Kapitel 1
Im frühen Herbst eines unbedeutenden Jahres inmitten der Neuzeit, als Kriege im Nahen Osten und der potentielle Einsatz von atomaren Waffen noch immer die Menschheit beschäftigten, kam es zu unterschiedlichen seltsamen Geschehnissen.
Solche, wie ich sie zwar tagtäglich erlebte, allerdings betrafen sie dieses Mal meinen ganzen Heimatort. Menschen starben.
Das ist wohl die einfachste Formulierung für einen Sachverhalt, der selbst meine Vorstellungskraft übersteigen sollte...
Morgenröte
Es war noch früh am Morgen, als Ed Garner von einem markdurchdringenden Klirren geweckt, aus dem Bett hoch fuhr.
Trotz der Dunkelheit bemerkte er, dass er allein im Schlafzimmer war, denn es war totenstill um ihn herum.
„Mira?“, flüsterte Ed mit trockenem Mund der anderen Hälfte des Bettes zu, während seine rechte Hand in Richtung Kopfkissen seiner Frau fuhr. Doch da war nichts.
„Verdammt, das darf doch nicht wahr sein!“
Er riss die Decke schwungvoll zur Seite und griff nach seinem Morgenmantel, der von der täglichen Benutzung schon leichte bräunliche Flecken aufwies. Es war stickig und warm in ihrem Schlafzimmer und Ed musste sich die Augen reiben, um die letzte Müdigkeit abzuwerfen.
Das schrille Klirren ging ihm noch immer durch den Kopf, als er die Tür zum Flur öffnete und nach links in Richtung des Zimmers seiner Tochter blickte – das Geräusch musste aus der Küche gekommen sein. Die Küche lag im Erdgeschoss zwischen Wohnzimmer und Arbeitszimmer. An die Küche schloss sich allerdings noch das Esszimmer an, was die Ortung des Geräusches erschwerte.
Ed sprintete geradewegs die Treppe hinunter; er hatte sich angewöhnt immer zwei Stufen auf einmal zu nehmen, da er durch seine enorme Größe von beinahe zwei Metern sehr lange Beine hatte.
Die Stille, die seit seinem Erwachen anhielt, war für Ed unerträglich und er wünschte sich, dass wenigstens die Vögel ihren Gesang anstimmten, doch dafür war es zu früh.
Ed sah zur Wanduhr.
Warum jetzt - Da läuft doch irgendwas gewaltig verkehrt, dachte er und machte ein paar vorsichtige Schritte in Richtung Küchentür. Langsam und vorsichtig begann er, die Klinke herunterzudrücken und bereitete sich auf das Schlimmste vor, als ihn plötzlich jemand von hinten an der Schulter packte.
„Hey Dad, musst du nicht zur Arbeit?“
„Verdammt Anna, musst du mich so erschrecken?“, kam es fast schon schrill aus Ed herausgeschossen als er sich umwandte und seine 17 jährige Tochter vor sich sah. Dennoch fiel die Anspannung nun von ihm ab, denn er wusste, dass das schreckliche Geräusch nichts Bedrohliches bedeutete. „Was war das denn für ein Krach eben?“, fragte er sichtlich erleichtert.
Anna sah ihren Vater mit großen Augen an.
„Tut mir leid, mein Teller ist beim Abdecken runter gefallen ... Ich habe die Scherben aber sofort beseitigt. Ach übrigens“, fuhr sie hektisch fort, „ich geh' heute ein wenig früher los, weil ich die Präsentation mit Kevin und Sophie durchgehen muss.“
„Alles klar mein Schatz, aber was ich eigentlich wissen wollte … weißt du, wo - “ , doch bei dem Satz war Anna bereits winkend durch die Vordertür verschwunden.
Tatsächlich machte Ed sich mehr als nur Sorgen. Er hatte Angst um seine Frau.
Doch diese Angst ließ er sich nicht anmerken, denn er wollte seiner Tochter nie das Gefühl geben, dass er nicht die Kraft besitze, sie zu beschützen und ihr ein Vorbild zu sein.
Wieder war er alleine. Er hasste es allein zu sein, denn das erinnerte ihn an die Zeit vor einem Jahr.
Er betrat die Küche, sein suchender Blick schweifte über die Theke, die Kochplatte und die Mikrowelle, hinüber ins Esszimmer, wo drei Stühle um den kreisrunden Tisch standen. Anna hatte vergessen die Milch zurück in den Kühlschrank zu stellen und ihr ganzer Platz war voller Brotkrümel. Ed drehte den Verschluss der Milchtüte zu und warf einen Blick auf seinen Platz, wo eine Haftnotiz klebte. Er griff nach ihr und ging die Worte langsam durch, denn er liebte es, die schöne weiche Schrift seiner Frau zu lesen.
„Guten Morgen mein Liebling, mach dir keine Sorgen
um mich. Letzte Nacht war wunderschön und mir geht es
ein wenig besser. Dennoch gehe ich heute
wieder zum Arzt, denn das letzte, was ich möchte ist, euch zu verletzen.
Ich liebe dich, Mira“
Darunter waren noch drei Herzen, die sie immer unter kleine Nachrichten an ihren Mann malte.
Ed wusste nicht, was er davon halten sollte. Verzweiflung keimte in ihm auf und veranlasste ihn, sein Handy zu nehmen und mit zittrigen Fingern die Nummer seiner Frau zu wählen. Er versuchte sich zu beruhigen, doch immer wieder dachte er daran, wie einsam und allein er nun dastand.
Das Freizeichen ertönte einmal, zweimal und ein drittes Mal. Dann meldete sich jemand am anderen Ende der Leitung.
„Ha .. llo ?!“
Ed zuckte zusammen, als er die schrille, wimmernde Stimme seiner Frau am Telefon hörte.
„Mira?! Was ist los, wo bist du? Ist alles in Ordnung?!“
Er wusste, dass nichts in Ordnung war, deswegen schämte er sich fast für diese Frage. Er hatte seine Frau erst ein einziges Mal so gehört.
Das Telefon krächzte und knackte und er musste genau hinhören, um zu verstehen, was seine völlig in Angst aufgelöste Frau ihm sagen wollte.
„Ich weiß nicht... Ich weiß es nicht... Hilf mir bitte... !“
Kapitel 2
01.Januar
Es gibt Menschen, die sind von Natur aus glücklich. Sie werden geboren, wachsen wohlbehütet in einer heilen Familie auf und sammeln in ihrer Jugend wertvolle Erfahrungen. Nachdem sie dann möglicherweise sogar eine Hochschule besuchen und studieren, sind sie die Menschen, auf die wir hinaufschauen. Wir. Die anderen Millionen, die vielleicht eine grauenhafte Kindheit hatten, eine miserable Schulbildung oder eben Menschen, denen das Schicksal alles kaputt machte.
Hermann Hesse hat einmal gesagt: „Man hat nur Angst, wenn man mit sich selber nicht einig ist.“
Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass glückliche Menschen vor nichts Angst haben…
Im Schlachthof
Sie spürte den kalten Parkettboden unter ihrem Körper, als sie langsam zur Besinnung kam.
Wie in Trance bemerkte sie das Vibrieren ihres Handys nahe ihres Schambereiches, wodurch sie in leichte Erregung geriet. Sie griff in die Tasche und sah auf dem Display das Wort Schatz. Sofort drückte sie den Knopf mit der Abbildung des grünen Hörers, legte das Handy an ihr linkes Ohr und begann bei der Betrachtung der Umgebung zu schluchzen.
„Ha ... llo ?!“
Auf dem Boden kauernd betrachtete sie die hohen Wände des Raumes, in dem sie sich befand. Durch ihren weißen Anstrich wirkten sie klinisch und steril. Überhaupt wirkte alles in diesem Raum reinlich und aufgeräumt, selbst die Möblierung wurde scheinbar systematisch platziert.
Die männliche Stimme am Telefon riss sie aus ihrer eingeschüchterten Faszination. Auf die erschrockene Frage, wo sie sich befände, konnte sie keine zufriedenstellende Antwort geben.
„Ich weiß nicht... Ich weiß es nicht... Hilf mir bitte...!“
Beim ersten Versuch auf die Beine zu kommen, fiel die zierliche Frau seitlich, stützte sich allerdings mit ihren Händen ab. Das Handy rutschte so ein Stück weg und sie musste auf allen Vieren hin kriechen. Sie hob es auf und zog sich gleichzeitig an einer Vitrine hoch.
„Schatz, bitte hol mich hier raus! Mir ist so schrecklich kalt und ich kann mich nicht erinnern, wie ich hier hergekommen bin.“
Ihr Mann am anderen Ende versuchte sie zu beruhigen und fragte, ob sie durch ein Fenster ein Straßenschild sehen könne.
„Warte.“
Vorsichtig bewegte sie sich Richtung Fenster. Davor befand sich eine lange Couch, auf welche die Frau sich knien musste, um einen Blick hinaus zu erhaschen. Die langen, vergilbten Vorhänge versperrten die Sicht auf das Außenliegende. Mira schob sie beiseite, wobei ihr ein beißender Geruch in die Nase fuhr.
„Ich sehe nur einen Innenhof und ein Ladenschild … da steht Schlachterei Franklin. Oh Gott Ed, ich bin in einem Schlachthof aufgewacht!“
Ed versicherte ihr, dass er wüsste, wo die Schlachterei liege und dass er sofort komme.
Sie fühlte sich nun noch unwohler als zuvor, da sie nun wusste, dass sie sich in einem bewohnten Haus aufhielt. Was, wenn die Tür plötzlich aufginge und die Bewohner nach Hause kämen? Sie schob diesen Gedanken beiseite, denn diese Wohnung sah nicht aus wie bewohnt, sondern eher wie eine Musterwohnung für Besichtigungen.
In wenigen Minuten würde ihr Mann sie abholen und dann wäre für den Moment alles wieder in Ordnung. Sie strich sich die langen, braunen Haare aus dem Gesicht, spürte, wie sie ihre Tränen im Gesicht verrieb und das leichte Make-Up der Augen verwischte. Mira war eine sehr hübsche Frau für ihr Alter und nötig hatte sie es allemal nicht sich zu schminken – wie ihr Mann immer sagte: Ein Kunstwerk kann man nicht mehr verschönern.
Als sie die Wohnungstür öffnete, kam ihr schwere, nach rohem Fleisch stinkende Luft entgegen und sie musste kurz innehalten, um den Brechreiz zu unterdrücken. Ihr wurde klar, dass die Bewohner dieses Hauses entweder am Existenzminimum lebten oder keine Probleme mit Gestank haben konnten, denn sonst würden diese Wohnungen längst leer stehen.
Dann fiel es ihr schlagartig auf: Wie war sie überhaupt hier hineingekommen?
Von außen gab es keine Möglichkeit die Tür zu öffnen und Spuren eines gewaltsamen Eindringens sah sie auch nicht. Es gab nur zwei Möglichkeiten in diese Wohnung zu kommen. Entweder wurde sie entführt oder sie war auf irgendeine Art und Weise selbst hergekommen ohne sich daran zu erinnern.
Beim Gedanken daran schnürte sich in ihr alles zusammen. Sie schloss die Tür hinter sich und ging Stufe für Stufe die Treppe hinunter. Sie versuchte sich krampfhaft an den letzten Ort zu erinnern, an dem sie vor diesem gewesen war, doch da war nichts. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern aufgestanden zu sein.
Das Treppenhaus bildete einen krassen Gegensatz zu der schieren Wohnung, denn es sah völlig heruntergekommen aus. Tapetenfetzen hingen an der Wand und der rissige Putz war größtenteils sichtbar.
Der beißende Gestank verfolgte sie bis ins Erdgeschoss. Auf der letzten Stufe angekommen hielt sie inne, spürte den Würgereiz und konnte das Erbrechen nicht verhindern. Die rot - braune Flüssigkeit verteilte sich kreisförmig auf dem steinernen Fußboden, spritzte gegen die engen Wände.
Mira schüttelte es beim Anblick ihres Mageninhaltes und sie musste krampfhaft verhindern, dass ihr dies ein zweites Mal passierte. Schnell ging sie in Richtung Eingangstür, riss sie auf und schnappte nach Luft.
Sie sah ihren Mann ein Stück weiter die Straße runter aufgeregt auf-und ablaufend vor dem Fleischergeschäft.
„Schatz, ich bin hier!“
Ed sah erst in die Richtung, aus der er die Stimme vernahm, begann zu laufen und rannte schließlich auf seine Frau zu. Er nahm sie in den Arm und fuhr mit seiner Hand durch ihre langen kastanienbraunen Haare. Als er sie auf die Stirn küsste, übermannten ihn die Gefühle. Die Angst war überwunden und die Wiedersehensfreude riesig, eine Träne rollte ihm über die Wange.
„Ich hatte solche Angst um dich. Was hätte ich denn ohne dich machen sollen. Ich liebe dich Mira.“
Ed legte seine schwarze Jacke über Miras Schultern und nahm ihre Hand, um sie zu ihrem schwarzen Dodge Charger zu führen. Dieses Familienauto erbte Ed von seinem Großvater Andrew, nachdem er vor sechs Jahren an Kehlkopfkrebs starb.
Ed öffnete seiner Frau die Tür wie ein Gentleman, schnallte sie an und küsste sie, während er sich über sie beugte.
„Danke“, flüsterte ihm Mira mit einem winzigen Lächeln zu, dann schlug Ed die Tür zu und begab sich auf den Fahrersitz.
Er scherte aus der Parklücke aus und fuhr Richtung Baker Avenue, ihrem Zuhause. Unterwegs setzte er seinen nachdenklichen Blick auf, was Mira sofort bemerkte.
„Du … ich weiß, was du denkst. Aber glaub mir, wenn ich sage, dass ich selbst mir das alles nicht erklären kann“, flüsterte sie und legte ihre Hand auf Eds Oberschenkel.
„Dass ich dort aufgewacht bin, ist nicht meine Schuld. Ich kann dir nicht sagen, was passiert ist.“
Ihr lief nun ebenfalls eine Träne über die Wange. „Es tut mir leid.“
Ed seufzte. „Du musst dich nicht für Dinge entschuldigen, die ohne dein Wissen geschehen. Es tut nur mir leid, dass ich dich heute Morgen nicht aufhalten konnte. Das war das letzte Mal, dass ich versagt habe, das schwöre ich dir.“
Dann bog der schwarze Wagen in die Einfahrt.
Kapitel 3
02.Januar
Ich wusste von Anfang an, was geschähe, wenn ich diese eine Entscheidung treffen würde. Mein Leben würde zur Hölle werden. Die Hölle auf Erden heißt es so schön. Das war sie tatsächlich, denn jeder, der mal mit einem Kranken zusammen gelebt hat, weiß, wie belastend und nervenzehrend das ist. Mit der Zeit kommt zwar eine gewisse Routine, aber die Belastung bleibt.
Ich habe mich dafür entschieden, weil ich der Liebe eine Chance geben wollte. Und die Liebe hat es mir gedankt. Zum einen mit einer wundervollen Frau und zum anderen mit meiner Tochter, die ich genauso zu lieben gelernt hatte.
Nächtlicher Besuch
Eds Tochter Anna war 17, recht beliebt und auch um ihr Aussehen brauchte sie sich keine Sorgen machen, dies hatte sie nämlich von ihrer Mutter geerbt. Nicht nur die glatten braunen Haare, die ihr fast bis zur Hüfte reichten, auch die Größe von 175 cm und die schmale Statur. Ihre grün – blauen Augen allerdings sahen denen ihres Vaters zum Verwechseln ähnlich. An diesem Sommerabend war sie allein Zuhause und trug ihren Lieblingspullover, ein ausgefranster grauer Sweatpulli mit dem roten Schriftzug Tigers sowie eine hautenge Leggins, denn sie liebte das Gefühl. An diesem Abend ließen sie verschiedene Gedanken nicht los, besonders der, dass sie sich in letzter Zeit in der Nähe ihres besten Freundes Kevin einfach zu wohl fühlte. Immer wieder spürte sie ein Kribbeln tief in der Magengegend, wenn er sie anlächelte. Dieses Gefühl hatte Anna noch bei keinem Jungen zuvor – obwohl es an Angeboten nicht gemangelt hatte. Diese Situation stellte sie allerdings vor einige Probleme, wie sie sich selbst eingestehen musste. Zum einen wusste sie, dass ihr Vater sie, zumindest zu diesem Zeitpunkt, nicht freigeben würde für einen anderen Mann. Denn ihr war schon seit Jahren klar, dass er von starken Selbstzweifeln und Angst vor der Einsamkeit geplagt wurde. Anna nahm ihrem Vater dies nicht übel und war auch bereit solange für ihn da zu sein, wie es nötig war.
Zum anderen hatte sie keine Erfahrung mit Jungen, da sie sehr konservativ erzogen wurde und sie sich erst sehr spät selbst aufgeklärt hatte. Doch in letzter Zeit fragte sie sich immer öfter, worin der Sinn dieses ganzen „Versteckspiels“ zwischen Mann und Frau liegen sollte. Das Zurückhalten vor dem Erforschen der eigenen Sexualität mochte ja bis zur Mitte der Pubertät funktioniert haben, doch letztlich, so dachte sie, erläge doch jeder Mensch seinem natürlichen Trieb.
Und das ist auch gut so.
Anna ertappte sich dabei, wie sie ihr Resümee laut vor sich hinmurmelte.
Sie lag in ihrem Bett, starrte an die Decke und musste plötzlich, wie durch eine geistige Verknüpfung geleitet, an Kevin denken.
Kevin war 18 Jahre alt, ziemlich groß, allerdings nicht so groß wie ihr Vater und hatte kurze, braune Haare. Anna lernte ihn kennen, nachdem er die letzte Klassenstufe wiederholen musste. Damals war sie fast 16 und Kevin setzte sich in die erste Reihe neben sie, wo sie begannen sich kennenzulernen und herausfanden, wie ähnlich sie sich waren.
In der Zeit darauf trafen sie sich immer öfter privat, besuchten zusammen Partys und wussten sofort, dass sie zusammen auf den Abschlussball gehen würden.
Doch wie bringt man seinem besten Freund bei, dass man vielleicht mehr empfindet als nur Freundschaft, ohne diese zu zerstören?
Anna rollte sich von einer Seite des Bettes auf die andere und ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie beide es tatsächlich schaffen würden, irgendwie zusammenzufinden. Ihr Herz raste jetzt.
In dem Moment ertönte die Türklingel und riss Anna gewaltsam aus ihrem Tagtraum. Sie drehte sich wieder zur rechten Seite des Bettes, setzte sich aufrecht hin und stieg in ihre rosafarbenen Hausschuhe. Sie rieb sich die Augen, die sie die ganze Zeit geschlossen hatte, um wieder klar sehen zu können und fragte sich, wer um diese späte Uhrzeit bei ihnen klingelte.
Der Flur war noch dunkel und Anna musste erst mit der flachen Hand nach dem Lichtschalter tasten, um überhaupt etwas sehen zu können. Schnellen Schrittes stieg sie die Treppe hinunter, in der Hoffnung den späten Besucher nicht zu lange warten gelassen zu haben.
Sie wusste, dass sie alleine Zuhause war, da ihr Vater auf der Arbeit war. Der Lichtkegel eines vorbeifahrenden Autos wanderte die Wand des Flures entlang und bildete den leuchtenden Umriss desjenigen, der vor der Tür stand.
Anna öffnete die Tür einen Spalt und fragte, ohne etwas sehen zu können:
„Wer ist da?“
Eine sehr tiefe männliche Stimme antwortete ihr nach einem deutlich hörbaren Atemzug.
„Anna. Ich ... bin … dein ... Vater.“
Sie zog die Augenbrauen kurz zusammen und überlegte, was das gerade gehörte bedeuten könnte.
„Kevin, du bist ein Idiot.“
Anna öffnete die Tür nun ganz und sah vor sich den Jungen, von dem sie vor wenigen Minuten noch intensive Tagträume hatte. Kevin hatte wie immer seine rot – gelbe Collegejacke an, seine Haare standen zerzaust in alle Richtungen ab.
„Na du. Ich war gerade in der Nähe und dachte: Hey, wieso besuche ich nicht mal Anna, die freut sich doch bestimmt!“
Anna verdrehte die Augen.
„Ja, aber nicht, wenn du mit deinen kranken Science - Fiction - Sprüchen kommst. Egal, komm rein. Willst du was trinken?“
Kevin schüttelte den Kopf.
„Ich wollte nur kurz Hallo sagen und … hey, sind deine Eltern gar nicht da?“
Er ging bis zur Küchentür und streckte den Kopf in den Raum, um nachzusehen.
„Nein, mein Vater hat Nachtschicht. Wollen wir noch 'nen Film gucken, es ist doch erst kurz nach neun. Deine Eltern machen sich bestimmt keine Sorgen, wenn du mal um elf nach Hause kommst.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, nahm sie Kevin an der Hand und zog ihn hinter sich her die Treppe hoch.
Oben angekommen schaltete sie schließlich wieder das Licht aus.
„Und, was gucken wir?“
Anna zog sich den Pullover aus und warf ihn in die Ecke, wo ihr brauner Sessel stand.
Nun stand sie grinsend vor Kevin, der sich sichtlich amüsierte.
„Wow, wird das hier ein Striptease, weil wir uns morgen vor eineinhalb Jahr kennengelernt haben?“
Er musste schmunzeln.
„Kevin, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll … aber“, begann Anna erschrocken über ihren eigenen Mut. „Ich - “
Doch Kevin unterbrach sie jäh. „Was ist los Anna. Wenn dir irgendwas auf der Seele liegt, dann lass es mich wissen, du bist wie eine kleine Schwester für mich, ich würde dir auch alles anvertrauen.“
Anna ließ sich aufs Bett sinken, ihren Blick konnte sie nur auf den Boden richten. Du bist wie eine kleine Schwester für mich. Wie eine Schwester. Anna hatte zwar keine Geschwister doch ihr war klar, dass dies bedeutete, dass Kevin sie nicht wie eine Frau sah, sondern wie - ja wie eigentlich? Aber das war nun egal.
„Ähm, was? Achso ... es geht um meinen Vater“, wich sie schnell ihren eigenen Gedanken aus. „Er verhält sich in letzter Zeit wieder seltsamer und scheint sehr gestresst zu sein.“
„Hast du ihn mal gefragt, ob alles in Ordnung ist? Ich meine, vielleicht bildest du es dir auch nur ein. Jeder hier in der Stadt mag deinen Vater, rede doch morgen mal mit ihm und wenn er wirklich ein Problem haben sollte, werden wir garantiert eine Lösung dafür finden.“
Anna seufzte laut und murmelte ein leises Okay vor sich hin, womit das Thema für ihren Freund erledigt war. Sie ließ sich rücklings aufs Bett fallen und starrte wie paralysiert an die Decke, während Kevin ihre Filmsammlung durchstöberte.
„Fifty Shades of Grey? Ernsthaft?“
„Was willst du? Ich steh drauf“, rollte Anna mit den Augen und fing langsam an sich in die griftgrüne Bettdecke einzurollen. Ein Blitz erhellte plötzlich das Zimmer; beiden war gar nicht aufgefallen, dass es zwischenzeitlich angefangen hatte zu regnen. Dieses Wetter bereitete Anna Unbehagen – und das trotz der Tatsache, dass Kevin nun mit ihr zusammen in diesem Zimmer war, ungestört. Ihr Vater würde vermutlich erst weit nach Mitternacht nach Hause kommen. Sie hatten jeden Freiraum der Welt und doch war die Vorstellung hier an diesem Abend mit ihm zu verschmelzen in derartige Ferne geraten, dass es sie fast zur Verzweiflung brachte. Sie empfand ihr Alter als genau richtig um die Jungfräulichkeit zu verlieren. Wenn sie Kevin schon nicht haben konnte, dann wollte sie wenigstens mehr über ihn und sein bisheriges Liebesleben erfahren.
„Hattest du schonmal Sex?“, fragte sie völlig unverblümt, während Kevin noch immer die Filme durchging und offensichtlich nichts Zufriedenstellendes fand.
„Anna, wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Ich weiß nicht. Ist mir eben durch den Kopf gegangen und irgendwie interessiert es mich gerade, da du es ja nicht schaffst einen Film auszusuchen.“
„Ich … Fuck! So spät schon?“, sagte Kevin, der zur Uhr über Annas Fernseher schaute.
„Sorry Anna, ich muss nach Hause … und außerdem habe ich vergessen, dass wir morgen einen Latein-Test schreiben. Ich hab noch nichts gelernt!“
Er ging zu Anna, die sich inzwischen wieder aufgerichtet hatte und vor Verwunderung und Empörung über dieses offensichtliche Ausweichen mit offenem Mund dasaß. Er kniete sich halb vor ihr hin, so dass die Szenerie den Anschein eines Verlobungsantrages erweckte und er versuchte nun mit abwesendem Blick Annas Wange für einen Abschiedskuss zu erwischen, doch ohne zu wissen, was sie da überhaupt gerade tat, drehte Anna ihren Kopf und fühlte einen Moment später, wie sich ihrer beiden Lippen trafen.
Augenblicklich wurde ihr ganzer Körper erst warm und dann immer heißer, sie begann leicht zu zittern, die Überforderung war ihr deutlich anzusehen. Ihr erster Kuss. Musste er so unfreiwillig entstehen? Einen kurzen Moment lang fühlte sie sich schuldig, sie hatte Kevin hierzu gezwungen und nun tatsächlich ihre Freundschaft aufs Spiel gesetzt. All diese Gedanken rasten in einem Sekundenbruchteil durch ihren Kopf. Doch Kevin hatte seine Lippen bereits von ihren gelöst und kniete noch immer mit offenem Mund vor ihr. Er wusste genauso wenig zu sagen, wie sie es wusste.
„Kevin, bitte …“, entfuhr es Anna. Die Entscheidung, ob der Kuss eine gute oder schlechte Idee war, hatte sie nun gefällt. Es würde zwischen ihnen nie wieder so werden wie vorher. Und das bereute sie in diesem Moment zutiefst.
„Ich muss los. Mach dir keine Gedanken. Bis morgen?“, sagte er fragend und verblüffend selbstbewusst. Dann verschwand Kevin aus ihrem Zimmer, es war nur noch das Türschloss zu hören und daraufhin völlige Stille.
Kapitel 4
03.Januar
Die Einsamkeit bringt mich um. Für mich ist Einsamkeit wie eine Bestrafung. Doch wofür? Muss ich, genau wie Sysyphus, jeden Tag die Qualen ertragen, die ich selbst zu verschulden habe? Wo ist Gerechtigkeit auf unserer Erde und wer erfährt sie? Sind Menschen überhaupt in der Lage zu richten oder sind unsere selbstgeschaffenen Rechtssysteme nur eine Farce?
Vor ein paar Monaten hätte ich mit diesen Fragen an meinem Beruf gezweifelt.
Todessehnsucht
Ed saß in seinem kleinen, spartanisch eingerichteten Büro - es bestand tatsächlich nur aus einem dunklen Eichenholzschreibtisch, einem Bürostuhl, einer hässlichen Tischlampe und den üblichen Büroutensilien - und erledigte die Formalitäten eines räuberischen Überfalls von vor zwei Tagen. Ein mit einer Minigun bewaffneter und maskierter Vorstadtbewohner war geradewegs durch die Einkaufspassage in eine der örtlichen Banken marschiert, um dann während der Geiselnahme zu bemerken, dass die Waffe nicht funktionstüchtig war. Fälle dieser Art gab es nicht allzu oft in dieser Kleinstadt und Ed musste plötzlich schmunzeln über so viel Blödheit.
Draußen regnete es stark und die Tropfen rannen an den Fensterscheiben hinunter. Während er dieses meteorologische Schauspiel beobachtete, dachte er erneut an die seltsamen Ereignisse des Vormittags. Er blickte zur Wanduhr, sie zeigte zwei Minuten vor Mitternacht. Scheiße, schon wieder so spät.
Eine kalte Brise bahnte sich ihren Weg durch das offene Fenster und brachte ihn zum Zittern. Wie konnte das alles wieder geschehen?
Er nahm sich eine der kleinen Zuckertüten, riss sie auf und schaute dabei zu, wie die kleinen Kristalle in seinen heißen Kaffee rutschten.
Danach stand er auf, um das Fenster zu schließen, doch als er gerade auf dem Weg war, klopfte es plötzlich und ein älterer Mann in Uniform betrat das Büro.
„Mister Garner, wir haben eben einen anonymen Anruf erhalten. In der Harlem Street 74 soll jemand Suizid verübt haben. Das Ganze kommt mir etwas seltsam vor, da der Anrufer sich überhaupt nicht identifizieren wollte. Ich will erstmal nicht das ganze Bataillon aufwecken bevor wir einen Scherzanruf ausschließen können. Ich möchte, dass Sie sich dort erst einmal allein umsehen und wenn das Ganze die Wahrheit ist, benachrichtigen Sie bitte die Zentrale, alles klar?“
Ed war wie angewurzelt.
„Das ist doch … die Wohnung über der Fleischerei … oder?“
Der ältere Mann blickte plötzlich finster und kniff die Augenbrauen zusammen.
„Weiß ich nicht und es ist mir auch scheißegal, kümmern Sie sich darum, ich habe keinen anderen Mann in der Zentrale, den ich dort hinschicken kann!“
Die anderen beiden Mitarbeiter der Nachtschicht - beide sehr verbrauchte Gestalten, zum einen Cartwell ein Mann um die 50, feistes Gesicht, riesiger Bauch und mitten in der Midlife-Crisis, sowie Haddock mit seinen eingefallenen Wangen und den letzten drei Haaren auf dem Kopf, die er sich jeden Morgen mit seinem eigenen Schweiß über den Kopf zu legen schien, hoben die Köpfe, um nun zu lauschen, wieso ihr Kollege von seinem Vorgesetzten angebrüllt wurde.
Er fühlte sich schon lange nicht mehr wohl in seiner Dienststelle und dachte oft daran in eine andere Stadt zu ziehen und diesen Ort hinter sich zu lassen, doch er konnte einfach nicht. Zu viele Erinnerungen hingen an seinem Heimatort. Hier war er als Teenager hergezogen, zur Schule gegangen und hatte später auch seine Frau kennen gelernt. Das waren die positiven Erinnerungen. Und dann gab es da noch die Erinnerungen, die Ed am liebsten für immer vergessen hätte. Solche, die jede für sich genommen schon ein gewöhnliches Leben in eine unendliche Dunkelheit werfen könnten.
Er nahm seine schwarze Jacke vom Haken, steckte die Autoschlüssel wie immer in seine linke Hosentasche, warf seinen Kollegen einen kühlen Blick zu, so dass diese sich gelangweilt wieder ihrer Arbeit zuwandten und verließ das Büro. Draußen regnete es mittlerweile in Strömen und Ed's schwarzes Haar war bereits nach wenigen Metern komplett durchnässt. Zum Schutz hielt er sich eine seiner Plastikmappen über den Kopf, was allerdings angesichts des seitlichen Windes keinen Erfolg brachte. Eine Feuerwehrsirene heulte in der Ferne und übertönte den Regen.
Am Polizeiwagen angekommen, griff er erst in die rechte, dann in die linke Hosentasche, um den Autoschlüssel herauszufischen. Ed sah nach beiden Seiten, denn er empfand seine Situation als äußert unkomfortabel. Für gewöhnlich machte ihm die Tageszeit seiner Einsätze nichts aus, es war ihm völlig egal ob er morgens, mittags oder nachts arbeitete, aber in dieser Nacht war ihm sehr seltsam zumute. Er malte sich aus, was er gleich vorfinden würde … oder besser wen.
Er öffnete die Autotür mit einem leisen quietschen, schwang sich hinein und steckte den Schlüssel ins Zündschloss, hielt jedoch einen Moment inne.
Seine Gedanken kreisten wieder um seine Frau und er fragte sich, ob es ihr gut ginge.
Er überlegte, ob er zuerst anrufen und sich nach ihr erkundigen oder zum angeblichen Tatort fahren und den mysteriösen Selbstmord melden, was ihm allerdings das schlechtere Gefühl gab.
Er beschloss kurz in der Klinik anzurufen, um sein Gewissen zu beruhigen.
Die eingespeicherte Nummer konnte er mit der Kurzwahl 5 anwählen. Nach zwei Freizeichen ertönte die sympathische Stimme einer scheinbar recht jungen Dame.
„Eastwood Medical Center, Sie sprechen mit Schwester Galvina. Was kann ich für Sie tun?“
„Ähm … Guten Abend, Garner hier, können Sie mich bitte mit der psychiatrischen Abteilung verbinden?“
„Ja sofort, bitte warten Sie einen Moment.“
Nachdem die Frau ihren Satz beendet hatte, ertönte eine Melodie im Telefon. Ed war sich sicher, dass es sich um ein Stück von Johann Sebastian Bach handelte, denn er kannte es aus einigen Filmen. Als ihm einfiel, dass es die Air Suite Nr. 3 war, grinste er in sich hinein und begann zu träumen. Er träumte davon, nie wieder Angst haben zu müssen, eine glückliche Ehe zu führen und davon, nachts ruhig einzuschlafen.
Dabei döste er fast ein und konnte seinen seitlich wegrutschenden Kopf gerade noch abfangen, als diesmal eine recht unfreundliche männliche Stimme am Hörer war.
„Wer ist da?“
„Inspector Garner. Ich rufe an, weil ich mich nach dem Zustand meiner Frau erkundigen möchte.“
Ein kurzes Schweigen brachte Ed fast aus der Fassung.
„Hallo?“
Plötzlich änderte sich die Stimmlage des Arztes und wirkte nahezu glücklich.
„Mister Garner, ihrer Frau geht es gut, sie schläft gerade. Wir konnten nichts Ungewöhnliches feststellen. Jedenfalls nichts … anderes als sonst.“
Ed wusste nicht woran es lag. Ob es die Tatsache war, dass der Mann am anderen Ende der Leitung das stete Leiden Mirandas zur Normalität degradierte oder, dass ihm die beruhigende, übermäßige Freundlichkeit des Arztes wie ein spöttisches Lachen in den Ohren widerhallte, was auch immer es war, es sprengte die Ventile, die Eds Frust solange in seinem Inneren zurückgehalten hatten.
„Scheiße! Ich will doch einfach nur, dass Sie sie von ihrem Leiden heilen! Wie lange kann das denn noch dauern!?“
Durch diese Aussage in totale Rage geraten, warf Ed sein Handy gegen das Armaturenbrett, sodass es in seine Einzelteile zersprang.
„Verdammt!“, schrie er mit beiden Händen nun gegen das Lenkrad schlagend und für einen kurzen Moment in sich zusammensinkend. Einige Tränen fanden ihren Weg aus den verengten Schlitzen, zu denen Eds Augen geworden waren.
Es dauerte einige Minuten, bis er sich gefangen hatte, doch dann entschied er sich, endlich dem ihm aufgetragenen Fall nachzugehen, da er heute Nacht sowieso nichts Besseres mehr bewirken konnte. Mit einer gekonnten Armbewegung wischte er die Tränen aus seinem Gesicht und machte sich auf den Weg zum Tatort, dem Ort an dem er früher am Tag bereits gewesen war. Die Harlem Street war nicht weit, man konnte sie sogar schnell zu Fuß erreichen, doch der Regen schien unaufhörlich auf sein Auto zu hämmern.
Eine der Straßenlaternen flackerte am Straßenrand. Bei solchem Wetter würde kein vernünftiger Mensch vor die Tür gehen.
Ed fuhr zwei Blocks weiter und hielt unter dem neon-rot leuchtenden Ladenschild der Fleischerei, die schwachen Lichter der Laternen spiegelten sich zusammen mit dem Ladenschild und umgeisterten es wie Glühwürmchen einen einsamen Camper.
Wieder stand er nun im strömenden Regen und versuchte durch eines der Fenster einen ersten Blick zu erhaschen. Doch jedes der drei Fenster war stockdunkel und Ed begann durch seinen angestrengten Blick Dinge zu sehen, die nicht real waren.
Er sah zu seinen Schuhen hinunter, mit denen er in einer Pfütze stand, blickte dann wieder zu den Fenstern und war wie vom Blitz getroffen. Er war sich sicher, dass er dort oben ein leuchtendes Paar Augen erkennen konnte.
Ed bekam Gänsehaut, wusste allerdings nicht genau, ob durch den kalten Regen oder den Schockmoment.
Er ging noch einmal zurück zum Wagen und nahm seine Taschenlampe, denn er wollte nicht riskieren plötzlich im Dunkeln stehen zu müssen.
Fest umklammerte er sie und bewegte sich Richtung gläserner Eingangstür, drückte einmal fest dagegen, doch diese war, wie er es schon vermutete, fest verschlossen. Mit der Taschenlampe leuchtete er das Klingelschild an, aber auch hier wurde er enttäuscht, denn dort stand kein einziger Name geschrieben. Ed fragte sich, ob dieses gottverlassene Haus überhaupt noch bewohnbar war oder längst baufällig.
Ed war ratlos und machte sich beinahe auf den Weg zurück zum Auto, als ihm die weit entfernten Worte seiner Frau ins Gedächtnis kamen: „Ich sehe nur einen Innenhof und ein Ladenschild …“
Es gab also einen anderen Zugang. Ed sah sich kurz auf der komplett verlassenen Straße um und schlich sich dann um die Ecke des Gebäudes, geradewegs auf den Hinterhofeingang zu. Das war es, was er so sehr an seinem Beruf liebte, das Ermitteln auf eigene Faust und das Lösen von Problemen, die ihm offensichtlich im Weg standen.
Vor ihm lag ein hüfthoher Zaun, den er gekonnt mit einem seitlichen Beinschwinger hinter sich ließ.
Der Innenhof erinnerte ihn an einen Gefängnishof, denn er war komplett betoniert und es gab keine Pflanzen oder Bäume, die das Gesamtbild nicht so karg hätten erscheinen lassen.
Die Mauern des Gebäudes bestanden aus Millionen von roten Ziegeln, die offensichtlich noch aus der Mitte des letzten Jahrhunderts stammen mussten, da sie das Gemäuer alt und verfallen wirken ließen.
Ed wollte nun keine Zeit mehr verlieren, zu groß die Angst vor unangenehmen Konsequenzen und mindestens ebenso groß die Neugier auf das möglicherweise schaurige Spektakel, was dort oben auf ihn warten würde.
Der Zugang zum Gebäudekomplex lag von ihm aus auf der rechten Seite, wo ein breites braun-gelbes Graffiti prangte. ACAB. Sein Puls schnellte kurz hoch, doch er wusste, dass dieses Werk höchstwahrscheinlich nur von pickeligen Teenagern angefertigt wurde, die noch keine Ahnung vom Leben hatten.
Ed schimpfte kurz auf die heutige Jugend und fasste schließlich sein Ziel ins Auge. Die breite Tür schien auf ihn herabzuschauen, wie ein Richter auf den Angeklagten, denn sie befand sich oberhalb eines kleinen Aufstiegs. Er stieg die Stufen nun schnell hinauf, getrieben von der Neugier.
Seine Hand umschloss den Drehknauf und … tatsächlich, die Tür ließ sich nach innen öffnen.
Auch Ed wurde, ebenso wie seine Frau am Morgen, von dem widerwärtigen Gestank überrascht und überlegte sich, wie er weiter vorgehen sollte.
Kapitel 5
04.Januar
Weißt du, warum Ängste existieren? Viele Menschen sind der Meinung, dass Ängste zur Selbsterhaltung dienen. Ich glaube, dass Angst das Zahnrad der Evolution ist. Die Auslese der Stärksten und Furchtlosesten. Eine Sozialphobie zerstört Menschen innerlich, nein, jede Angst zerstört eine menschliche Seele. Nyktophobie erzeugt schlaflose Nächte, Arachnophobie führt hin zur grundlosen Paranoia. Und das alles nur, weil wir nicht sterben wollen? Ich halte diese Begründung für lächerlich … wer ist denn je von einer Kellerspinne ermordet worden.
Klaustrophobie
Mirandas grüne Augen waren weit aufgerissen, als eine zierliche Krankenschwester in weißem Kittel auf ihr Krankenbett zukam.
„So Mrs Garner, sie bekommen jetzt noch zusätzliche 200 mg eines harmlosen Sedativums, damit sie heute Nacht ruhig und gut schlafen können.“, sagte sie mit einer wohltuenden Stimme.
Auch, wenn Miranda im Begriff war zu sagen, dass sie keine Spritze möchte, verschluckte sie ihren Einwand lieber, um keine unnötige Aufregung zu verursachen.
Sie spürte die breite Nadelspitze tief in ihre Armbeuge eindringen und das kalte Sedativum durch ihre Vene fließen. Der Augenblick war wie eine Ewigkeit.
„Schlafen Sie gut, Mrs Garner. Wir sehen uns in der Hölle, wo Sie brennen werden, bis Sie vom Geruch Ihres verbrannten Fleisches wahnsinnig werden!“
Mit einem tiefen, dämonischen Lachen verließ die zierliche Krankenschwester Mirandas Zimmer.
Sie schluchzte und wimmerte, während der Gedanke an diese Halluzination in weite Ferne rückte.
Nein … nicht schon wieder …
Doch ihr Kopf mit dem inzwischen schütteren Haar wurde immer schwerer und sank schließlich auf das platt gelegene Kopfkissen.
Die kalte Nacht neigte sich dem Ende zu, Miranda erwachte aus einem traumlosen Schlaf, setzte sich auf ihre Bettkante und reckte die Arme in die Luft, um sich zu Strecken.
Sie spürte, wie sich zwei Hände von hinten unter ihrem Schlafhemd bis hoch zu ihren apfelförmigen Brüsten vorarbeiteten.
„Sind die gewachsen? Du bist doch nicht etwa schwanger oder?“
Ihr Mann flüsterte ihr ins Ohr, sie spürte seinen heißen Atem. Erregung überkam sie und ihre Brustwarzen verhärteten sich schlagartig.
„Nein, ich bin nicht schwanger und ich möchte auch, dass es so bleibt. Das letzte was wir jetzt gebrauchen können, ist ein Kind. Allein der Gedanke an die ganze Arbeit und den Stress! Glaub mir… eines reicht erstmal.“
„Reg dich mal bitte ab, ich hab doch nur Spaß gemacht. Ich mach gleich Frühstück, soll ich dir auch ein Ei kochen?“
Ed legte seine Hand auf ihren Rücken und streichelte auf und ab, während er mit der anderen Hand ihr Gesicht zu sich drehte und ihr erst einige Sekunden in die Augen sah und dann seine Lippen auf ihren platzierte. Sie liebte ihren Mann über alles und war sich sicher, dass sie, wenn nötig für ihn sterben würde. All die Jahre, die sie verheiratet waren, fühlte sie sich immer wohlbehütet und in den richtigen Händen. Es war, als hätte Gott persönlich ihr den Mann geschickt, der sie rundum zufrieden stellen konnte. Nicht nur auf alltäglicher Ebene, sondern auch auf und familiärer und sexueller.
Gott, sie liebte es mit ihrem Mann zu schlafen. Sie dachte plötzlich an die Zeit, in der sie sich kennen lernten und es täglich mehrmals taten. Bei diesem Gedanken, musste sie schmunzeln und unterbrach so den intensiven Kuss ihres Mannes, der sich verwundert von ihr abwandte und Richtung Tür marschierte.
„Würdest du mir einen Gefallen tun Edward?“
Ed drehte sich langsam um, eine tiefe Falte durchzog seine Stirn.
„Ich würde alles für dich tun, Baby. Sag mir nur, was.“
Miranda senkte den Kopf und überlegte, ob sie das wirklich sagen sollte, denn sie wusste, dass ihr Mann sie ebenso liebte, wie sie ihn.
„Töte mich. Bitte. Töte mich, denn ich weiß, dass das alles hier nicht die Realität ist. Ich bilde mir ein, ich würde ein glückliches und normales Leben führen, wie jeder andere Mensch da draußen. In Wirklichkeit bin ich kaputt. Aber das ist ok, mein Schatz, denn du gibst mir Halt. Ohne dich würde ich vermutlich keinen Grund haben am Morgen aufzustehen.“
Eine Träne kullerte ihre Wange herunter und tropfte auf ihren bloßen Oberschenkel.
Als sie wieder zu ihrem Mann hochblickte, starrte er ihr direkt ins Gesicht und riss seinen Mund so weit auf, dass er die Umrandung für ein großes schwarzes Loch bildete.
Zu ihrer Verwunderung kamen sogar Worte aus dem bizarr verzerrten Gesicht.
„Mrs. Garner, wachen Sie auf, Ihr Mann ist für Sie am Telefon!“
Die Szenerie ihres Schlafzimmers verschwamm vor ihren Augen und es fühlte sich an, als würde die Erinnerung daran in immer weitere Ferne gezogen.
Miranda schlug die Augen auf und blickte an die kalte, weiße Krankenzimmerdecke. Sie wollte die Erinnerung an diesen Traum der heilen Welt noch einen Moment auf sich wirken lassen, bevor die Realität sie wieder einholte.
„Erikson will nachher den aktuellen Fall mit mir besprechen … und mit dir muss ich heute Abend auch noch sprechen. Warum, erzähl ich dir dann. Baby, wir kriegen das alles wieder hin, ich verspreche es dir.“
Eigentlich war es nicht seine Art, so bestimmend mit anderen Personen zu sprechen, aber Ed befand sich in einem Zwiespalt zwischen Sorgen und Ermittlung, die er unbedingt so schnell wie möglich vorantreiben wollte.
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Ed saß mit seinem Berichtsheft im Büro, ihm gegenüber Albert Erikson, der Leiter der Polizeidienststelle.
„So Mister Garner, ich wollte ja gerne den Bericht des Vorfalls von letzter Nacht mit Ihnen durchgehen. Den ungefähren Verlauf ihrer Ermittlung vor Ort habe ich schon erfahren, allerdings würde ich Sie bitten die einzelnen Vorgehensweisen am Tatort noch zu kommentieren, damit ich mir ein möglichst detailliertes Gesamtbild machen kann.“
Ed nickte ihm zu und lockerte mit einem gezielten Griff seine Krawatte. Erikson griff nach dem Berichtsheft und sah sich das Titelblatt an, während er die Lippen beim Lesen stumm bewegte.
Er überflog die zweite und dritte Seite - blieb jedoch an der vierten hängen und Ed wusste ganz genau, warum.
„Unfassbar oder?“, kommentierte er fasziniert.
Erikson rückte seine halbrunde Hornbrille zurecht und blickte von unten her Richtung Ed.
„Erzählen Sie mir, was geschah, als Sie die Tür öffneten“, sagte Eds Vorgesetzter mit ernster Miene, während dessen Hand in einer Schreibtischschublade verschwand und einen Moment später wieder mit einer dunkelbraunen Zigarre der Marke Dunhill Aged zum Vorschein kam.
Ed räusperte sich und musste einen Moment lang seine Gedanken ordnen.
„Ich ging also durch dieses stinkende Treppenhaus - wusste nicht genau, wohin ich mich begeben sollte, doch das war mir einen Moment später dann klar, weil unten alle Türen mit Brettern vernagelt waren. Die einzige offene Wohnung lag im zweiten Stock, das Treppenhaus war völlig unbeleuchtet und ich musste mir mit der Taschenlampe den Weg erleuchten.“
Ed schluckte und sah zu wie Erikson das Ende der Zigarre abschnitt und sich diese dann gemütlich in den Mundwinkel steckte.
„Haben Sie Feuer?“
Erikson musterte Eds Oberkörper von oben bis unten, als würde er sich erhoffen ein Feuerzeug zu finden, doch dieser griff sich bereits stumm in seine Brusttasche und zog ein gelbes Feuerzeug heraus. Nicht etwa, weil er rauchte, sondern weil er es für ein unabdingbares Werkzeug in seinen Einsätzen hielt.
Nachdem er es rübergereicht hatte, fuhr er mit seiner Erzählung fort.
„Als ich dann in dem betreffenden Stockwerk war, sah ich sofort, dass die Tür einen Spalt weit aufstand und machte mich auf das Schlimmste gefasst.“
Er nahm sich das Glas Wasser vom Schreibtisch und trank es halb leer, denn seine Kehle war staubtrocken.
„Wie gesagt, die Tür stand ein wenig offen und ich leuchtete erst mit der Taschenlampe durch den Schlitz, in der Hoffnung etwas erkennen zu können. Aber ich sah nichts, denn dazu war der Spalt zu klein. So drückte ich mit den Fingerspitzen leicht gegen die Tür und streckte mit der anderen Hand die Lampe hinein in den Raum. Ich konnte nun einen Blick hineinwerfen, allerdings gab es nichts zu sehen, denn die Wohnung war blitzblank geputzt und aufgeräumt. Ich dachte erst diese Wohnung wäre auch falsch, aber das war unmöglich, die anderen Wohnungstüren im Flur waren ja wie gesagt vernagelt. So langsam habe ich dann aber doch kalte Füße bekommen. Ich meine, wieso sollte sich jemand in einem verlassenen Haus umbringen und wer zum Teufel hätte denjenigen dann so schnell finden können?“
Ed wurde die ganze Zeit über kritisch von Erikson beobachtet und fühlte sich kurz wie ein Angeklagter im Verhör, aber er wusste, dass es seinem Vorgesetzten nur um die harten Fakten ging und nicht um störende Emotionen.
„Ich betrat nun also diesen weiß gestrichenen Raum, dessen Wände bestimmt fünf Meter in die Höhe gingen, um mich in den anderen Räumen umzusehen. Ich konnte ein paar Schritte gehen, sodass ich fast in der Mitte des Raumes stand und sogar aus den Fenstern sehen konnte.“
„Fahren Sie fort, jetzt scheint es interessant zu werden“, sagte Erikson, mit dem Oberkörper halb über dem Schreibtisch liegend, die Zigarre immer noch rauchend im Mundwinkel.
„Nun gut. Ich weiß, dass das Folgende sich für Sie unglaubwürdig und total absurd anhören muss, aber es ist genau so passiert.
Als ich den nächsten Schritt nach vorne tat … man, das klingt so bescheuert. Hören Sie, irgendwo ging die Musik von dem Hitchcock Film „Psycho“ an. Sie wissen schon, der mit Norman Bates. Ich weiß nicht, wo, aber ich weiß, dass sie mir einen Höllenschreck eingejagt hat und mein Herz zum Aussetzen brachte. Aber das, was danach geschah war noch 'ne Spur heftiger!
Wissen Sie, ich stehe also völlig alleine mitten in einem unbeleuchteten Raum mit riesigen Wänden und irgendwo geht diese schreckliche Musik an und dann …“
Erikson stand jetzt auf und sah Ed mahnend an. Der jedoch fuhr sich mit der Hand durch die pechschwarzen Haare, die unter der Aufregung schon ganz schwitzig geworden waren und dadurch einen Juckreiz auslösten, den Ed nur mit einem gezielten Kratzen bekämpfen konnte.
„Die Klappe zum Dachboden knallte runter und noch während die hölzerne Leiter mit einem scharfen Zischen nach unten sauste, sah ich wie ein Mann mit kurzen grau - braunen Haaren und einem ungewöhnlich blassen Gesicht direkt mit dem Schädel vor mir auf dem Parkettboden aufschlug.“
Der Horror von letzter Nacht holte ihn wieder ein und Ed vergrub sein Gesicht tief in seinen stützenden Händen.
„Sein Kopf ist an seinem Hals fast zur Hälfte abgerissen … Das Blut hat einen See um meine Schuhe gebildet … Können Sie sich das vorstellen? Das war das Schlimmste, was ich jemals erleben musste. Und ich habe in meinen 17 Jahren hier schon alles gesehen, dachte ich. Ich …“
Es gab nicht viel, was Erikson in diesem Moment sagen konnte, doch er versuchte es, um seinem Untergebenen wenigstens ein kleines bisschen die emotionale Last zu nehmen.
„Mister Garner, es ist okay. Es war mein Fehler, ich hätte nicht veranlassen sollen, dass Sie da alleine hingehen. Man kann ja nicht wissen, dass sich ein solches Szenario abspielt. Wenn Sie möchten, dass ich Sie für die nächsten Wochen freistelle, dann sagen Sie mir nur Bescheid. Sie sind noch immer mein bester Mann und ich möchte, dass Sie weiterhin alles geben können.“
Ed griff erneut nach dem Glas und warf seinen Kopf in den Nacken, um den Rest in einem Schluck hinunterzukippen.
„Weiß man eigentlich schon, wer der Tote ist?“, fragte er ohne jedes Anzeichen von Emotion.
„Ja. Der Mann hieß Tom Gallagher. Er war auf der Durchreise von Chicago nach Dallas und hatte sich für eine Woche in einem Motel nahe dem Stadtrand niedergelassen. Offensichtlich brauchte er noch Geld und hat deswegen vor drei Tagen im Eastwood Medical Center Blut gespendet. Jedenfalls gehen wir davon aus. Wir haben bereits seine Familie informiert. Er hatte Frau und Kindern. Tragisch, sowas“, sagte er mit gesenktem Blick, als hätte er jede Hoffnung auf ein friedliches, gerechtes Leben aufgegeben.
„Im Obduktionsbericht steht jedenfalls, dass das Opfer durch die Sturzverletzungen verstorben ist, was bedeutet, dass wir tatsächlich von Suizid ausgehen müssen, es sei denn Sie haben noch etwas gesehen, Sie waren schließlich Augenzeuge.“
Erneut schob Erikson seine Brille ein Stück die Nase hoch und sah für eine Sekunde so aus, als ob er an seiner Aussage, es handle sich tatsächlich um Selbstmord, zweifle.
„Nein, ich habe dort sonst nichts gesehen … allerdings - “
„Allerdings was?“, fuhr ihm Erikson ins Wort.
„Sir, würden Sie mir bitte einmal die Akte von Gallagher geben?“
Als ob er mit diesem Satz gerechnet hätte, fuhr Erikson seinen Arm aus und überreichte dem nachdenklich dreinblickenden Ed die beige Akte. Beim Aufklappen registrierte er sofort die Bilder des Tatortes, wurde für einen Moment in die Szenerie der letzten Nacht zurückgeworfen. Er überflog die Seiten schnell, bis er an den für ihn interessanten Punkt angelangt war.
„… Alter … Geschlecht… Wohnsitz …“, murmelte Ed vor sich hin, während er die Zeilen überflog, „Aha! Da haben wir es doch!“
„Was denn? Was haben Sie gefunden?“, fragte Erikson neugierig wie ein Schuljunge.
„Nunja, es gab da diesen seltsamen Augenblick kurz nachdem ich am Haus angekommen war. Ich stand im Regen und als ich nach oben blickte, jedenfalls für einen kurzen Moment, war ich der Meinung, ich hätte am Fenster ein leuchtendes Paar Augen gesehen.“ Nachdem er dies ausgesprochen hatte, stand auch Ed von seinem harten Stuhl auf, sodass er Erikson gegenüberstand.
„Aber das war dann nicht der Tote“, resümierte er trocken.
„Wie kommen Sie denn darauf?“, entgegnete Erikson verwundert.
„Aus einem einfachen Grund. Die Person mit den leuchtenden Augen ist ein Brillenträger – bei dem Toten jedoch wurde keine Brille gefunden – er trug in der Nacht Kontaktlinsen. Das steht im Obduktionsbericht.“
Es war bereits später Nachmittag und so beschloss Ed erst einmal nach Hause zu fahren, da er sowieso nichts mehr hätte ausrichten können ohne sich noch tiefer in den Fall einzuarbeiten. Er wollte vorerst das Gespräch mit seiner Frau suchen, um zu begreifen, wie es zu diesem grausamen Zusammenhang kommen konnte.
Wurde Miranda entführt oder war sie es letztendlich doch selbst, die an diesen Ort gefunden hatte?
Verschwieg sie ihm etwas? Der Gedanke daran ließ ihn schaudern.
Kapitel 6
05.Januar
Schlussendlich bin ich der Meinung, dass ich den Sinn der Liebe verstanden habe. Das ist keineswegs anmaßend, sondern exorbitant viel Biologie. Liebe wird ausgelöst durch Oxytocin und dient einzig dazu, uns blind für die negativen Seiten des Partners zu machen, damit es überhaupt zum Fortpflanzungsakt kommt. So ist es immer dann am deutlichsten zu erkennen, wenn ein Paar sich mit der Zeit immer mehr voneinander distanziert – proportional zum Oxytocin-Abbau versteht sich. Menschen sind, genau wie jedes andere Tier, Marionetten der Natur.
Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr widert mich die menschliche Rasse an…
Versuchung
Es war zwei Uhr am Nachmittag, als Anna sich in der Mensa ihrer Schule einfand, um das tägliche Mittagessen abzuholen. Die Sonne stand hoch und schien großflächig durch die rechteckigen Fenster der Mensa.
Schon von weitem erkannte sie ihre aufgeregt miteinander diskutierenden Freunde Kevin und Sophie recht weit im hinteren Drittel der großräumigen Halle sitzen. Seit einer Woche vermied sie es den beiden, oder besser gesagt Kevin über den Weg zu laufen.
Sie fand sich ein Stück hinter der Warteschlange an der Ecke zum leeren Flur ein, es stand Wiener Schnitzel und junges Gemüse auf der Speisekarte. Beim Gedanken an Brokkoli verzog Anna ihren Mund wodurch ihr Gesicht zu einer Grimasse wurde. Im selben Moment schämte sie sich für diese Offenbarung ihres Ekels – hoffentlich hatte keiner der anderen ihre Entgleisung bemerkt.
Die meisten Schüler waren um diese Uhrzeit bereits in ihren Sport AGs, Football und Baseball waren wohl mit Abstand am beliebtesten, oder verbrachten ihre Zeit im Schwimmbad, denn die Temperaturen waren hier zur Sommerzeit immer sehr hoch.
Ein wenig in Gedanken versunken blickte Anna auf ihr Smartphone, um nachzusehen, ob sie eine Nachricht bekommen hatte. Das Gemurmel und Gesumme, das um sie herum zu einem einheitlichen Brei wurde, blendete Anna aus und konnte sich so intensiv auf das konzentrieren, was sie las: „Hey Anna. Ich hoffe bei dir ist alles okay. Ich habe dich seit einer Woche nicht mehr in der Schule gesehen und mache mir langsam Sorgen um dich. Bitte melde dich.“
Diese Nachricht, so banal sie auch verfasst worden war, brachte erneut Annas Gefühlswelt durcheinander, einerseits fühlte sie sich ohnmächtig, andererseits war sie traurig und dann wiederum genervt, weil nichts so klappte wie erhofft.
Ein lautes Husten direkt hinter ihr riss sie aus ihren Gedanken.
Als Anna sich umdrehte, stand dort ein hellhäutiger Junge, eine dunkelblaue Kappe weit ins Gesicht gezogen und mit einer Zahnspange, die Anna kurz blendete als sie vom Sonnenlicht getroffen das Licht reflektierte. Seine Hand hing recht schwach an einem dünnen, fast mageren Arm hinunter, während sein Zeigefinger der anderen Hand sich in Richtung Wochenplan streckte. Die Augen des Jungen konnte sie unter der Kappe nicht erkennen.
Wie paralysiert blickte Anna auf die Stelle, auf die der Junge zeigte und las „Mittwoch: Schnitzel & Gemüse“. Sie blickte zurück zu dem Jungen.
„Wer bist du?“
Der Junge nahm sich mit einer Hand ein Tablett und strich sich mit der anderen die fettigen, dunklen Haare hinters Ohr. Er schien diese seit einigen Wochen nicht mehr gewaschen zu haben, denn Anna bemerkte bei jeder Bewegung, dass ihr ein unangenehmer Geruch in die Nase fuhr.
Er antwortete nicht auf die Frage.
Anna wusste nicht, was sie von dem merkwürdigen Benehmen halten sollte und ihr rutschte ein verächtliches „Tz“ heraus, hatte sie doch mit ihren eigenen Problemen genug zu hadern.
Sie konnte sich nicht helfen, doch sie hätte schwören können, dass sie aus dem Augenwinkel sah, wie der unbekannte Junge behutsam ein silbern glänzendes Messer aus seiner Weste zog, einmal um die Finger gleiten ließ und dann wieder behutsam zurück in die Weste steckte.
„Hier, bitteschön. Guten Hunger.“
Anna nahm ihren Teller, der mit einer undefinierbaren grauen Masse und einem Stück Leder gefüllt war und stellte ihn auf ihr Tablett. Als sie noch einmal nach dem seltsamen Jungen schaute, war er nicht mehr da.
Die Mensa leerte sich langsam und die Schüler strömten durch den Ausgang auf der gegenüberliegenden Seite. Anna konnte sehen, wie Kevin und Sophie sich erhoben und ihre Tabletts wegstellten. Dann bewegten sie sich Richtung Ausgang und umarmten sich bevor sie in unterschiedliche Richtungen verschwanden.
Eifersucht kam in ihr auf und ihr Gesichtsausdruck wurde härter, während sie ihre Kiefer gegeneinanderpresste. Wieso durfte ihre Freundin den Jungen umarmen, für den sie Gefühle entwickelte und sie wurde eiskalt abgewiesen?
Anna sank auf die hölzerne Sitzbank und vergrub ihren Kopf tief in ihren Händen.
Dieser fremde Junge, er war vielleicht nicht einmal älter als sie, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.
Anna überlegte, ob sie jemandem von dieser Sache erzählen sollte, denn von ihrem Vater wusste sie, dass Waffenbesitz, egal ob privates oder öffentliches Tragen, verboten und strafbar war.
Doch sie schob diesen Gedanken beiseite, denn sie war froh nicht in den nächsten Ärger reingeraten zu sein und dies sollte auch so bleiben. Sie realisierte, dass sie mittlerweile alleine in der großen Mensahalle saß, stand auf, schob ihr noch fast volles Tablett in den dafür vorgesehenen Container und lief durch die hereinfallende Nachmittagssonne in Richtung Ausgang. Vor ihr lag der lange Flur mit den Spinden der Schüler, ihrer befand sich auf der linken Seite hinter der Ecke zum Chemieraum. Es war für Anna selbstverständlich nach jedem Schultag die nicht mehr benötigten Bücher zurückzustellen und morgens diejenigen einzupacken, die für den Tag gebraucht würden.
Als sie ihren Spind erreichte spürte sie bereits, dass sie beobachtet wurde.
Unbehagen machte sich in ihr breit und von Sekunde zu Sekunde schlug ihr Herz schneller.
Annas Spind war immer sehr ordentlich, sie hatte ihn an den Rückwänden mit Fotos von ihren Freunden, ihrem Urgroßvater Andrew, ihrer Mutter und ihrem Vater dekortiert. Ihr Blick fiel auf ein Bild relativ am Rand, auf dem eine junge Frau mit einem kleinen Baby auf dem Arm zu sehen war. Die Frau lächelte das in Windeln eingepackte Kind verliebt an.
Das kann nicht sein … das darf nicht wahr sein …
Der Angstschweiß begann ihr von der Stirn zu laufen. Anna kannte jedes der Fotos in ihrem Spind haargenau, doch dieses hatte sie noch nie gesehen. Die Frau auf dem Bild war zweifelsfrei ihre Mutter und das Kind, so vermutete sie, musste dann sie selbst sein, denn sie war schließlich immer Einzelkind.
Anna beschloss das Bild mitzunehmen und ihren Vater zu fragen, woher es stamme und vergaß dabei beinahe den Fakt, dass irgendwer sich heimlich Zutritt zu ihrem Spind verschafft hatte.
Quietsch
Eine der großen Türen wurde mit einem lauten Geräusch aufgedrückt und ein warmer Luftzug schwang durch die leeren Gänge, direkt an Anna vorbei. Der Wind riss ihr das Bild aus der Hand, sodass es auf dem Boden landete. Erschrocken kniete sie sich hin, um es aufzuheben. Sofort fiel ihr Blick auf die obenliegende Rückseite des Bildes – dort stand etwas geschrieben.
Was Anna dort las, war nicht fassbar für sie. Alles Bisherige schien von einigen gekritzelten Worten auf der Rückseite eines alten Bildes in den Schatten gestellt worden zu sein. Dieser Ort strahlte plötzlich nur noch dunkle Energie aus und Anna folgte ihrem einsetzenden Instinkt zu fliehen. Zumindest solange bis sich die Gelegenheit bot über das Gelesene nachzudenken.
Von der Verzweiflung getrieben, rannte sie den ganzen Weg bis nach Hause. Vorbei an dem Sportplatz, von wo man das Geschrei der Football-Spieler hören konnte und immer weiter. Bald erreichte sie die Polizeistation ihres Vaters, doch auch hier fühlte sie sich nicht sicher. Die letzten hundert, zweihundert Meter ging sie schließlich, denn ihre Kondition ging dem Ende entgegen.
Anna übersah die überstehende Bordsteinkante, blieb mit ihren Schnürsenkeln kurz hängen und stürzte auf die Straße.
Ihre Hände voraus streckend, riss ihre hautenge Hose an den Knien auf, doch Anna war taub für den Schmerz, den sie durch das Einschneiden der kleinen Asphalt-Splitter in ihre weiche Haut hätte spüren müssen.
Wie ein Zombie stand sie wieder auf und bestritt den Rest ihres Heimwegs, während kleine, rote Tropfen von ihren Händen fielen.
Passanten auf den Bürgersteigen begannen Anna anzuschauen und warfen sich gegenseitig Blicke zu, die Sensationslust offenbarten.
„Brauchen Sie Hilfe, junge Frau?“, fragte eine ältere Dame mit zwei Einkaufstüten in den Händen.
Doch Anna blieb nicht einmal stehen, sondern ging mit geradeaus gerichteten, weit geöffneten Augen weiter.
Als sie an der Auffahrt zu ihrem Haus ankam, sah sie Kevin auf den Stufen vor dem Haus sitzen. Er hörte offensichtlich Musik mit seinem IPod und bemerkte nicht, wie Anna sich ihm näherte.
Sie wischte sich mit den Fingern die Feuchtigkeit aus den Wimpern ohne dabei Schminke zu verwischen und rückte ihre Kleidung zurecht, wusste allerdings noch nicht, was sie Kevin für eine Geschichte erzählen sollte, um ihr Ausweichen in der letzten Woche zu erklären. Sie fragte sich, wieso ihr das überhaupt so wichtig war, nach dem, was sie eben erlebt hatte. Doch der Gedanke verflog als sie bei Kevin ankam und er mit einem Grinsen zu ihr hinaufsah. Resigniert griff sie nach den beiden Kopfhörern und zog sie mit festem Griff aus seinen Ohren.
„Steh auf und komm mit hoch“, sagte sie in trockenem Ton und schloss die Haustür auf.
Kevin bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmen konnte, doch er beschloss sie erst einmal nicht darauf anzusprechen und zu machen, was sie verlangte.
So betraten die beiden schließlich Annas Zimmer, die Erinnerung an letzte Woche kam in Anna hoch.
Anna stand mit dem Rücken zu ihm und drehte sich nach einer kurzen Pause mit Tränen in den Augen, die schon von winzigen roten Äderchen durchzogen waren, zu ihm um.
„Du … du hast dich eine Woche nicht für mich interessiert? Und jetzt sitzt du hier einfach vor meiner Tür? Wir haben uns geküsst und du bist einfach ABGEHAUEN! Und nach einer Woche fällt es dir wieder ein? Du – willst – mich – wohl – verarschen!“
Aus beiden Augen liefen ihr jetzt die gläsernen Tränen das Gesicht herunter.
Kevin stammelte vor sich hin, konnte sich jedoch nicht so schnell rechtfertigen, wie Anna sich ins Bett legte und mit dem Gesicht auf dem Kopfkissen krächzte:
„Kevin geh einfach. Du kannst mir nicht helfen. Heute ist etwas passiert und ich muss einen Weg finden mein Leben neu zu ordnen. Wenn du wüsstest wie zerbrochen ich innerlich bin. Ich habe dir ja nie erzählt, was ich schon alles ertragen musste! Du hast keine Ahnung.“
Anna schluchzte in ihr Kissen hinein, so sehr wurde sie von ihrer Trauer übermannt. Es gab nichts, was Kevin hätte sagen können, um die Situation weniger angespannt werden zu lassen.
„Schon okay. Ich bleibe noch etwas hier sitzen und tröste dich. Ich hasse mich dafür, dass ich dich allein gelassen habe, aber glaube mir, wenn ich dir sage, dass es dafür einen Grund gab“, flüsterte er, setzte sich neben sie aufs Bett und legte seine Hand auf ihren Rücken.
Eine Gänsehaut durchzog ihren Körper und linderte für einen kurzen Augenblick ihre innerliche Betäubung.
Nach wenigen Minuten jedoch überkam Anna die Müdigkeit, ihr Körper war völlig ausgezehrt von den Vorkommnissen des Tages und so schlief sie ein.
„Schlaf schön, Anna“, sagte Kevin während er die Tür öffnete, sich den Hausschlüssel vom TV-Regal nahm und das Zimmer verließ.
Kapitel 7
06.Januar
Ich hätte nicht gedacht, dass es hier so hart werden würde … Ich will hier raus …
Ermittlungen
Ed hatte beschlossen schon am folgenden Tag wieder die Ermittlungen an diesem Fall aufzunehmen. Er befand sich nun zusammen mit seiner Kollegin, die gerade den ersten Arbeitstag nach ihrem Urlaub hatte, in ihrem Büro. Im Vergleich zu seinem Büro konnte es eindeutig punkten. Auf dem Fensterbrett standen immer frische Nelken, auf ihrem Schreibtisch waren persönliche Bilder aufgereiht, Ed erkannte ihre Katze, ein riesiges Tier mit weißen Flecken um die Schnauze herum. Auf den anderen beiden Bildern war ein älteres Paar, vermutlich ihre Eltern, so vermutete Ed zumindest und ein kleiner Junge. Ed konnte nicht sagen, um wen es sich dabei handelte, Kinder hatte seine Kollegin jedenfalls nicht. Auf dem messinggelben Namensschild, das in Richtung Tür zeigte, stand in schwarzen Lettern ihr Name geschrieben. Charlotte Green. Unter Kollegen wurde sie von allen Charly genannt. Die im Vergleich zu Ed relativ kleine, jedoch nicht unbedingt schmächtige Frau wurde hier sehr respektiert, denn sie bildete mit Ed zusammen ein erfolgreiches Duo, das schon viele Fälle in einer beachtlichen Zeit gelöst hatte.
Doch nicht nur beruflich waren sie ein Team, sondern auch privat verband die beiden eine Menge. Charly kannte Ed bereits flüchtig ein paar Jahre bevor sie nach Eastwood zog von ihrer damaligen High-School, hier hatten die beiden für eine sehr kurze Zeit eine Beziehung, welche Ed unter der Rubrik Missverständnis einsortierte. Wie groß war die Verblüffung als sie sich dann beide nach 4 Jahren genau in diesem Polizeibüro wiedersahen. Gefühle waren weder auf seiner noch auf ihrer Seite erneut aufgekeimt. Stattdessen lernten sie sich als Menschen besser kennen und freundeten sich an. Edward hatte Miranda nie etwas von seiner kurzen jugendlichen Liaison erzählt. Dies war seiner Meinung nach nicht erwähnenswert – und hätte vermutlich Probleme heraufbeschworen, denn auch er wäre nicht vor Freude in die Luft gesprungen, wenn seine Frau mit einem Ex-Freund zusammen die Karriere gestartet hätte.
Es war nicht so, dass Charly bei den Garners ein – und ausging, nein, das wäre Ed unangenehm gewesen. Die beiden nutzten lieber die täglichen Mittagspausen und Streifenfahrten, um ausgedehnt über alles zu reden, was so in ihrem Alltag vorkam.
Nachdem Ed seiner kecken Kollegin all das erläutert hatte, was während ihrer Abwesenheit passiert war, erntete er ein bewunderndes „Ich hätte mir total in die Hose gemacht!“.
„Du kennst mich doch, Charly. Ich sage mir immer: Es gibt nichts, was ich nicht schon gesehen hätte.“ Doch Ed wusste noch nicht, wie falsch er mit dieser Aussage liegen würde.
Charly hingegen ermittelte nie so rational wie Ed, sie konnte dies nicht. Stattdessen hörte sie stets auf ihr Bauchgefühl.
„Ich wäre an deiner Stelle sofort gegangen und hätte Verstärkung gerufen. Spätestens als diese Musik anfing zu spielen“, sagte sie einfühlsam, „Ist doch nicht normal, dass in einem leerstehenden Gebäude laute Musik von alleine angeht. Kam die auch aus diesem Dachboden, aus dem das Opfer gefallen ist?“
„Nein“, brummte Ed sehr bestimmt, „diese Frage hat Erikson mir auch schon gestellt, aber nein. Die Musik kam aus Richtung der Fenster … glaube ich jedenfalls.“ Ed setzte seinen nachdenklichen Blick auf.
„Ich bin mir aber sicher, dass sie nicht vom Dachboden kam – dann hätte sie lauter werden müssen, als die Luke aufging.“
Charly nickte zustimmend und griff nach Eds Hand.
„Um ehrlich zu sein, mache ich mir ein wenig Sorgen um dich. Kein Mensch, auch du nicht, kann solche Erlebnisse einfach so wegstecken. Alles im Leben hat irgendwann Konsequenzen. Bitte mach eine Pause von dem Fall, wenn du dich nicht gut fühlst“, sie nahm nun auch noch seine andere Hand, „ich krieg das auch alleine hin.“
Doch Ed widersetzte sich dem charmanten Überzeugungsversuch seiner Kollegin mit einem kurzen Schmunzeln.
„Danke für dein Angebot, aber ich hänge schon zu tief drin … ich muss die Ermittlungen fortführen“, entgegnete er geistesabwesend.
Tatsächlich kannte sie diese Einstellung nur zu gut von Ed und war alles andere als glücklich damit, denn sie befürchtete, dass all dieses Grauen und die Angst ihn irgendwann innerlich zerfressen könnten.
Ed hatte sich vorgenommen an diesem Tag noch einmal die alte Fleischerei zu besuchen und sich dort in Ruhe umzusehen. Er wollte die Quelle der Musik und die Hintergründe zu diesem Ort sowie zu den Motiven des Toten in Erfahrung bringen. Dies wollte er allerdings allein und in Ruhe tun, denn er hatte nicht die Absicht seine Kollegin in diesen Fall hineinzuziehen, denn die Situation würde sich ungünstig entwickeln, wenn sie von einem möglichen Zusammenhang zwischen dem Toten und seiner Frau erfahren würde.
„Ich muss los, kannst du dem Chef sagen, dass er mich anrufen soll, wenn irgendwas Dringendes ansteht? Ich denke, ich werde heute nicht mehr zurückkommen.“
Mit diesen Worten stand Ed vom Besucherstuhl auf und strich Charly beim Hinausgehen über ihre Schulter.
Diesmal entschloss er sich, gedanklich noch auf das leuchtende Paar Augen im Fenster über der Fleischerei fixiert, den Weg dorthin zu Fuß zu bewältigen. Unterbewusst musterte er auf dem Weg manisch jede Person, die eine Brille trug. Das Wetter war großartig, die Sonne schien und die Luft hatte eine angenehme Temperatur und dementsprechend trug, zu Eds Ärger, fast jeder eine Sonnenbrille. Auf den Straßen liefen die Menschen hin- und her, alle sprachen durcheinander und Ed verstand kein Wort, so genau er auch hinhörte. Für ihn war es eine Art Hobby Gesprächsfetzen völlig fremder Menschen aufzugreifen, denn er fand es unglaublich spannend, worüber man in der Stadt sprach. Mal war es die Wahl des neuen Bürgermeisters, die für Unmut sorgte, mal beschwerten sich einzelne Menschen über ihre kaputte Beziehung und dann gab es noch die belanglosen Worte, die im Einzelnen keinen Sinn ergaben.
Die Häuserreihen zogen sich seitlich von Ed fast unendlich in die Länge, so empfand er es. Doch schon nach einer halben Stunde hatte er sein Ziel erreicht: Vor ihm lag das leerstehende Fleischergeschäft mit dem roten Ladenschild über dem grauen Schaufenster. Ed bekam wieder eine Gänsehaut. Langsam hob er seinen Kopf und sein Blick bewegte sich langsam in Richtung der Fenster der Wohnung. Beinahe schloss er die Augen zu kleinen Schlitzen, um sich selbst vor dem möglichen Schrecken zu schützen.
Doch zu seiner Erleichterung war dort oben nichts und niemand zu sehen, außer den vereinzelten Wolken, die sich dort spiegelten.
Es sah alles noch genauso aus wie vor zwei Tagen, als Ed zum ersten Mal an diesem Ort Nachforschungen betrieb.
Seinem Plan folgend, sich in der Wohnung, in der der Mann den Suizid beging, näher umzusehen und eventuell herauszufinden, woher die schreckliche Musik kam und unter welchen Umständen der fremde Mann in den Tod ging, betrat er das Treppenhaus zum zweiten Mal. Ed zweifelte an der Aussage des Pathologen, dass der Mann vor dem Sturz noch lebte, denn er erinnerte sich genau an den Moment, in dem er realisierte, dass vor ihm jemand vom Dachboden fiel. Der Fremde klatschte wie ein Sack Kartoffeln auf den Parkettboden.
Da waren keine sichtbaren Regungen und auch keine Reflexe, die unter normalen Umständen bei einem Sturz ausgelöst werden würden. Er kippte einfach nach vorne und starb, als sein Hals zerriss.
Ed konnte es nicht begreifen, dieser ganze Fall warf so viele Fragen auf, nicht zuletzt, wieso der Pathologe einen so unzureichenden Bericht anfertigte. Während seiner mehrjährigen Polizeikarriere hatte er schon weitaus verworrenere Mordfälle, in denen die Todesursache auf den ersten Blick auf einen Unfall deutete, doch der Pathologe, sein Name war Larry Kendrick, fand zum Verblüffen aller Beteiligten stets ein winziges Detail, das eindeutig auf Mord hinwies. Also wieso fertigte Kendrick einen so mysteriösen Fall so lapidar ab? Ed fragte sich, ob nicht er vielleicht anfing Gespenster zu sehen. Er musste auf jeden Fall als nächstes mit dem Doktor sprechen.
Das Treppenhaus hatte sich nicht verändert, lediglich das gelbe Polizeiband, das den Zugang zum Tatort markierte, stach aus dem braun-grauen Einheitston heraus. Nachdem er unter eben diesem hindurchgeschlüpft war, stand er wieder in der unheilvollen Wohnung.
Ein kalter Schauer überkam Ed, als sein Blick wieder auf den roten Fleck und die winzigen roten Punkte – Zeugnisse für den gewaltigen Aufprall von 180 Pfund auf den unbarmherzigen Parkettboden – fiel. Durch das dunkle rot fuhr eine unruhige weiße Linie in Schlangenlinien, die im Gesamtbild einen menschlichen Umriss abbildete.
Ed sah sich eine Zeit lang im Raum um, doch er konnte auf den ersten Blick weder die Herkunft der Musik, noch Hinweise auf die Präsenz eines unbekannten Dritten herausfinden. Es war inzwischen Nacht geworden und von der angrenzenden Straße war kaum noch etwas zu hören. In Momenten wie diesen, in denen Ed völlig die Zeit vergaß, war er froh seine Taschenlampe immer bei sich zu tragen.
Ihm fiel auf, dass ein Fenster geöffnet war, der dreckige Vorhang, augenscheinlich das einzige nicht saubere in dieser Wohnung, wehte im Wind wie ein wilder Mustang. Durch diese Bewegung in seinen Fokus geraten, leuchtete Ed den hellen Lichtkegel in Richtung Fenster und sofort fiel es ihm wie Schuppen von den Augen – dort waren kleine graue Lautsprecher, kaum größer als ein Zauberwürfel, in den oberen Ecken der Fenstererker befestigt. So unauffällig, dass sie niemandem aufgefallen waren.
Die Stille im Raum war beunruhigend, die Atmosphäre so dicht wie in einem Thriller – Ed war sich sicher, dass er gleich eines der Rätsel gelöst haben würde und leuchtete zur gegenüberliegenden Seite des Raumes, wo er eine identische Wand mit Fenster und Vorhängen vorfand. Große Lust diese dreckigen Lumpen ein weiteres Mal zu berühren hatte er nicht, doch als er sich überwand den Vorhang beiseite zu schieben und den zweiten Lautsprecher in der oberen Ecke entdeckte, überkam ihn ein Gefühl des Triumphes.
Jemand hatte per Bluetooth die Musik gesendet. Und wenn dies nicht der Tote getan hatte, dann stand fest, dass eine zweite Person während des Sturzes in diesem Raum gewesen war. Eine Gänsehaut lief Ed den Rücken hinunter als er daran dachte.
Schließlich nahm er sich den Haken mit dem man für gewöhnlich die Luken zum Dachboden öffnete, dieser hier war aufgrund der enormen Deckenhöhe bestimmt drei Meter lang, und zog mit einem lauten RUMMS die Klappe herunter, sodass sich nach und nach die hölzerne Treppe ausfuhr. An einem der Füße konnte man noch getrocknetes Blut erkennen, welches ins Holz gezogen war.
Sogleich stieg Ed die knarzenden Stufen eine nach der anderen hinauf, er war gespannt, was ihn gleich erwarten würde.
Dort oben herrschte eine verdammte Dunkelheit vor, in der Ed ohne das Licht der Lampe nicht einmal die Hände vor den Augen hätte erkennen können. Nachdem er sich einen Überblick verschafft hatte, kam er zu dem Schluss, dass der Dachboden ebenso steril reinlich war wie die restliche Wohnung. Hier oben war rein gar nichts. Ed war nun eine komplette Runde dort oben gelaufen und trat enttäuscht den Rückzug an, als er noch ein letztes Mal mit der Taschenlampe über den Boden und die Decke leuchtete. Am Boden wieder nichts Auffälliges, doch dort über der offenen Luke, da war etwas. Ed dachte erst es sei eine Art Spiegel oder Spinnweben, die das Licht reflektierten, doch beim Näherkommen, erkannte er, dass es sich bei der Reflektion um dicke Nylonfäden handelte, die nur einen Finger breit aus der Dachverkleidung herauslugten. Ed zählte genau vier Stück, alle waren durchtrennt worden und er war sich absolut sicher, dass diese Konstellation kein Zufall war. Es musste etwas mit dem Fall zu tun haben. Dieser Fund genügte ihm vorerst und er beschloss die Ermittlung zumindest für diesen Tag aufzugeben. Er war zufrieden mit seinem Ergebnis und war sich sicher, dass er nach diesen bedeutsamen Funden noch nicht schlafen konnte. So stieß er stolz die Eingangstür mit dem Fuß hinter sich zu.
Die laue Nachtluft tat ihm gut und so plötzlich wie seine Euphorie kam das Bedürfnis sich mit jemandem auszutauschen über die neue Situation, die sich ergeben hatte.
Ed zog sein Handy aus der Hosentasche, wählte im Adressbuch die Nummer von Charly und schickte ihr eine Nachricht.
Hey, schläfst du schon? Wenn nicht, würde ich mich gerne noch mit dir in einer Bar treffen. Heiße neue Infos.
Fünf Minuten später, als er in seinem Wagen saß und nachdachte, piepste es und eine Nachricht tauchte auf.
Sehen uns in einer halben Stunde im Larky’s, bin gespannt.
Eds Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
Als er knappe fünfundzwanzig Minuten später vor der Bar hielt, stand seine Kollegin bereits wartend vor dem Eingang.
Ihr Anblick strahlte ein Gefühl von Heimat aus, vielleicht aber auch nur, weil Ed sie länger kannte als Miranda und sie eine unglaublich wichtige Rolle in seinem Leben spielte. Sie war es, die Ed auffing, als seine Eltern bei einem tragischen Unfall mit Fahrerflucht starben. Das war ein verrückter Sommer damals, erst die Beziehung mit Charly und dann der Tod seiner Eltern, der Ed völlig unerwartet traf. Sein Vater Michael war sicher nicht immer perfekt, ein hart arbeitender Handwerker, oft betrunken, doch liebte er seinen Sohn wie verrückt und das spürte Ed bis zur letzten Minute.
Am Tag als es passierte, bekam Ed einen Anruf als er gerade bei Charly war. Ein Polizist, von dem er weder den Namen noch das Aussehen kannte, sagte ihm in monotoner Stimmlage, dass seine Eltern einen Unfall hatten und er doch bitte zur Polizeistation kommen solle. Er wusste sofort, worum es ging und machte keinen Hehl daraus, dass er am Boden zerstört war. Die folgenden Herbsttage waren die Hölle für ihn; er schottete sich von seinen Freunden ab, ging nicht mehr zur Schule und begann zu saufen – doch es brachte nichts die Gefühle zu ertränken. Bis zu jenem Tag war er Charly noch dankbar, dass sie jede seiner Phasen aushielt. Ohne sie würde er heute vielleicht nicht mehr leben, dachte er oft. Drei Monate später war dann trotzdem Schluss, die beiden beschlossen, dass sie außer dem Sex keine großen Gemeinsamkeiten hatten.
Und nun stand sie dort, die leuchtende Reklame über ihrem Kopf, in einem Minirock und bis zum Ausschnitt geöffneter himmelblauer Bluse. Ed fühlte sich 20 Jahre jünger, als würde er dort im Wagen zu seinem Date hinüberblicken. Seltsamerweise keimte tatsächlich Aufregung in ihm auf und das regte ihn noch mehr auf, denn er wusste rein gar nichts mit dem Gefühl anzufangen – schließlich war er glücklich verheiratet, oder nicht?
Sein Blick traf noch einmal seine Kollegin, die sich gerade mit der Hand durch ihr blondes Haar den schlanken Hals hinunterfuhr und anschließend nervös auf ihr Smartphone schaute.
Dann wollen wir mal.
Ed zog den Schlüssel, stieg aus und bewegte sich möglichst cool auf die Bar zu. Was war hier bloß los?
Als Charly ihn kommen sah, hob sie die Hand und winkte ihm zu, was er mit einem gekonnten Hand heben erwiderte.
„Schön, dass du Zeit hast“, sagte Ed mit trockener Kehle, während er Charly umarmte.
„Du klingst definitiv, als könntest du etwas zu trinken vertragen“, witzelte Charly und nahm ihn bei der Hand um ihn hinter sich herzuziehen.
Die Bar war ziemlich heruntergekommen, die Einrichtung war größtenteils hölzern und Ed bemerkte sofort, dass dies eine Raucherbar war, denn die Balken waren alle genau über den Tischen bräunlich angelaufen, außerdem roch es nach kaltem Rauch, doch das störte ihn nicht, denn das kannte er von damals.
„Was willst du trinken?“, fragte Charly und sah Ed mit großen braunen Rehaugen durchdringend an.
„Ähm … einen Manhattan Iced Tea, schätze ich“, kam es schüchtern aus Ed heraus.
Nachdem Charly für beide etwas Hochprozentiges bestellt hatte, setzten sie sich in eine ungestörte Ecke und Ed begann ihr alles zu erzählen.
Es war inzwischen fast 2 Uhr morgens als er mit seinem Bericht zum Ende kam und auch Charly zu Wort kommen ließ.
„Du bist also der Meinung, dass dein Selbstmörder eigentlich das Opfer ist?“, fragte sie ungläubig.
„Korrekt. Ich meine, da ist auf der einen Seite der Fakt, dass die Musik nicht manuell, sondern per Fernverbindung aktiviert wurde. Da frage ich mich doch: Warum zur Hölle sollte jemand seinen Tod so inszenieren?“
„Okay, aber die Geschichte mit den Nylonstücken in der Decke scheint mir doch etwas weit hergeholt. Wie …“, doch sie wurde jäh von Ed unterbrochen.
„Nein Charly“, begann er schon etwas zu lallen, „ich bin mir absolut sicher! Der Mörder hat das Opfer wie eine Marionette dort oben aufgehängt und als ich reinkam, hat er die Musik mit einer Fernbedienung angeschaltet und die Schnüre durchtrennt!“, sagte Ed in bestimmtem, verhängnisvollem Flüstern.
„Du sagst, er war schon tot?“
„Denk nach Charly. Du bist die klügste Frau, die ich kenne.“ Ed nahm einen großen Schluck aus seinem Krug. Seine Gedanken begannen abzuschweifen und der Alkohol wirkte zunehmend stärker.
„Er sah zwar aus wie tot – doch das ist unmöglich, denn er blutete wie verrückt. Soll heißen, sein Blut war nicht geronnen. Deswegen schätze ich, er wurde betäubt oder sowas, vielleicht genauso wie Mira …“, sagte er und bemerkte nicht, dass seine Rede in ein Gemurmel überging, von dem die Dame gegenüber nur Wortfetzen verstand, „ich werde morgen auf jeden Fall zu Kendrick fahren und mir mal anhören, was er zu sagen hat.“
„Ed? Wieso hängst du dich so in den Fall? Vielleicht siehst du einfach nur Gespenster? Hör mal - “, sagte sie und strich sich abermals durch ihre nach Honig duftenden Haare, den Blick auf ihren Gin Tonic gerichtet, „du hast eben was über Mira gesagt und ich wollte gerne mal wissen wie es dir eigentlich sonst so geht. Ist mit Anna alles in Ordnung?“
Natürlich war nichts in Ordnung, doch das wollte Ed seiner Kollegin nicht auf die Nase binden und erzählte ihr in bester Schauspielermanier das, was sie gerade am besten schlucken würde.
Einige Zeit später saß Ed immer noch mit Charly in der gemütlichen Ecke der Bar und beide hatten einiges an alkoholischen Getränken zu sich genommen.
„Also, Eddy - “, gluckste sie, „in deinem Leben ist alles super, in meinem Leben ist alles so wie es läuft, aber weißt du was uns beiden fehlt?“
„Ich habe keine Ahnung.“, lachte er, „ein betriebswirtschaftliches Studium vielleicht?“
Charly grunzte beim Kichern. „Nein du Idiot. Eine Zeit wie damals, als das mit uns beiden anfing.“
„Das würdest du wirklich wollen?“, witzelte er und kniff die Augen beim Lachen zusammen.
„Komm ich ruf uns ein Taxi, sonst fallen wir hier noch von den Bänken“, sagte er, während er dem vorbeilaufenden Kellner an die Schulter griff, „… Hey der Tisch geht auf mich, was macht das?“
Nachdem Ed gezahlt hatte, brachte das Taxi die beiden zu ihm nach Hause.
„Willst du lieber hier schlafen heute? Ich meine, ich habe nichts dagegen.“
In diesem Moment ging Charly einen Schritt auf Ed zu, griff nach seinem Mantel und presste ihre rot geschminkten Lippen auf seine.
10.Januar
Ich glaube, ich habe noch gar nicht niedergeschrieben aus welchem Grund ich nicht mehr frei rumlaufen darf. Vielleicht sollte ich dies in den nächsten Tagen nachholen...
Schlechte Nachrichten
Am nächsten Morgen kreisten Eds Gedanken, während er mit einem offensichtlichen Kater im Bett lag.
„Oh man...viel zu viel getrunken letzte Nacht.“
Er versuchte zu rekonstruieren, was als letztes passiert war, nachdem das Taxi vor seinem Haus stoppte, doch irgendetwas kam ihm seltsam vor – da war eine Lücke in seiner Erinnerung und diese ließ sich nicht einfach als ein Blackout abtun. Ed bemerkte, dass er begann feuchte Hände zu bekommen. Die kalte Angst überkam ihn. Er spürte etwas feuchtes am Haaransatz und der Schulter und er war starr vor Grauen.
Ohrenbetäubend grauenhafte Musik erschallte, Ed flog aus dem Bett auf den Boden, sein Herz setze für zwei Sekunden aus, bevor es voller Adrenalin wieder rasend schnell einsetzte – er kannte dieses Lied, denn er hatte es wenige Tage zuvor bereits einmal gehört. Es war Psycho. Wieso nur? Ed fühlte sich wie in einem Albtraum.
Er lag noch immer auf dem kalten Holzboden, die Arme wie zum Sprung bereit von sich gestreckt, als wolle er Liegestütz versuchen. Seine Brust hob und senkte sich vor Anspannung, er zog die Luft keuchend in seine Lungen.
Das Haus war totenstill, nicht einmal von draußen vernahm Ed Geräusche, obwohl es mittlerweile später Morgen sein musste. Just in diesem Moment erinnerte er sich an alles : Nachdem er mit Charly in der Kneipe war, fuhren sie mit dem Taxi zu ihm. Er bot ihr an mit ins Haus zu kommen, Charly lehnte nicht ab, nein ganz im Gegenteil, sie freute sich über dieses eindeutige Angebot.
„Oh Eddy … du bist schon viel zu lange allein …“
Was? Was hatte denn diese Aussage zu bedeuten?
Doch Ed konnte diesen Gedanken nicht zu Ende denken – er hatte sich inzwischen vom Boden erhoben, das Gesicht so langsam am hölzernen Bettrahmen entlang geschoben, wie er nur konnte.
Er wusste, dort könnte nur Charly in seinem Bett liegen, denn er hatte noch vor wenigen Stunden Sex mit ihr - Ed wusste nicht wie ihm geschah. Bereits als er stand, taumelte er zurück, gebremst wurde sein nackter Körper nur vom Kleiderschrank. Er hielt sich fest, denn sonst hatte er das Gefühl, würde er erneut auf den Boden klatschen.
Der Anblick seiner entblößten Arbeitskollegin und Freundin Charlotte Green auf seinem Ehebett schnürte Ed die Kehle zu.
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
„Kommst du nachher mit ins Kino?“
Anna versank mit niedergeschlagenem Blick im Boden.
„Marlene, ich glaube nicht, dass ich heute Zeit dazu habe...“
Dieser widerwärtige Junge schlich durch ihren Kopf und Anna versuchte fieberhaft eine Lösung zu finden ihren Peiniger loszuwerden. Ihrem Vater würde sie nichts erzählen, das war klar, doch was blieb übrig? Marlene war verliebt in Kevin und dieser wiederum würde sich nur unnötig in Gefahr bringen, wenn sie es einem der beiden anvertraute.
„Ich könnte mir Dads Waffe nehmen ...“
„Hallo? Geht's dir gut? Was quatscht du von Waffen?“
Kevin stand mit erwartungsvollem Gesichtsausdruck vor ihr, die Augenbrauen zusammengekniffen.
„Ach nichts. Geht ihr mal ruhig ins Kino. Ich geh nach Hause, ich glaube das Essen vorhin war nicht gut. Beschissenes Fast Food.“
„Anna. Ich muss dir übrigens deinen Hausschlüssel zurückgeben – den hatte ich letztens aus Versehen eingesteckt als es dir so schlecht ging.“, sagte Kevin während er sie freundschaftlich umarmte.
Für einen Moment war Anna verwirrt und wollte erst fragen wie er denn einfach ihren Schlüssel mitnehmen konnte ohne zu fragen, aber sie vertraute ihren beiden Freunden wie niemandem sonst, daher verkniff sie sich misstrauische Fragen und beschloss zuhause über mögliche Strategien zu philosophieren einen Psychopathen loszuwerden. Sie machte sich zu Fuß auf den Weg.
Normalerweise hatte Anna etwa eine halbe Stunde Weg vor sich, doch da es bereits begann zu dämmern, entschied sie sich für eine Abkürzung. Dieser Weg führte über eine Art Acker oder besser gesagt ein Feld. Anna wusste nicht genau welche Pflanzen dort angebaut wurden, da sie sich nicht für solche Dinge interessierte, sie wusste nur, dass die Pflanze bis zu ihrem Kopf reichte und das Gemüse noch nicht reif war. Sie erinnerte sich, dass sie als Kind manchmal die reifen Kolben von den Stängeln abriss und nach dem Abblättern der Schalen herzhaft hinein biss. Ein wenig musste sie schmunzeln bei dem Gedanken wie unweiblich sie sich als Kind und Vorpubertierende benommen haben musste. Wenigstens war sie mittlerweile ein attraktives und beliebtes Mädchen und der Gedanke stimmte sie für den Moment zufrieden.
„Oh nein, was für eine beschissene Idee von mir durch den feuchten matschigen Boden zu laufen...meine schönen Chucks!“
Anna bekam das Gefühl die Pflanzen wuchsen ihr über den Kopf je weiter sie in das Feld hineinging.
„Zum Glück einfach nur geradeaus.“ Inzwischen kam ihr in den Sinn, was für ein leichtes Ziel für Übergriffe sie hier draußen darstellte und bei dem Gedanken an Häuptling Schmierlocke fröstelte es sie. Den Spitznamen hatte sie sich ausgedacht, um der ganzen Situation ein wenig den Schrecken zu nehmen.
Doch was war das ? Anna lauschte. Sie vernahm ganz entfernt Musik. Nicht etwa Justin Bieber oder was sie sonst normalerweise für Musik hörte, nein, dieses Lied hatte sie noch nie vorher gehört.
Es klang bedrohlich und wie aus einem Horrorfilm, doch sie dachte sich erst einmal nichts böses dabei, vielleicht stand hier irgendwo in der Nähe ein Farmerhaus in dem jemand schwerhörig war und den Fernseher voll aufdrehte.
Schritt für Schritt bahnte sie sich ihren Weg durch die immer dichter und wirrer stehenden Pflanzen, während die unheilvolle Musik immer lauter und näher zu kommen schien.
„Gleich hinter dieser Reihe muss die Quelle des Lärms sein“, dachte Anna sich und schob vorsichtig mit beiden Händen die Pflanzenreihe auseinander. Im letzten Licht des Abendrots erkannte Anna die Umrisse einer Vogelscheuche, um die herum ein großer Kreis abgemäht worden sein muss, wie bei einem dieser mysteriösen Kornkreise. Vor Vogelscheuchen hatte das taffe Mädchen keine Angst und sie konnte andere Menschen auch nicht verstehen, die sich vor so etwas oder ähnlichem wie Clowns fürchteten. Dennoch machte sie sich auf die Suche nach der Quelle der Musik und ging auf die dunkle Silhouette zu. Die Vogelscheuche stand mit der Vorderseite zur untergehenden Sonne, aber man konnte von hinten erkennen, dass sie einen alten zerknitterten Ledermantel, einen typischen Cowboyhut und verwaschene dunkle Jeans anhatte.
Als Anna sich näherte und in die Taschen der Lederjacke griff, fiel ihr auf, dass von der Innenseite gar kein Stroh piekste, es fühlte sich ganz im Gegenteil sehr weich an.
Sie sah an der Rückseite hoch und war erstaunt, was für schöne gelockte Haare der Puppe unter dem Hut heraushingen.
Anna ging auf die andere Seite, um die Puppe von vorne zu sehen.
Tag der Veröffentlichung: 08.09.2015
Alle Rechte vorbehalten