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Routinieren

Manchmal fühlt sie sich leer. Leerer wie die Straßen bei Nacht, leerer wie der Baum vor ihrem Fenster. Leerer wie die Pfandflaschen in der Stofftasche, die darauf warten im Supermarkt ihrem Schicksal überlassen zu werden. Leer. Einfach leer. Sehr leer...
In solchen Momenten fragt sie sich warum sie ist. Warum der Himmel ist, warum die Meere sind, Wolken vorüberziehen... Warum der Sommer kommt und geht und nur einen Haufen Blätter hinterlässt. Warum Zitronen immer sauer schmecken, Erdbeeren aber nicht immer süß und warum Kiwis eine pelzige Zunge machen müssen (Denn sie mag Kiwis eigentlich sehr gern'.)
Sie möchte in einem Vulkan baden und Sternschnuppen züchten und 2x bis unendlich zählen und Aston Martin fahren und träumen ohne es danach zu bereuen. Und sie möchte weg, sich nicht umdrehen und nie mehr zurückkommen; laut hysterisch lachen, weil sie ihren Schatten abgehängt und weggeworfen hat.
Sie möchte aber auch im hier und jetzt weiter machen und sich damit zufriedengeben wie es ist. Manchmal. Ok, hin und wieder – na ja, eigentlich schon öfter. Sie wär' gern jemand anders (was ja schon mal ein Anfang wäre...) oder einfach wie alle ander'n, die in ihre Arbeit gehen, nach Hause kommen, in die Arbeit gehen und nach Hause kommen und in die Arbeit gehen um wieder nach Hause zu kommen –Tag für Tag, Woche für Woche, um im Sommer in Charterflügen an verdreckte Strände zu fliegen, mittelmäßige gerichte zu Horensen Preisen zu essen und blinkende Sonnebrillen in Übergrößen von Straßenhändlern an der Promenade zu kaufen.  Sie wäre gerne total verrückt nach rosa Pullis, Blüschen und Söckchen und Sushi, und - um es nicht zu vergessen - rosa Bettwäsche. Rosa. Sie - hat gar keine Lieblingsfarbe und sie kann sich auch nicht entscheiden was ihr Lieblingsgericht ist. Sie mag den Jungen von nebenan und kann Johnny Depp ganz gut leiden und Viktor mal am Arsch lecken. Sie grübelt immer viel zu lang, vorallem wenn es eine zu große Auswahl gibt und bekommt zum Schluss dann das Falsche (deshalb isst sie seit Kurzem immer Schnitzel mit Pommes, weil man da nicht viel verkehrt machen kann.) Sie mag den Geruch von Kerzen, weint bei Bacon's Portrait und sie verehrt Kundera, der das Leben auf den Punkt gebracht hat. "'Einmal ist keinmal'. Wenn man nur einmal leben darf, dann ist es doch so als lebe man gar nicht." Richtig.  Dann fragt sie sich wer denn überhaupt lebt. Niemand eigentlich (zumindest niemand den sie kennt, niemand in ihrem Haus und auch sonst niemand der ihr auf der Straße begegnet.) Es wird routiniert (aber nicht gelebt). Es ist wie mit Lieblingsliedern, die man immer und immer wieder zurückspult bis sie einem zu den Ohren raushängen. Aber Lieblingslieder klingen wenigstens schön. Routinieren - klingt gar nicht schön. Routinieren klingt wie: "Ich habe den Strom erfunden. Gut, nicht ganz. Na ja, vielleicht. Okay - gar nicht." Aber routinierende Menschen wirken so glücklich in Supermärkten, im Park wenn sie Kinderwägen vor sich herschieben, auf Wiesen und in Schwimmbädern - routinieren, Zeitung lesen und dem im Tiefdruck bearbeiteten altpapier alles glauben, fernsehgucken und die Nachrichtensprecherin vom Abendprogramm morgens am Frühstückstisch rezitieren und doch gar nicht wissen ob eine Nachricht die über Vierte (Augenzeugen, Reporter, Journalist und die Nachrichtensprecherin) kommuniziert wurde, der wahrheit entspricht. Dann fragt sie sich: Wo fängt Wahrheit an und wo hört sie auf? Eine Lüge kann auch zu einer Wahrheit werden, wenn man nur daran glaubt, wenn viele daran glauben. So wie Raupen zu Schmetterlingen und Eier zu Hühnern werden. Die routinierenden legen also tagtäglich Eier und sehen dabei auch noch glücklich aus. Sie hingegen (sie guckt in den Spiegel) sieht nicht glücklich aus. zumindest sehen so keine glücklichen Augen aus. Auch der Mund - nicht glücklich. Die Nase nicht, die Ohren mit den obdachlosen Ohrlöchern sowieso nicht. Sie weiss nicht genau was sie ist. Vll hungrig (oder ist es nur der verhängnisvolle Appetit?)  Traurig. Vielleicht ist sie traurig (sie wartet auf das Kribbeln im Körper und brennen in der Brust. Nichts.) Nein traurig ist sie auch nicht. Es kann doch nicht sein dass sie nichts ist. Auch wenn sie nicht weiss warum sie ist, muss sie doch irgendetwas sein. In diesem Moment erscheint ihr ein routierender Mensch besser als gar kein Mensch zu sein. Sie überlegt was man im groben noch alles sein kann (traurig, glücklich, hungrig, satt...) Es gibt eigentlich gar nicht so viele Möglichkeiten, fällt ihr auf. (Da beschliesst sie dass sie müde ist.) Sie ist müde. Deshalb legt sie sich ins Bett und schläft mit dem Wunsch auf den Lippen ein, sich ab morgen von ihrer verkehrten Welt zu verabschieden, ihren Schatten um Verzeihung zu bitten (sie wird ihn zwar nie mögen, aber sie kann ja so tun als ob und dann wird es schon irgendwann so sein. Halt so wie mit der Wahrheit...) und wie ein Weltmeister routinieren."

Schatten über meinem Leben

Und immer dann, wenn wir denken dass wir auf dem richtigen Weg sind, stellen wir fest, dass wir auch genauso gut wieder umkehren könnten. Egal wolang wir laufen, egal wie sehr wir es versuchen - wir können nicht davonlaufen – weder vor einem Schicksal, noch vor unserer Verantwortung, geschweige denn vor dem was in der Vergangenheit hinter uns liegt und an der nächsten Ecke lauert um uns daran zu erinnern wie es einmal war. Am besten ist es, wir packen unsere Schaufel aus und beginnen unser Leben umzugraben; eine Suche nach lLeichen in den vielen Phasen unseres Seins zu suchen und sie fortzuschaffen. Ich buddel wie ein Weltmeister.

Ich möchte einen Strich unter alles setzen. Oder einen Baum darauf pflanzen und ihm den Namen 'Frieden' geben. Ich habe keinen Nerv mehr Mitleid zu empfinden - für Shane, Eric, Viv und für mich. Ich werde das Feld räumen und davor bereinigen. Auch wenn viele Fingernägel zu Bruch gehen und viele Tränen vergossen werden. Ich nehme nichts dorthin mit. Nichts. Nicht einmal die Menschen die ich liebe. Vll Ella, denn sie möchte mitgehen. In all diesen Tagen voll schrecklicher Geschehnisse, haben wir erneut festgestellt, dass wir uns doch am ähnlichsten sind. Wir träumen, und das ist auch gut so. Unmögliches ist nicht mehr länger unmöglich. Schönes nimmt Fabelhaftes an und Wunder werden Teil der Wirklichkeit. Wir müssen vergessen, damit es geschehen kann, loslassen, dass es ist. Dem bin ich mir bewusst. Nur erscheint mir vergessen manchmal härter und schweisstreibender als sich daran festzuklammern. Und so wie ich hier sitze, wird mir gleichgültig, was die Menschen von mir denken. Ich kann auch noch sieben weitere Sprachen sprechen - verstehen können sie mich ja doch nicht.

Fliegen ohne Flügel

Die Vögel zwitscherten noch nicht, nur das leise Spiel der Grillen war von draußen zu dieser frühen Stunde zu hören und meine Stiefel auf dem gepflasterten Boden der Stallgasse, die von leisem Pferdeschnauben begleitet wurden. Kiran wartet bereitse, blubberte leise vor sich hin. Während ich ihn putzte beäugte er mich durch große dunkle Pferdeaugen, die weichen Nüstern stupsten hier und da in der Hoffnung auf eine Leckerei aus meiner Jackentasche. Sanft tätschelte ich seinen Hals, streichelte die Ganaschen und schließlich den unregelmäßigen weißen Fleck zwischen seinen Augen, ehe ich ihm Zaumzeug und Sattel anlegte. Zügig verließen wir den Hof und nachdem wir das Stück durch den Wald getrabt waren, gallopierten wir der Lichtung entgegen auf der sie bereits auf uns warteten.

Wir trafen uns fast jeden Tag zum morgendlichen Ritt. Der Wald umarmte uns stolz und während die Sonne hinter den Bergen aufstieg und ihre Strahlen sich in Tau und Wässern brachen, standen wir in einem Meer aus bunten Lichtern. Das Tal und die Dörfer lagen weit unter uns und erhaben wie Könige thronten wir auf unseren Pferden und überblickten das Land. Wir waren jung und auch wenn alles in unserem sorgenfreien Leben schön war, waren dies doch die unvergesslichen Momente – hier an diesem Ort – auf der ganzen Welt gab es nichts vergleichbares; Heimat war Heimat und Leben fühlt sich in der Fremde eben anders an.

Irgendwer gallopierte los und ich spürte Kirans bebenden Körper, als die Herde sich in Bewegung setzte. Unruhig tänzelte er auf der Stelle. Noch nicht, dachte ich, täschelte seinen Widerist, sprach ihm sanft zu. Als ich seinem Treiben dann doch nachgab, preschten wir los: Kirans Schritte waren raumgreifend und schnell und es dauerte nicht lange und wir hatten die anderen eingeholt und nach einem kurzen Kopf an Kopf hinter uns gelassen. Ich jubelte, irgendjemand wetterte, der andere lachte. Eigentlich war es gleich wer an der Spitze war – es ging um den Augenblick und das waren die Momente der Freiheit – die frische Luft in meinem Gesicht, der Wind in meinen Haaren, Kirans bebender Körper unter mir. Ich schloss die Augen, streckte die Arme zur Seite. Das war es – das war das Glück, dass alles zusammenhielt.

 

 

Eralität

 Lilits Geburtstage waren immer kleine rauschende Feste. Alle waren geladen und warfen sich in Schale. Meine Eltern kamen selten mit - mein Vater war nie da und meine Mutter wollte nicht alleine mitgehen. Wir kinder gingen allein und richteten die besten Wünsche aus.

Ich liebte den anblick des Parks, der von Hannacha und Mona zu einem wahren Lichterspiel verwandelt wurde in dem sie die Gäste, meist unter dem weißen Pavillon empfingen. Im Haus waren die Räume von Kerzen hell erleuchtet - genauso wie es vll früher einmal zu den Zeiten ihrer Ururgroßmutter Lilit gewesen sein muss, nach der sie benannt war. Es roch nach Süßspeisen und Tee. Ich mochte selbstgebackene Charoset, Challa und Honigleckach ihrer Mutter. Ich begrüßte Scheindel mit einem Handkuss und führte ihre Hand zu meiner Stirn, die sie als Ältere und Weisere dann küsste. Oft sagte sie: "Shane mein Kind, Gott hat dir Sterne in deine Augen gelegt." Daraufhin sagte sie: "Baruch aua adonai, elohenu melech ha-olam, socher ha-b'rit wene'eman biwrito wekajam be-ma'amaro." ein Spruch den Juden zu sagen pflegen, wenn sie einen Regenbogen sehen. 

Dieses Jahr allerdings, ist es dunkel im Park als ich durch das Tor gehe. Scheindel öffnet die Tür. Sie sieht traurig aus. "Schalom malak," sagt sie. "Hannah hat heute frei," erklärt sie die seltene Situation. "Komm herein." Sie lotst mich in den Speisesaal, an dem nur eine handvoll Leute sitzt, um Lilit an ihrem Geburtstag zu gedenken.

Ich komme mir 10 jahre älter vor, als ich nach Hause gehe. Ich verfluche Lilit – für so vieles, doch am meisten für die traurigen Augen ihrer Großmutter. Hinter der Auffahrt taucht eine Gestalt vor mir auf. Ich erschrecke fürchterlich und stoße einen leisen Schrei aus. Fantastisch Shane - das bringt dir sehr viel, jagt es mir durch den kopf. dann erkenne ich ihn.

Da standen wir nun - wie in alten Zeiten; doch etwas war anders; und zwar nicht nur die Tatsache, dass Lilit nicht mehr da war... es war Vincent. Er wirkte anders. 

Wir gingen ein Stück. Schwiegen. Gingen. Blieben stehen und hatten noch immer nichts gesagt. Ich suchte nach dem vertrauten Gedanken den ich immer in seiner Gegenwart hatte. Nach dem Gefühl dass mich jahrelang gequält hat, während seine Blicke mich manchmal heimlich verfolgten. All die Zeit über hatte ich bereut ihn damals von mir gestossen zu haben. Ich war zu jung, dachte ich wüsste alles, könnte alles und sei alles. Im Grunde genommen war ich nichts davon und die Erkenntnis kam mit dem Ereignis: zwischen Lilit und Vincent entstand ein Band, dass stärker als Bestimmung und schmerzhafter als ein heisses Bügeleisen sein sollte.
So wie sich der Mensch an alles gewöhnen kann (das heisse Bügeleisen ausgenommen), konnte ich mich zwar mit dem Anblick anfreunden, nicht aber mit dem wissen, dass Vincent von nun an ein scharlachroter Buchstabe war: V wie verboten.

Jetzt standen wir da also – allein auf der Anlage von Lilits Eltern, zwischen Eichen und Trauerweiden - so allein wie wir es schon lange nicht mehr waren und er war keine Handbreite von mir entfernt. Ich konnte quasi seine Körperwärme spüren und seine Wange berühren können, hätte ich meine Hand nach ihm ausgestreckt. Er kam immer näher, während ich wie angewurzelt stehen blieb, obwohl ich wegrennen wollte - weit weg. irgendwohin an einen ort an dem Vincent und ich keine gemeinsame Vergangenheit hatten, es ihn in der Gegenwart nicht gab und er in der Zukunft nicht existieren würde.

Sein Atem lag schwer auf meinem Gesicht (er roch nach Alkohol). Noch nie zuvor war er mir so nah und noch nie erschien er mir so weit weg. So fremd. So anders. So vieles stand zwischen uns, obwohl er mich eng umschlang und an sich drückte - Lilit, die Enttäuschung, Verzweiflung, New York, Pauline und eine Fassade namens Shane, die zu bröckeln begann und als er mich küssen wollte (Warum jetzt? schoss es mir durch den Kopf), tat ich das einzig richtige: Ich trat ihm gegen's Schienbein und ging schnellen Schrittes davon.

Der Kopf sagt manchmal Dinge, und das Herz glaubt den Mist auch noch. 

Impressum

Texte: ©Jana Seton Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten einschließlich der Vervielfältigung, Übersetzung, Mikroverfilmung sowie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Bildmaterialien: Jana Seton
Tag der Veröffentlichung: 01.08.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für dich, weil du mich nicht mehr magst.

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