Ilka sah in die Schlucht hinab. Ihr Haar hing über ihre schmalen Schultern, die nur von einem dünnen Mantel vor dem eisigen Wind geschützt wurden. Sie ließ die Füße baumeln, legte den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund um die kalte Herbstluft zu schmecken. Die meisten Bäume standen bereits kahl da, ihr Laub lag in bräunlichen Klumpen am Boden.
Normalerweise liebte Ilka den Herbst mit seinen bunten Blättern, dem kalten Wind der von dem nahenden Winter erzählte und den morgendlichen Nebel, der feucht an ihren Wangen hing und sich kaum von den weißen Atemwolken in der Luft unterschied. Doch dieses Jahr war alles anders. Sie war anders. Früher hatte ihre Mutter sie Herbstmädchen genannt, wegen ihrer rötlichen Locken und den Schokoladenaugen, doch das tat sie schon lange nicht mehr.
Es ging dem Winter zu. Fröstelnd schob Ilka sich die steifen Hände unter die Achseln um sie wenigstens ein bisschen zu wärmen.
So saß sie eine Weile da, mitten im Wald, ohne sich zu bewegen und starrte nur krampfhaft die Baumwipfel an. Doch sie sah etwas anderes, ihr Blick hing weit fort an einer Erinnerung fest.
Lukas.
Er hatte sie verlassen und eigentlich sollte er kein Thema mehr sein. Eigentlich. Eigentlich hatte Ilka ja auch mit ihm abgeschlossen, sich damit abgefunden ihm nicht mehr zu genügen, bis sich alles änderte. Ob jemand davon wusste, fragte sie sich manchmal, obwohl es unmöglich war. Sie hatte es niemandem gesagt und das würde sie auch nicht tun. Das war ihr Fehler; ihrer ganz allein. Damit musste sie nicht auch noch andere belasten.
Ilka schob sich ein wenig näher an den Rand, linste hinunter. Ein Sprung nur genügte um ihr sämtliche Knochen im Körper zu zerschmettern. Roter Herbst, blutroter Herbst. Einen Moment spielte Ilka ernsthaft mit dem Gedanken, deshalb war sie schließlich hergekommen aber dann wandte sie den Blick doch wieder ab, traute sich nicht.
Wütend biss sie sich auf die Unterlippe. Das alles war Lukas Schuld nur seinetwegen saß sie nun hier, am Boden zerstört und schwanger. Einfach wollte sie es sich machen, springen, den ganzen Irrsinn beenden. Gott sei Dank wussten ihre Eltern nichts, wenn sie erfuhren das ihre sechzehnjährige Tochter schwanger war würde ihre heile Welt zusammenbrechen, da war Ilka sich sicher. Was würden sie wohl den Nachbarn sagen sobald man es sehen würde?
Ein ironisches Lachen entwiche ihren Lippen und verhallte in der dämmerigen Stille des Waldes. Wäre Jenny noch am Leben könnte sie das alles vielleicht überstehen ohne daran zu zerbrechen, aber Jenny war gegangen und hatte Ilka alleine im Herbst zurück gelassen. Ein einsames Blatt segelte an ihr vorbei in die Schlucht. Die Bäume warfen ihr altes Kleid ab um neuem Leben Platz zu machen. So sollte sie es auch halten. Springen, dem Leben nach ihr eine Chance geben.
Ein Windhauch durchfuhr ihr Haar wie ein Einverständnis der Natur. Plötzlich entschlossen rutschen Ilka wieder nach vorne, klammerte sich an eine nahe gelegene Wurzel und lehnte sich vor bis ihr Gewicht ganz auf der linken Hand lag. Entweder würde sie loslassen müssen oder aber der Baum gab nach und ließ sie fallen.
Erschöpft schloss sie die Augen.
Ilka schluckte. Ihre Hand tat noch immer weh und jetzt, im weißen Licht des Krankenhauses sah sie auch die Striemen, die sich wie rote Narben durch ihre helle Haut zogen. Sie hustete und automatisch wanderten ihre Finger zum Bauch. Noch hatte der Arzt ihr nicht gesagt wie es um das Ungeborene stand.
Seit drei Stunden lag sie nun in diesem klinisch weißen Bett und musste den Geruch von Medikamenten und Tod ertragen. Ihre Eltern waren bereits da gewesen, hatten geweint, gehätschelt und entsetzte Blicke getauscht als der Arzt und ihre Tochter ihnen beibrachten, dass die Großeltern wurden. Allerhöchstwahrscheinlich.
Jetzt saß Lukas neben ihr und ließ den Kopf hängen. Nachdem ein ahnungsloser Wanderer sie am Boden der Schlucht gefunden und den Krankenwagen verständigt hatte, riefen ihre Eltern ihn an um ihrer Tochter 'beizustehen', wie sie es nannten.
Ilka verfluchte sich selbst dafür das sie sich vertan hatte. Sicherlich, der Sprung hatte ihr einige Knochen gebrochen aber nicht die wichtigsten.
„Ilka, ich…“, begann er und hob den Blick, sah sie an, doch sie wandte schnell die Augen ab, wollte die Angst in seinem Gesicht nicht sehen. Sie musste Angst haben, sie ganz alleine. Sie war schwanger nicht er. Er hatte sie nur sitzen gelassen.
„Jetzt hör mir doch zu, verdammt nochmal! Es tut mir Leid ok? Es tut mir Leid, dass ich dich verlassen habe aber die Sache mit deinem… unserem Kind ändert natürlich alles.“, brach er hervor und stand ruckartig auf. Er funkelte sie an, Tränen in den Augenwinkeln. Mitleidig schaute Ilka zu ihm hoch dann sah sie aus dem Fenster. Kahle Bäume standen davor, alle Blätter waren fort.
Da durchfuhr es sie. Wie dumm sie gewesen war. Sie konnte nicht einfach ihr Leben beenden nur weil sie unzufrieden war. Es ging nicht nur um sie. Es ging um ihr Kind. Es war das neue Wesen dem sie eine Chance geben musste.
Mit einem Lächeln auf den Lippen sah sie wieder zu Lukas auf, der sie flehend musterte. „Danke. Danke, dass du da warst. Aber… Wie du schon sagtest, hast du mich abserviert und ich denke damit ist es nicht mehr unser Kind, sondern meines.“, sagte sie mit rauer Stimme und fühlte das es richtig war.
Der Winter konnte kommen.
Tag der Veröffentlichung: 07.10.2011
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