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Jeder kennt Captain Kitty. Überall flüstern die Menschen bewundernd seinen Namen, die Kinder malen Bilder von ihm und jede zweite Katze ist nach ihm benannt. Doch wer ist eigentlich Captain Kitty? Wer steckt hinter dem Weltenbummler und Abenteurer?
Ich kenne viele Geschichten, die von seinen Heldentaten erzählen. Wie er die Welt mehrmals gerettet hat. Wie er in die Vergangenheit reiste und zurück und das noch vor dem Frühstück. Wie er dreimal um die ganze Welt gelflogen ist und so einen neuen Rekord aufgestellt hat. Und all die anderen Geschichten. Ich wette sogar, dass es niemanden gibt, der ihn nicht einmal hat vorbeifliegen sehen.
Also frage ich die Menschen. Meinen Lehrer, meine Mama, meine Freunde, sogar den Nachbarn frage ich. Aber keiner weiß, wer Captain Kitty wirklich ist.
Enttäuscht durchblättere ich noch einmal die neunundzwanzig Comichefte (ja, ich habe sie alle gezählt), auf der Suche nach einem kleinen Hinweis.
In den bunten Bildern tummeln sich Monster, hübsche Katzendamen und natürlich ist auf fast jedem der Captain zu sehen. Die Augenklappe ist sein Markenzeichen- und ich weiß auch, dass sie dahinter ein Röntgenblick verbirgt, der alles und jeden durchdringt. Doch außer zähnefletschenden Ungeheuern finde ich nichts. Ich werde wütend und schleudere die Hefte von mir. Sie fliegen wie aufgescheuchte Vögel durch die Luft und landen unsanft auf meinem Bett. Da sehe ich es. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich aufspringe und zu dem obersten Comic stürme. Und tatsächlich! Da! Auf der Rückseite, ganz klein gedruckt: „Captain Kitty! 075_24_56“
Grummelnd kratze ich mit dem Finger über die Anzeige. Zwei Zahlen sind nicht zu erkennen, verklebt mit etwas, das wie Erdbeermarmelade aussieht. Ich kann so viel wischen wie ich will- die Zahlen bleiben rosarot unsichtbar. Aber so schnell gebe ich nicht auf! Ich werde Captain Kittys Geheimnis lüften!
Schnell schnappe ich mir meinen Rucksack, werfe einen Stadtplan, den Comic und eine halbleere Flasche Apfelsaft hinein. Dann flitze ich aus meinem Zimmer in die Küche, wo ich mir schnell zwei Stullen schmiere. Auf dem Kühlschrank liegt Mamas Handtasche. So vorsichtig wie möglich schiebe ich meine Finger in den kleinen Spalt zwischen Taschenrand und Verschluss und krame in der Tasche. Meine Ausbeute besteht aus viel Kleingeld, ein paar Fusseln und einem alten Bonbon, das ich mir lächelnd in den Mund schiebe.
Jetzt wird es aber Zeit! Ich mache mich auf den Weg zur nächsten Telefonzelle- Mama hat mir verboten, von zu Hause aus so viel zu telefonieren. „Zu teuer“, keift sie immer, wenn ich nach dem Hörer greife, um Klingelstreiche zu machen.
Eine Weile probiere ich wahllos Zahlen aus, doch nach einigen Fehlversuchen, packe ich ein Marmeladenbrot aus und tunke einen Finger hinein.
Krakelig schreibe ich die Zahlen von eins bis neun an die Zellenwand. Danach habe ich nur noch ein Butterbrot- ohne Marmelade.
Zum Glück dauert es nicht lange, bis ich jemand passenden erreiche.
„Hallo!“, meldet ein freundlich klingender Mann sich am anderen Ende der Leitung.
Nervös wickele ich die Schnur des Telefons um die Finger, dann hole ich tief Luft und bringe meinen Text hervor:
„Ist da Captain Kitty?“
Der Mann lacht ein wenig, dann antwortet er mir.
„Nein, natürlich nicht! Seit wann haben Katzen Telefone? Aber weißt du was Kleine? Ich kenne Captain Kitty, sehr gut sogar. Was willst du denn von ihm? Er ist nämlich sehr beschäftigt, musst du wissen.“, erklärt er und ich nicke, obwohl er das natürlich nicht sehen kann.
„Ich… ich bin Mai und… also ich habe neunundzwanzig Comichefte von ihm und ich würde gerne wissen, wer er wirklich ist. Ich habe alle gefragt, aber keiner weiß es.“ Nachdem der wichtige Teil heraus ist, atme ich erleichtert auf. Jetzt hieß es Daumen drücken.
„Mh Mh. Gut, Maya, kennst du die Steinbergstraße? Die mit dem Friseur? Captain Kitty und ich wohne in der 5a. Magst du vorbeikommen?“, fragt er und ich bejahe eifrig. Hastig krame ich das zweite Brot hervor, lasse dabei Stadtplan und Comic fallen, hebe beide wieder auf und schreibe mir die Adresse mit Marmelade auf das Heft. Captain Kitty und die Steinbergstraße 5a lautet nun der Titel. Grinsend verstaue ich beides wieder.
„Ok, bis gleich!“, rufe ich noch in den Hörer, dann knalle ich ihn auf die Gabel und verlasse summend die Telefonzelle. Wo die Steinbergstraße liegt, weiß ich, bis dahin muss ich gerade mal zehn Minuten laufen. Umso näher ich dem Zuhause von Captain Kitty komme, desto aufgeregter werde ich, in der benachbarten Straße muss ich eine Pause machen, um erst mal durchzuatmen. Vor lauter Vorfreude bin ich fast gerannt, ich habe Seitenstechen und bin ganz aus der Puste. Doch ich gehe trotzdem weiter. Schritt um Schritt komme ich der Wahrheit um Captain Kitty näher. Steinbergstraße 2. Steinbergstraße 2a. Steinbergstraße 4. Mir fällt auf, dass ich die Straßenseite wechseln muss. Steinbergstraße 3. Steinbergstraße 5. Das nächste Haus ist ein mehrstöckiges Wohnhaus. Es ist in einem hässlichen gelb gestrichen. Ich rümpfe die Nase. Eigentlich hatte ich ein Schloss, ein fliegendes Schiff oder zumindest eine Villa erwartet. Das hier war enttäuschend!
Misstrauisch prüfe ich die Klingelschilder. Schmidt. Maier. Baumert. Keinen kenne ich. Beinahe hätte ich aufgegeben, als mir etwas einfiel. Ungeduldig zerre ich an meinem Rucksack und krame das verklebte Comicheft heraus. Durch die Marmelade ist das Titelblatt fast unleserlich, doch dort. Ganz klein steht es da. Mike Mess. Der Autor! Natürlich! Er war gut mit Captain Kitty befreundet, vielleicht wohnte dieser sogar bei ihm? Ich sah erneut die Klingeln an. Mess!
Lächelnd drückte ich den Knopf runter und hielt ihn gedrückt. Fast sofort öffnet sich die Tür und ich stürme ins Treppenhaus. Gleich im ersten Stock ist eine Tür offen, darin steht der freundliche Mann, dessen Foto in meinen Comics prangt. Mike Mess!
Er winkt mich herein, ohne zu zögern trete ich über die Schwelle, er schließt die Tür.
„Bist du das Mädchen vom Telefon? Das ging ja schnell!“, wundert er sich und lächelt mich breit an. Ich grinse zurück und stecke den Comic wieder in meinen Rucksack. Vielleicht würde ich es zuhause einrahmen.
„Ja! Die bin ich! Wohnt hier Captain Kitty?“, will ich sofort wissen und luge in den unordentlichen Flur.
„Klar! Komm mit ins Wohnzimmer, da liegt er meistens auf der Fensterbank.“, sagte Mike und führt mich in ein ebenso zugemülltes Wohnzimmer, in dem ein solches Chaos herrscht, dass ich die schlafende Katze kaum bemerke. Sie liegt unbemerkt auf dem kleinen Vorsprung vor dem Fenster, zwischen alten Comics, Gläsern und einem bunten Durcheinandern von Stiften und Papier. Ich will näher heran treten um den Kater mit Tigermuster näher zu betrachten, doch Mike hält mich sanft an der Schulter zurück.
„Pscht. Er schläft doch. Du darfst ihn nicht wecken, er ist noch ganz müde von seiner letzten Heldentat. ", flüstert er mir verschwörerisch zu und zwinkert. Ich starre ihn verwundert an, dann ziehe ich eine Schnute.
„Warum sieht er denn so langweilig normal aus?!“, will ich wissen und verschränke trotzig die Arme. Dieser sogenannte Autor ist mir egal, ich hatte dieses Abenteuer nicht erlebt um hier zu scheitern! Ich will Captain Kitty treffen!
Er seufzt und geht in die Knie, sodass er mir direkt in die Augen sehen kann.
„Hör mal, Kleine. Captain Kitty ist genau wie jede andere Katze oder jeder andere Kater auch.“, sagt er und lächelte mich an. Verständnislos funkele ich zurück.
„Was ist dann besonderes an ihm? Er ist Captain Kitty- natürlich ist er anders als die anderen Katzen!“, empöre ich mich, wütend, dass er meinen Held einfach so beleidigt. Dieser gähnt plötzlich, streckt sich und springt elegant von der Fensterbank. Ohne mich eines Blickes zu würdigen stolziert der Tigerkater zur Tür hinaus. Ich schaue ihm fassungslos nach.
„Hey.“, ruft Mike meine Aufmerksamkeit zu ihm zurück. Ich sehe ihn schief an, mir fällt auf, dass er ziemliche Segelohren hat. Vielleicht kann er fliegen, wenn er nur von einem hohen Dach springt. Dann würde die Luft ihn auffangen und mit sich tragen. Oder er würde untern aufschlagen und genau das wünschte ich ihm im Moment.
„Mach dir keine Sorgen. Captain Kitty ist jemand besonderes. Aber er ist nicht nur dieser Tigerkater.“, erklärt er mir ruhig. Mit großen Augen erwidere ich seinen Blick.
„Aber was ist er dann?“, will ich wissen.
Er hebt die Hand, streckt seinen Zeigefinger aus und tippt mir leicht auf die Stirn.
„Na das ist er! Er ist da oben drin. Und hier drin.“ Er tippt auf die Stelle, wo mein Herz liegt. Dann steht er auf und streckt sich, ähnlich wie der Kater vor ihm.
„Jetzt musst du aber gehen. Ich wette deine Mutter macht sich schon Sorgen. Und keine Angst- Captain Kitty kann jeden von uns retten, wenn wir nur fest genug daran glauben. Aber besuchen kannst du ihn nicht, er ist schließlich bei dir, oder?“
Verschmitzt lächelnd wartet er auf eine Antwort, doch ich schweige. Ich habe ihn nicht ganz verstanden, was ich aber auch nicht sagen möchte. Also lasse ich mich widerstandslos zur Tür führen.
„Tschüss! Du kannst mich gerne mal wieder besuchen, Kleine“, verabschiedet Mike sich von mir. Ich nicke nur und winke.
Sekunden später schlägt die Tür hinter mir ins Schloss. Verwirrt lehne ich mich an die Wand daneben und esse mein Butterbrot. Es schmeckt nur noch ein wenig nach der süßen Marmelade. Dann mache ich mich auf den Weg nach Hause, das zerschundenen Comic fest in der Hand. Inzwischen war es dunkel geworden und ich musste mich ziemlich beeilen, Mama hatte sicher schon bemerkt, dass ich fort gewesen war. Gerade wollte ich in die Straße einbiegen, in der unser kleines Haus stand, als ich etwas höre. Ein Fluch, ein Scheppern. Erschrocken fahre ich herum und suche die Dunkelheit ab. Natürlich sehe ich nicht viel, aber Angst habe ich keine- schließlich ist Captain Kitty sicher nicht weit. In diesem Moment schiebt sich ein kleiner Schatten vor das Licht eine Straßenlaterne. Es ist der einer Katze. Lächelnd winke ich ihr zu, doch da ist sie schon wieder verschwunden. Verwirrt versuche ich mich in der Dunkelheit zu Recht zu finden, doch das einzige, was ich erkennen kann, ist das diffuse Licht der flackernden Straßenlaterne. Ich kneife die Augen zusammen.
Plötzlich knallt etwas direkt neben meinem Ohr, ich kreische erschrocken auf und beginne in zu rennen- ohne zu sehen wohin. Ein schauriges Lachen prallt von den Wänden um mich herum ab, wird hin und her geworfen hallt ihn meinen dröhnenden Ohren.
Ich schaudere und renne noch schneller, ich weiß zwar nicht, was mich da verfolgt, aber aus den vielen Comicheften weiß ich, dass Captain Kitty es normalerweise mit Monstern zu tun hat. Vielleicht erfolgt mich jetzt einer seiner Gegner. Und vielleicht mochte dieser Gegner Marmeladenbrote ohne Marmelade? Während ich renne, versuche ich meinen Rucksack aufzuziehen, kein Chance, der Reißverschluss scheint zu klemmen. Langsam bekomme ich Panik, auf einmal spüre ich einen Ruck, der durch meinen Körper geht und ich falle hin. Weinend kauere ich mich auf dem Boden zusammen und halte mir das aufgeschlagene Knie. Meine Augen zucken umher und suchen etwas, ein Hinweis darauf, dass ich nicht alleine in der Dunkelheit bin.
Wimmernd werfe ich den Kopf herum. Ich habe schreckliche Angst, doch ich hoffe noch immer darauf, dass Captain Kitty mich retten kommt. Aber was, wenn er gerade jemand anderem helfen muss? Jemandem, der nicht immer Kleingeld aus der Tasche seiner Mutter stiehlt, jemandem, der nicht heimlich fern schaut, sobald die Eltern aus dem Haus sind.
Ein Schnauben direkt neben meinem Gesicht lässt mich erstarrten. Warmer Atem streift meine Wange. Ich wage es nicht, mich zu rühren. Hoffentlich sprengt mein pochendes Herz nicht meinen Oberkörper.
Bevor ich etwas tun kann, ertönt ein dumpfer Schlag, ein aufjaulen und ein Geräusch, als ob etwas schweres zu Boden falle.
Dann kann ich wieder sehen. Blinzelnd wende ich mein Gesicht der Lichtquelle zu, schluchze noch ein wenig und wische mir die Tränen weg. Ein breites Lächeln erhellt mein Gesicht, als ich meinen Retter erkenne. Ein dünner, zerzauster Kater steht vor mir, eine brennende Laterne in der Hand. Sein eines Auge ist unter einer Augenklappe verborgen, einige Narben durchziehen sein getigertes Fell, das an einigen Stellen fehlt. Insgesamt macht er eine eher zerschundenen und räudigen Eindruck als auf den Titelbildern meiner Hefte.
„Bist du… Captain Kitty?“, frage ich schüchtern. Seine gelben Augen fixieren mich und er schnaubt verächtlich- soweit Kater das können.
„‘türlich! Was hast du denn erwartet, Kleine? Einen jungen, prächtigen Kater, voller Energie und Muskeln?“, fragt er und klingt anders als ich erwartet habe. Eher wie mein Opa, wenn er sich über die hohen Tabakpreise aufregt, nicht wie mein strahlender Held. Einen Moment lang bin ich enttäuscht, doch dann sehe ich das riesige, tote Monster, dass neben ihm liegt.
„Wow! Wie hast du das denn gemacht? Mit deiner Tigerkralle? Oder mit dem doppelten-“, will ich aufgeregt wissen, meine Stimme überschlägt sich fast, doch Captain Kitty winkt ab.
„Noch so ein kleines Mädchen, das nur Mikes Comics liest. Ich nehme an du kommst gerade von ihm? Er hat die Angewohnheit mir komische Kinder zu schicken.“, murrt der Kater, drückt mir die Laterne in die Hand und lässt sich wieder auf alle Viere sinken.
Verständnislos starre ich ihn an. Tränen treten mir in die Augen, aber ich schlucke sie hinunter und atme tief durch.
„Also, ich will nur nach Hause. Kannst du mir helfen?“, frage ich kleinlaut und schaue auf den alten Kater hinab.
Dieser zuckt amüsiert mit der Schwanzspitze.
„Glaubst du, du bist noch in deiner Welt? Oder gibt es da Monster? Du bist jetzt hier bei mir. So peinlich das auch ist, aber ich brauche deine Hilfe, hörst du?“, erklärt er und durchlöchert mich mit seinem gelben Blick. Verwundert sehe ich ihn an. Dann setzte ich mich einfach dorthin, wo ich gerade noch stand und reiße meinen Rucksack auf. Unter dem fassungslosen Blick des Kater hole ich mein zweites ehemaliges Marmeladenbrot heraus und beginne es zu essen.
„Wie denn? Du machst einfach eine Pause??“ Captain Kitty springt auf und faucht mich an. Ich lasse mich nicht aus der Ruhe bringen. Ich muss nachdenken. Der Autor Mike Mess, der mit den Segelohren hat mich in eine Welt geschickt, in der Captain Kitty gegen Monster kämpft. Captain Kitty ist ein alter, mürrischer Kater der mich an Opa erinnert. Und er will meine Hilfe. Aber warum? Was Mama wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass ich nicht nur abgehauen war, sondern auch noch in einer anderen Welt? Ich kicherte bei der Vorstellung an ihr böses Gesicht.
„Also, wobei brauchst du meine Hilfe, Captain?“, frage ich den Kater neugierig, der sich inzwischen neben mich gesetzt hat und wartet, bis ich mit dem Brot fertig bin. Er schaut auf, dann erhebt er sich, stellt sich wieder auf seine Hinterbeine und erklärt:
„Ich bin schon ein wenig zu alt für den Job, weißt du, Kleine? Ich würde mich gerne zur Ruhe setzten, eine netten Katzendame treffen und so weiter. Aber dafür brauche ich einen Nachfolger- oder eine Nachfolgerin. Und du sollst das sein!“ Er grinst mich an- zumindest glaube ich, dass er das tut, bei einer Katze ist das immer etwas schwer zu beurteilen. Ich bin völlig baff. Ich?! Ich soll den großartigen Captain Kitty ersetzten?
„das ist… das wäre… das wäre wunderbar!“, rufe ich und drücke ihn fest an mich. Der Kater sträubt sich empört und faucht, also lasse ich ihn lieber wieder los, bevor er die Krallen ausfahren kann. Sichtlich verlegen rückt Captain Kitty seine Augenklappe gerade.
„Aber… ich bin doch gar keine Katze!“, fällt mir plötzlich auf und ich schaue ihn entsetzt an. Bei meinem Gesicht mauzt er fröhlich.
„Wie heißt du denn Kleine?“, will er wissen, seine Stimme ist schon ein wenig freundlicher. Stolz richte ich mich auf. „Mai!“
Er nickt. „Gut Mai. Eben weil du keine Katze bist, wollen wir dich ja in eine verwandeln. Allerdings müssen wir dafür erst einmal den Gelehrten befreien. Er wird von den Mäusen gefangen gehalten, wahrscheinlich wegen irgendeiner Fallenproblematik. Wer weiß das schon. Jedenfalls kann nur er dich in eine Katze verwandeln.“
Ich staune nicht schlecht. „Er wird von Mäusen gefangen gehalten? Aber die sind doch…“
„… viel zu klein?“, schlägt Captain Kitty belustigt vor, „In deiner Welt vielleicht. Hier ist vieles anders. Du wirst dich daran gewöhnen.“
Sein grau-schwarzes Fell sieht im Licht der Straßenlaterne noch stumpfer aus, an der wir vorbeihuschen um unbemerkt in den Untergrund zu kommen. Keine zehn Meter entfernt öffnet der Captain einen alten Gully und bedeutet mir, hineinzuklettern. Ich starre ihn entgeistert an, doch er deutet nur in das tiefschwarze Loch hinab. Also klettere ich hinunter, schließlich will ich ihm in nichts nachstehen.
In der Kanalisation stinkt es nach Abwasser und Algen, der Captain hustet. „Mai, mein Kind, sie so lieb und gib mir doch meinen Hut wieder.“, bittet er mich.
„Welcher Hut?“, frage ich verwirrt und schaue ihn schief an. Vielleicht hat das Monster ihm den Schädel eingeschlagen.
„In deinem Rucksack natürlich, dummes Mädchen!“, faucht der Captain, obwohl ich ihn für verrückt halte, schaue ich nach, damit er nicht noch wütender wird. Und tatsächlich. Zu meinem großen Erstaunen ziehe ich einen riesigen Schlapphut aus meinem kleinen Rucksack, zudem einen ziemlich kleinen Gürtel und einen ebenso kleinen Säbel. Der Captain nimmt mir alles ab und Sekunden später sieht er genauso aus, wie in meinem einem Comic, in dem er ein Pirat wird.
Mit bewundernden Seitenblicken folge ich ihm den schmalen Weg entlang, der am Rand des Flusses an der Wand liegt. Neben mir rauscht das Abwasser vorbei, die runde Decke kann ich kaum erkennen, dazu ist die Laterne zu schwach. Angeekelt halte ich mir die Hand vor Nase und Mund.
Umso weiter wir in die Kanalisation vordringen, desto düstere und stinkiger wird es. Plötzlich bleibt Captain Kitty wie angewurzelt stehen und bedeutet mir, still zu sein. Ich erstarre und schaue mich ängstlich um. Der Captain löscht unser Licht und wir stehen in absoluter Dunkelheit da. Doch nicht lange. Um die Ecke auf der anderen Seite des reißenden Flusses biegt ein tanzender Lichtschein, in dem sich riesige, grauenvolle Schatten tummeln. Sie fliegen über die Tunnelwand und ihnen folgen ihre Besitzer. Riesige, dunkelgraue Mäuse, eine jede so groß wie ich, mit hässlichen, gelben Schneidezähnen. Eine jede von ihnen trägt eine brennende Fackel.
Der Captain und ich drängen uns dichter an die schleimige Wand. Ich höre auf zu atmen, aus Angst die Monstermäusekönnten mich hören. Es sind an die zehn Mäuse, in der Mitte der Prozession gehen zwei, die jeweils ein Seil in den Klauen halten. Mit den vier Seilen ist eine kleine Gestalt gefesselt, die zwischen ihnen geht.
Ich kneife die Augen zusammen und erkenne einen kleinen Kater, der müde den Kopf hängen lässt. Seine Vorderpfoten sind aneinander gebunden, er muss aufrecht zwischen den Nagern gehen.
Der Captain neben mir spannt sich an, dann drückt er mir etwas in die Hand. Ich starre es an. Ein Seil, mit einem Haken am Ende. Verwirrt schaue ich zum Captain auf, dessen gelbe Augen im Fackelschein leicht leuchten. Er deutet auf eine Leiter, die rechts von ihm in die Höhe führt.
Ich beobachte voller Spannung, wie er die ersten Stufen erklimmt, bis er knapp unter der Decke des Tunnels steht. Jetzt hätte ich gerne ein Marmeladenbrot.
„Folge mir.“, raunt der Captain. Im nächsten Moment wirf er seinen Enterhaken- denn nichts anderes ist es- über den Fluss und schwingt sich mit einem lauten Schrei hinüber. Die Mäuse quietschen überrascht auf und ich mache mich schnell daran dem Captain zu folgen. Mein erster Einsatz an der Seite meines großen Vorbildes! Bevor ich Angst bekommen kann, schwinge ich mich schon über den Fluss und lande inmitten der Mäuse. Sie riechen nach Käse und Algen.
Bevor eine von ihnen reagieren kann, habe ich die ersten drei schon in den Fluss geschubst, wo sie wimmernd mitgerissen werden. Captain Kitty hat den anderen Kater befreit und gemeinsam haben sie schon fast die gesamte Prozession ins Wasser geworfen.
Kurz darauf sind alle Mäuse entweder geflohen oder nass geworden- sogar sie trauen sich nicht gegen Captain Kitty anzutreten, auch hier unten ist sein Ruf beachtlich.
„Kommt, weg von diesem Ort. Wir können anderswo reden.“, sagt der Captain und wir brechen auf, zurück an die Oberfläche.

Später sitzen wir auf einem Dach und sehen über die nächtliche Stadt. Hier und da fliegen Monster vorbei, doch in Captain Kittys Nähe fühle ich mich sicher. Der andere Kater ist noch jung, sein rotes Fell ist seidig glänzend und er hat einen kleinen schwarzen Fleck auf der Stirn. Außerdem trägt er eine Brille, was ich zuerst auch nicht glauben konnte.
Sein Name ist Julius, doch alle nennen ihn nur den Gelehrten, da er ein sehr weiser Kater ist, wie der Captain mir zugeraunt hat.
Jetzt sieht Julius mich über seine Brille hinweg forschend an, das tut er schon eine ganze Weile und langsam wird es mir unangenehm. Gerade will ich etwas sagen, als der junge Kater sich räuspert, die Brille hochschiebt und mit den Schnurrbarthaaren zuckt.
„Du sollst also Kittys Nachfolgerin werden, Kleine? Und dazu musst du natürlich eine Katze werden…“ Er streicht sich mit der Pfote über die Schnauze und ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich antworten soll oder nicht. Ein wenig erinnert er mich an den verzogenen Kater der Nachbarin, der nur Sahen frisst und dementsprechend fett ist. Doch der Captain bedeutet mir abzuwarten. Schließlich setzt Julius sich auf.
„Es ist eine einfache Zeremonie, die dich in eine Katze verwandeln kann. Willst du das denn?“, fragt er und schaut mich mit seinen stechenden, orangenen Augen direkt an. Ich erwidere seinen Blick ahnungslos und lächele ein wenig. Dazu nicke ich begeistert. Nichts wollte ich mehr als Captain Kittys Nachfolgerin zu werden. Ich sah mich schon mit einem Umhang gegen ein Monster kämpfen, dass mir hoffnungslos unterlegen war und ich war dabei zu gewinnen…
Julius unterbrach meine Gedanken.
„Ist dir klar, dass du dann niemals wieder in deine Welt zurückkehren kannst? Du wirst deine Mutter und deine Freunde nie wieder sehen können.“, sagt er auf seine ruhige Art. Ich sehe, wie Captain Kitty mich traurig ansieht.
Fassungslos sehe ich die beiden an. Meine Mama nie wiedersehen? Die Entscheidung ist schrecklich schwer, obwohl mir eigentlich klar ist, was ich tun werde. Nur wäre ich so gerne auch eine Captain Kitty geworden. Plötzlich dachte ich wieder Mikes Worte, Captain Kitty sei in jedem von uns. Dann wird mir klar, dass ich auch so schon Captain Kitty sein konnte.
„Captain.. Es tut mir Leid, aber ich will lieber wieder nach Hause, zu meiner Mama.“, sage ich und schaue bedrückt auf meine Schuhe. An ihnen klebt noch immer der Dreck aus der Kanalisation. Einen Moment war alles still, dann schnurrt Captain Kitty leise. „Ach, ich wusste schon, wie du dich entscheiden würdest, kleine Mai. Keine Sorge, ich bin dir nicht sauer. Julius, ich denke es ist an der Zeit, unsere Heldin hier zurück zu schicken, meinst du nicht?“
Er wendet sich an Julius, der die Szene ungerührt beobachtet hat. Als der Captain ihn ansieht, nickt er nur.
Captain Kitty wendet sich mir zu und lässt zu, dass ich ihn kurz umarme. Dann lächelt er mir schief zu (oder er hat er etwas zwischen den Zähnen, so genau weiß man ja nie was Katzen denken) und winkt ein letztes Mal. Ich lächele breit zurück, dann greife ich nach Julius Pfote, die er mir entgegengestreckt.

Ich fahre aus meinem Bett. Ich sehe mich um. Mein Zimmer. Eindeutig keine Monsterratten oder Abwasserkanäle oder Katzen mit Brillen oder Augenklappen. Ich seufze enttäuscht- es war wirklich nur ein Traum. Vor Wut beginne ich fast zu weinen, doch dann reiße ich mich zusammen. Meine Begegnung mit dem Segelohrmann war wahrscheinlich noch Wirklichkeit gewesen, aber wie war ich dann zurück in mein sicheres Bett gekommen? Ich weiß es nicht mehr. Traurig schlage ich die Decke zurück und stehe auf. Ich trage meine Klamotten noch. Wie komisch.
Erst dann wird mir klar, dass ich etwas in der Hand halte. Verwundert öffne ich sie. Ein kleines Büschel schwarz- grauen Katzenfells. Begeistert stolpere ich zu meinen Schuhe, die wie immer neben dem Bett stehen und schaue unter die Sohle. Kanalisationsschlamm!
Lächelnd richte ich mich auf, dann mache ich mich daran, meine Captain Kitty Hefte zu sortieren. Es war also doch kein Traum.
Was ich nicht bemerke, ist die räudige Katze die draußen, vor dem Gartentor, sitzt und schnurrt. Ein Geräusch lässt sie aufsehen, die feinen Ohren spitzen und den Kopf drehen. Eines ihrer Augen ist ausgeschlagen, in einem Kampf vielleicht, nur eine lange Narbe prangt in ihrem Gesicht. Um die Ecke kommt ein kleiner, roter Kater getrottet, mit schwarzen Fellzeichnungen um die Augen. Sie erinnern ein wenig an eine Brille. Die Katzen begrüßen einander. Dann springen sie zusammen auf eine niedrige Mauer und verschwinden.

Erst viel später begriff ich, was Mike mir sagen wollte. Und er hatte wohl Recht. Captain Kitty, der Abenteurer und Weltenbummler, der Held, kann alles und jeder sein. Also auch eine Kater mit Augenklappe, oder?

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Tag der Veröffentlichung: 29.05.2012

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