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Haupttitel und Impressum

 

Heilige Bastarde

 

Der Zwergenring

 

Alexander Naumann

Über Den Autor

Alexander Naumann, Jahrgang 1989, wuchs in Magdeburg auf und studierte Indologie und vorislamische Archäologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Anschließend bliebt er in Halle (Saale) verwachsen. Seit seiner Jugend beschäftigen ihn Fantasy, aber auch Geschichte und verschiedenste Mythen und Sagen aus aller Welt. Weiterhin verdient er sein Auskommen mit dem Schreiben von Texten über Kryptowährungen.

 

 

Mehr zum Autor und seinen Werken finden Sie auf https://www.götterdunkel.de/

 

ISBN: 9798775557416

 

Alexander Naumann

Kattowitzer Straße 5

06128 Halle (Saale)

 

Druck:

Amazon Media EU S.à.r.l.

 

Coverbild: M.Y. Cover Design

 

Copyright © 2021 – Alexander Naumann

Kapitel 1, Gunlaug

Seine Stiefel sanken in den matschigen Boden, während Gunlaug einen festen Stand einnahm und von dem Jungen vor ihm dasselbe erwartete. Der gerade versiegte Regen tropfte seine schwarze Haare herunter und fielen in die Pfütze vor ihm.

»Muss das gerade jetzt sein?«, fragte der Junge etwas mürrisch und versteckte sich hinter dem Schild.

Gunlaug griff nach dem Rand des Schildes und zog ihn zu sich, so dass der Junge den Arm ausstreckte. »So benutzt du einen Schild, Gartmund. Halte ihn nicht dicht am Körper, sondern strecke ihn deinem Gegner entgegen. Damit schirmst dich besser ab. Und ja, das muss jetzt sein. Wenn du schon die Zeit und Kraft hast, im Regen durch die Wälder zu rennen, dann kannst du auch anfangen zu lernen mit dem Schild und dem Schwert umzugehen. Deine Mutter schaut zu. Sie will sehen, dass du deine Energie in etwas Sinnvolles steckst.«

Gartmund blickte zu seiner Mutter Hedwinna, die auf einer Bank am Gut saß. Sie war in einem roten Mantel und einen weißen, seidenen Schal gekleidet, hinter dem sie die beiden beobachtete. Er atmete durch und hielt den Schild wieder dicht am Körper.

Gunlaug beugte sich zu ihm herunter. »Hier, schau.« Mit der bloßen Hand fasste er die Klinge seines Schwertes an. »Siehst du, nicht einmal scharf. Da kann nichts passieren. Ich habe gesehen, wie du mit einem Holzschwert durch das Dickicht rennst und alles niederschlägst, was sich dir in deiner Vorstellung entgegenstellt. Das ist nur eine einfache Übung. Weiter nichts. Schon bald kannst du deinem Vater zeigen, was du kannst und er wird stolz auf dich sein.«

Der Junge wischte sich eine Strähne aus den Augen und nahm eine Kampfhaltung an. Dabei gab der Boden schmatzende Geräusche von sich. Plunk. Gunlaug schlug zuerst auf den Schild, darauf folgte Gartmunds zögerlicher Gegenschlag. Wieder Gunlaug und Gartmund hieb nach. Spürte er etwa mehr Entschlossenheit? Beim nächsten Hieb machte Gunlaug einen leichten Schritt zur Seite. Ganz von selbst folgte ihm der Junge. So tauschten sie Hieb um Hieb, legten immer mehr Kraft in ihre Angriffe. Dumpf schlugen die Klingen auf die Schilde, während sich die beiden Kämpfer im Kreis drehten. Gartmund blickte grimmiger drein. Vielleicht erschöpfte ihn das Training, vielleicht erwachte in ihm auch der Kampfgeist.

Da wurde Gunlaug schon der Arm müde, doch Gartmund schien erst richtig in Fahrt zu kommen.

»Das reicht!«, hörte er Hedwinna rufen. Beide stoppten sofort. Den Rock leicht hebend kam sie auf sie zu und stellte sich neben ihren Sohn. Mit der Hand streichelte sie ihm über den Kopf. »Er ist ganz durchnässt. Nicht, dass er noch erkrankt oder vor Erschöpfung umfällt.«

»Ich weiß nicht«, sagte Gunlaug und legte den Schild ab. »Er hat die Kraft seines Vaters. Und das Blut seines Großvaters fließt stark in seinen Adern.« Er zwinkerte ihm zu. Gartmund bedankte sich mit einem stolzen Lächeln.

Behutsam nahm Hedwinna ihrem Sohn Schild und Schwert ab. »Das ist schön. Jedoch wünschte ich mir, das Kampfhandwerk würden ihn noch nichts angehen und er könnte noch eine Weile Kind bleiben. Diese Waffen passen noch nicht zu ihm.«

»Je früher er übt, desto leichter wird er es als Mann haben.« Und dann an Gartmund gerichtet. »In deinem Alter hatte mich dein Großvater schon in ein Kettenhemd gesteckt. Ich konnte reiten und einen Speer schleudern. Nun bin ich fast so stark wie dein Vater!«

»Aber nicht so stark wie mein Vater?«, fragte Gartmund.

Gunlaug wiegelte ab. »Niemand ist so stark wie dein Vater.«

»Nun, jemand möchte ihn sprechen.« Der Altknecht war neben sie getreten. Ein ältlicher Mann mit Halbglatze, roter Nase und vernarbter Wange. Ein dicker Bauch wölbte sich unter dem Mantel. Er sprach direkt zu Gunlaug: »Jedoch glaube ich, dass Ihr ihn zuerst anhören solltet.«

Gunlaug wunderte sich. »Wieso? Das sind Angelegenheiten der Hofverwaltung, nicht des Gefolges.«

»Ja, ähm … sagen wir, es ist eine Familienangelegenheit.«

Gunlaug horchte auf und Hedwinna seufzte. Nur der kleine Gartmund schien nicht zu verstehen und blickte zwischen den dreien hin und her.

»Da ist ein junger Mann«, fuhr der Altknecht fort, »der von sich behauptet -«

»Ein Sohn des Cherus' zu sein?«, unterbrach ihn Gunlaug.

Der Altknecht nickte. »Er kann natürlich keine Beweise vorbringen, besteht jedoch darauf, von Eurem Vorfahren abzustammen. Darum möchte er in das Gefolge des Königs aufgenommen werden. Er wirkt sehr entschlossen und lässt sich nicht umstimmen.«

Gunlaug atmete hörbar aus. »Ja, es war gut, damit zuerst zu mir zu kommen. Ich schaue mir den Knaben mal an.«

»Danke«, sagte der Altknecht und drehte sich um. Gemeinsam gingen sie die Palisade entlang auf das hölzerne Torgebäude zu. Ein paar Wachen mit Speeren standen dort um einen jungen Mann herum, der mit den Armen verschränkt auf und ab ging.

»Hedwinna.« Gunlaug stellte gerade fest, dass sie ihnen folgte, mit Gartmund an der Hand. »Ich kann das alleine regeln. Gehe mit deinem Sohn hinein.«

»Vielleicht kann ein freundliches weibliches Gesicht erhitzte Männergemüter beruhigen«, warf sie ein. »Ich bin aber auch ein bisschen neugierig und will mir einen Eindruck verschaffen.«

»Neugierig auf jung Männer? Dein Mann sollte davon besser nichts erfahren.«

Sie lachte klar und ungezwungen. »Darum braucht er sich keine Sorgen zu machen. Sieh ihn dir an, er ist fast noch ein Knabe. Ein guter Grund, ihn zur Umkehr zu bewegen.«

Er war tatsächlich noch ein Jüngling, kaum achtzehn, vielleicht gerade mal sechzehn Jahre alt.

Als sie am Tor ankamen, hielt der Knabe und schaute sie erwartungsvoll an. Er wartete auf irgendetwas. Gunlaug konnte ihn genauer in Augenschein nehmen. Seine schulterlangen, dunklen Haare waren vor dem vorbeigezogenen Regen durch einen Mantel geschützt. Die breite Nase und der starke Kiefer kamen Gunlaug irgendwie bekannt vor. Er sieht jemandem ähnlich, vielleicht kenne ich einen Verwandten von ihm? Ich werde ihn fragen. Ein Sohn des Cherus' ist er auf jeden Fall nicht.

»Seid Ihr König Hartried, gewähltes Oberhaupt der Merowa?«, fragte der Knabe schließlich in einem geschwollenen Tonfall.

Gunlaug lachte. »Nein, nein. Der König spurt nicht, wenn so ein Irgendwer nach ihm verlangt. Da musst du schon mit seinem Bruder Gunlaug vorliebnehmen.«

Da hellte das Gesicht des Knaben auf, die Haltung entspannte sich. »Noch ein Sohn des Gotthelden! Verzeiht mir, dass ich Euch nicht sogleich erkannt habe. Wir sind schließlich ja nur Halbbrüder, richtig? Es ist unseren Müttern aus unterschiedlichen Geschlechtern zu verdanken, dass wir beide uns nicht sehr ähnlich sehen.«

Wir sehen uns gar nicht ähnlich. Aber der Knabe war wirklich davon überzeugt. Wie bei den anderen zuvor auch, würden sie ihn enttäuschen müssen. »Sag mir«, fragte nun Hedwinna, »wie ist dein Name? Aus welchem Stamm kommst du, aus welchem Geschlecht?«

»Dodstied ruft man mich, vom Stamme der Hordra, Geschlecht der Uldwar.«

»Uldwar?«, entfuhr es Gunlaug. Er erinnerte sich. »Ich kannte mal einen Uldwar, namens … er war ein bäriger Mann, stark, aber freundlich und immer zu einem Scherz aufgelegt. Wie hieß er noch gleich …« Er tippte sich mit dem Finger auf das Kinn.

»Kling nach meinem Großvater Godstied.«

»Richtig! Ein guter Mann, sehr beliebt, sehr verlässlich. Wie geht es ihm?«

»Die Zeit hat ihn eingeholt«, antwortete Dodstied. »Wir haben vor zwei Jahren seinen Leichnam verbrannt und seine Seele auf die Reise geschickt.«

»Oh, das tut mir leid.«

Dodstied schüttelte den Kopf. »Er hatte ein gutes Leben geführt und nur das Alter konnte ihn besiegen. Wir sind uns sicher, seine Seele wird an einen besseren Ort gelangen. Das ganze Geschlecht kam zum Scheiterhaufen und warf ins Feuer, was es aufbringen konnte. Er wird seinen Nutzen dafür haben.«

»Ich wünsche es ihm«, meinte Gunlaug. Es trat eine Pause des Schweigens ein. Gunlaug suchte um Worte nach einem Gesprächsgegenstand und bemerkte erst jetzt Dodstieds Reittier, das vor dem Torhaus angebunden stand. »Das ist ja mal ein prächtiger Bursche.«

Er stellte sich neben den dunkelbraunen Hirsch und betrachtete ihn mit Bewunderung. Die Schultern überragten ihn, und Gunlaug war kein kleiner Mann. Die Brust des Tieres war breit und mächtig und das Geweih kam ihm so verzweigt und stämmig vor wie eine ausgewachsene Eiche. Gunlaug fasste dem Tier ans Zaumzeug und zog den Kopf zu sich hinunter, um ihm in die Augen zu schauen. Es ließ sich ohne Probleme anfassen, was auf ein gutes Temperament hinwies.

»Er ist mein ganzer Stolz«, bemerkte Dodstied. »Aber können wir zu meinem Anliegen kommen? Ich bin ein Sohn des Cherus wie Ihr. Deswegen möchte ich in das Gefolge des Königs aufgenommen werden. Meine göttliche Abstammung verschafft mir dieses Anrecht.«

Gunlaug seufzte innerlich. Er hätte sich lieber mit dem Tier befasst. »Sag, wie alt bist du?«

»Siebzehn.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass Cherus vor siebzehn Jahren irgendetwas mit den Uldwar zu tun hatte.«

»Aber es ist wahr!« Der Ton des Knaben bekam etwas Weinerliches. »Ich bin ein Sohn des Cherus! Meine Mutter traf ihn vor siebzehn Jahren und sie zeugten mich, einen halbgöttlichen Sohn, bevor er verschwand. Ich kann meine Kraft unter Beweis stellen, ich habe mich bisher jedem Duell gestellt und immer den Sieg davongetragen.«

»Das ist … bewundernswert, aber noch lange kein Beweis dafür, dass ein Gott dein Vater ist.«

Dodstied ging um den Hirsch herum und nahm einen langen Schild vom Gepäck. »Ich bin bereit, mich jederzeit zu beweisen.«

Hedwinna trat dazwischen. »Dodstied vom Geschlecht der Uldwar, niemand zweifelt an Ihren Fähigkeiten. Jedoch müsst Ihr verstehen, dass Ihr nicht der erste selbstbewusste Jüngling seid, der am Hofe des Königs auftaucht und verlangt, aufgrund seiner Abstammung in das Gefolge meines Mannes aufgenommen zu werden. Das passiert fast jeden Monat. Und jeden Monat schicken wir einen enttäuschten Jüngling weg. Manche geben auf, nachdem mein Mann sie abgewiesen hat, andere gehen so weit, ein Duell zu fordern, und werden von einem ganz und gar sterblichen Gefolgsmann im Duell besiegt. Ihr werdet Euch glücklich schätzen können, sollten wir Euch nur ein paar Schilde zertrümmern; Ihr könntet ebenso eine Hand verlieren. Um Euer selbst Willen, lasst davon ab. Wenn Ihr es zum Kampf kommen lasst, werdet Ihr Euch selbst und Eurem Geschlecht nur noch mehr Kummer bereiten.«

Dodstieg senkte den Blick und ließ die Schultern hängen. Gunlaug begann sich bereits zu entspannen und sah die Situation als entschärft an. Gut, dass Hedwinna anwesend war. Sie hatte so eine Art, was ihr auf dem Herzen lag sachlich auszudrücken. Damit hatte sie schon einige Hitzköpfe zur Vernunft gebracht.

»Es tut mir wirklich leid … dass Ihnen diese Jünglinge solchen Ärger bereitet haben. Gerade deswegen wird es wahrscheinlich nicht anders gehen. Ich verspreche, mit Ihren Gefolgsmännern sachte umzugehen. Sollte es wirklich so viele Hochstapler geben, bleibt keine andere Möglichkeit, meine Abstammung unter Beweis zu stellen. Ich hoffe, dass Ihr das verzeihen könnt.«

Gunlaug schüttelte den Kopf. »Jetzt geht das wieder los …«

Hedwinna jedoch trat an ihn heran und legte ihm ihre Hand auf die Schulter. »Das wird nicht gut ausgehen, Dodstied. Lasst es bleiben. Bitte.«

Sie sah ihn beschwörend an, ohne dabei ihre Würde als Königin zu verlieren. Doch es schien das Herz des Jünglings nicht zu erweichen. Er nahm ihre Hand von seiner Schulter und schritt an ihr vorbei auf den Hof zu.

»Ich bin ein Sohn des Cherus! Des Gotthelden, der die Stämme vereinte, des gerechten, gütigen Gottes des Krieges! Der Monster erschlägt und Frieden zwischen den Völkern stiftet! Dessen Lanze niemals bricht, dessen Pferd Fleisch frisst und der die Armeen der Untoten zerschlug! Jeder, der das anzweifelt, darf mich herausfordern und von meinem halbgöttlichen Arm erschlagen werden!«

Eine Menge an höfischen Frauen und Gefolgsmännern hatte sich im Hof versammelt und schaute Dodstied ausdruckslos an. Sie kannten das Schauspiel. Gunlaug trat neben ihn und rief: »Geht wieder zurück, tut, was auch immer ihr zuvor getan habt. Es wird zu keinem Duell kommen.«

»Weil ihr alle Memmen seid!« Dodstied ging nun langsam vor den Zuschauern auf und ab. »Weil der Name meines Vaters euch in Angst und Schrecken versetzt und ihr nur zu gut wisst, wie stark er war und dass allein ein halber Gott wie ich ausreicht, um all eure Schilde zu brechen.«

»Geh nach Hause!«, schallte es aus der Menge. Gelächter folgte.

»Macht ihr euch über mich lustig?« Dodstied zog sein Schwert und richtete die Spitze auf die Zuschauer. »Wollt ihr erfahren, wie es ist, von einem Halbgott erschlagen zu werden? Das können wir arrangieren. Ich werde meine Abstammung bis zum Tode verteidigen.«

»Das ist ehrbar.« Alle Köpfe wandten sich zum Haupthaus. Der König der Stämme selbst lehnte dort an der Wand. Mit scharfen Blick fixierte er Dodstied und fuhr sich über den Bart. Er trug ein purpurnes Gewand und auf dem Haupt ein silbern funkelndes Diadem. »Aber unsinnig. Niemand zwingt dich, für eine Blutlinie zu kämpfen, die nicht deine ist. Du solltest wirklich wieder nach Hause gehen. Hier gibt es nichts für dich zu gewinnen.«

»Junge«, sprach Gunlaug leise, »wähle deine Worte jetzt weise.«

»Es ehrt mich …«, begann Dodstied.

»Gut«, kommentierte Gunlaug.

»Dass Ihr selbst mit mir sprecht, Hartried, König der vereinten Stämme, ältester Sohn des Cherus …«

»Sehr gut«, meinte Gunlaug.

»Aber …«

»Bitte nicht.«

»Ich werde nicht unverrichteter Dinge abreisen! Mir gebührt ein Platz in Eurem Gefolge, wenn nicht sogar mehr!«

Gunlaug atmete hörbar aus. Mittlerweile hatte sich Hedwinna mit ihrem Sohn an der Hand zu Hartried begeben. Sein Blick verfinsterte sich und er flüsterte ihr etwas zurück. Dann gingen Hedwinna und Gartmund hinein. Gunlaug schwante Übles.

Hartried kam zu ihnen und zeigte auf das Diadem, das von nahem noch heller funkelte. »Die Zwerge schenkten Cherus dieses Diadem als Dank für den Schutz, den er ihnen in seinem Reich bot. Es erlaubt mir weit über die Länder zu schauen und auch in die Menschen hinein, um mir Einblick in ihr Wesen zu verschaffen. Und weißt du, was ich sehe? Du bist nur ein Sterblicher und wirst an dem Selbstwertgefühl zugrunde gehen, das eine Lüge aufgebauscht hat. Da ist nichts Göttliches an dir, außer du hältst jedes Fleisch für göttlich.«

Hartried drehte sich gerade um, da richtete Dodstied die Schwertspitze auf ihn. »Ob König oder nicht, das lasse ich mir nicht bieten. Wenn es sein muss, trete ich selbst gegen Euch an, Sohn unseres gemeinsamen Vaters.«

Ein Raunen ging durch die Menge. Gunlaug schlug die Hände über den Kopf.

»Kennst du ihn?«, fragte Hartried.

»Wen?«

»Unseren gemeinsamen Vater.« Er wandte sich wieder Dodstied zu und da der Jüngling nicht antwortete, schien er sich Zeit zu nehmen, dessen Wesen zu ergründen. »Cherus. Kennst du den Namen, den er trug, bevor er sich als Gott zu erkennen gab? Nein? Ich erinnere mich. Du sprichst in so hohen Tönen von ihm. Doch ich brauche mein Diadem nicht, um herauszuhören, dass er für dich nur eine Legende ist. Hm … dein Vater … ich sehe ihn nicht. Wahrscheinlich bist du nur ein Bankert, den deine Familie loswerden will. Deswegen bläuten sie dir ein, ein Gott habe deine Schlampe von Mutter geschwängert. Davon gibt es mehr, als mir lieb ist.«

Dodstied stand der Mund so weit offen wie das Tor zum Hof. Gunlaug wollte ihn gerade festhalten, um ihn von dummen Fehlern abzuhalten. Da schlug er die Hand schon weg und fordert Hartried auf: »Auf dem Schlachthirsch!«

»Drei Schilde«, antwortete Hartried und damit war es abgemacht.


Gunlaug streifte Hartried das Kettenhemd über, überreichte ihm den Spangenhelm und dann Schild und Speer.

»Ein prächtiger Schlachthirsch«, kommentierte Gunlaug, während er zu Dodstied herüberschaute. Dieser zog sich ebenso ein Kettenhemd über und schwang sich danach auf sein Tier. »Und gut ausgestattet ist er auch. Vielleicht ist seine Familie wirklich davon überzeugt, dass er ein Sohn des Cherus ist. Allein bringt so ein Jüngling nicht diese Ausrüstung auf und kommt auch gleich mit einem Schlachthirsch hierher. Du überlegst es dir nicht noch mal, oder?«

Trotz seines vorangeschrittenen Alters gelangte Hartried ebenso elegant auf seinen Schlachthirsch. »Wir haben das schon zu weit getrieben. Das muss aufhören, Gunlaug. So gut wie jeden Monat kommt mindestens einer zu uns und verlangt, als Sohn des Cherus anerkannt zu werden. Als ob die jemand zu uns schickt. Dieser hier ist besonders von sich eingenommen. Ich habe keine Skrupel, an ihm ein Exempel zu statuieren. Es gibt schon genug von unserer Sorte, da muss das Land nicht noch von Nachahmern geflutet werden.«

»Wird er wenigstens mit dem Leben davonkommen?«

»Mal sehen. Hedwinna?«

Die Königin war ohne ihren Sohn in den Hof zurückgekehrt. Sie schaute den Jüngling noch wehmütig an und hob dann den Kopf zu ihrem Gemahl. »Ja?«

»Das nächste Mal bleibt Gartmund hier. Er ist alt genug.«

»Wir sollten hoffen«, erwiderte sie, »dass es kein nächstes Mal geben wird. Oder nicht?«

Er sah sie nur an und setzte das Tier in Bewegung. Gunlaug schob sie sanft vom Platz. Die Hirsche senkten bereits ihre Geweihe, scharrten mit den Hufen und schnaubten. Gefolgsmänner traten ihnen zur Seite, beide hielten je zwei Schilde. Ihre Reiter wirkten wie an die Tiere geschmiedet, so fest saßen sie auf deren Rücken, so starr blickten sie auf ihren Gegner. Ein Gefolgsmann trat zwischen sie. Er blies ins Horn und sprang aus dem Weg. Die Hirsche rasten aufeinander zu.

Es schallte über den Hof, als die Geweihe aufeinanderprallten und sich ineinander verkeilten. Die Tiere prusteten und stampften auf den Boden, während ihr gewaltiger Kopfschmuck krachte. Sie versuchten sich beide fort zu schieben, doch schienen sie gleich auf an Kraft zu sein.

Auf ihren Rücken trug sich ein anderer Kampf zu: Beide Recken konnten sich nach dem Zusammenstoß im Sattel halten. Beide hieben mit den Speeren nach dem anderen. Holz splitterte, als Hartrieds Speer in Dodstieds Schild drang und zur anderen Seite heraus stach. Dodstieds Hieb hingegen prallte wirkungslos ab.

Dodstied riss heftig an den Zügeln und drehte seinen Hirsch um. »Einen Schild!«, rief er und warf das unnütze Stück Holz an seinem Arm fort. Ein Gefolgsmann kam sofort herangeeilt.

Auch Hartried nahm wieder Abstand, zog sein Schwert und wartete darauf, dass Dodstied sich den Schild um den Unterarm band.

Dodstieds Hirsch konnte kaum ein paar Schritte laufen, da krachte es wieder. Er wurde über den Hof gedrängt, bis er festen Stand fand und dagegenhielt.

Ein Hieb mit dem Schwert, ein gebrochener Schild. Dodstied musste unter dem nächsten Angriff wegtauchen und sein Tier hastig von seinem Zweikampf losreißen. Sofort kam der Gefolgsmann mit dem letzten Schild angerannt.

Ihm blieb keine Pause. Hartried spornte seinen Hirsch zum Finale an. Auf den Zusammenstoß der Geweihe folgte ein dumpfes Klatschen; der schnelle Angriff hatte Dodstieds Hirsch zu Boden gedrückt. Das Tier kniete auf den Vorderbeinen, als wolle es schon um Gnade betteln.

Hartried war nun oberhalb von Dodstied, von oben sauste sein Schwert hernieder. Das Schild warf sich noch gerade dazwischen.

Dann barst es. Dodstied rutschte seitlich zu Boden und fiel mit der Schulter in den Dreck. Trotz der klaffenden Wunde unter dem Helm, aus der das Blut ihm ins Gesicht floss, richtete er sich auf. Dodstied torkelte ein paar Schritte über den Hof. Die Menge stand wie versteinert, selbst Gunlaug wagte nicht, einzugreifen oder ihm zu Hilfe zu eilen. Das war Teil des Schauspiels, Teil des Duells. Gleich war es vorbei. Während sein Hirsch zu Boden geworfen wurde, machte Dodstied ein paar unbeholfene Schritte, bis seine Beine ihn nicht mehr trugen und er in den Matsch fiel.

Hartried riss sein Hirsch von Dodstieds niedergeworfenen Tier los und ritt zur Mitte des Hofes. Gefolgsmänner eilten zu ihm, nahmen ihm Schild und Helm ab. Andere zogen gemeinsam am Zaumzeug des herrenlosen Hirsches, um ihn in den Stall zu bringen. Das Tier war unterwürfig geworden.

»Die Uldwar sollen wissen«, verkündete Hartried, »dass Dodstied tapfer gekämpft hat. Wir werden ihn heute Abend mit allem, was er bei sich trug, verbrennen und seine Seele auf die Reise schicken.«

Zustimmendes Gemurmel, die Menge zerstob allmählich. Hedwinna und Gunlaug traten an Hartried heran. Sein Atem ging gleichmäßig, ruhig. Er blickte auf den Leichnam und Gunlaug glaubte, eine Spur Traurigkeit darin sehen zu können. Dann versteinerte sein Ausdruck geradezu. In dem Moment wünschte Gunlaug sich das zwergengeschmiedete Diadem, um in ihn hineinschauen zu können.

Kapitel 2, Simund

Die Schlinge hatte sich bereits fest um den Hals der Drossel gezogen. Das erbarmungswürdige Tier lief den Ast hoch und runter, verlor Halt und drohte, sich ganz aufzuhängen. Sie rettete sich, indem sie mit den Flügeln schlug und sich für ein paar Sekunden in der Luft hielt. Sie wollte davonfliegen, in die Luft aufsteigen und sich befreien; die Schlinge aber zog sich noch enger um den schlanken Vogelhals und zog sie wieder auf den Ast, nur um weiter mit den Flügeln zu schlagen und nicht zu wissen, wie sie ihrem Schicksal entgehen könnte. Wohin auch immer die Drossel sich wandte, die Schlinge war da, ihre Flucht zu vereiteln.

Simund stand daneben, sah in die ausdruckslosen, schwarzen Augen des Vogels. Sie flehte ihn nicht um Mitleid an oder schimpfte auf ihn, den Fallensteller, sondern zirpte nur hin und wieder. Da er nicht die Sprache der Vögel beherrschte, hörte es sich wie das Zirpen jeder anderen Drossel an. Keine Panik, keine Angst lag in dem hohen Zwitschern. Nur das heftige, vergebliche Flügelschlagen, die kurzen Stöße in die Luft, augenblicklich von der unbarmherzig ziehenden Schlinge unterbrochen, und das darauffolgende zwecklose Herumrennen zeugten von dem Willen des Tieres, sich seinem Schicksal nicht beugen zu wollen.

Simund trat Näher an die Dohne heran und berührte den Ast, an dem die Schlinge gebunden war. Seine Hand bekam die Schnur zu fassen, zog die Drossel zu sich und packte an den wild flatternden Flügeln vorbei den Hals des Vogels. Die andere griff den Körper. Simund fühlte die Drossel sich sträuben und wehren, spürte den Überlebenskampf in den eigenen Gliedern.

Ein kurzer Ruck und die Drossel war erlöst.

Das Tier konnte ihm noch nicht einmal leidtun. Es war auf eine simple Falle hereingefallen. Die Drossel wollte von den Beeren naschen und als sie sich zum Picken hinabbeugte, legte sie sich selbst die Schlinge um. Simund hatte mehrere solcher Dohnen im Wald aufgestellt. Manche unangetastet, an anderen hatte sich augenscheinlich ein Tier satt gefressen, ohne dass ihm etwas widerfuhr; Simund fand den Beerenstrauch abgenagt vor, die Schlinge leer.

Als er heute Morgen auszog, um nach den Fallen zu sehen, hätte er nicht erwartet, einem der Tiere den Todeskampf zu erleichtern. Deswegen war er hier, anders hätte es nicht sein können. Er tat seine Pflicht, dachte er sich. Deswegen gab es nichts zu empfinden.

Simund nahm ein Messer vom Gürtel, löste die Schlinge vom Hals und sackte den Fang ein. Nachdem er den Beutel in seinem Mantel verschwinden ließ, nahm er einen neuen Faden zur Hand und band sie an den Ast über dem Beerenstrauch. Mit dem guten Gefühl, ein ordentliches Mahl gefangen zu haben, machte er sich auf den Rückweg durch den Wald.


Simund schob ein paar Sträucher zur Seite. Die kleine Hütte kam auf der Lichtung zum Vorschein, so wie er sie verlassen hatte. In dem Stall standen die beiden Pferde und schauten zu ihm rüber, als hätten sie auf ihn gewartet.

Simund ging um die weiß gestrichene Fassade der Hütte herum. Die Tür war offen. Nicht so, wie er sie verlassen hatte.

Melinde? Innerlich fuhr er auf. Simund blickte sich um und lauschte. Er hörte die Pferde im Stall treten und ein kurzes Schnauben ausstoßen. Die Vögel zwitscherten in ihren Baumkronen, von niemandem aufgeschreckt. Der Wald präsentierte ihm die gewohnte Geräuschkulisse und auch aus der Hütte vernahm er kein Geräusch.

So etwas macht sie doch sonst nicht, einfach so in den Wald zu spazieren. Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Ich sollte behutsam vorgehen!

Simund spähte in den Wald hinein und fand nichts zwischen den dicht gereihten Bäumen, die ihm wie moosbewachsene Palisaden den Blick versperrten. Keine Spur von Melinde.

Er tastete an seinen Gürtel und verfluchte sich augenblicklich, nur das Messer mitgenommen zu haben. Er zog es und bewegte sich so leise wie möglich zur Tür.

Bevor Simund einen Blick in die Hütte warf, lauschte er.

Nichts. Sollte ich rufen? Vielleicht schläft sie nur … Aber wieso ist dann die Tür offen? Wir hatten abgemacht, dass sie geschlossen bleibt.

Er machte einen geräuschlosen Schritt auf die Tür zu, wartete kurz, tat den nächsten und zögerte am Türrahmen. Stille. Nun war er schon so nahe. Jetzt aber!

Simund beugte sich in die Tür hinein und sah … keine Melinde. Er trat hinein und blickte sich genauer um. Ihre wenigen Möbel befanden sich noch alle an ihrem Platz. Die Hocker am kurzen Tisch, der Schrank ungeöffnet an der Wand. Das Geschirr lag aufgeräumt neben dem Herd. Die Schlaflager wie frisch gemacht und verlassen. Simund schloss die Tür hinter sich bis zum Spalt.

»Schwester?« Danach lauter: »Schwester!«

Keine Antwort, keine Spur, keine Melinde. Er ging wieder hinaus, untersuchte den Boden um die Hütte herum. Es schien zu keinem Kampf gekommen zu sein, innen war alles an seinem Platz, hier draußen fehlte es an Fußspuren.

Sie hätte sich gewehrt, da bin ich mir vollkommen sicher. Wenn ihr irgendetwas zugestoßen ist, müssten hier überall Zeichen sein.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als nach seiner fast blinden Schwester im Wald zu suchen.

»Melinde!«, rief er in den Wald. Nichts. Er machte sich auf den Weg.


»Melinde?!« Simund wartete, hörte nur das Rauschen des Windes durch das Blätterdach. Vorsicht war seiner Meinung nach nicht mehr notwendig; sie waren alleine in diesem Teil des Waldes, niemand versteckte sich, keiner lauerte ihm auf. Das wollte er jedenfalls glauben. »Meliiiiinde!«

Keine Antwort, keine Spur. Weit konnte das fast blinde Mädchen kaum gekommen sein, nicht ohne ständig über den verwurzelten und unebenen Boden zu stolpern oder in ein Gebüsch zu fallen. Dann fiel ihm ein, dass sie sich eigentlich recht gut in diesem Wald auskannte und nicht so unbeholfen war, wie er immer glaubte. Und was, wenn jemand sie tatsächlich geraubt hatte?

Wir haben nur uns.

»Melinde!« Und dann leiser zu sich: »Verdammt.«

Er kam zu einer kleinen Quelle, die aus einem überwachsenen Felsen heraus plätscherte. Nichts von ihr zu sehen. Das war einer der wenigen Orte, von denen er sich denken konnte, dass sie hier aufzufinden war. Er beugte sich zum Wasser hinunter und nahm einen Schluck. Das Rufen trocknete seine Kehle aus.

Sein nächstes Ziel war eine Lichtung. Ein Ort, den sie mochte, da sie dort die Wärme der Sonne ungehindert durch ein dichtes Blätterdach auf der Haut spüren konnte.

Simund schob ein Gebüsch zur Seite und sah jemanden in der Mitte der Lichtung hocken. Blätter hatten sich auf sie gelegt, als sei das Mädchen Teil des Waldes. Simund erkannte das blonde Haar seiner Schwester und das rote Kleid, das sie gerne trug.

»Melinde!«, stieß er aus und sprang durch das Gebüsch. Er lief auf seine Schwester zu, doch seine ursprüngliche Freude schwand, sein Lauf verlangsamte sich. Was tat sie hier? Wieso reagierte sie nicht? Sie kam ihm komisch vor.

Simund beugte sich zu ihr herunter. Ihre grauen Augen klebten am Himmel, starrten an ihm vorbei. Was sie dort sah? Was sie dort suchte? Er würde es nie verstehen.

»Was machst du hier draußen? Geht es dir gut? Wie lange bist du schon aus dem Haus?«

Ihr Mund bewegte sich, nur die Worte fehlten. Dann bebten ihre Lippen, ein Hauchen drang aus ihrer Kehle. Gepresst sprach sie schließlich: »Die Vögel.«

»Was?«, fragte Simund. Er schaute zum Himmel. Dort waren keine Vögel. »Was ist mit den Vögeln? Ich sehe keine.«

»Das ist nicht gut«, antwortete sie nun mit festerer Stimme. »Sie sollen mir etwas sagen, jedoch sind sie nicht hier. Simund!« Sie fasste ihn plötzlich am Arm und sah ihn fest mit ihren fahlen Augen an. »Die Drossel! Gib sie her!«

»Woher weißt du …« Simund nahm den Beutel aus dem Mantel. Er hatte den Vogel fast vergessen. »Was ist damit?«

»Gib ihn mir! Und dein Messer!«

Da war eine Bestimmtheit in ihrer Aufforderung, der er sich nur schwer widersetzen konnte. Er reichte ihr den Beutel und sein Messer.

Sie legte den Vogel sogleich vor sich auf den Rücken und hielt die Klinge über den Bauch. Ein kurzes Zögern, dann stieß sie die Spitze in den Drosselleib.

Melinde zog die Klinge zum Kopf, danach zum Schwanz hin, bis der Vogelkörper auseinanderklaffte. Sie schob die Rippen beiseite und pulte mit der Messerspitze die Eingeweide heraus. Der Gestank der Innereien drang zu Simund hinauf.

»Was siehst du?«, fragte er und hielt sich die Nase.

Melinde verteilte ein paar der Eingeweide über den Waldboden. Gras färbte sich rot, um den Vogel bildete sich eine kleine Lache. »Mäuler«, sprach sie. »Und hungrige Bäuche. Nimmersatte Schlünde, die sich rasend ausbreiten.« Sie tastete mit den Fingern das verteilte Innenleben des Vogels ab, fuhr mit der Hand durch das Gras. Schneller, mit sich fast überschlagender Stimme: »Hinter ihnen leere Felder, abgegrast bis auf den nackten Boden. Die Gerippe von unzähligen Herden, ausgebreitet über eine karge Landschaft. Die Mäuler, sie hören nicht auf! Niemand stoppt sie! Sie kommen von …«

Melinde stoppte. »Ich weiß nicht. Wieso weiß ich es nicht?«

Sie legte das Messer zur Seite und hob den Vogel mit beiden Händen. Nachdem sie aufgestanden war, blickte sie auf das tote Tier. Und warf den Vogel in die Luft.

Er schlug mit den Flügeln und flatterte davon. Der noch tot geglaubte Vogel, dem Simund eigenhändig den Hals gebrochen hatte, stieg zum Himmel hinauf.

»In welche Richtung fliegt er?«, fragte Melinde, ohne dass Simund Überraschung in ihrer Stimme wahrnehmen konnte.

»Ähm … er fliegt Richtung Osten.« Erst langsam begann er zu realisieren, was gerade geschehen war.

Melinde setzte sich wieder auf den Boden und schlang die Arme um ihre Beine. »Dann werden sie aus dem Osten kommen.«

Kapitel 3, Piasus

Thodius konnte kaum einen Schritt machen, ohne jemanden grüßen zu müssen, als er die Straße hinaufging. Die Sonne stand bereits tief und färbte Villen und Häuser in ein sanftes Rot.

»Danke, dass Ihr unsere Stadt besucht!«

Thodius nickte und lächelte.

»Ihr ehrt die Kolonie mit Eurem Aufenthalt!«

Thodius verbeugte sich.

»Nochmals vielen Dank für die Rede von gestern!« Der Mann kam auf Thodius zu und schüttelte ihm eifrig die Hand. »Ihr habt mit Eurer Anwesenheit etwas vom Glanz unserer Heimat in die Kolonie gebracht! Alle meine Gäste haben sich amüsiert und gleichzeitig etwas zum Nachdenken bekommen. Das Thema war auch sehr spannend. Ich hätte nicht gedacht, dass man dem Pflücken einer Frucht so viel philosophischen Gehalt abgewinnen kann.«

Thodius hielt sich den Bauch und lachte.

»Wann können wir Euch wieder in meiner Versammlung erwarten?«

Thodius fasste ihm an die Schulter und zog ihn näher heran. »Wann bekommt Ihr wieder eine Lieferung mykerinischen Weines über den Goldsee zugesandt?«

»Schon bald, schon bald! Das Schiff müsste in wenigen Tagen eintreffen. Werdet Ihr uns dann wieder aufsuchen?«

»Wo es Wein gibt, werde ich ihm Respekt zollen!«, sprach Thodius und machte sich wieder auf den Weg. Jeden Tag Wein, dachte er sich, fast jeden Tag. Sonst beschert er mir fröhliche Stunden. Aber jeden Tag, da wird er mir zur Last. Wer hätte gedacht, dass ein Philosoph der Freude zu sein so anstrengend sein könnte?

Da spuckte ihm jemand vor die Füße. »Wegen der Trinkbecher-Philosophen bin ich überhaupt in die Kolonien gekommen!«, sagte ein Mann an Thodius vorbeigehend. »Nun kommt ihr auch noch hierher, um uns zu ruinieren. Verbreitet eure verqueren Lehren und betrunkenen Reden. Ihr kennt keine Philosophie, ihr kennt nur den Rausch.«

»Ich bin ein Philosoph der Freude«, antwortete Thodius, »und so mit Euch zu sprechen bereitet mir keine. Ich muss zum König.«

»Gut!«, rief der Mann. »Vielleicht werden dem Satyr Eure Reden ja zum Verhängnis und er ertränkt sich bei dem Besäufnis. Dann sind wir diesen Tyrann los!«

Die umstehenden Leute schauten ihn erschrocken an. Den Mann schien es nicht zu kümmern. Er ging einfach seines Weges.

Thodius musste ihm Respekt zollen, den König der Stadt auf offener Straße einen Tyrannen zu nennen. Er wünschte ihm innerlich, dass seine Worte ihn nicht den Kopf kosten werden und machte sich auf den Weg. Dem »Tyrann« war er noch einen Besuch schuldig.

Bringen wir es hinter uns. Damit ich hier endlich fertig bin und dieses Schauspiel beenden kann.

Ungestört erreichte er die Außenmauer des kleinen Palastes. Wachen am Eingang zum Grundstück versperrten ihm den Weg. Thodius schaute einen Pfahl empor, an dessen Ende ein Mann hing. Jedenfalls glaubte Thodius einen Mann zu erkennen; die Haut war ihm abgezogen worden. Der Pfahl befand sich auf der anderen Seite der Mauer. Vielleicht hatte ihn Paraxus persönlich dort aufgehangen. Denkbar wäre es.

»Wer seid Ihr?«, fragte eine Wache.

Anscheinend ging sein Ruf noch nicht über die obere Bevölkerungsschicht der Stadt hinaus. Die Wache trug einen bronzen schimmernden Helm mit rotem Federbusch, dazu einen Kürass, Arm- und Beinschienen. Auf dem Schild prangte eine mehrköpfige Seeschlange und in den Händen hielt der Wachmann einen Speer.

»Thodius, der Philosoph der Freude. Darf ich … fragen, was sich dieser Herr hat zuschulden kommen lassen?« Er zeigte auf den Hautlosen.

»Diebstahl«, antwortete die Wache.

»Ah.« Na wunderbar. Der König nimmt die Rechtsprechung sehr ernst. »Nun gut. Ich soll heute beim König Paraxus eine Rede halten.«

Die Wache schaute zu der anderen. Es folgte Schweigen. Dann erschien ein freundliches Gesicht auf dem Palastgrundstück, ein junger Mann mit schwarzen Lockenhaaren winkte neben einer Säule.

»Lasst ihn rein! Er ist als Gast geladen!«

»Sehr wohl«, sprach die Wache und Thodius betrat die Stoa, die die Außenmauer von dem Garten im Inneren trennte.

Itharaxus hieß der junge Heißsporn. Er schüttelte Thodius beim Händedrücken ordentlich durch. »Endlich seid Ihr da! Man wartet schon auf Euch. Die Weinkrüge stehen unangetastet und riechen verführerisch süß, Tabletts mit allerlei Speisen werden bald folgen. Doch zuvor will man Euch zuhören.« Itharaxus schob ihn sanft nach vorne und sie durchquerten den Säulenhof.

»Ist der König denn heute auch in guter Stimmung?«, fragte Thodius. »Es bereitet mir Freude, dich fröhlich zu sehen. Und ich hörte schon, dass sich einige Anhänger der guten Philosophie in der Versammlung befinden. Aber ich hörte auch von Paraxus' übler Laune und seiner Veranlagung, diese ungezwungen zum Ausdruck zu bringen.«

Itharaxus blieb stehen und schaute sich um. Er sprach leiser: »Er hält nicht viel von Reden. Ihm gefallen die Gelage, die darauf folgen.«

»Ich verstehe.« Diese Art Mann also. »Soll ich die Rede eher simpel halten? Und welche Themen interessieren den König denn?«

»Der König ist ein einfacher Mann …« Nochmals sich um sich blickend und leiserer: »Von nicht gerade großem Intellekt. Aber ein Philosoph der Freude, wie Ihr, wird bestimmt ein geeignetes Thema für ihn finden!«

Thodius fragte sich, ob Itharaxus gerade seine Philosophie beleidigt hatte. Vielleicht hatte er den jungen Mann falsch eingeschätzt und er war spitzzüngiger, als er dachte. Keinen Grund sich jetzt darüber Gedanken zu machen. Verdammt, es war ja nicht einmal seine Philosophie!

Sie umrundeten den Garten und traten in die Versammlungshalle der Villa. Eine bunte Schar an hohen Persönlichkeiten hatte es sich auf steinernen Sitzbänken mit Kissen und Kopfstützen gemütlich gemacht; manche saßen aufrecht, andere seitlich und ein paar lagen bereits auf dem Rücken. Vor den Sitzbänken warteten Krüge voll von Wein darauf, endlich ausgetrunken zu werden. Die Gäste trugen allesamt ausladende Gewänder, die über die Schulter geworfen wurden. Manche hatten sich ihrer der Gemütlichkeit wegen schon halb entledigt und zeigten darunter Hemden von einfachem Schnitt, doch gutem Stoff. Oder einen freien Oberkörper, manche ansehnlich, andere benötigten etwas mehr körperliche Ertüchtigung.

An der gegenüberliegenden Wand erblickte Thodius den König Paraxus auf einem Thron. Im Gegensatz zu den anderen Gästen schien er nicht daran interessiert sich zu entspannen. Er saß aufrecht, den Körper leicht zur Seite geneigt mit einer Hand am Kinn. Der Umstand, dass der König eine Rüstung in der geselligen Versammlung angelegt hatte, verstärkte diesen Eindruck. Aha, dachte sich Thodius, diese Art von Mann. Paraxus trug einen Helm mit Ziegenhörnern, den er in den Nacken geschoben hatte. Daher also die Bezeichnung »Satyr«.

Paraxus hatte sie bemerkt. Er nahm einen Speer, der am Thron lehnte, und zeigte mit der Spitze auf zwei leere Sitzbänke in seiner Nähe. Ein Finger hätte sicher gereicht.

Thodius hatte sich kaum auf die Bank gesetzt, da fragte ihn der König: »Was ist eigentlich ein Philosoph der Freude?«

Thodius sprang sogleich auf.

»Haltet Euch kurz«, verlangte Paraxus und legte den Speer zurück.

»Natürlich. Die Philosophie der Freude enthält Lehren, welche den Lustgewinn maximieren. Gleichzeitig vermeidet man jeglichen Schmerz. Sie erklärt auch, warum ein solches Leben das beste und tugendhafteste Leben ist, das ein Mann führen kann.«

»Der klingt ja wie ein Marktschreier, der seine Waren anpreist!« Höhnte Paraxus. »Sag mir, Philosoph, mit welchen Argumenten Eurer Philosophien könnte ich die anderen Stadtstaaten in die Knie zwingen?«

Thodius atmete durch, die nächsten Worte würden entscheidend sein. Du bist schlauer als er. Du kriegst das hin. »Wie ich sehe, werter König von Tyon, tragen Sie eine Rüstung. Nicht nur lässt so eine Rüstung einen imposant erscheinen, ihre hauptsächliche Funktion ist es, ihren Träger zu schützen.«

Paraxus polterte mit der Faust auf die Thronlehne. »Will der Philosoph etwa damit andeuten, dass ich ein Schwächling bin, der keinen Treffer einstecken kann?«

»Der Herr König denkt schon zu weit.« Und hat wohl die eingestreute Schmeichelei nicht mitbekommen. »Welchen Nutzen hätte es, wenn Ihnen jemand eine Klinge in den nackten Leib rammt? Sicherlich ist der König ein hervorragender Kämpfer, aber das Schlachtfeld ist ein wüstes Getümmel, bei dem man nicht jeden Angriff abwehren kann. Also, wo liegt der Nutzen eines aufgeschlitzten Bauches? Einer abgehackten Hand? Eines Pfeils im Kopf? Mithilfe von Schmerzen teilt der Körper Euch mit, dass all diese Dinge Euch zum Nachteil gereichen werden, denn es liegt überhaupt kein Nutzen in abgetrennten Gliedmaßen oder gar dem Tod. Außer für Euren Feind.«

Paraxus war still geworden und blickte ihm mit vorgeneigtem Oberkörper an. Thodius schien zu ihm durchzudringen. »Ihr seht mir wie ein König aus, der sich auf dem Schlachtfeld zu behaupten weiß. Sicherlich bereitet Ihnen ein ordentlicher Stoß mit dem Speer in den Leib eines Feindes Freude. Und das ist auch gut so, denn es hat seinen Nutzen. Sieg. Beute. Ruhm. Es nützt Ihnen und damit dem gesamten Stadtstaat Tyon. Deshalb«, Thodius nahm einen Krug auf und hielt ihn in Richtung des Königs, »bin ich ein Philosoph der Freude. Denn alles, was Freude bereitet, ist gut, bringt Glück und Wohlstand.«

Paraxus hob ebenfalls seinen Krug. »Ich verstehe. Ja, ich verstehe sehr gut. Und welchen Nutzen hat der Wein?«

Ha! Es hatte geklappt. Vielleicht hatte er wirklich das Zeug zum Hofphilosophen. Nur blöd, dass er andere Pläne hatte. »Er verleiht der Welt eine neue Farbe«, antwortete Thodius. »Manchmal macht er die Nacht länger, manchmal macht er sie kürzer. Je nachdem, wie man es braucht. Er kann Freundschaften für einen schließen. Aber Vorsicht! Er kann ebenso Geister des Streites heraufbeschwören.«

»Dann lasst uns beten, dass die bösen Geister der Versammlung fern bleiben. Philosoph, heute sollst du mein Gast sein. Trinken wir auf Tyon!«

»Auf Tyon!«, riefen die Männer und hoben an.

Thodius führte den Krug an die Lippen, ließ aber nur etwas Wein die Kehle hinunterlaufen und setzte sich.

»Ausgezeichnet!«, sprach ihn Itharaxus von der Seite an. Thodius versuchte sogleich den Becher aus seinem Sichtfeld zu halten. Er musste nicht sehen, wie wenig der, welcher Wein anpreist, tatsächlich getrunken hatte. »Ihr habt das richtige Maß genau getroffen! Die Leidenschaften des Königs angesprochen, gut verständlich, dabei nicht zu kompliziert, so dass er sich noch selber schlau vorkommt.«

Thodius suchte nach einer Antwort, während er den Becher hinter die Bank stellen wollte. Da prostete ihm der König wieder zu: »Aber das nächste Mal etwas kürzer.«

»Ich werde treffender formulieren«, erwiderte Thodius und erhob den Becher. Er spürte, wie Itharaxus ihn von der Seite anschaute. So nahe konnte er ihm wohl kaum etwas vormachen. Eigentlich hatte er doch Durst und nahm einen Schluck, bis er sich wieder zusammenriss. Lass das, du hast noch was zu erledigen.

Ein weiter Gast betrat die Versammlungshalle, diesmal vom Inneren des Gebäudes aus. Ein kleiner, stämmiger Mann. Erst als er sich auf eine Bank zwischen den Gästen setzte, fiel Thodius auf, was für Stummelbeine dieser Mann besaß. Die Haare auf dem Kopf waren ihm fast ausgegangen, dafür machte der lange Bart den Verlust wieder wett. Mit übergroßen, behaarten Händen griff er nach einem Krug und schluckte den Wein in wenigen Zügen hinunter.

»Ah«, gab der König von sich, »hast es nicht mehr in der Schmiede ausgehalten?«

»Auch ich habe Durst und je länger ich vor dem Ofen stehe, desto größer wird mein Verlangen nach Wein.« Er stierte den König mit tiefsitzenden Augen an, die eine unnatürliche Gräue zu enthalten schienen. »Und ich hörte, heute wird er fließen.«

»Wer ist das?«, fragte Thodius seinen Nachbarn, ohne den Blick von dem Stummelmann zu wenden.

»Haben Sie nichts von dem Sklaven gehört, den sich Paraxus als Schmied hält?«

»Ja schon, aber nicht, dass er so aussieht. Sag, wurde seine Mutter verflucht oder wieso ist er so falsch gewachsen?«

»Er ist ein Zwerg, aus dem Norden. Dieses Bergmadenvolk.«

Thodius machte ein überraschtes Gesicht. »Ah, verstehe. Richtig, wir sind hier ja viel nördlicher in den Kolonien. Ich werde mich wohl an den Anblick gewöhnen müssen. Gibt es hier mehr davon? Das ist der Erste, der mir jemals begegnet ist.«

»Hier in Tyon jedenfalls nicht«, raunte ihn Itharaxus zu. »Den ganzen Tag und die ganze Nacht sitzt er in der für ihn eingerichteten Schmiede. Beim Hämmern kann man ihn singen hören in einer Sprache, die kein Mensch versteht, aber dem Metall besondere Eigenschaften verleiht. Seine Schlösser sind nicht zu knacken, dieser Speer dort neben dem König wird niemals stumpf und hat eine besondere Zauberkraft. Dieser Kürass ist undurchdringlich und wiegt trotzdem so gut wie nichts. Bald hat er die Leibgarde des Königs mit zwergengeschmiedeten Waffen und Rüstungen bestückt, um die uns alle anderen Kolonien und die Menschen in der Heimat beneiden werden! Sollte es zum Kampf mit diesen Feiglingen aus Akleion kommen, werden sie keine Chance gegen die königlichen Truppen haben!«

»Sagenhaft!«, gab Thodius von sich, so gut geschauspielert, wie er nur konnte. Denn im Inneren grübelte er: Wir hatten keine Ahnung! Ja, es gab Gerüchte von einem talentierten Schmied, der für den König arbeitet. Aber wenn Itharaxus nicht übertreibt, ist Paraxus auf dem Schlachtfeld ein gefährlicherer Gegner, als wir erwartet hatten. Ich muss heute Erfolg haben!

Kapitel 4, Piasus

Thodius öffnete ein Auge. Neben ihm schlief Itharaxus mit den Knien auf dem Boden, den Oberkörper halb auf der Bank und den Kopf auf einem Kissen. Der Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig. Thodius konnte ihn atmen hören. Der Arme. Thodius hatte ihm, wann immer er konnte, Wein in seine leeren Krüge gegossen. Die Zahl der auf dem Boden um ihn verstreuten Krüge entsprach nicht dem, was er tatsächlich gesoffen hatte.

In der ganzen Versammlungshalle herrschte Stille. Sie hatten sich alle in einen tiefen Schlaf getrunken. Thodius wandte den Kopf. Im schwachen Schein eines bald verlöschenden Feuerkessels sah er die Silhouetten der anderen Gäste auf oder neben den Bänken liegen, manche mit dem Gesicht im Tafelgeschirr oder umzingelt von Weinkrügen. In der Nähe glaubte er den fauligen Geruch von Erbrochenem wahrzunehmen. Die Gäste schnarchten und schnaubten, aber abgesehen vom Knistern des Feuers hörte er nichts.

Der Thron war verwaist. Der König hatte sich wacker gehalten und war erst gegangen, als die meisten schon zu viel getrunken hatten, um noch ein Gespräch führen zu können. Währenddessen hatte Thodius den Betrunkenen nur gemimt, so gut er konnte. Zu seinem Bedauern schlief Paraxus nicht einfach auf der Stelle ein. Womöglich hatte er sich in sein Gemach begeben.

Thodius öffnete beide Augen, schaute sich nochmals um. Als er sich sicher war, unbeobachtet zu sein, erhob er sich. Er lüftete den Mantel und zog einen Dolch hervor. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen, tastete sich vorwärts. Dann muss ich den König wohl suchen gehen, damit er heute Nacht noch Bekanntschaft mit meinem Dolch macht.

»Na, noch was vor?«

Thodius erstarrte. Im Dunkel lachte jemand dreckig. Es klang, als hätte die Person eine Handvoll Erde gefressen. Er konnte nicht erkennen, wer es war oder woher das Gelächter kam.

»Willst du den Dolch noch fein ausführen?« Das Gelächter wurde lauter.

Thodius war sich nun sicher zu wissen, wo sich der Spaßvogel befand und bewegte sich in die Richtung. Aber wieso hatte er das Messer gesehen? Er hatte es dicht am Körper gehalten. Vielleicht reflektierte das Metall etwas Licht vom Feuer? Möglich. Trotzdem hatte er keine andere Wahl. Wenn seine Mission erfolgreich sein sollte, musste er ihn wohl zum Schweigen bringen.

»Hast mir nicht zugehört?«, fragte die Stimme, als Thodius näher kam. »Ich habe den Dolch gesehen. Stecke ihn weg oder ich schreie und ganz Tyon soll erfahren, dass der Philosoph Thodius ein Meuchelmörder ist. Ah, und wo du schon mal dort stehst, bringe mir bitte den Krug. Da muss noch was drin sein. Der Herr Ilthenus ist nämlich ein Leichtgewicht und schlief als Erster ein. Da sollte noch was für uns beide übrig sein.«

Verdammt, der hatte gute Augen! Aber er schien mehr daran interessiert zu sein, weiter zu saufen. Wenigstens konnte Thodius so näher an ihn herankommen und dann entscheiden, was er mit ihm machen sollte. Er steckte den Dolch weg, vorerst, schlich bis zu Ilthenus und fühlte das Gewicht der Krüge. Nachdem er eine Wahl getroffen hatte, ging es weiter. Der Kerl hatte es sich an der Wand des Versammlungsraumes gemütlich gemacht, fernab der anderen. Und es schien sich um den Zwerg zu handeln; Thodius erkannte endlich seine gedrungene Gestalt und den langen Bart.

»Gut, aber ich will den ersten Schluck haben!«

Zum Glück sprach er nun leiser, auch wenn es die Gäste zuvor in ihrem Schlaf nicht gestört zu haben schien. Thodius überreichte ihm den Krug und der Zwerg trank begierig.

»Hoppla, nun ist es alle. Bring uns noch einen. Keine Sorge, diesmal lasse ich dir etwas Wein übrig. Und lass den Dolch gleich stecken. Ich sehe im Dunkeln besser als ihr Menschen.«

Thodius kam mit einem Weinkrug zurück. Der Zwerg trank merklich kürzer und übergab ihm dann das Gefäß. Eigentlich war ihm gar nicht nach Wein zumute.

»Was ist?«, fragte der Zwerg. »Ich wollte eigentlich mit dir etwas trinken und mich ruhig mit dir darüber unterhalten, warum du mit einem Dolch aus der Versammlungshalle schleichen willst.«

»Machst du dir keine Sorgen um dein eigenes Leben?«, fragte Thodius flüsternd.

»Jeden Tag. Ich bin bereits Sklave eines Tyrannen. Man gewöhnt sich daran. Wenn du bei deinen Machenschaften nicht gestört werden willst, dann solltest du mich schnell umbringen. Damit wäre es endlich vorbei. Oder wir trinken und plauschen noch etwas. Setzt dich zu mir, Philosoph des Dolches.«

»Ich sollte jetzt lieber gehen.« Thodius versuchte im schwachen Licht den schnellsten und leisesten Weg aus der Versammlungshalle zu finden.

»Und es in einer anderen Nacht versuchen? Von mir aus, ich habe kein Problem damit. Nur wirst du keinen Erfolg haben.«

Thodius wurde hellhörig. Wollte der Zwerg ihm helfen?

»Was meinst du damit?«

»Paraxus ist ein gefürchteter, verhasster Tyrann - und das weiß er. Er trägt die Rüstung jeden Tag, denn immerzu spürt er die Anwesenheit von Messerklingen. Seine Herrschaft hat ihn paranoid gemach. Ich könnte dir den Weg zu seinem Schlafgemach zeigen, das er übrigens nicht mit seiner Frau teilt, vermutlich wegen seiner Paranoia. Aber dann stehen wir vor einer verschlossenen Tür aus Eisen, die sich von Außen nicht öffnen lässt. Jedenfalls nicht mit einem Dolch.«

»Und wenn ich andere Wege kenne, verschlossene Türen zu öffnen? Kann man das Schloss nicht knacken?«

»Daraus wird nichts. Er drohte, mich zu köpfen, wenn es jemanden gelingen sollte, die Tür aufzubrechen. Er ließ es testen, einen ganzen Tag lang. Ich habe meine Arbeit gut getan. Vergiss es. Du hättest mehr Chancen gehabt, während des Gelages über ihn herzufallen.«

Unschlüssig stand Thodius im Raum, schaute zum Ausgang der Versammlungshalle, dann auf die friedlich schlafenden Betrunkenen und schließlich auf den Zwerg, der ihm den Krug aus den Händen riss und sich am Wein gütlich tat. Er beschloss, sich neben den Zwerg zu setzen. Dann versuchen wir mal, das Beste aus der Situation zu machen.

»Wie ist dein Name?«, fragte Thodius.

»Tiuz«, war die knappe Antwort.

»Tiuz, wie bist du eigentlich hier unten gelandet? Wenn ich fragen darf.«

»Natürlich darfst du fragen.«

»Kriege ich auch eine Antwort?«

»Ich komme aus dem Norden.«

»Das habe ich schon gehört. Aus dem Land der Merowa, dem Königreich der Eichen. Was geschah dort?«

Keine Antwort. Thodius hörte den Wein die Kehle des Zwerges herunterlaufen. »Ich möchte hier nicht darüber reden.« Tiuz erhob sich schwerfällig. »Komm, wir gehen in meine Schmiede. Da stört uns keiner.«


»Der Herr König lässt seinem Sklaven ja viel Freiheit«, bemerkte Thodius. Ungestört gingen sie durch die dunklen Gänge der Villa. »Fürchtet er nicht, du könntest abhauen?«

»Mit diesen kurzen Zwergenbeinen? Als Zwerg falle ich hier unten auf und gebrandmarkt hat mich der König auch. Ich komme nicht weit. Solange er mir noch vertraut, kann ich mich sogar frei durch die Stadt bewegen und ab und zu an den Gelagen teilnehmen. Das will ich nicht missen.«

»Ja, kann ich verstehen. Also behandelt der König dich nicht schlecht?«

»Könnte schlimmer sein. Ich habe meine Mahlzeiten und eine Arbeit. Gleichzeitig droht er mir mit denselben Klingen, die ich für ihn hergestellt habe. So, da wären wir.«

Tiuz öffnete eine Tür und sie traten in eine kleine Werkstatt. Die Holzkohle im Ofen glomm und warf etwas Licht auf die vielen Werkzeuge, kupfernen Barren, Speerspitzen und Klingen, Helme und Rüstungen. Alles lag verstreut und unsortiert in Kisten, der Raum machte einen unordentlichen Eindruck. Ein Bett war direkt an die Wand gerückt, daneben stand eine kleine Kommode.

»Ganz gemütlich«, bemerkte Thodius.

»Du schmeichelst meinem bescheidenen Heim.« Tiuz zog einen kleinen Tisch zu sich und stellte mehrere Weinkrüge ab.

»Nun …« begann Thodius und nahm sich einen Trank. »Die Frage brennt mir noch immer auf der Zunge. Wie bist du hier unten gelandet?«

»Du wirst es mir bestimmt nicht glauben.«

»Ich habe schon viele unglaubliche Geschichten gehört und manchmal erzähle ich selber welche. Lass mich entscheiden.«

Der Zwerg verschränkte die Arme. Ein sonores Brummen drang aus seinem Leib. Schließlich sprang Tiuz auf das Bett und setzte sich. »Alles fing damit an, dass der König der Merowa, dieser Hartried, Sohn des Cherus, meinen Bruder erschlug.«

Thodius verschluckte sich am Wein. Er klopfte sich mehrmals auf die Brust, bevor er wieder sprechen konnte. »Was?! Hat etwa der König der Merowa dich versklavt?«

»Oh nein, ich floh vor ihm und den Schergen, die er auf mich hetzen ließ.« Tiuz' Hände begannen zu zittern. Da war ein Beben in der Stimme des Zwerges. »Meine Gefangennahme ist eine lange Geschichte, aber ihr verdanke ich, dass ich noch am Leben bin. Wäre ich in Hartrieds Hände gefallen, wäre ich so tot wie mein Bruder.«

»Der Reihe nach. Wieso trachtet der König der Merowa dir nach dem Leben?«

»Weil er etwas besitzt, was mir und meinem Bruder gehört. Nicht nur hat er es sich erstohlen, es ist auch ein mächtiger Gegenstand, der ihm eine besondere Kraft verleiht. Durch meinen Tod wird seine Kraft ein Geheimnis bleiben.«

»Ein magischer Gegenstand also?« Das ist es! Ich muss unbedingt dran bleiben! »Um was für einen Gegenstand handelt es sich?«

Tiuz neigte den Kopf. Leiser sprach er: »Wer bist du? Ich nehme dir diese Verkleidung nicht ab. Für einen Säufer-Philosophen bist du viel zu nüchtern. Und soweit ich weiß, sind sie auch keine Mörder.«

»Weil ich keiner bin.« Gut, hören wir mit dieser Maskerade auf. Diese Chance kann ich mir nicht entgehen lassen. »Ich bin nicht Thodius, der Philosoph der Freude. Der kommt erst in ein paar Tagen in Tyon an und bis dahin bin ich schon lange weg. Mein Name ist Piasus vom Stadtstaat Akleion. Wir sind Feinde Tyons und von Paraxus. Und wir sind auch Feinde des Königs der Merowa.« Er streckte dem Zwerg die Hand aus und legte sein überzeugendstes Lächeln auf. »Da wir uns so viele Feinde teilen, sollten wir Freunde werden.«

Kapitel 5, Piasus

Gut gelaunt und pfeifend spazierte er über die Straße. Piasus strich sich über das frisch rasierte Kinn; da sich die Menschen einen Philosophen immer mit ehrerbietigem Bart vorstellten, hatte er lange keine Rasur mehr genossen. Nur müde fühlte er sich, denn er hatte Tyon noch in derselben Nacht verlassen und war so schnell wie möglich nach Akleion gereist. Es war früher Morgen, die letzten Nächte hatte er unter freiem Himmel verbracht. Piasus gähnte, ein genüssliches Gähnen, denn er wusste, hiernach würde er sich einen ordentlichen Mittagsschlaf gönnen, der möglicherweise weit darüber hinaus ging.

Die Leute traten aus ihren Häusern. Er fiel auf, wie er leichten Schrittes und mit einer Melodie auf den Lippen über das akleionische Pflaster schlenderte. Man grüßte ihn, oder er grüßte zuerst und vermochte ab und zu ein Lächeln auf ein griesgrämiges Gesicht zu zaubern. Für die fängt der Tag ja erst an, ein Tag wie jeder andere. Für ihn jedoch endete eine seit langem geplante Unternehmung, die ihn in die Höhle des Löwen führte, nur mit einer Verkleidung gerüstet und einem Dolch bewaffnet. Nur ist dieser Dolch nicht mit Blut besudelt. Mal sehen, was er dazu sagen wird.

Die Villa von Daedlus war an einem Hang gelegen, angelehnt am Hügel, auf dem die wichtigen Gebäude der Verwaltung und Versammlung errichtet worden waren. Piasus klopfte ans Tor, ein schläfriger Wachmann öffnete ihm, erkannte den häufigen Gast und ließ ihn wortlos ein.

»Kanthorus, mein Guter, ist der Erste der Stadt zugegen? Er wird mich sicherlich freundlich empfangen wollen.«

»Geht nur durch, Piasus, der Erste hat das Anwesen nicht verlassen.«

»Wunderbar, der Tag könnte kaum besser werden, nicht wahr? Ich weiß schon, wo ich ihn finde.«

»Sehr wohl, mein Herr.«

Daedlus' Anwesen bestand zum größten Teil aus einem Garten und dem Weingut. Die Villa, um die ihn die meisten Stadtbewohner Akleions beneiden mussten, versank fast in dieser Insel aus Natur. Piasus suchte auf sorgsam gepflegten Wegen nach dem Ersten und fand ihn, wie er sich um seine Hühner kümmerte.

»Du bist zurück,« bemerkte der Erste, während er den Hühnern weiterhin Futter aus einem Körbchen zuwarf.

Piasus setzte sein überzeugendstes Lächeln auf und breitete die Arme aus. »Gesund und wohlbehalten.«

»Und sogar schneller als die Nachricht von Paraxus' Tod. Ich nehme an, das ist selbstverständlich, wenn der Mörder seinen Häschern zu entkommen versucht.«

Piasus fasste sich an den Hinterkopf: »Nun, du sprichst nicht mit Paraxus' Mörder. Er lebt, jedenfalls als ich ihm das letzte Mal begegnet bin. Ja, ich weiß, das war ganz anders geplant. Aber höre mir erst einmal zu.«

Daedlus schütte das Futter aus und warf das Körbchen zwischen die Hühner. »Was ist geschehen? Hast du gekniffen? Hätten wir einen richtigen Meuchelmörder anheuern sollen? Das Orakel hat uns diese eine Chance gegeben und du hast sie verspielt. Also, was ist geschehen?«

»Warte, warte. Wir haben das besprochen. Ich dachte, wir wären uns einig, dass das Orakel dahingehend sehr undeutlich sprach. Wie immer. Nie hat sie deutlich gewünscht, dass ich ihn tatsächlich mit dem Dolch abmurkse.«

»Ausreden.«

»Was waren ihre Worte? Derjenige, sich als Weiser ausgibt und mit einem Dolch das Haus des Paraxus betritt, wird sein Königreich stürzen. Nichts davon, dass der falsche Philosoph ihn auch abstechen soll.«

»Aber Paraxus lebt. Nun, wie soll sich sein Schicksal doch noch erfüllen?«

»Ich war nicht untätig, verstehe mich nicht falsch.« Piasus kramte ein Stück Papyrus aus dem Mantel und überreichte es Daedlus. »Ich habe einen Vertrag mit einem seiner Sklaven geschlossen. Und ich bin davon überzeugt, dass es dieser Vertrag ist, der Paraxus' Ende sein wird.«

Tiefe Stirnfalten bildeten sich auf Daedlus' Gesicht, während er das Schriftstück studierte. »Das ist die Schrift der Nordländer. Ich kann das nicht lesen und du auch nicht. Worum geht es hier?«

Piasus fand eine Bank in der Nähe und setzte sich. Da fühlte er sich plötzlich recht schwach und müde in den Knochen. Ja, er war wirklich reif für eine Ruhepause. »Der Sklave ist ein Zwerg. Mit etwas Pech ist der Vertrag noch nicht einmal in der Weltensprache geschrieben, sondern in der fremden Zunge dieses Bergvolkes. Dieser Vertrag sichert uns die Unterstützung seiner Verwandten zu und eine Belohnung, wenn wir ihn aus der Gefangenschaft befreien. Jedenfalls versprach er mir das.« Jetzt einfach dösen, hier in der morgendlichen Sonne.

»Ich habe gehört«, sprach Daedlus, während er den Vertrag noch immer eingehend studierte, »dass man den Zwergen nicht so einfach trauen soll. Sie könnten uns über das Ohr hauen wollen. Wir müssen einen unparteiischen Nordländer finden.«

»So wie ich diese Nordländer kenne, wird der uns dabei helfen müssen, einen anderen Nordländer zu finden, der überhaupt lesen kann.«

Daedlus lachte kurz und trocken. »Aber wie soll das zu Paraxus' Tod führen? Wird eine Zwergenarmee aufmarschieren, um einen von ihnen zu befreien? Einen einzigen Sklaven? Oder wie habe ich mir das vorzustellen?«

Piasus legte sich auf die Bank und faltete die Hände auf dem Bauch. Er schloss sogar etwas die Augen, wohl wissend, dass er dem Schlaf gefährlich nahe war. »Das ist noch nicht alles. Wir sollten uns mit diesem Vertrag lieber an unsere wenigen Freunde unter den Merowa wenden, um die du in den letzten Jahren so eifrig geworben hast. Der Zwergensklave kam aus einem bestimmten Grund in diese Lage.«

»Mach es nicht so spannend.«

»Es war Hartried.«

Daedlus nahm die Augen vom Papyrus.

»Hartried hatte seinen Bruder ermordet«, erklärte Piasus weiter, »und wollte auch ihn umbringen. Dabei gelang er an einen mächtigen Gegenstand. Was wahrscheinlich der Grund war, warum wir ihn nicht besiegen konnten.« Vor Piasus' geistigem Auge sah er Hartried auf seinem Schlachthirsch in die Reihen der Soldaten brechen. Die Speere zerbrachen einfach, als wäre Hartrieds Körper aus Eisen. Der Schlachthirsch schlug mit dem Geweih um sich, spießte Männer auf, die Piasus mit Namen kannte. Hartried kämpfte wie ein Wilder, seinen Hieben hielten weder Schild noch Rüstung stand. Schließlich war Piasus geflohen, wie alle anderen, die nicht erschlagen im eigenen Blut lagen.

»Was für ein Gegenstand?«

»Damit will der Zwerg nicht rausrücken, bevor wir ihn nicht befreit haben. So dumm ist er nicht. Er versprach mir auch, dass der Gegenstand eine Schwachstelle hat.«

»Ich sehe, worauf das hinausläuft. Wir treten in Kontakt mit den Fürsten der Merowa, die Hartried gegenüber feindlich gesinnt sind und sich genauso dafür interessieren, wie man diesen angeblichen Halbgott töten kann. Sie helfen uns, den Zwerg zu befreien, was nach deiner Interpretation der Worte des Orakels dazu führen wird, dass auch Paraxus sein Ende findet.«

Piasus wäre fast eingenickt, er musste sich von der Bank erheben. »Ja, so hatte ich mir das gedacht. Ich fand einfach keine Möglichkeit, Paraxus zu ermorden, gleichzeitig hört sich das nach einem viel besseren Handel an, oder nicht? Zwei dieser lästigen Könige könnten dabei ums Leben kommen und wir stehen besser da als je zuvor! Oh, der Zwerg versprach mir auch Schätze. Aber wir sollten wirklich zuvor ein paar Nordländer fragen, was eigentlich in dem Vertrag steht.« Hoffentlich war mit dem Vertrag auch alles in Ordnung. Er hatte Tiuz sonderbarerweise liebgewonnen und wollte nicht, dass seiner Befreiung irgendetwas im Wege stand.

»Ja«, sprach Daedlus, »wir sollten einen Nordländer fragen. Und es gibt noch jemanden, den wir aufsuchen sollten.«

 

Daedlus ließ ihm keine Ruhe. Piasus schleppte sich hinter dem Ersten von Akleion, der zielstrebig ein Gebäude nicht weit von seiner Villa entfernt ansteuerte. Zum Glück. Hoffentlich hatte das hier bald ein Ende.

Das Orakel von Akleion hatte auch diesen Morgen schon regen Zulauf. Eine Ansammlung von Menschen hatte sich vor dem Rundbau versammelt. Das Gebäude war auf einem steinernen Podest errichtet worden, das sie über eine Treppe betraten. Daedlus ging an der Menge vorbei und stellte sich vor eine der Dienerinnen des Orakels, ein junges Mädchen, das etwas verdutzt reagierte, aber sogleich verstand: »Jemand befragt gerade das Orakel …«

»Und man soll es nicht unterbrechen«, schnitt ihr Daedlus das Wort ab. »Ich weiß. So lange kann ich auch noch warten. Ich verlange aber, gleich nach ihm vorgelassen zu werden.«

»Natürlich, Erster.«

Sie verschwand ins Innere. Daedlus sah sich mit der Menge konfrontiert, die teils mit verschränkten Armen auf eine Rechtfertigung wartete, teils den Blick senkte. Ein Tyrann wie Paraxus wäre wohl einfach hineingegangen und hätte den Mann hinausgeworfen.

»Es geht um die Zukunft Akleions. Es ist von größter Wichtigkeit«, verkündete Daedlus. »Mehr darf ich allerdings nicht sagen.«

Etwas, was man als zustimmendes Gemurmel deuten konnte, war die Antwort. Piasus gähnte und wünschte sich, dass das Orakel nicht lang schwätzen würde. Wenn ich danach noch mit Daedlus über die Bedeutung ihrer Worte streiten muss, kippe ich um. Die Sache ist sowieso klar: Was auch immer das Orakel brabbeln wird, wir werden uns mit den rebellischen Nordländern zusammensetzen und uns um die Befreiung von Tiuz kümmern.

Piasus lehnte sich an die weiß verputzte Wand und schloss die Augen. Er hörte Daedlus vor ihm auf und ab gehen. Das Orakel ist ihm wirklich wichtig. Die Stadt würde bestimmt auch einiges an Einnahmen verlieren, wenn die Leute nicht von überall hierherkämen, um den Sprüchen des Orakels lauschen zu dürfen. Ob ihre Weissagungen nun etwas taugen oder nicht, Tyon wäre nicht in derselben Position, hätte die Stadt das Orakel nicht.

Er hörte jemanden aus dem Gebäude treten. »Erster.« Dasselbe Mädchen. »Ihr dürft jetzt eintreten.«

Piasus öffnete die Augen. An der Wand abstützend folgte er Daedlus. Das Innere war dunkel, stickig und aus einem Grund, der sich Piasus nicht erschloss, verwinkelt und verzweigt. Sie mussten dem Mädchen folgen, sonst hätten sich verlaufen. Hier drinnen war es kühler, angenehm, Piasus fühlte sich etwas frischer.

Beim Orakel angekommen standen sie vor einem Podest, auf das Licht aus der Decke schien. Die Vorhänge um das Podest waren komplett zugezogen. Undeutlich sah er etwas wie eine Bank dahinter und eine liegende Frauengestalt. Sie erhob sich langsam und sprach träge: »Ihr seid wieder da.« Dann legte sie sich wieder.

Piasus flüsterte zu Daedlus: »Meint sie mich oder dich?«

»Wer weiß.« Dann an das Orakel gewandt: »Wir sind gekommen, um eine Entscheidung zu treffen.«

Das Orakel seufzte hinter dem Vorhang und räkelte sich auf der Bank.

»Wir bitten dich, uns zu leiten. Was geschieht, wenn wir zu den Nordländern gehen und uns an die Zwerge wenden, um einen der ihren aus Tyon zu befreien?«

Sie stöhnte auf, warf den Oberkörper in die Höhe und hob die Arme. Dann sank der Körper und fiel von der Bank. Piasus hörte sie flüstern, schnell aber undeutlich. Er bekam eine Gänsehaut, wie immer, wenn er dabei zusah, wie dem Orakel eine Frage gestellt wurde. Sie richtete sich auf und wankte zurück zur Bank.

»Wenn ihr in den Norden zieht«, sprach sie, »wird das Blut der Götter fließen.«

Kapitel 6, Piasus

»Das Blut der Götter …« Das Orakel machte eine Pause, hielt inne und setzte sich dann auf die Bank. »… Wird von den Nordlanden aus in die Länder der Mykerios fließen. Große Häuser der Mykerios werden es in sich tragen und Helden zeugen, deren Taten bis zum Ende der Menschheit besungen werden. Andere Sprösslinge werden ihre Häuser in den Ruin treiben, in einem solchen Ausmaße, wie es nur die Kinder der Götter vermögen.«

Piasus war, musste er sich selbst eingestehen, erstaunt über die Konsequenzen, die sein Plan anscheinend nach sich ziehen würde. Was bei allen Göttern hatte es damit zu tun, Häuser in den Ruin zu treiben, wenn sie jemanden in die Nordlanden schickten? Was hatte das Ganze mit dem Blut der Götter zu tun?

»Daedlus«, wandte er sich an den Ersten. »Darf ich mich schlafen legen, bevor wir das diskutieren?«

Daedlus schien ihn nicht zu bemerken, er starrte auf den Vorhang und das regungslos sitzende Orakel. Dann weiteten sich seine Augen und an das Orakel gerichtet sprach er: »Ihr meint doch nicht …«

Piasus verstand immer weniger. »Sag mir nicht, dass du dir einen Reim daraus machen kannst. Was hat das alles mit dem Blut der Götter zu tun? Wir wollen nur einen Zwerg aus der Knechtschaft des Königs von Tyon befreien, und Tyon von seiner Herrschaft gleich dazu. Wieso muss alles, was dieses Orakel von sich gibt, nur so verworren und undurchsichtig sein?«

»Ich habe eine Ahnung«, erwiderte Daedlus. Er klopfte Piasus auf die Schultern. »Mein Freund, indem du mit dem Dolch zu Paraxus gegangen bist, hast du mir und Akleion wahrscheinlich einen großen Dienst erwiesen.«

»Wahrscheinlich …« Piasus verdrehte die Augen. »Kann ich jetzt nach Hause? Ich brauche Ruhe.«

»Warte noch, was das Orakel zu sagen hat.«

»Was soll es schon zu sagen haben? Wozu brauchst du mich noch? Ich habe getan, was ihr beiden von mir verlangt habt. Jetzt brauche ich Schlaf. Ich finde schon selbst nach draußen.«

Piasus war gerade dabei, sich umzudrehen und selbst den Ausgang suchen zu gehen, da sprach das Orakel plötzlich mit ungewohnt lebhafter Stimme: »Ist das der Weise mit dem Dolch? Ist er zugegen? Er soll hervortreten.«

Piasus seufzte auf.

Da stieß ihn Daedlus zum Podest. »Na mach schon, du wirst doch wohl noch vor das Orakel treten können.«

»Schon gut.« Was auch immer nötig wäre, um das zu Ende zu bringen. Am liebsten aber hätte er Daedlus die folgenden Gedanken ins Gesicht gesagt: Das Orakel brabbelt meist nur Unsinn und es war bloßer Zufall, dass ich Tiuz dort traf. Keine Ahnung, ob das wirklich zu Paraxus' Sturz führen wird. Ich mache das nur, um nicht gegen hochgerüstete tyonische Truppen kämpfen zu müssen und um von den Zwergen in Gold aufgewogen zu werden. Und weil ich wirklich etwas Mitleid mit dem Zwerg habe. Hoffentlich sagt das Orakel irgendetwas, das dem nicht im Wege steht.

»Piasus …«, hauchte das Orakel vor dem Vorhang.

»Nein«, antwortete er, »der Weise mit dem Dolch. Ich bin, was das Schicksal von mir verlangt zu sein.« Er verkniff sich eine spöttische Verbeugung.

»Du hast den Dolch zu Paraxus getragen.« Sie trat näher. Er konnte ein Mädchengesicht hinter dem Vorhang erkennen, das ihn mit müden Augen anblickte. »Du wirst den Hirsch zu uns bringen. Gehe du in den Norden, allein. Doch Akleion soll dich nach Kräften unterstützen.« Dann wandte sich das Orakel ab und legte sich wieder auf die Bank.

Piasus drehte sich zu Daedlus. »Nun …«, begann der Erste von Akleion. »Ich schätze schon, dass du dich einen Tag ausruhen kannst.«

»Tue nicht so, als sei das beschlossene Sache!«, fuhr Piasus auf.

»Bitte, meine Herren!«, meldete sich die Dienerin des Orakels, bestimmter, als Piasus erwartet hatte. »Ihr habt die Worte des Orakels vernommen, es gibt hier drinnen nichts für Euch zu bereden. Bitte setzt Eure Unterhaltung draußen fort!«

Da konnte selbst der Erste der Stadt nicht widersprechen. Er nickte, wandte sich an das Orakel und sprach: »Habt vielen Dank. Ihr führt Akleion und mein Haus in eine bessere Zukunft.«

Draußen gingen sie um das Heiligtum herum, bis sie glaubten, von lauschenden Ohren weit genug entfernt zu sein. Sogleich fragte Piasus: »Wieso immer ich?«

»Dienst du nicht Akleion?«, war Daedlus' Gegenfrage.

»Ich diene dir. Und ja, du bist der Erste der Stadt. Also habe ich wohl keine andere Wahl. Aber hat es dieses Orakel auf mich abgesehen? Habe ich ihr etwas angetan?«

»Das Orakel sieht dein Potenzial.«

»Ach was, ich bin nur ein einfacher Taugenichts, den deine Familie von der Straße aufgelesen hat. Gerade erst noch hielt sie mich für einen Attentäter und jetzt soll ich als was zu den Nordländern gehen? Diplomat? Bote? Und alleine soll ich mich aufmachen. Pah! Die Kolonien sind der nördlichste Punkt, an den ich jemals gereist bin. Ich bin nie zu den Merowa gereist. Dieses Orakel quält mich, dabei will ich nur meine Ruhe haben.«

»Piasus.« Daedlus legte ihm die Hände auf die Schultern. »Du musst das tun, nicht nur für Akleion, sondern auch für meine Familie. Ich glaube nämlich verstanden zu haben, wovon das Orakel sprach. Das ist sehr wichtig. Es geht nicht mehr nur darum, Paraxus aus dem Weg zu räumen.«

»Was meinst du?«

»Ich werde dir ein Schriftstück mitgeben, das bringst du zum Fürsten von Spatzensturz. Er wird dir helfen, ja, er wird mehr als bereitwillig sein, dir zu helfen. Wenn du das tust, nur allein das, entlasse ich dich für immer aus meinen Diensten und beschenke dich so sehr, dass du für den Rest deines Lebens ausgesorgt hast.«

»Verdammt!«, rief Piasus aus. Er riss sich von Daedlus los, ging ein paar Schritte umher. »Verdammt! Verdammt!« Und mit dem Finger auf Daedlus zeigend: »Lass mich eine Nacht darüber schlafen!«

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Alexander Naumann
Cover: M.Y. Cover Design
Tag der Veröffentlichung: 19.12.2021
ISBN: 978-3-7554-0319-7

Alle Rechte vorbehalten

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