Ein kräftiger Atemzug ließ ihre Augen öffnen. Eine angenehme Wärme breitete sich in ihrem Körper aus, doch spürte sie nun umso mehr die Kälte in diesem Raum. Ihr Blick war auf die weißen Zimmerdecke gerichtet. Erst dann spürte sie den Metalltisch auf dem sie lag und sah sich daraufhin in dem Raum um. Die Wände und der Boden waren weiß gefliest und die gesamte Einrichtung bestand aus Metall. Kein Zweifel – es handelte sich eindeutig um den Hygieneraum eines Bestatters, indem sie aufgewacht war.
Plötzlich erklang das Kreischen einer Frau und der Aufschrei eines Mannes. Erschrocken setzte sie sich auf und bemerkte wie ein weiß–gelbliches Licht sie umhüllte. Auf einmal drückte etwas in ihrem Rücken von innen nach außen. Dieses Drücken war unangenehm, aber nicht schmerzhaft. Es waren große weiße Flügel mit einem goldenen Schimmer die sich ausgebreitet hatten. Ihre Kleidung verwandelte sich in einem roten trägerlosen Engelsgewand, welches ihr locker und leicht bis zu den Knien reichte und mit einem silbernen Korsett verziert war.
Sie stand auf und drehte sich zu den beiden Bestatter um, die dicht gedrängt an einem hölzernen Sarg standen, welcher mit rotem Samt ausgepolstert war. Dieser sollte sicherlich ihr Sarg werden. Die Frau und auch der Mann sahen sie mit offenen Mündern und großen Augen an.
„Sie... Sie ist...“ Die Bestatterin bekam keinen Satz zustande so fassungslos war sie wohl.
„Ein Engel“, beendete der Mann stattdessen die Aussage.
„Fürchtet euch nicht! Ich bin ein Engel Gottes“, versuchte sie die beiden zu beruhigen. „Glaubt an Gott, dem heiligen Geist, dem Sohn und der Tochter Gottes und euch wird nichts geschehen. Ihr werdet erlöst und nach euren Tod im Reich Gottes wieder auferstehen. Drei von sieben Siegel sind bereits geöffnet wurden. Wir befinden uns am Anfang der Endzeit.“
1
Heute Nacht war es ruhig in der Uniklinik. Sogar Herr Schröder, zurzeit der mühsamste Patient, schlief tief und fest. Normalerweise machte er die halbe Nacht Tumult und hielt das Personal auf Trab. Der einzige, der Scarlett hätte nerven können, war Jonas. Er war Pfleger auf ihrer Station und in ihren Augen ein Klugscheißer. Nur weil er in einem Monat mit seinem Medizinstudium beginnen würde, bildete er sich ein, dass er alles besser wusste und konnte. Da er momentan mit seinem Rundgang in der Gefäßchirurgie beschäftigt war, hatte sie ihre Ruhe vor ihm.
Gelangweilt blätterte Scarlett durch die Cosmopolitan. Eigentlich liebte sie Nachtschichten. Die alleinige Verantwortung für ihre Patienten zu tragen, erfüllte sie mit Stolz. Doch so ruhig wie in dieser Nacht war es schon lange nicht mehr. Sie unterdrückte ein Gähnen.
„So finden Sie Ihre wahre Liebe“, versprach ein Artikel. Scarlett seufzte tief. Sie hielt nicht viel von diesem Thema. Eine richtige Beziehung hatte sie noch nie. Nur Affären oder One-Night-Stands. Eine blonde Strähne löste sich und fiel ihr nun ins Gesicht. Im Gedanken strich sie diese zur Seite und steckte sie hinter ihr Ohr. Während der Arbeit trug sie ihre langen, Korkenzieherlocken zusammengebunden und hochgesteckt. Ihre attraktive Wirkung auf die Männerwelt war ihr bewusst. Daher verstand sie selbst nicht, warum sie noch nie verliebt gewesen war, abgesehen von ein paar Schwärmereien. Dieser Gedanke ließ sie auflachen. Sie war erst zwanzig. Für die große Liebe blieb noch genügend Zeit, wenn es diese überhaupt gab. Es war ja nicht so, dass sie keine Verehrer hatte. Sogar Alex, ihr Mitbewohner und sein bester Freund Ben stritten sich oft um sie. Außer Freundschaft hatte sie jedoch kein Interesse an die beiden.
Vor allem Hochzeiten fand Scarlett bekloppt. Da wird ein Vertrag mit Pflichten und Rechte unterschrieben und das war's auch schon. Null Romantik! Aus ihrer Sicht hielt eine Beziehung so und so nicht ewig.
Langsam wurde sie schläfrig. Um sich wach zu halten, ging sie zur Kaffeemaschine. Vorsichtig am heißen Getränk nippend, trat sie zum Fenster. Der Vollmond leuchtete rot-gelblich und erhellte die gesamte Umgebung. Unwillkürlich musste sie an Ben und Alex denken. In den Vollmondnächten machten die Beiden stets durch, bis der Morgen anbrach. Angeblich waren sie mondsüchtig. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Was die Beiden jetzt wohl machen? Vermutlich veranstalten sie ihren legendären Kneipen-Marathon.
Sie setzte sich wieder hin, stellte die Kaffeetasse auf das Tischchen und beugte sich über die Zeitschrift.
„Verlies dich nicht!“ Jonas schrille Stimme unterbrach Scarletts Gedankengänge. Er hatte sich von hinten an sie herangeschlichen, um sie zu erschrecken.
„Keine Sorge, dass wird mir nicht passieren.“ Scarlett seufzte entnervt. „Ich hab übrigens etwas für dich gefunden. „So finden Sie Ihre wahre Liebe“, was für ein Schwachsinn.“ Süffisant lächelnd überreichte sie Jonas die Zeitschrift.
„So was kann ja nur aus deinem Mund kommen. Du weißt doch nicht mal was das Wort Liebe bedeutet.“
„Aber du oder was? Deshalb bist du nach zwei Jahren Ehe auch geschieden“, konterte Scarlett.
Jonas' Blick senkte sich. Da hatte sie wohl einen wunden Punkt getroffen. Ein siegreiches Grinsen über diesem Disput konnte sie sich nicht verkneifen.
„SCHWESTERLEIN“, erklang es dumpf.
„SCHWESTERLEIN, OMA!“ Natürlich, Herr Schröder. Wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn er durchschlafen würde. Demenz ist zwar traurig, aber kann auch sehr nervtötend sein.
„SCHWESTERLEIN!“, hallte es erneut.
„Willst du nicht mal hingehen?“, fragte Jonas. „Ich war gerade auf Runde. Nun bist du dran.“ Seine blauen Augen waren eiskalt, als er sich von ihr abwandte und sich an dem Empfang setzte. Scarlett ließ es kalt und ging Richtung Patientenzimmer. Schließlich behandelte er einen auch ständig so.
„Was gibt es denn, Herr Schröder?“, begrüßte Scarlett ihn, als sie das Zimmer betrat.
„Wo ist denn Oma?“, fragte er.
„Ihre Frau ist zuhause. Sie kommt morgen Nachmittag wieder.“
„Nein, sie wollte doch nur kurz in die Cafeteria.“
„Herr Schröder, es ist mitten in der Nacht. Sie müssen jetzt schlafen! Die anderen Patienten brauchen auch ihre Ruhe.“
Scarlett ging zu ihm und nahm die Patientenklingel in die Hand. „Wenn etwas sein sollte, drücken Sie auf dem Knopf!“
Sein faltiges Gesicht wanderte zu der Klingel. Er sah sie an, als hätte er sie zum ersten Mal gesehen. „Kommen Sie dann?“
Scarlett nickte lächelnd. „Entweder ich oder jemand der gerade Dienst hat.“
„Dann lieber Sie“, sagte er gähnend und nahm die Patientenklingel in seiner zittrigen, mageren Hand.
Plötzlich hektisches Gerenne auf dem Flur lenkte sie ab.
„Ich gehe schnell nachschauen, was da los ist.“
Mit einem zufriedenen Seufzer sank Herr Schröder in seine Kissen. „Das ist gut. Schauen Sie nach was mit Oma ist.“ Schon war er wieder eingeschlafen. Einem letzten Blick auf den Patienten werfend verließ Scarlett den Raum.
Oberschwester Berta rannte wie von einer Tarantel gestochen über die Gänge. Op-Schwestern kamen um die Ecken und Notärzte eilten Scarlett entgegen. Sie versuchte allen aus den Weg zu gehen und kämpfte sich durch das Gedränge, um zum Empfang zu gelangen. Plötzlich lief ihr Doktor Krone entgegen. Unmöglich, dem Chefarzt der Gefäßchirurgie auszuweichen, stießen sie heftig zusammen.
„Schwester Scarlett! Können Sie nicht aufpassen?“, fuhr er sie an.
„Tut mir leid“, entschuldigte sich Scarlett bei dem vorbeieilenden Arzt und setzte ihren Weg fort.
Am Empfang angekommen, setzte sie sich hin. Von weiten beobachtete sie das Treiben, bis sich Neugier breit machte. Sie wollte unbedingt wissen, was passiert war.
„Ähm Jonas?“ Scarlett räusperte sich. „Kannst du hier kurz alleine aufpassen? Ich wollte mal kurz Pause machen.“
„Meinetwegen. Aber nur unter einer Bedingung.“
„Und die wäre?“
„Danach bin ich dran.“
„Klar. Wieso nicht?“, sagte sie lächelnd und machte sich auf dem Weg zur Notfallambulanz. Diese lag genau um die Ecke der Gefäßchirurgie. Zuerst konnte Scarlett kaum etwas erkennen, denn auch hier wimmelte es von vielen Ärzten, Schwestern und Pflegern. Doch als Scarlett einen Blick erhaschen konnte, musste sie sich zusammenreißen sich nicht zu übergeben, geschweige denn in die Ohnmacht zu fallen. Es waren zwei junge bewusstlose Männer. Sie waren blutverschmiert, dem einem fehlte ein Arm und ein Bein und dem anderen fehlten beide Beine. Die Wunden waren zwar mit einem Druckverband verhüllt, doch das Blut sickerte nur so in die Verbände hinein. Die Pfleger wechselten die Infusionsflaschen und die Schwestern bekamen sterile Tücher in den Händen gedrückt, die sie den Verletzten auf die Wunden legen sollten.
Nachdem die beiden jungen Männern in den Op-Räumen waren, musste sich Scarlett mit einem Glas Leitungswasser hinsetzen, um die Übelkeit und den Schwindel los zu werden. Sie war mit ihrem Leiden aber nicht alleine. Einige anderen Schwestern und Pflegern waren ebenfalls blass geworden.
2
Nach der Nachtschicht fuhr Scarlett noch zu ihrer Stammbäckerei. Mehr aus Gewohnheit. Es gelang ihr nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Zu sehr beschäftigten sie die Erlebnisse der letzten Nacht. Der Anblick war grauenhaft gewesen. Noch mehr beunruhigte es sie, dass der Vorfall in ihrer Heimatstadt passiert war. Denn nach einem Unfall hatte es nicht ausgesehen. Das flaue Gefühl in ihren Magen ließ sie befürchten, dass sie nachher kein Bissen hinunter bekommen würde. Trotzdem kaufte sie ihre Brötchen, wie jeden Morgen. Ihre Mitbewohner rechneten damit und sie wollte sie nicht enttäuschen.
Zuhause schloss Scarlett die Haustür auf und ging die Treppen hinauf. Sie teilte sich die Wohnung im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses mit drei Personen. Vor der Tür der WG, zog sie sich die Schuhe aus und schlüpfte in ihre Schlappen. Dabei fielen ihr Alex' Schuhe auf, die schlammbedeckt neben der Tür standen. Auch Bens Schuhe sahen nicht besser aus. Er wohnte genau gegenüber. Wo haben sich die Beiden herumgetrieben?, fragte sich Scarlett, während sie die Tür aufschloss und eintrat. Von ihren Mitbewohnern war nichts zusehen. Nur aus der Dusche war ein gedämpftes Rauschen zu vernehmen. Wahrscheinlich Alex, vermutete Scarlett, denn Stefan und Kim waren Langschläfer, die kaum vor neun Uhr aus dem Bett krochen.
Scarlett deckte den Frühstückstisch und kochte Kaffee. Danach setzte sie sich und überlegte, ob sie versuchen sollte ein Brötchen zu essen. Schließlich musste sie etwas im Magen haben. Nicht, dass sie nachher doch noch Hunger bekam und deshalb nicht einschlafen konnte. Gerade als sie in ihr Brötchen biss, öffnete sich die Badezimmertür und Alex stand vor ihr, nur ein Handtuch um die Lenden. Scarlett verschluckte sich fast an ihrem Brötchen. Unmöglich, den Blick von seinem braungebrannten, muskulösen Oberkörper abzuwenden.
„Hey Scarlett! Du bist ja schon wieder da.“ Alex lächelte. In seinen braunen Augen glomm ein warmer Ausdruck, den Scarlett sich nicht erklären konnte. Fast schien es ihr, als würde er sie maßlos bewundern.
„Wieso schon? Es ist sieben Uhr.“ Sie hustete und trank ein Schluck Milch, damit das Brotstückchen runter gespült wurde.
„Tatsächlich? Ich zieh mir schnell etwas über“, meinte Alex und machte sich auf dem Weg in sein Zimmer. Dabei hielt er ständig den Blick auf sie gerichtet, was Scarlett verwirrend fand. Sie wollte noch ein Warnschrei ausstoßen. Doch zu spät. Mit einem lauten Bums stieß sich Alex an der Treppe, die ins obere Stockwerk führte. Dort oben befanden sich die Schlafzimmer von Kim und Stefan. Der Zusammenstoß war so heftig, dass er sich auf seinem Hosenboden sitzend wiederfand, auf dem Gesicht ein Ausdruck der Überraschung. Nur mit äußerster Mühe gelang es Scarlett ihr Lachen zu unterdrücken. Mit hochrotem Kopf sprang Alex auf.
„Nichts passiert“, rief er und verschwand in seinem Zimmer.
Scarlett fand es irgendwie lustig und süß zugleich. Was die Gefühle und die Liebe so alles mit einem anstellte. Da benimmt man sich ja wie ein Trottel. Mal gut, dass mir so etwas noch nie passiert ist.
Dann kam auch schon wieder Alex in T-Shirt und Boxershort raus und setzte sich zu Scarlett an dem Tisch. „Du siehst ja ganz schön blass aus. Geht es dir nicht gut?“
Müde winkte Scarlett ab. „Hör bloß auf! Heute Nacht wurden zwei Schwerverletzte eingeliefert. Aber lass uns nicht weiter davon reden. Ich will auf andere Gedanken kommen.“
Neugierig musterte sie den Freund. „Und was hast du mit Ben gemacht? Eure Schuhe nach zu urteilen, sieht es aus, als hätte ihr euch in Schlamm gesuhlt.“
„Keine Ahnung. Ich hab einen Black out. Hätte ich mal nicht so viel getrunken. Nicht mal die bekloppte Aspirin hilft“, meinte er nachdenklich. Unerwartet hob er den Kopf und blickte sie erwartungsvoll an. „Sag mal, hast du heute Abend Lust auf Kino? Ich hab nämlich zwei Karten. Dann kommst du auch auf andere Gedanken.“
„Nee sorry, ich bin fix und fertig.“ Scarlett legte möglichst viel Bedauern in ihrer Stimme. „Außerdem bin ich noch mit Paloma verabredet und hab heute noch mal Nachtschicht.“ Sie gähnte herzhaft.
Oh. Ach so.“ Alex zog ein Schmollmund.
„Vielleicht beim nächsten Mal. Jetzt muss ich erst mal ins Bett.“ Scarlett lächelte ihn tröstend an, dann erhob sie sich und verschwand in ihrem Zimmer.
3
Jonas fuhr ebenfalls nach Hause. Er wohnte mit seiner besten Freundin in einer Einraumwohnung. Na ja, eigentlich gehörte ihm die Wohnung alleine. Alexis war nur vorübergehend eingezogen, da sie Streit mit ihren Eltern hatte und dort rausgeschmissen wurde. Jonas verstand gar nicht, wie sie es dort überhaupt solange ausgehalten hatte. Es war zwar sehr eng, aber es gefiel ihm nicht mehr alleine zu wohnen. Abends war es doch sehr einsam gewesen.
Schmunzelnd schloss er die Haustür auf und betrat den kleinen dunklen Flur. Seinen Schlüsselbund legte er auf die braune Kommode neben dem Haustelefon. Frischer Kaffeegeruch stieg ihm in die Nase. Es kam aus der Küche. Noch ein Vorteil eine Mitbewohnerin zu haben. Er zog seine Schuhe aus und folgte dem Geruch. Alexis saß mit ihrer Zeitung am Küchentisch und genoss ihren Kaffee.
„Guten Morgen“, begrüßte Jonas sie.
„Oh, guten Morgen!“ Alexis schaute von ihrer Zeitung hoch und zwinkerte ihm schalkhaft zu.
Jonas setzte sich zu ihr und goss sich Kaffee in die Tasse. Dabei bekam er mit, wie sie sich die Wohnungsannoncen durchlas.
„Schon was gefunden?“, fragte er.
„Nee, entweder ist die Miete zu hoch oder die Wohnungen sind zu groß“, meckerte sie und legte die Zeitung weg.
„Nicht aufgeben! Du findest schon etwas passendes.“ In seiner Stimme schwang bedauern mit.
„Das klingt ja nicht sehr aufbauend.“
„Sorry, aber dann wird es hier wieder sehr ruhig werden.“
Alexis strahlte ihn mit ihren katzenförmigen braunen Augen an. „Dann zieh doch mit um. Wir werden schon noch etwas schönes finden.“
„Wenn du etwas passendes findest, sehr gerne.“
„Ich werde mich anstrengen.“ Sie trank ein Schluck Kaffee.
„Und wie war die Arbeit heute?“
„Abgesehen von der bekloppten Krankenschwester ganz gut. In der Nacht wurden auch noch zwei Schwerverletzte eingeliefert.“ Gerade als Jonas erzählen wollte, wurde im Radio darüber berichtet. Aufmerksam lauschten sie dem Nachrichtensprecher.
„Heute Morgen um null Uhr dreißig ging ein anonymer Anruf in der Magdeburger Polizeistelle ein. Zwei junge Männer zelteten auf einer Lichtung im umliegenden Waldgebiet. Am Unfallort fand die Polizei die beiden Opfer schwerverletzt mit abgetrennten Gliedmaßen. Wie dies passiert war, ist noch unklar. Jedoch hatte die Polizei in der Nähe riesige Wolfsspuren entdeckt, was nun erst mal zu Spekulationen führt. Wenn jemand Hinweise zum Tathergang hat, wenden Sie sich bitte an die Magdeburger Polizeistelle unter 03...“ An dieser Stelle schenkten sie dem Nachrichtensprecher keine Beachtung mehr.
„Ach du scheiße! Da war ja was los bei euch“, staunte Alexis.
Jonas nickte. „Und ich kann mir schon denken, wer dahinter steckt.“
„Ja, ich habe da auch so eine Vermutung. Dann stimmt wohl die Offenbarung von Victor und Fernando.“
„Das war wohl erst der Anfang. Es wird garantiert noch schlimmer kommen.“
„Oh ja, ich freue mich schon auf die schlaflosen Nächten“, sagte Alexis mit ironischen Unterton. Nach einem Blick auf die Uhr, sprang sie hastig auf. „Schon halb acht! Ich muss los, sonst komme ich an meinem ersten Arbeitstag noch zu spät.“
„Ganz viel Spaß!“, rief er ihr noch schnell hinterher, bevor sie ganz aus der Tür war. Jonas trank seinen Kaffee, schaltete das Radio aus und ging in die Stube. Dort legte er sich aufs Sofa und schaltete den Fernseher an. Kurz darauf war er ein gedöst.
4
Jonas stand am Empfang der Gefäßchirurgie und überflog noch einmal das Übergabeblatt. Die Nachtschicht hatte bereits vor zehn Minuten begonnen und von Scarlett war immer noch nichts zu sehen. Insgeheim hoffte er darauf, dass sie heute gar nicht kam und er stattdessen mit der hübschen Auszubildende Anna zusammenarbeiten würde. Das plötzliche Auftauchen des Chefarztes riss ihn aus seinen Gedanken. Immer noch etwas dämlich grinsend grüßte Jonas ihn, war aber sogleich wieder bei der Sache.
„Wie geht es den beiden Schwerverletzen?“
„Nun, sie sind zwar wieder bei Bewusstsein und außer Lebensgefahr, können sich aber an nichts erinnern.“
„Weiß die Polizei denn schon mehr? Heute Morgen lief der Fall auf jedem Nachrichtensender.“
Der Chefarzt zögerte, was Jonas ihm nicht verdenken konnte. Er selbst würde sich hüten darüber zu sprechen, was dort draußen sein Unwesen trieb. Wahrscheinlich würde man ihn sofort auf die Geschlossene bringen, aber der Chefarzt fuhr mit gesenkter Stimme fort. „Es hört sich verrückt an, aber es scheint fast so, als seien die beiden wirklich von einem riesigen Tier angefallen worden. Vielleicht von einem streunenden Hund oder aber sogar tatsächlich von einem Wolf. Seit Jahren ist ja bekannt, dass die Wölfe nach Deutschland zurückgekehrt sind, aber sie sind eher scheu und meiden die Menschen. Ich kann mir nur vorstellen, dass sie von einem ganzen Rudel angegriffen wurden. Tollwut konnten wir jedenfalls schon mal ausschließen.“
Jonas wusste wie nah sie dran waren, doch Doktor Krone war zu erschöpft um dies zu bemerken und verabschiedete sich gleich darauf. Zu seinem Leidwesen tauchte statt Anna ein paar Minuten später Scarlett auf. Die beiden fingen an sich zu unterhalten. Doch wie immer entstand bei ihrer zuerst harmlosen Kommunikation wieder einmal Streit. Als er hörte, dass Herr Schröder wie ein Besessener nach Oma rief, atmete er erleichtert auf. Jonas freute sich, dass der Patient ihn für einige Minuten von Scarlett befreite. Wie immer wollte er wissen, wo sich seine Frau befand. Mit ein paar Tricks schaffte es Jonas ihn zu beruhigen und verließ schmunzelnd sein Zimmer. Denn Herr Schröder fand die Nachricht, dass Schwester Ursula morgen zur Nachtschicht kommt, nicht berauschend.
Jonas ging zum Empfang zurück. Aus der Schwesternküche vernahm er Scarletts Stimme. Er spähte hinein und sah sie telefonieren. Es ging darum, dass zwei ihrer Mitbewohner auszogen und das sich womöglich ihre beste Freundin in jemanden verliebt hatte. Typische Frauengespräche. Aber guter Stoff, um Scarlett wieder auf die Palme zubringen. Alexis würde er es jedoch verschweigen, dass die Nervensäge zwei Mitbewohner suchte. Es reichte aus sie auf der Arbeit ertragen zu müssen. Er ging hinein und wollte gerade etwas sagen. Doch die gedämpften Sirenen der Krankenwagen und das Stimmengewirr drüben in der Notfallambulanz, verschlugen ihm die Sprache. Scarlett legte auf und sah Jonas mit ihren dunkelgrünen Augen verdutzt an.
„Willst du nach schauen?“, fragte er. Die beiden verhielten sich zwar wie Hund und Katz, aber in Sachen belauschen, waren sie sich stets einig. Ihre Neugier mussten sie ja irgendwie stillen.
„Geh du ruhig. Mir hat der Anblick gestern gereicht.“
Das ließ sich Jonas nicht zweimal sagen. Sofort machte er sich auf dem Weg. Als er sein Ziel erreichte, sah er wie zwei Männer in die Notfallambulanz geschoben wurden. Zu seiner Verwunderung sahen sie sehr unversehrt aus. Abgesehen davon, dass sie blass waren und bewusstlos auf der Liege lagen. Zudem ging ihr Atem sehr schwach und sie zitterten am ganzen Leib. Nachdem er eins und eins zusammenzählte, ging ihm ein Licht auf. Schließlich musste er diese Symptome selbst einmal durchleben.
Gerade als Jonas zurückgehen wollte, hörte er wie sich zwei Sanitäter unterhielten. Es ging um Tote, die gleich zur Pathologie gebracht wurden. Die beiden dachten wohl, dass es in ihrer Ecke niemand mitbekam. Doch Jonas' gutes Gehör entging nichts.
„Ich glaube, ich werde erst mal nicht Alptraum frei schlafen. So etwas hab ich noch nie gesehen“, sagte der Größere.
Der Kleinere nickte und schüttelte sich. Wahrscheinlich vor Abscheu. „Mir wird es nicht anders gehen. Erst Recht wenn ich an das ganze Blut und die Gedärme denke, von dem mit der abgefressene Bauchdecke.“
„Die Viecher mussten ausgehungert gewesen sein. Die Polizisten haben die Gliedmaßen des anderen immer noch nicht gefunden.“
„Die müsste man erschießen. Ich fühle mich wie in einem schlechten Horrorfilm.“
„Ich mich auch. Hoffentlich bekomme ich die Gesichter wieder aus dem Kopf.“
„Welche Gesichter? Davon war doch nichts mehr zu erkennen.“
Jonas schüttelte schmunzelnd den Kopf. Die Sanitäter waren ein paar Klatschweiber. Und die Wölfe mussten wohl erst einmal Blut lecken. Das gestern war noch harmlos, aber heute sind sie aufs Ganze gegangen. So wie man sie kannte. Jonas musste nachher dringend seine drei Freunde in Italien informieren. Sie würden es ihm übel nehmen, wenn er ihnen nicht Bescheid gab.
Als nichts spannendes mehr passierte, ging er auf seine Station zurück und berichtete Scarlett alles. Nur die Beschreibung der Toten wollte sie nicht hören. Jonas bemerkte wie sie Angst bekam. Eigentlich war es auch verständlich. Würde er so etwas zum ersten Mal erleben, würde es ihm genauso gehen. Warum er es ihr sagte? Vielleicht, damit er vor nervigen Fragen von ihr sicher war. Doch insgeheim wollte er sie auch warnen. Vom Charakter her konnte er diese Frau nicht ausstehen, aber ihr Aussehen glich der seiner Exfrau. Für Jonas war sie seine große Liebe und er hing noch immer an die gemeinsamen Erinnerungen. Warum es überhaupt zur Trennung kam, wussten nur Alexis und seine drei italienischen Freunde.
1
Mit gemischten Gefühlen saß Scarlett am Steuer ihres Autos. Heute war ihr letzter gemeinsamer Abend mit Kim und Stefan. Vier Jahre lang hatten sie sich die Wohnung geteilt und es waren die schönsten ihres Lebens. Ihre drei Mitbewohner waren zu ihrer Familie geworden, die sie nie hatte. Der einzige Trost war, dass Alex blieb. Wer weiß wie die neuen Mitbewohner waren. Bis jetzt stand es noch in den Sternen. Die Kandidaten, die sich gemeldet hatten, passten nicht hinein. Doch vor der Abschiedsparty hatten sich noch andere Interessenten angekündigt. Scarlett hoffte, dass darunter die Perfekten steckten.
Sie musste sich beeilen. Paloma und sie waren ohnehin schon spät dran. Scarlett ließ ihre beste Freundin an der Geburtsstation raus und suchte dann einen freien Parkplatz. Wie es der Zufall so wollte, war dies schwieriger als gedacht. Weitere Minuten verstrichen, bis sie fündig wurde und hastig zur Gefäßchirurgie lief. Vom weiten hörte sie Oberschwester Berta herum meckern. Sie drückte den Summer der die Tür öffnete und sah die Oberschwester mit hochroten Kopf auf Jonas einreden. Mit leisen Sohlen schlich sie den Flur entlang in der Hoffnung unbemerkt zu bleiben.
„Morgen Schwester Scarlett! Sind Sie auch schon da?“ Bertas Stimme erklang.
Scarlett zuckte ertappt zusammen und drehte sich verlegen zu der Oberschwester um. Heute war definitiv nicht ihr Glückstag.
„Guten Morgen!“ Sie lächelte. „Der Parkplatz ist wirklich überfüllt. Eh man da einen Platz findet läuft die Zeit davon.“
„Stehen Sie in Zukunft eine halbe Stunde früher auf, dann finden Sie auch einen Parkplatz!“
Scarlett nickte. „Das werde ich mir zukünftig vornehmen.“ Sie versuchte sie zu besänftigen. Doch das gelang ihr nicht ganz. Mit zu Schlitzen verengten Augen, watschelte die Oberschwester in ihr Büro.
„Was hast du denn wieder gemacht?“, wandte sich Scarlett an Jonas.
„Guten Morgen erst mal.“ Er verschränkte die Arme. „Ich habe gar nichts gemacht. Die meckert doch immer. Oder leidest du auch schon an Demenz?“
„Das sind unsere beiden Streithähne. Schwester Scarlett und unser Krankenpfleger Jonas. Er fängt übrigens in einigen Wochen mit seinem Medizinstudium an“, erklang Chefarzt Krones Stimme hinter ihnen. Er kam mit einem schwarzhaarigen jungen Mann auf die beiden zu.
Dieser lächelte. „Einen wunderschönen guten Morgen!“
Scarlett und Jonas erwiderten das Lächeln. „Guten Morgen!“
„Das ist unser neuer Praktikant Marc Rubins. Seid nett zu ihm!“
„Sind wir das nicht immer?“ Scarlett zwinkerte Marc zu. Sie hatte eine Schwäche für Südländer und er schien Italiener zu sein.
„Nicht immer, aber immer öfters.“ Der Chefarzt lachte. Wenigstens hatte er heute gute Laune. „Okay, dann geht mal ran an die Arbeit!“
Scarlett desinfizierte sich die Hände und kümmerte sich mit den anderen Schwestern und Pfleger um die morgendliche Versorgung der Patienten. Obwohl sie zehn Minuten zu spät kam, konnte die Visite pünktlich um neun Uhr beginnen. Marc durfte daran teilnehmen während sich die anderen weiterhin um die Patienten kümmerten. Natürlich war es Herr Schröder, der als erstes schrie. Scarlett ging mit Vergnügen hin. Er fragte wieder einmal nach seiner Frau und erzählte ihr, dass Berta ihm seine Beine abnehmen wollte. Doch Scarlett konnte ihn beruhigen. Sie wusste, dass es zur Amputation nur dann kam, wenn Lebensgefahr bestand oder keine Medikamente anschlagen.
Es dauerte nicht lange und es wurde geklingelt. Es war Frau Star. Sie war die gute Seele unter den Patienten und auf der Station bekannt wie ein bunter Hund. Mindestens zwei Mal im Jahr wurde sie auf dieser Station aufgenommen. Entweder wegen Thrombose oder weil sich ihre Durchblutungsstörungen wieder verschlechterte. Sie bat um Novaminsulfon. Chefarzt Krone hätte ihr bei der Visite einen lockeren Zehnagel ohne Betäubung entfernt - einfach brutal, dieser Mann. Nach einer Stunde war die Visite zu Ende. Chefarzt Krone, Oberarzt Mende und Oberschwester Berta verschwanden in ihren Büroräumen. Marc hatte Frau Star bei der Visite schon so ins Herz geschlossen, dass er ein Rollstuhl organisierte und mit ihr ein Ausflug auf dem Krankenhausgelände unternahm.
Nachdem sie um zwölf Uhr das Essen verteilt hatten, machten sie in der Personalkantine Mittagspause. Jonas aß nicht viel. Er nervte eher damit, dass er eine rauchen wollte. Damit sich dieses Bedürfnis befriedigte, gingen die beiden mit Schwester Anna und Marc vor die Tür und zündeten sich eine Zigarette an. Jonas grinste Scarlett sofort schäbig an. Innerlich verfluchte sie sich, weil er sie mit seiner Sucht angesteckt hatte.
Plötzlich erblickte Scarlett von weitem Ben mit dem berühmten Staatsanwalt, Herr Doktor Zweipfennig. Er war dafür bekannt, dass er eiskalt in Gerichtsverhandlungen war und jeden, der auf der Anklagebank saß, hinter schwedische Gardinen brachte. Er hatte noch nie einen Fall verloren. Scarlett machte sofort ihren Glimmstängel aus.
Sie nickte dem Staatsanwalt lächelnd zu. „Guten Tag!“ Doch dieser schaute nur eiskalt durch sie hindurch. Bei diesem Blick wunderte es sie nicht, dass er jeden Prozess gewann. Da bekam man glatt Angst. Deshalb wandte sie sich lieber ihrem Kumpel zu und umarmte ihn. „Was machst du denn hier?“
Auf Bens Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Ich habe doch heute mein Praktikum beim Staatsanwalt angefangen. Wir wollen zur Gerichtsmedizin, um uns den Neuzugang anzuschauen.“ Er studierte Jura und war bereits im siebten Semester.
„Das ist meine Nachbarin Frau Blum“, stellte Ben seinem Chef Scarlett vor.
„Freut mich Sie kennenzulernen.“ Er hielt ihr seine Hand entgegen. Ehrfürchtig griff sie danach und schüttelte sie. Doch er sah immer noch desinteressiert aus.
„Danke. Es freut mich eine Legende, wie sie es sind kennenlernen zu dürfen“, erwiderte Scarlett. Herr Doktor Zweipfennigs Miene veränderte sich zu einem freundlichen Ausdruck. Sie musste ihm wohl geschmeichelt haben.
„Hey Ben! Was machst du denn hier?“, erklang Marcs Stimme.
„Ich mache mein Praktikum bei Herr Doktor Zweipfennig und wir müssen jetzt zur Rechtsmedizin.“
„Ihr kennt euch?“ Scarlett sah beide irritiert an.
„Ja, wir studieren an der gleichen Uni“, erklärte Ben. Vor einigen Jahren bot die Otto-von-Guericke-Universität noch kein Jurastudium an. Doch das änderte sich, weil sie testen wollten wie dies lief und es lief fantastisch. Genauso verhielt es sich mit Alex' Astronomie Studium.
„Herr Ciprian! Können wir weiter?“, drängte der Staatsanwalt Ben. Seine Stimme klang sehr ungeduldig. Was Scarlett verwirrte. Die Leichen konnten ja schlecht weglaufen. Irgendetwas an diesem Fall war wichtig, dringlich oder sogar gefährlich.
„Ja, aber natürlich.“
„Wir müssen auch langsam wieder rein. Sonst springt Berta im Dreieck“, wandte sich Scarlett an ihre Kollegen und ging mit ihnen zurück auf ihrer Station. Kurz vor Feierabend verteilten Jonas und Scarlett Kaffee. Nach einer kurzen Unterhaltung mit Frau Star, ging sie Richtung Ausgang.
Auf dem Weg sah sie, dass die Zimmertür von Herr Ringel und Herr Schönwald - die Patienten, die in ihrer Nachtschicht mit den beiden Verstorbenen eingeliefert worden - offen war. Scarlett warf einen Blick hinein und erkannte, dass das Zimmer leer war. Vor einer Stunde waren sie noch bewusstlos. Sie sah sich um. Die Ärzte und Schwestern schienen unbeschwert. Geflüchtet konnten sie also nicht sein. Bei dem Betrieb war es auch unmöglich. Scarlett schaute noch mal genauer in das Zimmer. Die Betten waren zerwühlt und es wurde schummrig. Sie sah aus dem Fenster. Der Himmel bewölkte sich. Vielleicht waren sie gestorben. Oberarzt Mende hatte ihr erzählt, dass in ihrem Blut eine unbekannte Substanz gefunden wurde, dass wahrscheinlich zum schwachen atmen, niedrigen Blutdruck und der schlechten Durchblutung führte. Scarlett lief ein kalter Schauer über den Rücken. Wenn sie gestorben wären, warum waren dann die Betten so zerwühlt? Die Laken lagen zur Hälfte auf dem Boden, die Decken waren zurück geworfen und die Vorhänge an den Fenstern waren heruntergerissen. Das ergab alles keinen Sinn.
Neugierig ging sie hinein. Als sie auf die Betten zuging, schlug die Tür hinter sie zu. Erschrocken drehte sie sich um. Scarlett atmete erleichtert aus. Es war nur Herr Schönwald, der mit dem Rücken zu ihr stand. Scarlett legte ihre Hand auf ihr rasendes Herz. „Sie haben mir aber ein Schrecken eingejagt. Wo ist Herr Ringel?“
Er lachte amüsiert und drehte sich zu ihr um. Scarlett gefror das Blut in ihren Adern bei seinem Anblick. Er war noch immer blass und sein Atem ging schwer und keuchend. Seine Lippen glänzten blutrot und seine Augäpfel waren rot unterlaufen. Es sah wie eine Bindehautentzündung aus. „Joachim, es wird nach dir verlangt“, sagte er und ging auf sie zu. Sein Blick war süffisant.
Die Erleichterung in Scarlett erlosch und es machte sich Nervosität breit. Mit zitternden Knien ging sie rückwärts in den Raum, bis sie gegen jemanden prallte.
„Hier bin ich“, säuselte der andere in ihr Ohr. Sie drehte sich um. Es war Herr Ringel und er sah kein Deut besser aus, als sein Zimmergenosse.
Scarlett räusperte sich und versuchte die unerklärliche Angst abzuschütteln. Sie musste jetzt professionell sein. Schließlich waren die Beiden Patienten.
„Legen Sie sich ins Bett! Ich hole einen Arzt, der Sie untersuchen wird.“ Das schlug kläglich fehl. Ihre Stimme war nicht mehr als ein Piepsen.
Herr Schönwald schüttelte den Kopf. „Das ist nicht nötig. Wir haben Durst. Danach werden wir uns wie neu geboren fühlen.“ Er schnupperte in Scarletts Richtung und zog die Nase kraus. „Aber Sie sind nicht mein Geschmack.“ Dann ging er zum Fenster und öffnete es weit.
Irritiert schaute Scarlett ihm hinterher. Sie roch selbst an sich. Es war ein neutraler Duft mit einem leichten Hauch ihres Lieblingsparfüms.
„Okay, dann hole ich Ihnen Mineralwasser oder Tee“, piepste sie erneut und ging Richtung Tür. Sie wollte das Zimmer so schnell wie möglich verlassen.
„Das ist aber nicht mein Geschmack.“ Ehe sie sich versah, knallte sie mit dem Rücken gegen die Wand. Ein kurzer Schmerz durchfuhr ihren Körper, doch als sie erkannte, dass Herr Ringel sie an den Oberarmen gegen die Wand drückte und sie vom Haaransatz, übers Gesicht, bis zum Hals beschnüffelte, betäubte die Angst den Schmerz.
„Ich habe eher ein Verlangen nach dir.“ Sie spürte seinen Atem an ihrer Kehle.
Scarlett versuchte sich aus seinem Griff zu befreien. Aber er war stärker. Es war, als wäre sie an der Wand festgeschraubt. Ihr Herz schlug so laut, dass sie es in ihren Ohren hören konnte. Ein panischer Schauer ließ ihren Körper erzittern.
„Lassen Sie mich los oder ich schreie!“ Aus ihrem Piepsen war ein Wimmern geworden.
Die Warnung half nicht viel. Er ließ seine Zunge an ihrem Hals entlang fahren. Scarlett schloss angewidert die Augen und wollte schreien. Aber in diesem Moment öffnete sich die Tür. Sofort sprangen ihre Augen auf. Es war Jonas, der herein gekommen war.
„Lassen Sie auf der Stelle die Frau los!“ Er kam auf die beiden zu, packte Herr Ringel an den Kragen und riss ihn von Scarlett weg. Möglicherweise war Jonas stärker. Die beiden Patienten sahen ihn mit denselben ehrfürchtigen Blick an, wie Scarlett heute Mittag den Staatsanwalt ansah. Sie murmelten etwas unverständliches und liefen im schnellen Tempo davon. Scarlett kam es vor wie in Lichtgeschwindigkeit, aber das war doch unmöglich.
„Bist du okay?“, wandte sich Jonas an sie. Scarlett nickte stumm. Sie war noch nicht in der Lage etwas zu sagen.
„Ich versuche sie einzuholen. So einfach dürfen die nicht entkommen.“ Jonas lächelte und rannte ebenfalls aus der Tür. Scarlett setzte sich geschockt auf einem Stuhl. Sie atmete ein paar mal tief ein und aus. Die Angst saß noch immer tief. Wenigsten ließ das Zittern nach. Zum ersten Mal war sie froh, dass Jonas da gewesen war. Die Tür öffnete sich wieder. Panik stieg erneut auf. Automatisch krallten sich ihre Hände an der Stuhllehne fest. Das erste was sie sah, war ein blonder Schopf. Dann sah sie das Gesicht. Es war Oberarzt Mende gefolgt von Herr Doktor Zweipfennig und Ben. Erleichtert seufzte sie auf.
„Geht es dir gut?", fragte der Oberarzt. Er ging zu ihr und nahm ihre Hand, um ihren Puls zumessen. „Kurz bevor Jonas verschwunden ist, hat er mir Bescheid gegeben.“
Scarlett musste erst schlucken, bevor sie antworten konnte. „Ja, ich hab nur einen kleinen Schock.“
„Der Puls beruhigt sich wieder“, sagte er mit einem Blick auf seiner Armbanduhr. Dann ließ er ihre Hand wieder los.
Ben hockte sich vor Scarlett und strich ihr eine blonde Locke aus dem Gesicht. „Wir haben deinen Kollegen unten getroffen, als er zwei Patienten gefolgt ist.“
„Was haben die Patienten zu Ihnen gesagt?“ Der Staatsanwalt sah sie durchdringend an. Das war alles zu merkwürdig. Die beiden hatten in Rätsel gesprochen und der Staatsanwalt schien sich brennend dafür zu interessieren. Handelte es sich bei den Beiden um Kriminelle? Nach ihrem Erlebnis konnte sie es sich gut vorstellen.
„Eigentlich nichts besonderes. Nur das sie Durst hätten“, antwortete Scarlett. Herr Doktor Zweipfennig hatte ein Notizblock aus seiner Aktentasche heraus geholt und notierte es.
„Und dann?“, fragte er weiter.
„Dann wollte ich rausgehen und was zu trinken holen. Aber Herr Ringel hatte mich an die Wand gedrückt.“ Scarlett hoffte, dass er nicht weiter fragen würde. Sie wollte nicht darüber reden, geschweige denn nachdenken.
Er notierte es. Sein Blick war unverändert. „Was hat er dann gemacht?“
Seufzend fuhr sich Scarlett mit der Hand durchs Haar. „Dann hat er an mir gerochen und sich mit seiner Zunge an meinem Hals zu schaffen gemacht. Ich wollte mich wehren, aber er war zu stark. Wäre Jonas nicht gekommen, hätte er mich bestimmt...“ Sie wagte es nicht das letzte Wort aus
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 26.09.2020
ISBN: 978-3-7487-5880-8
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme dieses Buch meiner besten Freundin Swantje Siegmund.
Denn sie hat in diesem Buch, als Autorin, an vier Abschnitte mit mir zusammen gearbeitet. Zwei ihrer Charaktere (Marc Rubins und Marcello) bekamen in meinem Werk einen Gastauftritt.