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Als er das Taxi wegfahren sah, trat ein Lächeln auf sein Gesicht. „Endlich ist es vorbei“, dachte er bei sich und wandte sich von der Straße ab. Mit klar bemessenden Schritten ging er geradeaus. Die abgewetzten, schwarzen Dr. Martens trugen ihn genau dahin, wo er hinwollte. Nach vorne. Mit einem einzigen, letzten Satz trat er über die Grenzen und fiel von der Brücke, hinunter in die vorbeiflitzenden Autolichter.

„Ich liebe dich.“
Bam, jetzt war es draußen. Er hatte es geschafft. Oder eher gesagt- meinte es geschafft zu haben. Sie sah ihn nicht einmal an, starrte einfach weiter in den strömenden Regen und lauschte ihrer Musik. Irgendwas trauriges, wahrscheinlich eine weibliche Sängerin. Das wusste er intuitiv, es stand ihr praktisch ins Gesicht geschrieben. Er seufzte und richtete sich wieder auf. Wischte sich den Dreck von der Hose. Warf einen letzten, mitleidigen Blick auf das Menschenmädchen, wandte sich ab und ging davon. Es war doch jedes Mal dasselbe. Wie konnte es so schwer sein, jemanden zu finden, der ihn ansah. Einfach nur ansah.
Gelangweilt ging er durch den Regen. Kein einziger Tropfen berührte seine Haut. Sein alter, schwarzer Mantel war staubknochentrocken. Für die Schönheiten der Natur in dem herrschaftlichen Anwesen hatte er kein Wimpernzucken über. Er ging einfach seinen Weg. Wie seit sechs Jahren. Seit sechs unendlich langen Jahren.
Begonnen hatte all das mit einem sechzehn jährigem Jungen. Einem fliegenden Jungen. Zumindest für einige Sekunden war er geflogen. Für einige Sekunden hatte man ihn gesehen. Hatte ihn jemand angesehen.
Und jetzt war er tot.
Man hätte ihm ja wenigstens sagen können, dass sein letzter Wunsch nach seinem Tod noch auszuführen war. Von ihm. Wundervoll. Seit sechs Jahren suchte er nun ein menschliches Mädchen das ihn ansah, ihn wahrnahm.
Allerdings war er ein Geist. Was so viel hieß wie unsichtbar. Ein ironisches Lächeln zuckte über seine Wangen, er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, schloss die Augen. Im nächsten Moment stand er auf der Hauptstraße, oder besser gesagt daneben. Die Gewohnheit mitten zwischen den Autos zu landen hatte er schon längst hinter sich gelassen, es war einfach unangenehm. Er vergrub die Hände in den Taschen und mischte sich unter die Menge.
Hier und da sah er auf und musterte eines der vorbei gehenden Mädchen, doch keine interessierte ihn besonders. Nur selten sah er eine, die die Richtige sein könnte, doch jedes Mal wurde er enttäuscht. Hätte er auch nur die geringste Masse gehabt, hätte ihn das morgendliche Gedränge gestört, aber da er unsichtbar war… erübrigte sich das.
Plötzlich spürte er einen Schlag an der Schulter und ging zu Boden. Panisch sah er auf, doch über ihm zog wie immer nur der träge Strom der Masse vorbei. Langsam rieb er sich die Schulter. Eine Mischung aus kalten Entsetzten und prickelnder Freunde hatte ihn erfasst. Jemand hatte ihn berührt. Hastig sprang er auf und sah sich um. Alles normal. Graue Mäntel, weiße Atemwolken in der Luft. Er rannte einfach los. Rannte. Seine Füße trommelten auf den Boden, er brauchte nicht einmal seine Arme um durch die Massen zu kommen, sondern rannte einfach durch die Menschen hindurch. Das war zwar etwas unangenehm, aber das bemerkte er heute nicht.
Er rannte. Rannte einfach nur, schloss die Augen und rannte.
Bis er stolperte. Einen Moment schwankte er noch, dann fiel er mit dem Gesicht voraus auf den Bürgersteig.
„Pass auf wo du hinläufst, Kleiner.“, knurrte eine ihm wohlbekannte Stimme. „Tschuldige, Jocking.“, grummelte er zurück und stand zum zweiten Mal an diesem Tag auf. Vor ihm stand eine Geisterfrau, ihre Einkauftasche wütend geschultert. Er spähte an ihr vorbei, auf der Suche nach der unbekannten Anremplerin, doch keine Spur war zu sehen.
„Du schon wieder.“, stellte Jocking fest und beugte sich leicht vor, bis ihre Nasenspitzen sich fast berührten- nicht, dass sie das könnten. Seufzend zuckte er die Schultern. „Ja, ich. Hör mal, ich habe es echt eilig. Kam hier ein Mädchen vorbei?“, fragte er abwesend und wich einige Schritte zurück. Jocking starrte ihn einen Moment irritiert an, dann begann sie schallend zu lachen. „Kleiner, bist du immer noch auf der Suche nach deiner Erlösung? Du weißt eh, dass das nie passieren wird. Und hier kommen täglich Millionen von Mädchen vorbei.“, spottete sie und setzte sich mit einem Ruck zurück auf den Boden. Dort saß sie schon wer- weiß- wie- lange, da ihr Mann sie und ihre Einkäufe noch immer nicht abgeholt hatte. Was auch unmöglich war, da er tot war.
Er beachtete sie gar nicht weiter, sondern drängte sich vorbei, rannte weiter.
„Warte! Hier kam wirklich Eine vorbei. Und zwar ziemlich schnell. Dort lang.“ Jockings Schrei hallte ihm hinterher, doch er hatte keiner Zeit sich um zu drehen, denn genau vor ihm stand sie.
Erstarrt blieb er stehen.
Sie sah ihm direkt in die Augen, kein Irrtum.
Er schaute zurück.
„Hallo.“
Mehr brauchte es nicht.
Dann wandte sie den Kopf ab und ging weiter. Verschwand in der Menge.
Und er stand dort. Noch immer versteinert. Bis etwas in ihm sich endlich regte. Bis etwas in ihm die Kraft fand zu schreien:
„Warte!“
Tatsächlich, entgegen all seinen Vermutungen, blieb sie mitten in der Menge stehen, drehte sich aber nicht um. Mit wenigen Schritten stand er vor ihr.
„Ich habe dich gesucht! Und jetzt habe ich dich gefunden!“, sagte er. Sah sie an. Ein dünnes Mädchen, ein schmales Gesicht. Trotz der Angst in ihren Augen war sie auf ihre Art schön. Er wusste schon was nun passieren würde. Sie würde ihn wieder ansehen, lächeln und sie würden zusammen weggehen. Irgendwohin.
„Geh weg. Geh weg. Dich gibt es gar nicht. Geh weg.“, flüsterte sie so leise, dass er die Worte von ihrem Lippen lesen musste. Er musste sich verhört haben.
„Ja, ich weiß, das kommt etwas überraschend. Wir können auch gerne erst mal einen Kaffee trinken gehen oder so. Magst du Kaffee? Also ich kenne da ein Lokal…“, begann er beherzt doch sie unterbrach ihn.
„Dich gibt es nicht, das sagen sie. Dich gibt es doch gar nicht!“, sagte sie, diesmal lauter. Ihre zitternden Finger fanden den Verschluss ihrer Handtasche und holten ein kleines Röhrchen hervor. Bevor er etwas tun konnte, hatte sie den Inhalt schon geschluckt und nur Minuten später breitete sich ein ruhiger Ausdruck in ihrem Gesicht aus. Das Zittern hörte auf. Ihre Pupillen wurden groß, die Augen ruhig, huschten nicht mehr in ihren Höhlen umher.
Er starrte sie an.
Winkte.
Schnippte mit den Fingern
Keine Reaktion.
Langsam hob er die Hand. Und berührte ihre.
Sie glitt durch das Fleisch wie nichts.
Er trat zurück, ein trauriges Lächeln auf den Lippen. Sie hatte ihn gesehen, da war er sich sicher. Sie hatte den bemitleidenswerten, ganz in schwarz gekleideten Jugendlichen mit den feinen, blonden Haaren gesehen. Den Jugendlichen der er vor sechs Jahren gewesen war. Nun wusste er es. Die Erlösung war nicht immer schön. Eine Erlösung konnte auch grausam sein.
Danach war es ganz einfach. Den Weg zurückgehen den er gekommen war. Jocking ignorieren- genau wie die anderen Geister auch-, wie er es immer getan hatte, die Hände in den Taschen, den Kopf gesenkt.
Dann ein Taxi, er musste einfach nur einsteigen, saß dann neben einem dicken, bärtigem Mann, der die ganze Fahrt über unruhig umher rutschte und das sonderbare Gefühl hatte, beobachtete zu werden. Auf der ihm wohlbekannten Brücke ließ er sich einfach aus der geschlossenen Autotür gleiten.
Als er das Taxi wegfahren sah, trat ein Lächeln auf sein Gesicht. „Endlich ist es vorbei“, dachte er bei sich und wandte sich von der Straße ab. Mit klar bemessenden Schritten ging er geradeaus. Die abgewetzten, schwarzen Dr. Martens trugen ihn genau dahin, wo er hinwollte. Nach vorne. Mit einem einzigen, letzten Satz trat er über die Grenzen und fiel von der Brücke, hinunter in die vorbeiflitzenden Autolichter. Doch diesmal wusste er, dass er niemals aufschlagen würde.
Erlösung musste nicht schön sein. Denn Erlösung hieß alleine sein, ein Ende finden. Ein Ende allein.

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Tag der Veröffentlichung: 16.11.2011

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