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Das nasse Grab

 

 

 

Sie schob den Vorhang leicht auseinander. Nur soweit, daß sie ein gutes Blickfeld hatte und andererseits nicht gesehen werden konnte, denn sie wollte, nein, sie mußte wissen, was ihr Nachbar um diese Zeit dort trieb.

Sein Garten zeugte nicht von eifriger Arbeit, glich eher einer Wildnis und nun auf einmal wurde er aktiv. Den ganzen Tag lang hob er ein großes Loch aus. Ein Loch, das selbst für einen Baumsetzling zu groß war.

In ihr drangen finstere Gedanken aus dem Dunkel ihrer Phantasie ins Bewußtsein empor.Statt wie sie den Garten zu pflegen, waren ihre Nachbarn mehr mit Fernsehen und Streiten beschäftigt, wie sie jahrelang aufmerksam registriert hatte.

Gerade gestern noch lagen sie sich lautstark in den Haaren. Gestern ging es hoch her, und heute war es dort mucksmäuschenstill geworden, und er grub ein großes tiefes Loch.

Nun ging er in sein Haus und schleppte kurz darauf etwas heraus, das in eine große Plane gehüllt war. Leider war die Dämmerung schon zu weit fortgeschritten, sodaß sie keine Einzelheiten erkennen konnte, aber ihr gefror das Blut in den Adern.

Als sie sah, wie er das Bündel in das Loch warf, wich sie entsetzt vom Vorhang zurück, ging an ihr Büfett, holte die Glaskaraffe heraus und trank erst einmal zwei Likörchen.Ihre Gedanken rasten und sie wollte die Polizei rufen. Aber dann dachte sie daran, daß sie schon einmal die Nummer gewählt, hatte weil sie den Krach von nebenan nicht mehr ertragen konnte und erinnerte sich an die Reaktion der Polizei damals. Sie behandelten sie wie eine wunderliche Alte und taten gar nichts.

Nein, diesmal würde sie erst einmal abwarten. Der armen ermordeten Nachbarin konnte sie ja eh nicht mehr helfen.Sie trank noch das eine oder andere Likörchen und ging dann zu Bett, fest entschlossen, morgen genau zu recherchierenFrüh am nächsten Tag trat sie wieder vorsichtig an den Vorhang und sah an der Stelle, wo gestern noch das große Loch war, einen neu angelegten Gartenteich.

„Na, so ein gerissener Gauner!“ dachte sie, aber nicht mit mir!Sie bemerkte, daß sein Auto nicht in der Einfahrt stand, beeilte sich mit der Morgentoilette und beschloß, statt eines Frühstücks auf Expedition zu gehen.So stand sie also vor dem Gartenteich, der die sterblichen Überreste der armen Nachbarin nun für immer verbergen sollte.

Sie kniete am Rand des Tümpels nieder und schaute in das noch leere Wasser. Er war sicher in das Gartencenter gefahren, um Wasserpflanzen zu kaufen für das nasse  Grab seiner Frau.

Das klare Wasser bildete in Verbindung mit der schwarzen Teichfolie einen relativ guten Spiegel, in dem sie sich und den blauen Himmel sah.

Da schob sich eine Wolke über die Szene und das Spiegelbild wurde etwas matter. Aber trotzdem, oder gerade, weil die Reflexion etwas eingetrübt war, sah sie etwas, was sie erschrecken ließ.

Es war ihr, nein, sie sah, wie das Gesicht ihrer so furchtbar gemetzelten Nachbarin sie vom Grunde des Teiches anschaute.

Wollte die arme Seele ihr noch etwas anvertrauen?Sie war ganz erregt, aber auch bereit, alles zu tun, um den Mörder zu überführen.

Sie fragte die Erscheinung, ob sie ihr etwas zu sagen hätte.

„Ja“, antwortete diese mit klarer Stimme, „haben Sie an unserem Teich auch wieder etwas auszusetzen?  Und was machen sie eigentlich auf unserem Grundstück?“

Entsetzt sprang sie auf, lief um die Nachbarin, die hinter ihr stand, herum in ihr Haus zum Likörschrank.

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Tag der Veröffentlichung: 07.01.2015

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