krampfhaft vermieden wurden. Neben vielen anderen Dingen ging es um die Leitung der Pension. Hanna waren bei den meisten Dingen die Hände gebunden, sie musste Wilhelm wegen allem fragen und sich mit seiner Sturheit arrangieren. Dessen Fehlentscheidungen in letzter Zeit hatten die Finanzen der Pension in eine gefährliche Schieflage gebracht, die Hanna den Schlaf raubte.
Wie auch jetzt.
Sie sah erneut auf den Wecker. Inzwischen war es zwei Uhr. Schon lange herrschte im Haus wieder Stille. Hanna zog die warme Decke bis unters Kinn, drehte und wendete sich in ihrem Bett und fand dennoch keine Ruhe. Mit müden Augen, aber wachem Körper schaute sie die Wandschräge in ihrem alten Kinderzimmer an. Es war ein kleiner Raum, beinahe schon winzig, doch Hanna hatte ihn vom ersten Moment an geliebt.
Als wäre es heute gewesen, erinnerte sie sich daran, wie sie und Emma unten in der Stube hatten warten müssen. Dann waren ihre Eltern gekommen und hatten sie nach oben gebeten.
»Links Emma, rechts Hanna«, hatte ihr Vater gesagt, und mit atemloser Spannung hatte Hanna die Tür geöffnet. Da war es, ihr eigenes Zimmer, ihr kleines Reich, in dem sie beinahe alles machen konnte, was sie wollte. Schon damals und bis zum heutigen Tag hatte Hanna die Enge nicht gestört.
Da waren das winzige Fenster, welches Richtung Ostsee lag, und die Kommode, die perfekt unter die Dachschräge passte. Über ihr knarrten die alten Balken. Besonders in den Nächten, wenn wilde Stürme über Rügen zogen und Poseidon mit seinem Gefolge auf der Ostsee tanzte. Dann ächzte und klagte das Dach, als wäre ihm die Last seiner Jahre mittlerweile zu viel.
Nur einmal hatte Hanna dieses Zimmer für längere Zeit verlassen. Damals, vor einigen Jahren, als sie sich in eine Beziehung mit Ralf, ihrer großen Liebe, gestürzt hatte. Zusammen hatten sie eine Wohnung in Binz, mit Blick auf den Schmachter See, angemietet. Und Hanna erinnerte sich, dass sie das Rauschen der Ostsee vom ersten Tag an vermisst hatte. Dabei war das Meer nicht weit entfernt gewesen, in knapp zehn Minuten konnte sie zu Fuß am berühmten Binzer Strand stehen.
Voller Stolz hatte Ralf sie über die Schwelle getragen, und sie hatten einander geschworen, für immer zusammenzubleiben. Das gemeinsame Glück währte jedoch nur kurz. Denn eines Abends hatte Hanna ihn mit einer anderen Frau in ihrem Schlafzimmer vorgefunden. Ausgerechnet in ihrem kleinen Reich, das ihr so viel bedeutet hatte. Ihr Kartenhaus war krachend zusammengestürzt, und voller Liebeskummer hatte Hanna wieder in ihrem ehemaligen Kinderzimmer in Glowe Zuflucht gesucht. Und das, obwohl ihre besten Freunde ihr davon abgeraten hatten.
»Nimm dir einfach eine eigene Bude, es gibt genügend günstige Appartements«, hatte Mia gesagt. »Du hast jetzt doch den Absprung bei deinen Eltern geschafft.«
Doch Hanna war überzeugt gewesen, dass nur hier, unter diesem Dach und in diesem Zimmer, ihr Herz heilen konnte. Und das hatte es dann tatsächlich auch getan.
Eine knappe Stunde später schlief Hanna immer noch nicht. Resigniert stand sie schließlich auf, zog dicke Wollsocken und den pinkfarbenen Bademantel an, den ihre besten Freunde Matthis und Mia ihr zum Dreißigsten geschenkt hatten, und öffnete das kleine Fenster weit. Draußen herrschte Stille. Weder der Schrei einer Möwe noch das Rauschen der Wellen war zu hören. Frische Meeresluft mit ihrem einmaligen Geruch nach Fisch und Seetang strömte ins Zimmer. Obwohl die Ostsee nur wenige Schritte entfernt lag, konnte Hanna sie von hier aus nicht sehen. Denn dazwischen, etwa vierzig Meter weiter, reckte sich der Schatten des Pensionsgebäudes in den Nachthimmel. Dessen Fenster waren allesamt dunkel, die wenigen Gäste schliefen vermutlich tief und fest in ihren Betten. Strandkieker – die Familienpension war der ganze Stolz ihrer Eltern.
Im Schein des Mondes streifte Hannas Blick über den Garten, die Fläche mit den Autostellplätzen und nach nebenan zum alten Hinrichsen. Der kleine Leuchtturm auf dessen Grundstück ließ seinen Lichtstrahl mit beruhigender Gleichmäßigkeit über die Sträucher wandern, deren Blätter mit dickem Raureif bedeckt waren. Unaufhörlich drehte sich die Lampe, wie sie es schon in Hannas Kindheit getan hatte. Einst war der alte Hinrichsen zur See gefahren und sammelte seitdem alles Maritime, was sich so ergattern ließ. Überall in seinem Haus und Garten fanden sich Anker, Bojen und sonstige Erinnerungsstücke ans Meer.
Fröstelnd schloss Hanna das Fenster wieder und öffnete behutsam die Tür in den kleinen Flur. Sie lauschte, doch unten war alles still. Links von ihrem Zimmer war das winzige Bad. Eine luxuriöse Errungenschaft, die sie nach ihrer damaligen Rückkehr auf eigene Kosten hatte einbauen lassen. Gegenüber befand sich ihr Büro, in dem sie den Schreibkram für die Pension erledigte. Zumindest den Teil, den ihr Vater ihr überließ. Auf der anderen Seite lagen das alte Schlafzimmer ihrer Eltern und Emmas Zimmer, das sie mittlerweile als Gästequartier nutzten.
Emma – beim Gedanken an ihre Zwillingsschwester schlug Hannas Herz schneller. Vor Wut. Erst gestern war wieder eine Karte aus Australien gekommen. Ihre Mutter hatte sich aufgeführt wie eine Irre und geradeso getan, als hätte ihr der liebe Gott persönlich geschrieben. Immer und immer wieder hatte sie die wenigen Zeilen gelesen und war anschließend mit der Karte zu sämtlichen Nachbarn gerannt.
Seit Jahren gondelte Emma schon in der Weltgeschichte herum, schickte Ansichtskarten und rief ab und zu mal daheim an. Ihre Eltern drehten dann jedes Mal durch vor Bewunderung darüber, was ihre Tochter sich so alles anschaute und unternahm und wie erfolgreich sie in ihrem Job war.
Hannas Begeisterung hielt sich in Grenzen. Vor fünfzehn Jahren hatte Emma eines Abends verkündet, das Angebot einer Jobagentur anzunehmen und für einen international tätigen Hotelkonzern zu arbeiten. Dann hatte sie ihre Koffer gepackt und war plitz, platz verschwunden. Sie hatte ihre Entscheidung damit begründet, dass Rügen ihr einfach zu klein wäre, und natürlich erwartete sie, dass alle anderen das genauso sahen und voller Verständnis waren. Vor zehn Jahren war Emma das letzte Mal daheim gewesen. Ihre knappe Zeit erlaube einfach keine Besuche, wiederholte sie bei jedem Telefonat, und alle fanden das ganz selbstverständlich. Alle außer Hanna, die hielt ihre Schwester einfach nur für selbstsüchtig und desinteressiert an allem, was zu Hause geschah. Nach Möglichkeit vermied sie jegliche Gespräche mit ihr und verließ den Raum, wenn die lange Nummer auf dem Display des Telefons aufleuchtete. Nur zu ihrem gemeinsamen Geburtstag schickten sie einander einen knappen Glückwunsch, der unpersönlicher nicht sein könnte.
Der Gedanke an ihre Schwester war frustrierend wie immer, und so schob sie ihn lieber beiseite. Hanna öffnete leise die Tür ihres winzigen Büros.
Von der Größe her glich es ihrem Schlafzimmer, war aber seitenverkehrt aufgebaut. Vor dem Fenster stand der Schreibtisch. Es gab mehrere Regale, die mit Aktenordnern gefüllt waren, und ein Waschbecken neben der Tür, da auch dieser Raum einst als Gästezimmer für Alleinreisende genutzt worden war. Ein flauschiger Teppich lag auf dem Boden, und bunte Aquarelle der Umgebung schmückten die freien Wandflächen.
Hannas silbrig glänzender Laptop wirkte wie ein Fremdkörper zwischen den unmodernen Möbeln, die schon reichlich Jahre auf ihrem Buckel hatten. Sie setzte sich auf den Stuhl und schaltete Schreibtischlampe und Computer ein. Mit routinierten Klicks checkte sie die wenigen Buchungsportale, auf denen ihre Pension gelistet war.
Zehn Minuten später stützte Hanna ihren Kopf in die Hände und blickte nach draußen in die Dunkelheit. Wieder nichts, keine einzige Buchung war eingegangen, und das, wo die Leute jetzt eigentlich Unterkünfte für den Sommer reservierten. Zumindest taten sie das bei den anderen Pensionsvermietern zur Genüge. Erst gestern hatte Hanna ihre Nachbarin Frau Hausmann getroffen, die in der Hauptsaison kein einziges ihrer Zimmer mehr frei hatte. Dabei hatten die Gäste in ihren Ferienwohnungen nicht mal Seeblick. Ausführlich hatte die Nachbarin sich darüber ausgelassen, dass sie Anfragen ablehnen musste, und Hanna dabei genau beobachtet. Beinahe schon begeistert hatten Frau Hausmanns Augen geglänzt, liebte sie doch Tratsch über alles.
Denn die geringe Auslastung der Sanderschen Pension Strandkieker war mittlerweile ein offenes Geheimnis in Glowe. Unter den Alteingesessenen kannte jeder jeden, und die Buchungszahlen waren leicht herauszufinden. Man brauchte nur eines der zahlreichen Internetportale aufzurufen oder mit Frau Janssen in der Touristeninformation zu reden, und schon wusste man, dass im Strandkieker noch mehr als genug Zimmer für die kommende Sommersaison frei waren.
In den Vorjahren hatte Hanna sich die schlechten Zahlen mit der reichlich vorhandenen Konkurrenz erklärt. Es gab unzählige Hotels, Ferienwohnungen, Privatzimmer und Pensionen – warum sollten die Gäste ausgerechnet zu ihnen kommen? Doch inzwischen wusste sie nur zu gut, dass es nicht daran lag. Sie musste der Realität ins Auge schauen: Die Pension war einfach veraltet. Die Zimmer waren das letzte Mal vor beinahe dreißig Jahren modernisiert worden. Seitdem hatten sich die Standards verändert. Kaum ein Urlauber wollte noch in einem winzigen Kabuff nächtigen, mit einem noch winzigeren Bad und unmodernen Möbeln. Oder mit ihren Eltern die immer gleichen nervtötenden Gespräche über das schlechte Wetter und die miserable Wirtschaftslage führen. Da halfen auch der Blick auf die Ostsee, das leckere Frühstück und die perfekte Sauberkeit des Hauses nicht weiter.
Hanna wusste das und ihre Mutter im Stillen auch. Doch Wilhelm sträubte sich seit Jahren gegen jede Neuerung. Er blieb stur bei seiner Meinung, dass alles gut sei, so wie es war, und es keinen Grund für die geringste Veränderung gebe.
»Jahrelang haben uns die Leute die Bude eingerannt, und plötzlich soll alles anders sein? Im Leben nicht. Neue Teppiche, Zimmer malern – Schwachsinn, alles bleibt, wie es ist, und gut.«
Und seine Krankheit trug ganz sicher nicht dazu bei, dass er einsichtiger wurde. Im letzten Sommer hatte Hanna sogar voller Verzweiflung einen seiner besten Freunde darum gebeten, Wilhelm doch umzustimmen, ihr die alleinige Leitung der Pension zu überlassen. Während eines Angelausfluges hatte der alte Kallenbach wirklich alles getan – doch umsonst. Vater hatte das Spiel nach kurzer Zeit durchschaut, seine Angelruten gegriffen und seinen Freund einfach am Steg sitzen lassen. Zu Hause hatte es dann ein Donnerwetter gegeben, zum ersten Mal hatten sie sich in der Küche so richtig gestritten. Nie zuvor hatte Hanna es gewagt, die Stimme gegen ihren Vater zu erheben. Aber an diesem Abend waren die Pferde mit ihr durchgegangen. Zu schwerwiegend waren die Sorgen, die sie in manchen Nächten keinen Schlaf finden ließen.
»Du wirtschaftest die Pension in den Ruin! Irgendwann wird überhaupt keiner mehr bei uns Urlaub machen«, hatte sie geschrien. »Und dann wird es zu spät sein. Es bringt nichts, das Geld zu horten. Du musst es wieder investieren, Papa. Lass uns zumindest die Heizungsanlage überholen. Der Klempner lehnt schon ab, zu uns zu kommen. Es kann nicht sein, dass man eine Viertelstunde auf warmes Wasser warten muss.«
»Nichts da, du hast das Geld auf dem Wirtschaftskonto, und das muss reichen. Immerhin hat es die ganzen Jahre gereicht. Rücklagen sind Rücklagen, deswegen heißen sie ja auch so, und sie werden auf keinen Fall angerührt – nur über meine Leiche!«
Hannas Mutter hatte schließlich versucht, die Wogen zu glätten, und die beiden Streithähne getrennt. Dass sich dadurch an der Situation nicht das Geringste änderte, war auch ihr bewusst.
Denn Hanna hatte ein eingeschränktes Mitspracherecht, ihr gehörte die Pension nur zu einem kleinen Teil. Ihr Vater hatte immer noch die Mehrheit, vor allem die Bankvollmachten, und daran ließ sich nicht rütteln.
Der laute Schrei einer Möwe vor ihrem Fenster holte sie aus ihren Gedanken. Langsam erwachte draußen die Natur. Hanna klappte ihren Laptop zu und warf einen Blick auf die tickende Wanduhr über dem Drucker. Es war kurz nach fünf. Zeit für ihr übliches Morgenprogramm.
Sie ging nach nebenan und schlüpfte in ihren Badeanzug, der über dem Heizkörper neben der Dusche baumelte. Dann zog Hanna den flauschigen Bademantel über und band die langen Haare zu einem Dutt zusammen. Leise lief sie anschließend die Treppe hinab. Unten, neben der Garderobe, standen ihre Turnschuhe, in die sie mit nackten Füßen stieg. Aus ihrer Handtasche holte sie den Hausschlüssel, den sie seit einigen Monaten dort versteckte, damit ihr Vater ihn nicht fand und ausbüxte. Behutsam drehte sie ihn im Schloss. Draußen vor der Haustür empfing sie klirrend kalter Frost. Es war Anfang März, und anscheinend wollte der Winter noch einmal seine Muskeln spielen lassen und den Frühling in Schach halten. Die Gräser in ihrem Vorgarten, die sich sonst immer in einer leichten Morgenbrise wiegten, wirkten wie erstarrt. Hannas Atem wehte als Dampffahne hinter ihr her, während sie im Laufschritt den Garten durchquerte. Die schmale Straße, die zu ihrem Haus führte, war menschenleer, kein Wunder um diese frühe Stunde und zu der kalten Jahreszeit. Die wenigen Straßenlaternen warfen ihren rötlichen Schein auf den Asphalt.
In vollem Tempo legte Hanna die die kurze Entfernung bis zum Promenadenweg zurück, passierte die Dünen und spürte augenblicklich den Sand unter ihren Schuhen. Versanken ihre Füße sonst immer bis zum Knöchel, fühlte es sich heute an, als liefe sie auf hartem Untergrund. Die Kälte hatte den Sand schockgefroren, mit all seinen kleinen Unebenheiten. Die Ostsee vor ihr wirkte wie ein glatter, dunkler Spiegel. Kein Licht war zu sehen, kein Schiff zog an diesem Morgen seine Bahn am Horizont, keine Welle plätscherte an Land. Die frechen Möwen und Sanderlinge, die sonst unablässig den Strand entlangflitzten, um etwas Essbares zu finden, schienen noch zu schlafen. So war es jeden Morgen, zumindest im Winter. Dann war Hanna weit und breit der einzige Mensch und fühlte sich eher wie eine Nixe, die ihr düsteres, kaltes Reich besuchen ging. Es herrschte eine ganz besondere Stimmung, die Traumwelt und Realität ineinander verschwimmen ließ.
Hanna stieg vorsichtig über ein dunkles Band aus altem Seegras, das wie eine Barriere wirkte und einen vermoderten Geruch verströmte. Sie machte den letzten Schritt bis zur Wasserlinie. Dort streifte sie ihren Bademantel ab, zog die Schuhe aus und legte alles übereinander. Eiskalte Luft ließ sie erschauern und bedeckte ihren Körper mit Gänsehaut. Hanna hielt den Atem an. Der erste Schritt war immer der allerschwerste und kostete einiges an Überwindung. Mit angespannten Muskeln tauchte sie ihren Fuß in die Ostsee. Erst den einen und dann den anderen. Wie eisige Klauen umschloss das Meerwasser ihre Knöchel. Hanna blickte konzentriert in den Himmel auf. Ein einzelnes Flugzeug blinkte hoch über ihr und folgte seiner Route. Langsam tastete sie sich vorwärts, spürte winzige Steine und Muscheln unter ihren Fußsohlen und stand schließlich bis zu den Oberschenkeln im Meer. Klitzekleine Wellen schwappten gegen ihre Beine und sorgten für weitere Schauer. Mit beiden Händen schöpfte Hanna Wasser und benetzte damit ihre Brust. Die Kälte traf sie wie ein Schock, ließ ihren Atem für einen kurzen Moment schwinden und brachte sie zum Schwanken. Doch gleich darauf holte sie tief Luft, zählte innerlich bis drei, warf sich dann nach vorn, tauchte mit ihrem Körper ein und schwamm einige Züge.
Am Anfang fühlte es sich immer an, als wäre es unmöglich, sich zu bewegen. Doch mit jedem weiteren Schwimmzug kehrten ihre sieben Sinne zurück, und sie begann ihren Körper zu spüren. Zuverlässig absolvierte Hanna ihr Programm, genauso wie jeden Morgen seit vielen Jahren. Nur wenn Sturm herrschte und das Meer aufgewühlt war, blieb sie daheim. An diesen Tagen vermisste sie etwas und war bis zum Mittag meist unausstehlich. Heute schwamm sie in vollem Tempo bis zu einer Markierung, die nur als Gefühl existierte. Es war sozusagen ihre innere Boje. Dann legte sie sich einen Moment auf den Rücken und bewegte Hände und Füße nur so viel, um nicht unterzugehen. Hanna nahm die Tiefe unter sich wahr. Manchmal kam es ihr vor, als würde diese nach ihr rufen. Auch heute Morgen fragte sie sich, was da wohl gerade in diesem Augenblick unter ihr seine Bahnen zog. Beinahe widerstrebend drehte sie sich um und kehrte langsamer wieder zurück zum Strand. Vor ihr blinkten die Lichter von Glowe. In mehreren der Häuser brannten nun Lampen, allmählich erwachte der Ort zum Leben.
Leise plätscherte das Wasser, während Hanna mit kräftigen Schwimmstößen auf das Ufer zusteuerte. Sie schmeckte das Salz auf ihren Lippen, merkte, wie das Meer sie trug, und fühlte sich unbeschreiblich frei und leicht. Sie liebte diese stillen Momente, die nur ihr ganz allein gehörten.
Minuten später erreichte sie den Strand, entledigte sich des nassen Badeanzuges und hüllte sich wieder in ihren Bademantel. Ihre Haut prickelte. Überdeutlich spürte Hanna, wie sich der weiche Stoff an ihren Körper schmiegte. Schon nach wenigen Schritten wurde ihr warm, beinahe heiß, und sie widerstand der Versuchung, den Bademantel abzustreifen.
Daheim sprang sie kurz unter die Dusche und spülte das Salzwasser ab. Dann cremte Hanna sich ein, ganz besonders die großen Brandverletzungen am Arm, die sie seit ihrer Kindheit begleiteten. Seit damals, als sie den Topf vom Herd gerissen und sich siedendes Öl über den Körper geschüttet hatte. Die wulstigen Narben würden ein Leben lang bleiben, doch Hanna trug sie mit Fassung. Sie hatte sich an deren Anblick gewöhnt. Sie waren ein Teil ihrer Geschichte.
Während sie ihre dunklen Haare bürstete, betrachtete sie sich im Spiegel. Da waren ihre grünen Augen, die etwas zu groß geratene Nase und die Lachgrübchen auf den Wangen. Ihr Mund war voll und sinnlich, zumindest sagte das ihre beste Freundin immer. Hanna war mit sich zufrieden, so wie sie war. Sie hielt nichts von morgendlicher Faltensuche und ähnlichen Spielereien. Das lag vielleicht auch an ihrem Singledasein, sie musste momentan nur sich und niemand anderem gefallen.
Dann zog Hanna sich eine bequeme Jeans und einen Wollpullover an und huschte die Treppe nach unten. Von der Flurgarderobe nahm sie ihren selbstgestrickten Schal, setzte die dicke Wollmütze auf und schlüpfte in ihre warme Winterjacke. Ohne eine Lampe anzumachen, lief sie quer über den Hof zur Pension, öffnete die hintere Tür und betrat die Küche. Gestern Abend hatte sie noch die Tische fürs Frühstück gedeckt. Jetzt drehte sie die Heizung auf Anschlag, damit es die Gäste später gemütlich warm hatten. Hanna nahm den Einkaufskorb und legte den Zettel mit den Brötchenbestellungen hinein.
Ihr Fahrrad lehnte unter dem kleinen Schauer hinter dem Haus, in dem die Gäste ihre Räder oder Angelsachen abstellen konnten. Hanna zerrte es heraus, schwang sich hoch und radelte bis zur Hauptstraße. Kühler Fahrtwind blies ihr ins Gesicht, doch nach ihrer morgendlichen Erfrischung konnte sie nichts mehr schocken. Durch Glowe führte eine beinahe schnurgerade Straße, an der die Häuser, Hotels und Gaststätten wie an einer Perlenschnur aufgefädelt waren. Hanna hielt sich rechts und passierte den neuen Ortskern mit dem großen modernen Gebäude aus Glas und Beton. Dort waren jetzt Eigentumswohnungen, die Touristeninformation und Geschäfte untergebracht. Jeden Morgen ließ sie ihren Blick darüber gleiten und konnte sich dennoch nicht recht daran gewöhnen. Immer noch kam es ihr vor, als würde das riesige Bauwerk den kleinen Ort am Meer erdrücken. Manche Menschen sahen das vollkommen anders und hielten das Hochhaus für eine Bereicherung. Und Hanna hoffte, dass sich auch ihre Sichtweise eines Tages ändern würde.
Schon von der Ferne leuchtete ihr das vertraute Bäckerschild von Meister Arndt entgegen. Für sie der beste Bäcker im ganzen Ort und seit vielen Jahren eine feste Institution bei Einheimischen und Touristen. Schon als kleines Mädchen hatte sie hier morgens mit ihrer Mutter Brötchen für die Gäste geholt oder sich so manches leckere Stückchen Kuchen gegönnt. Besonders während ihres Liebeskummers war Hanna zu einer Stammkundin geworden, die jeden Nachmittag vorbeischaute. Aber diese Zeiten waren vorbei und die angefutterten Frustpfunde längst wieder verschwunden.
Brigitte, die freundliche Verkäuferin, räumte schon fleißig Backwaren in die Auslage. Nicht ganz so viele wie im Sommer, doch genug, um Hanna mit ihrem Duft das Wasser im Munde zusammenlaufen zu lassen.
»Moin Hanna, na, bist du wieder mit dem Fahrrad da? Brrr, ich habe heute Morgen das Auto genommen. Wie ich dich kenne, warst du bestimmt auch wieder baden.« Strahlend schaute die Frau sie an.
Hanna lachte und nahm die Wollmütze von ihrem Kopf. »Moin Brigitte. Na klar, so kalt ist es doch nicht. Vorher ein kleiner Spurt und dann ab in die Fluten.«
Die rundliche Verkäuferin schüttelte sich gespielt. »Du bist wirklich verrückt. Na, mir wäre das nix. Ich geh erst ins Wasser, wenn die Ostsee mindestens dreiundzwanzig Grad hat.« Erwartungsvoll streckte sie ihre Hand über den Tresen und nahm den Korb entgegen. »So, was haben wir denn heute.«
»Ist nicht so viel«, sagte Hanna entschuldigend und riss ihren Blick mühevoll vom prächtigen Kuchenangebot los.
Während Brigitte Brot und Brötchen in den Korb legte, meinte sie: »Na ja, es ist Anfang März, mach dir keine Gedanken. Da verirren sich nicht so viele Leutchen hierher. Wirst sehen, in ein paar Wochen schaut es wieder ganz anders aus.« Sie schwieg kurz und musterte Hanna, der das Thema plötzlich mehr als unangenehm war. »Wie geht’s denn Wilhelm? Hab ihn gestern im Supermarkt getroffen und einen kleinen Schwatz mit ihm gehalten.«
»Sag bloß, er hat dich erkannt?«, fragte Hanna erstaunt.
»Ach nein, anfangs nicht.« Brigitte verzog ihr Gesicht und schüttelte den Kopf. »Er hielt mich wohl für einen eurer Gäste. Aber dann klingelte es, und wir haben über die alten Zeiten geredet. Eine scheiß Krankheit, ausgerechnet der Wilhelm, wer hätte das gedacht. Der war früher der Klügste und hat nichts, aber auch gar nichts vergessen.« Sie reichte ihr den Korb wieder über den Tresen. »Sonst noch was? Vielleicht was Süßes auf den Weg, so wie früher immer?«
Hanna seufzte und verabschiedete sich innerlich vom ziemlich lecker aussehenden Quarkkuchen. »Nein danke, das war’s für heute. Bis morgen.«
Und schon war sie zur Tür hinaus.
In der Pension angekommen erledigte sie mit der üblichen Morgenroutine die anfallenden Arbeiten. Sie kochte Kaffee in der winzigen Küche, schnitt Brotscheiben ab, dekorierte Käse- und Wurstplatten, füllte die Schüsseln mit ihrem selbstgemachten Eiersalat, formte kleine Butterstückchen zu Rosen und schaffte alles nach und nach in den Frühstücksraum mit den großen Verandafenstern. Hanna hatte sich vor einigen Monaten durchgesetzt und die alten Gardinen entfernt. Jetzt hatten die Gäste einen freien Blick in den Garten und auf den Promenadenweg. Stattdessen schmückten hölzerne Möwen, Strandgut und besonders schöne Steine die Fensterbretter. Im letzten Winter hatte sie noch ihre Muschelsammlung durchstöbert und einige der großen Exemplare auf grobe Stricke aufgefädelt. Jedes zweite Fenster war nun damit dekoriert.
Zum Schluss drehte Hanna eine letzte Kontrollrunde und blickte sich zufrieden um. Alles wirkte gemütlich und korrekt. Die dunkelblauen Tischdecken waren sauber, die weißen Servietten perfekt gefaltet, und die Kerzen in ihren getöpferten Ständern warteten nur darauf, gleich nach dem Eintreffen der Gäste entzündet zu werden. Ihre Frühstücksveranda war nicht groß, dennoch fand alles seinen Platz, und das Wichtigste waren sowieso das leckere Essen und die Gastfreundschaft. Zumindest in diesem Punkt stimmte Hanna ihrem Vater zu.
Jetzt, wo alles fertig war, blieb ihr ein bisschen Zeit, um einen kurzen Blick in die Tageszeitung zu werfen und einen Moment die Beine hochzulegen. Hanna setzte sich auf einen Stuhl, von dem aus sie den Frühstücksraum genau überschauen konnte. Aber ihr würde sowieso kein Gast entgehen, denn auch hier hörte man jeden Schritt überdeutlich auf der alten Treppe knarren. Kaum hatte Hanna die Zeitung aufgeschlagen, öffnete sich die hintere Tür, und ihre Mutter kam herein.
Anita wirkte blass, sie schien Tag für Tag kleiner und zarter zu werden. Ihre mittlerweile grauen Haare trug sie kurz, in einem einfachen Schnitt, der nichts mehr mit den sorgfältig frisierten Locken zu tun hatte, die sie sich früher allmorgendlich gezaubert hatte. Die Sorge um ihren Mann und die Pension setzten auch ihr zu und ließen keine Zeit für die Schönheitspflege.
Prüfend musterte Anita Tische und bereitstehende Speisen auf der Veranda und nickte Hanna dann zufrieden zu. Ein sanftmütiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Guten Morgen, na, gut geschlafen?«
»Es geht so«, log Hanna. »Und du, wie hast du geschlafen?«
»Auch gut.« Anita schielte über den Tisch zu ihr herüber und schien ihren prüfenden Blick zu bemerken. Beide wussten, dass keine von ihnen gut geschlafen hatte, und doch veranstalteten sie jeden Morgen das gleiche Spiel. Hannas Mutter gab zuerst auf. »Ach, was soll’s.« Sie winkte ab, öffnete den Schrank und entnahm ihm eine einfache Kaffeetasse mit weißen Punkten. »Du hast uns gehört, und ich hab dich gehört. Wie viele Stunden hast du denn wieder vor dem vermaledeiten Computer verbracht, statt zu schlafen?«
Hanna zuckte die Schultern. »Es war gar nicht so lange. Ich hab nach Buchungen geschaut.«
»Haben wir dich geweckt? Ich glaube, Papa hat gestern Abend seine Medizin wieder nicht genommen. Ich muss einfach mehr darauf achten, dass er die verdammte Pille auch wirklich schluckt. Er hat seine alten Angelsachen gesucht – im Schlafzimmer! Was soll man dazu sagen. Zum Glück ließ er sich schnell beruhigen.« Anita goss sich einen Kaffee ein und setzte sich dann neben ihre Tochter an den Ecktisch. »Und, haben Gäste gebucht?«
»Nein, nichts«, sagte Hanna frustriert. »Rein gar nichts. Ich hab bei den anderen geschaut, da ist vieles schon ausgebucht.«
»Ach, das kommt schon noch«, meinte ihre Mutter und zwang ein krampfhaftes Lächeln auf ihr Gesicht.
Hanna schaute auf das Papier vor ihrer Nase und rang mit sich. Die Buchstaben tanzten vor ihren Augen. Dann straffte sie ihren Rücken und schlug die Zeitung energisch wieder zu. »Machen wir uns nichts vor, Mama, es werden keine Buchungen kommen. Okay, vielleicht noch ein paar. Aber die werden uns nicht aus unserer Misere helfen. Der Sommer wird die absolute Katastrophe, wenn nicht noch ein Wunder geschieht. Wir müssen den Tatsachen endlich ins Auge sehen: Wenn es so weitergeht, müssen wir die Pension schließen oder alles verkaufen.«
Anita zuckte kurz zusammen, rührte dann aber stoisch in ihrem Kaffee und musterte die Pinnwand vor ihrer Nase. Daran waren die ganzen Ansichtskarten geheftet, die Emma aus allen Teilen der Welt geschickt hatte. »Hach, wenn unser Emmchen nur hier wäre. Dann würde alles gut werden. Die hätte ganz bestimmt eine Idee, arbeitet sie doch in so vielen verschiedenen Hotels.«
Hastig nahm Hanna einen Schluck Kaffee und verbrühte sich fast die Zunge. Zu weh taten die Worte ihrer Mutter, auch wenn sie sicherlich anders gemeint waren. Ein Kloß saß in ihrer Kehle und trieb ihr Tränen in die Augen.
»Wenn Emma einen Zauberstab mitbringt oder die verdammte Heizungsanlage repariert, dann wird sie uns sicherlich helfen können. Aber Madam zieht es ja vor, in der Weltgeschichte herumzugondeln«, stieß sie wütend hervor.
»Du tust ihr Unrecht«, murmelte ihre Mutter und nahm einen großen Schluck. »Sie hat sich eben für einen anderen Weg entschieden und ist sehr erfolgreich damit.«
Ruckartig schob Hanna ihren Stuhl nach hinten und sprang auf. Mit beiden Händen stützte sie sich auf dem Tisch auf und blickte Anita direkt in die Augen. »Ist sie das? Na, wenn du meinst!« Worte kamen ihr in den Sinn, die so verletzend waren, dass sie sie nicht aussprechen wollte. Mühsam kämpfte sie ihre Wut nieder. »Ich hab hier jedenfalls zu tun und muss dafür sorgen, dass nicht alles den Bach runtergeht«, presste sie hervor. »Gleich kommen nämlich die ersten Gäste, und ich muss noch Eier kochen.«
Hastig drückte Hanna auf den Radioknopf und wirbelte dann geschäftig durch die Küche. Ein bekannter Schlager erfüllte den Raum, konnte ihr jedoch die gute Laune nicht wiederbringen. Diese allmorgendlich stattfindenden Gespräche mit ihrer Mutter gaben ihr den letzten Rest, wiederholten sie sich doch jeden Tag, ohne das geringste Ergebnis.
Zum Glück trudelten wenig später tatsächlich die ersten Gäste ein und brachten sie auf andere Gedanken. Die nächsten zwei Stunden übte Hanna sich in Smalltalk, sprach über Wind, Wetter und die Wirtschaftslage und musste sich anhören, dass früher sowieso alles besser gewesen war. Tapfer nickte sie, schaute interessiert und spürte doch immer wieder, wie ihre Gedanken auf Reisen gingen.
Am Ende saß nur noch das Ehepaar Schmitt aus Dresden an seinem üblichen Ecktisch mit Blick auf den Deich. Die beiden ließen sich heute erstaunlich viel Zeit, rührten in ihrem kalten Kaffee und musterten immer wieder verstohlen Hannas Mutter, die Geschirr abräumte und versuchte, sich anderweitig nützlich zu machen.
Erst als Wilhelm draußen im Garten auftauchte und vorhatte in Hausschuhen spazieren zu gehen, verabschiedete ihre Mutter sich hastig. Kaum dass sie zur Tür hinaus war, winkte Herr Schmitt Hanna zu sich an den Tisch. Betrübt betrachteten die beiden ihre Eltern durch das Fenster.
»Mein Gott, der Wilhelm, ich kann es immer noch nicht fassen«, murmelte Herr Schmitt und warf seiner Frau einen Blick zu. Die nickte kaum merklich.
Angesichts der säuerlichen Mienen der beiden alten Leute ahnte Hanna, dass jetzt keine gute Nachricht auf sie zukam. Sie sollte Recht behalten.
Herr Schmitt holte tief Luft, suchte sichtlich nach Worten und hob erst nach einem kräftigen Rempler seiner Frau zu reden an.
»Hannchen, wir müssen mal was mit dir besprechen«, sagte er unsicher. »Und das fällt uns nicht leicht, das musst du uns glauben. Schließlich kommen wir so viele Jahre hierher. Schon als Baby haben wir dich auf unserem Schoß gehabt. Der Urlaub bei euch war immer wie der Besuch bei Freunden, weißt du?«
Nervös schaute er seine Frau an. Die stieß einen tiefen Seufzer aus und übernahm schließlich selbst das Reden.
»Hanna, wir müssen unsere Buchungen für Frühjahr und Herbst dieses Jahres stornieren«, platzte sie heraus und verschränkte ihre Hände.
Stille senkte sich über den Raum. Hannas Gedanken rasten. Familie Schmitt, das waren alte Leute, vielleicht stand irgendeine Operation oder so was an. Oder der Weg von Dresden bis hierher ans Meer war ihnen einfach zu weit geworden. Doch in diesem Moment sprach Frau Schmitt weiter. Mit festem Blick schaute sie Hanna in die Augen. »Weißt du, Hanna, wir wollen ganz ehrlich zu dir sein. Es ist wegen des Zimmers, vor allem wegen der Dusche. Der Wasserdruck ist eine Katastrophe, warmes Wasser kommt nur selten, und ich schaffe den Einstieg in die Kabine einfach nicht mehr. Diese vordere Kante ist zu hoch, vor Kurzem bin ich beinahe gestürzt.« Zögernd wechselten die beiden Alten einen kurzen Blick. »Wir haben uns gestern eine andere Pension angeschaut, mit altersgerechten Zimmern, und da haben wir uns schweren Herzens umentschieden.«
Hanna nickte und zwang ein Lächeln auf ihr Gesicht. »Ja, das kann ich gut verstehen.«
»Du musst uns glauben, das ist uns wirklich nicht leichtgefallen. So viele Jahre, wie wir schon herkommen, aber dieses Mal war es endgültig das letzte. Wir wollten es nur dir sagen. Deine Mutter hat ja genug Kummer mit Wilhelm, und du kümmerst dich ja jetzt um alles hier.«
Hannas Finger glitten über die blaue Tischdecke mit den weißen Möwen und verfolgten einen der hineingebügelten Falze.
»Ja, ich verstehe das schon«, wiederholte sie wie ein Automat.
Mit trauriger Miene schoben die beiden ihre Stühle nach hinten. Herr Schmitt legte ihr noch einmal die Hand auf die Schulter und verließ dann fluchtartig mit seiner Frau den Frühstücksraum.
Wie erstarrt blieb Hanna auf ihrem Stuhl sitzen und beobachtete eine dicke Amsel, die vor der Veranda auf einem Zweig saß und sich provozierend aufplusterte. Es schien fast, als würde sie Hanna mit ihren kleinen schwarzen Knopfaugen anlachen. Nach einer Weile erhob sich der Vogel und hüpfte weiter zum nächsten Ast.
Erst das laute Klingeln des Telefons brachte Hanna wieder zurück in die Gegenwart. Mit schweren Gliedern rappelte sie sich auf. Doch als sie den Hörer abnahm, ertönte nur ein Tuten. Sie war zu langsam gewesen. Das Display zeigte nicht mal eine Nummer an, die sie hätte zurückrufen können.
Resigniert räumte Hanna das restliche Geschirr ab, verstaute die übrig gebliebenen Lebensmittel und bestückte den Geschirrspüler. Dann schüttelte sie die Tischdecken aus und ersetzte diejenigen, die einen Fleck aufwiesen. Normalerweise beruhigten sie diese vertrauten Handgriffe, doch heute verspürte sie eine Übelkeit, die immer schlimmer wurde.
Oben auf dem Kühlschrank lag das dicke Reservierungsbuch für dieses Jahr. Eigentlich benutzte Hanna ihren Computer, aber das Buch führte sie zusätzlich für ihre Eltern, die es nicht so mit der modernen Technik hatten. Mit einem Radiergummi entfernte sie die reservierten Termine aus dem Plan und betrachtete dann die leeren Seiten. Beinahe höhnisch schienen sie ihr zuzugrinsen. Wütend widerstand Hanna nur mit allergrößter Beherrschung dem Drang, das Reservierungsbuch an die Wand zu pfeffern.
Stattdessen suchte sie sich einen anderen Kanal für ihre Wut. Zum Herrichten der Zimmer war es noch zu früh. Die meisten Gäste verließen erst zu späterer Stunde das Haus. Obwohl das Wetter alles andere als perfekt dafür war, begann Hanna schließlich die großen Scheiben der Frühstücksveranda zu säubern. Sie gab reichlich Putzmittel in den Eimer, schnappte sich einen Lappen und die Poliertücher und legte los. Durch die Kälte waren ihre Fingerknöchel nach kurzer Zeit feuerrot, doch die anstrengende Arbeit half dabei, ihre Emotionen zu verarbeiten. Keuchend rieb Hanna auf den Scheiben herum.
»Ist das heute nicht bisschen zu kalt zum Fensterputzen, Mädel?«, ertönte hinter ihr eine knarzende Stimme.
Hanna drehte sich um und sah Nachbar Hinrichsen hinter der Hecke stehen. Neben ihm lehnte eine Leiter.
»Nee, das Wetter ist ideal«, log Hanna und polierte weiter. Doch dann besann sie sich und legte den Lappen auf das Fensterbrett.
»Moin Hinrichsen, und du, was willst du bei der Kälte machen?« Sie trat näher an die Hecke heran und blickte in den anderen Garten.
Der Alte entblößte eine ziemlich große Zahnlücke im vorderen Bereich, seine meerblauen Augen grinsten mit. Wie üblich trug er einen blauen Arbeitsanzug mit einer dicken Jacke darüber und seine verblichene Bommelmütze. Sein Bart war silbergrau, wie bei dem Mann aus der Fischstäbchenwerbung.
»Ich werd mal anfangen, die Bäume da zu verschneiden.« Hinrichsen deutete hinter sich. »Das Frühjahr kommt schneller, als man denkt, und man muss sich die viele Arbeit einteilen.«
»Siehste, Hinrichsen, und mir geht’s genauso. Ich hab auch so viel zu tun.«
»Aber Fenster putzen? Na ja, Mädel, ich alter Mann kenn mich nicht mehr aus.« Dann schaute er in den Himmel. »Ich glaube, wir bekommen heute noch Schnee. Ich spür so ein Reißen in den Knochen.«
»Noch ist kein Schnee in Sicht, geschweige denn irgendwelche Wolken. Trotzdem glaube ich, dass du wieder Recht haben wirst. Bist eben ein richtiger Wetterfuchs.« Hanna lachte. Dann bemerkte sie einen gut gekleideten Mann in einem langen Mantel, der soeben den schmalen Weg vor Hinrichsens Grundstück entlanggeschlendert kam. Neugierig blickte er über den Gartenzaun und öffnete dann das niedrige Türchen. Mit einer gewissen Anspannung schaute er zu ihnen herüber.
»Aber ich glaube, jetzt kriegst du erst mal Besuch.«
Hinrichsen drehte sich um, wobei die Leiter neben ihm gefährlich ins Wanken geriet, und musterte den Neuankömmling prüfend.
»Schon wieder so einer«, stieß er aus. »Bestimmt noch ein Bankfuzzi aus Stralsund, na dem werd ich was erzählen. Die sehen nämlich alle gleich aus und stinken nach Geld und krummen Geschäften. Ständig hetzen mir meine Kinder solche Halsabschneider auf den Leib. Nix als Geld im Kopf, die ganze Bagage.« Humpelnd machte er sich davon, und Hanna schaute ihm lächelnd nach.
Sie kannte die Avancen der Kaufinteressenten nur zu gut. Auch ihnen hatte man schon ein geradezu schwindelerregendes Angebot unterbreitet. Hinrichsen würde stur bleiben, das wusste sie, ein Verkauf kam für ihn nicht infrage. Zu sehr hing er an seinem kleinen Häuschen und dem schmucken Garten. Die beiden Männer verschwanden im Inneren, und dann herrschte erneut Stille.
Eine halbe Stunde später war Hanna mit dem Putzen der Fenster fertig und betrachtete das Resultat aus der Ferne. Wenn sie ganz ehrlich war, wirkte das Glas reichlich verschmiert. Alle Nacharbeiten halfen nichts, die unschönen Schlieren blieben.
Wenn das ihre Eltern sahen, würde es wieder spitze Bemerkungen hageln, doch nach der Absage von Familie Schmitt war ihr alles egal.
In der Küche kochte Hanna sich erst mal einen heißen Tee und umklammerte mit ihren kalten Fingern die Tasse, um sich etwas aufzuwärmen. Da klingelte erneut das Telefon.
»Pension Strandkieker, Hanna Sanders«, meldete sie sich.
»Na endlich, ich hab schon x-mal versucht, dich anzurufen«, tönte die fröhliche Stimme ihrer besten Freundin Mia durch den Hörer. »Wo warst du denn bei dieser Kälte?«
»Ich hab Fenster geputzt«, meinte Hanna knapp.
»Fenster geputzt! Bist wohl vollkommen verrückt geworden. Was ist denn nun schon wieder passiert? Wieder keine Buchungen?«
Sie stellte die Teetasse vorsichtig auf den Tisch. »Wenn’s nur das wäre. Es ist noch schlimmer, Schmitts haben storniert.«
»Wirklich? Ach du liebes bisschen. Und nun?«
»Nix und nun, es ist nicht zu ändern. Wenn es so weitergeht, schaue ich nur noch auf leere Seiten.« Hanna schluckte und rang tapfer eine aufsteigende Träne nieder. »Aber es wird schon werden. Die Saison ist noch nicht losgegangen.«
Mia holte tief Luft. »Nun hör aber auf, die starke Frau zu markieren. Großer Mist ist das alles. Was hältst du davon, wenn wir uns heute Mittag im Choco la vie treffen und du dich mal richtig ausheulst?«
Hanna schloss die Augen und ging ihre Tagesplanung durch. Die drei belegten Zimmer hätte sie schnell gereinigt und für Ordnung gesorgt. Bis heute Mittag wäre sie damit lässig fertig. »Das wäre wunderbar. Ich bräuchte wirklich mal jemanden zum Reden, und Matthis ist ja immer noch in Berlin.«
»Na siehst du, dafür sind Freunde doch da. Also, dann sagen wir um eins, das müsste ich schaffen. Hab nicht mehr so viel auf dem Schreibtisch. Bis später, Hannchen. Und ich freu mich auf dich, aber nur, wenn du jetzt aufhörst Trübsal zu blasen.« Dann senkte sie ihre Stimme. »Nun muss ich aber Schluss machen, mein Chef kommt gerade zur Tür herein.« Und schwups hatte sie den Hörer aufgelegt.
Die Vorfreude auf die mittägliche Verabredung mit ihrer besten Freundin gab Hanna Schwung, und so wirbelte sie voller Elan durch die kleinen Pensionszimmer und sorgte überall für Ordnung. Sie schüttelte die Betten auf, strich die Laken glatt, schrubbte die Badezimmer und verteilte zum Schluss die üblichen Leckereien auf den Kopfkissen.
Kurz nach zwölf war sie fertig und lief über den Hof zum Wohnhaus der Familie. Der alte Hinrichsen schien tatsächlich Recht gehabt zu haben. Denn mittlerweile kamen dunkle Wolken über die Ostsee gezogen. Ein empfindlich kalter Wind wehte und erinnerte eher an November als an März. Wieder einmal schien das Frühjahr in weite Ferne gerückt zu sein. Selbst die dicke Amsel im Baum war verstummt.
Gerade als sie die Treppe nach oben wollte, rief ihre Mutter sie aus der Küche zurück. »Hanna? Die Kartoffelsuppe ist fertig.«
»Nicht für mich, ich treff mich heute Mittag mit Mia im Choco la vie.«
Wilhelm schnaufte verächtlich hinter ihr her. »Überall dieser neumodische Kram. Früher haben die Leute ein Fischbrötchen gegessen und waren zufrieden. Und jetzt …«
Er winkte ab und ließ den nächsten Löffel Kartoffelsuppe in seinem Mund verschwinden. Wie immer trug er seine dunkelbraune Manchesterhose und ein blau-weiß gestreiftes Hemd. Der Haarkranz an seinem Hinterkopf, der immer schmaler wurde, war kurz gehalten und hatte inzwischen die gleiche graue Farbe wie der Schnurrbart unter seiner Nase. Nur die meerblauen Augen hatten ihre Strahlkraft behalten.
Hanna lehnte sich an den Türrahmen und zählte innerlich bis zehn. »Du kannst den Topf auf dem Herd stehen lassen, Mama. Ich esse dann heute Abend den Rest. Aufgewärmt schmeckt die Suppe eh am allerbesten.«
Anita schaute sie prüfend an. »Ist sonst alles in Ordnung? Ich hab gesehen, du hast die Fenster geputzt?«
Nebenbei entwand sie ihrem Mann ein Brötchen, das dieser klammheimlich in seiner Jackentasche verschwinden lassen wollte.
Wilhelm guckte sie beleidigt an. »Das ist für unsere Hasen.«
»Aber Wilhelm, wir haben seit zehn Jahren keine Hasen mehr. Iss das Brötchen lieber selbst.« Dann wandte sie sich wieder ihrer Tochter zu. »Die Fenster, warum hast du die denn bei der Kälte geputzt?«
»Die waren mal wieder dran«, meinte sie beiläufig. Dann blickte Hanna auf ihre Armbanduhr. »Aber jetzt muss ich wirklich.«
2
Kurz vor eins näherte Hanna sich dem Choco la vie und stellte ihr Fahrrad am Ständer ab. Inzwischen war der Himmel bleigrau, und erste Schneeflocken schwebten herab. Hinrichsens alte Knochen hatten also tatsächlich Recht gehabt. Der Wind hatte nochmals aufgefrischt und pfiff um das neugebaute Gebäude vor ihrer Nase.
Vor einiger Zeit war der Ortskern von Glowe umgestaltet worden. Neben dem großen Geschäftshaus an der Straße war auch ein flacheres Nebengebäude entstanden, das Platz für mehrere Ferienwohnungen und Läden bot. Und in einem davon hatte eine Chocolaterie aufgemacht, die schon bald zu Hannas absoluten Lieblingslokalen zählte.
Hier gab es einfach die allerbeste heiße Schokolade der ganzen Welt. Besonders die Sorte mit einer winzigen Prise Chili hatte es Hanna angetan. Sie wärmte von innen und weckte die Lebensgeister. Und manchmal kam es ihr vor, als entführte sie diese Schokolade für die Trinkdauer in fremde Welten.
Von drinnen winkte ihr Mia zu, die sich einen Tisch direkt am Fenster gesucht hatte.
»Ich bin diesmal überpünktlich aus dem Büro gekommen«, strahlte sie Hanna entgegen und nahm sie liebevoll in den Arm. Dann schob Mia sie ein Stück von sich und betrachtete sie besorgt. »Du meine Güte, du siehst ja aus wie eine wandelnde Quarkschüssel. Dagegen müssen wir dringend etwas tun. Du brauchst mal eine Auszeit oder eine Portion Sonnenschein – oder am besten beides.«
»So schlimm ist es nun auch nicht«, murmelte Hanna und wickelte ihren Schal vom Hals. »Du übertreibst mal wieder maßlos.«
Die langen Ohrringe ihrer Freundin baumelten empört hin und her. »Na, wie das blühende Leben siehst du nun wirklich nicht aus. Ist ja auch egal, wir päppeln dich schon wieder auf. Ich hab übrigens Zeit bis drei. Ole holt heute die Kinder aus dem Kindergarten ab. Er ist eben einfach der Allerbeste.«
Bei der Erwähnung von Mann und Kindern liefen Mias Wangen noch röter an. Sie war aus tiefstem Herzen Ehefrau und Mutter und ging in ihrer kleinen Familie förmlich auf vor Glück. Nur manchmal, in knappen Nebensätzen spürte Hanna, dass in Mias Beziehung mittlerweile der Alltag eingekehrt war. Doch wann immer sie nachhakte, wechselte ihre Freundin geschickt das Thema. Hanna beließ es dabei. Aus der Vergangenheit wusste sie, dass sich Mia ihr eines Tages anvertrauen würde.
Wie immer trug ihre Freundin die dunklen Haare raspelkurz geschnitten, mit modernen knallroten Strähnen darin. Ihr Gesicht war mehr als im Alltag nötig geschminkt, doch Mia stand das stärkere Make-up einfach. Dazu hatte sie sich in ein rotes Kleid gehüllt, das ihren üppigen Kurven schmeichelte.
»Na, nun setz dich endlich. Ich hab dir schon deine Lieblingsschokolade geordert.«
Gleich darauf steuerte Kellnerin Gabi ihren Tisch an und stellte die duftenden Tassen vor ihnen ab. Genießerisch schloss Hanna ihre Augen und zog den verführerischen Geruch tief in ihre Nase. Augenblicklich fühlte sie sich besser. Die Sorgen um die Pension schienen plötzlich ganz weit entfernt zu sein.
»Nun schieß los, ich bin ganz Ohr«, unterbrach Mia ihre Träumereien.
Eine Viertelstunde später hatte Hanna ihre Freundin auf den aktuellen Stand gebracht. Nachdenklich schaute Mia in ihre Schokolade. »Ganz ehrlich, die Kiste wird immer verfahrener. Am liebsten würde ich zu dir sagen: Streich die Segel und such dir was Neues.«
Doch angesichts Hannas ablehnenden Gesichtsausdruckes hob sie beschwichtigend die Hände. »Ja, ja, ich weiß schon. Deine Eltern, dein kranker Vater, ich weiß das alles. Dennoch wäre es besser, du könntest einen Schlussstrich unter diese Sache ziehen. Solange Wilhelm dir nicht alles übergibt, reibst du dich nur unnötig auf. Du rackerst und rackerst und verplemperst deine Zeit in dieser Bruchbude, die ihr vermutlich sowieso bald dichtmachen oder verkaufen müsst. Hanna, jetzt ist die beste Zeit deines Lebens. Wann, wenn nicht jetzt sollte man genießen und glücklich sein?«
Hanna schluckte, die Worte ihrer Freundin trafen sie mitten ins Herz. Und sie wusste, dass Mia mit allem, was sie gesagt hatte, Recht hatte.
In diesem Moment ertönten draußen trampelnde Schritte, die Tür wurde geöffnet, und ein Mann betrat den Raum. Mit ihm wehten ein paar Schneeflocken ins Warme und sanken auf den Abstreicher hinter der Tür. Neugierig drehten Hanna und Mia sich um. Mit einer Hand strich sich der Fremde den Schnee aus den Haaren, während er sich suchend umblickte. Dann zog er seinen Mantel aus, hängte ihn an die Garderobe und setzte sich zwei Tische weiter in einen der bequemen Sessel direkt am Fenster. Mit ernster Miene studierte er die Getränkekarte und winkte dann Gabi zu sich heran.
Mia spitzte ihre Lippen und deutete mit dem Kopf auf ihn, wobei ihre langen Ohrringe heftig baumelten.
»Nicht schlecht, oder? Kaum zu glauben, was mitten im Schneesturm so alles nach Glowe geweht wird«, meinte sie grinsend.
Hanna verdrehte die Augen. »Darf ich dich daran erinnern, dass du glücklich verheiratet und zweifache Mutter bist.«
Entrüstet blickte Mia sie an. »Ich schau doch nicht wegen mir, sondern wegen dir! Wird mal wieder Zeit, dass du einen Kerl in dein Bett bekommst und endlich aufhörst, diesem Ralf nachzutrauern.«
»Ich trauer doch gar nicht mehr. Außerdem wäre es mir lieb, wenn du heute nicht auch noch mit dem Thema Ralf anfingst. Es gibt gerade schon genug Baustellen in meinem Leben.«
Da klingelte das Smartphone des Mannes. Er erhob sich, um draußen zu telefonieren, warf dann aber einen prüfenden Blick in den heulenden Sturm und setzte sich wieder hin. Mit gesenkter Stimme nahm er den Anruf entgegen. »Ja, was ist denn?« Dann lauschte er. »Keine Ahnung, ich bin gerade erst angekommen, und die Touristeninformation hat über Mittag zu.« Er stöhnte leise auf. »Ich werde bestimmt was finden. Der Ort gefällt mir schon mal. Sehr ruhig, im Winter ist nichts los, genau das, was ich suche.«
Beim Sprechen verlagerte er sein Gewicht und schlug ein Bein über das andere. Unerwartet schielte er in Hannas und Mias Richtung. Ertappt schauten beide hastig woanders hin.
»Nein, verdammt, ich will nicht in dieses Hotel in Binz. Ich will in eine kleine Pension am Arsch der Welt, und ich hab das Gefühl, hier genau richtig zu sein«, zischte er sichtlich ungehalten in sein Telefon. »Sobald ich was gefunden habe, melde ich mich bei dir.« Er legte auf und ließ das Smartphone anschließend in seiner Tasche verschwinden.
Verstohlen stieß Mia Hanna an. »Hast du das gehört?«
»Was meinst du denn?« Mit Unschuldsmiene sah sie ihre Freundin an.
»Na das mit der Pension, der Typ sucht eine Unterkunft!«
Hannas Puls stieg. Ihre Freundin machte sie mal wieder wahnsinnig. »Ja, hab ich gehört, ich bin ja nicht taub.«
»Und?«, flüsterte Mia ihr zu. »Korrigiere mich, aber ich glaube, du hast eine Pension. Was suchst du nochmal? Gäste. Und was sitzt dort …? Verdammt, Hanna, das ist deine Chance!«
Hanna fühlte sich in die Enge getrieben. »Als ob der in unserer einfachen Bude absteigen will. Ich sage nur: keinerlei Komfort, eine Dusche, die nicht richtig funktioniert, unmoderne Zimmermöbel und kein WLAN im gesamten Haus.«
»Du hast doch gehört, dass er etwas Einfacheres sucht und ihm Binz zu überkandidelt ist.« Mia ließ einfach nicht locker.
»Ist das dein Ernst?«, zischte Hanna und beugte sich mit beschwörender Miene über den Tisch. »Zwischen Binz und unserer Pension liegen ja wohl Welten!«
»Ist mir doch wurscht«, meinte Mia, schob ihren Sessel zurück und erhob sich. »Irgendeiner muss doch hier mal die Initiative ergreifen. Ich quatsch den Typen jetzt jedenfalls an, denn du brauchst dringend Gäste.«
»Das tust du nicht!« Entsetzt versuchte Hanna ihre Freundin am Arm zu fassen. Doch zu spät, Mia durchquerte bereits mit wiegenden Hüften den Gastraum und steuerte den anderen Tisch an.
Hitze stieg in Hannas Wangen, und das lag nicht allein am Chili in der Schokolade.
»Entschuldigen Sie«, sprach Mia den Mann an. Der schaute irritiert hoch und musterte sie von oben bis unten. »Wir haben gerade Ihr Telefonat mitbekommen. Also, ich meine, nicht dass wir gelauscht hätten, aber Ihr Gespräch war nun mal nicht zu überhören.«
Der Typ betrachtete Mia immer noch mit leicht verblüffter Miene und lehnte sich dann im Sessel zurück.
»Und wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.
Mia setzte sich einfach auf den anderen Sessel und beugte sich vor. »Sie können uns nicht helfen, aber wir Ihnen. Wie ich hörte, suchen Sie eine Pension. Nun, ich habe gute Nachrichten. Meine Freundin dort hat eine Pension, gleich hier um die Ecke.«
Der Mann ließ seinen Blick kurz zu Hanna wandern und nickte dann Mia zu. »Das ist richtig. Ich suche tatsächlich eine Pension. Aber darf ich fragen, warum Ihre Freundin nicht selbst auf mich zukommt, wenn ihr doch die Pension gehört?«
Hanna stöhnte innerlich und kämpfte sich aus ihrem bequemen Sessel hoch.
»Na, sie wollte sich Ihnen nicht aufdrängen«, hörte sie Mia sagen. »Sie ist meist still und bescheiden.« Na Klasse, das wurde ja immer besser. »Aber ich sehe das nicht so verbissen. Wer nicht fragt, der nicht gewinnt.«
Inzwischen war Hanna am anderen Tisch angelangt und musterte den potenziellen Gast mit zerknirschter Miene. »Entschuldigen Sie, meine Freundin ist manchmal ein wenig … nun, ich würde sagen, ein wenig spontan.«
»Geschäftstüchtig, würde ich eher sagen«, meinte der Mann und deutete auf den letzten freien Sessel an seinem Tisch. »Aber setzen Sie sich doch bitte.« Erneut gab sein Telefon einen Laut von sich, und er warf einen kurzen Blick auf das Display. »Entschuldigen Sie, das muss ich ganz kurz lesen.«
Hanna nahm Platz und nutzte die Gelegenheit, um ihn verstohlen und aus der Nähe zu mustern. Er trug lässige Kleidung, eine dunkle Hose und einen Strickpullover mit Norwegermuster. Seine Haare waren blond und sein Vollbart sorgfältig gestutzt. Der Typ war etwa in ihrem Alter und wirkte sehr gepflegt. Doch all das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass in seinen braunen Augen ein beinahe schon schmerzlicher Zug lag. Auch dunkle Schatten und Sorgenfalten konnte Hanna erkennen. Automatisch wanderte ihr Blick zu seiner Hand. Doch weder ein Ring noch der Abdruck von einem war auszumachen. Seine schlanken Finger tippten mit viel Souveränität eine Nachricht ins Telefon. Das schien er öfter zu tun. Hanna bemerkte, dass er ausgesprochen schöne Hände hatte, feingliedrig und männlich zugleich.
Aus dem Augenwinkel fing sie einen bedeutungsschwangeren Blick von Mia auf. Ihre Freundin zwinkerte ihr belustigt zu und machte einladende Bewegungen mit ihrem Kopf.
Hanna maß sie mit einem Gesichtsausdruck, der hätte töten können, und schaute dann stur in den immer dichter werdenden Schneefall hinaus.
»Entschuldigen Sie.« Der Fremde steckte sein Smartphone zurück in die Tasche, wandte sich Hanna zu und musterte sie intensiv. Seine Augen wirkten so anziehend, dass ihr Herz schneller schlug. Verdammt, der Typ war ziemlich attraktiv und irgendwie interessant. »Also gut, Sie haben eine Pension hier im Ort. Ist denn überhaupt noch ein Zimmer frei?«
Hanna räusperte sich. »Ja, ich habe tatsächlich noch ein freies Zimmer. Aber es gibt ein anderes Problem.«
Angestrengt ignorierte sie Mias genervten Gesichtsausdruck.
»Ein Problem«, wiederholte er. »Und welches wäre das?«
»Meine Pension ist ziemlich schlicht. Die Zimmer sind klein, wir haben auch kein WLAN. Es ist alles etwas in die Jahre gekommen …«, druckste Hanna herum und versuchte seinem Blick auszuweichen. Doch sie konnte ja schlecht die ganze Zeit den Tisch anstarren. »Also, es ist, mal konkret ausgedrückt, unmodern.«
Seine Mundwinkel zuckten belustigt. »Ich muss schon sagen, Ihre Freundin ist eindeutig die bessere Verkäuferin«, meinte er verschmitzt. Doch gleich darauf wurde er wieder ernst und beugte sich zu ihr vor. »Was halten Sie davon, wenn ich später einmal bei Ihnen vorbeikomme, mir das Zimmer selbst anschaue und dann entscheide?«
»Ähm, ja, na klar, gerne, warum nicht?«, haspelte Hanna. Du lieber Himmel, sie benahm sich wie ein Teenager.
»Aber vielleicht gibt es wirklich ein Problem. Ich denke, das lässt sich gleich hier vor Ort klären«, schränkte er sogleich ein. »Ich brauche das Zimmer nämlich ein bisschen länger als die üblichen zwei Wochen. Ich habe mir selbst eine gewisse Auszeit verordnet und möchte ein paar besondere berufliche Projekte in Angriff nehmen. Also wenn, dann würde ich gerne mindestens vier bis sechs Wochen bei Ihnen unterkommen. Wäre das machbar?«
Mia gluckste und fächelte sich Luft zu. Unschuldig schaute sie geradeaus.
»Sorry, Hitzewelle«, japste sie vorgeblich und schien sich vor unterdrücktem Lachen kaum noch in ihrem Sessel halten zu können.
»Ja«, antwortete Hanna gedehnt, und ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer. »Das ließe sich schon einrichten, wir haben gerade mal März, und da gibt es nicht so viele Buchungen.« Ein seltsames Gefühl stieg in ihr auf. Es war eine Mischung aus purer Freude und gleichzeitig der Angst, enttäuscht zu werden.
»Gut, dann brauche ich nur noch Ihre Adresse und komme dann später bei Ihnen vorbei.«
Hanna holte eine Visitenkarte aus ihrem Portemonnaie und reichte sie dem Mann. »Sagen wir um drei? Würde Ihnen das passen?«
Der Typ nickte. »Das passt. Ich will jetzt erst mal ein wenig an den Strand und das Meer sehen. Darauf freue ich mich nämlich schon seit Tagen. Aber nur, falls die Ostsee nicht vollkommen im Schneefall verschwindet.« Er lächelte wieder kurz. »Dann also bis später. Ach so, ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Sascha Badener.«
Hanna erwiderte seinen Händedruck. »Hanna Sanders. Gut, dann also bis später.«
Beide Frauen kehrten an ihren Tisch zurück. Sascha Badener bezahlte gleich darauf seine Rechnung, nickte ihnen noch einmal kurz zu und entschwand dann im dichten Schneetreiben.
Mia sah
Verlag: Zeilenfluss
Texte: Evelyn Kühne
Bildmaterialien: bürosüd - www.buerosued.de
Cover: bürosüd - www.buerosued.de
Lektorat: Martha Wilhelm - www.textwinkel.de/ Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 04.06.2020
ISBN: 978-3-96714-074-3
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