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Die Schönheit der Unendlichkeit

„Guten Morgen, Herr Limes-Grenzwert, Sie haben sich bereit erklärt, an unserer Sendung ‚Feuer und Flamme’ teilzunehmen.“

„Ja, Frau Zwischenseh, ich betrachte das als Gelegenheit, den Zuhörern nahezubringen, welcher Enthusiasmus einen Mathematiker mit seinem Fachgebiet verbindet. Der Titel ihrer Sendung passt hervorragend, obwohl die meisten Zuhörer dabei eher an eine Liebesbeziehung denken werden als an Mathematik.“

Fasziniert betrachtet die Radiomoderatorin ihren Gast. Seine Gestik und Mimik sind lebhaft und trotz seiner grauen Haare wirkt er jugendlich. Schade, dass es sich nicht um eine Fernsehsendung handelt, denkt Frau Zwischenseh. Aber das denkt sie bei jeder Sendung.

 

„Herzlichen Dank, dass Sie uns mit dieser speziellen Form der Leidenschaft bekannt machen wollen. Als Mathematikprofessor sind sie ganz bestimmt der richtige Mann dafür.“

„Es ist sicher nicht leicht, die Schönheit und Eleganz mathematischer Beweise einem Laien verständlich zu machen. Obwohl doch manche die tiefe Befriedigung nachvollziehen können, die ein Mathematiker empfindet, wenn er am Ende eines Beweises das ‚quod erat demonstrandum’ darunter setzen kann.“

 

„Das ist sicher vergleichbar mit einem Autor, der das letzte Wort seines Buches schreibt.“

Frau Zwischenseh hat eine angenehme Stimme und redet langsam und verständlich, wie es sich für eine Moderatorin gehört. Doch auch die Stimme ihres Gastes ist recht publikumswirksam.

„Ja, so kann man es formulieren. Etwas Neues zu schaffen, das sich zwingend notwendig aus bereits Bekanntem ergibt und das dennoch niemand zuvor gewusst hat, ist eine kreative Leistung, die man mit dem Schaffen eines Romans durchaus vergleichen kann.“

„Ich denke, das können Sie am besten durch ein Beispiel veranschaulichen.“

Die Methode ist nicht neu, ein Beispiel einzufordern ist gängiger Usus im Geschäft. Doch diesmal ist Frau Zwischenseh wirklich gespannt, was der Herr Professor aus dem Hut zaubern wird.

 

„Ich will es versuchen. Es gibt ein paar wenige Fachgebiete der Mathematik, die durchaus einem ungeschulten Geist verständlich gemacht werden können. So gibt es in der Zahlentheorie sehr tief liegende Sätze, deren Problemstellung auch ein Laie verstehen kann.“

„Nur zu, fordern Sie uns!“, zwitschert die Moderatorin dazwischen. Sie will sich das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen.

 

„Es gibt einzigartige Untersuchungen über die unendlichen Zahlen, die unter Mathematikern im neunzehnten Jahrhundert für Furore gesorgt haben.“

„Davon hab ich schon gehört. Damit verbindet sich der Name Gregor Castor, ja?“ Natürlich muss sie zeigen, dass sie sich vorbereitet hat. Und die unendlichen Zahlen waren vorher abgesprochen, wenn auch nicht im Detail.

 

„Fast getroffen! Georg Cantors Forschungen waren für die damalige Zeit sensationell und sind doch in den Anfängen leicht verständlich. Dazu begeben wir uns auf das Gebiet der Kardinalzahlen, die man als die Anzahl der Elemente einer Menge bezeichnen kann. Sieben ist die einer Menge von sieben Äpfeln zugeordnete Kardinalzahl. Ebenso einer Menge von sieben Birnen.“

„In der Tat, das ist leicht verständlich.“

 

„Bei endlichen Mengen gab es auch noch nie ein Problem mit den Kardinalzahlen, sie ähneln sehr den normalen Zahlen und für Laien sind sie sogar identisch. Doch wie steht es mit den unendlichen Mengen?“

„Ja, das ist eine interessante Fragestellung.“

„Eben! Doch zu Cantors Zeiten haftete der Beschäftigung mit dieser Problematik noch der Ruch des Häretischen an. Unendlichkeit war eine Eigenschaft Gottes und damit Tabu für wissenschaftliche Untersuchungen. Was sollte man denn auch schon Mathematisches darüber sagen können.“

 

„Castor aber dachte anders?“ Wieder stellt sie ihr angelesenes Wissen zur Schau. Moderation ist kein leichtes Gewerbe.

„Ja, Georg Cantor stellte sich zum Beispiel die Frage, ob es weniger gerade Zahlen gebe als Zahlen überhaupt.“

„Allen Ernstes? Man sieht doch auf einen Blick, dass es nur halb so viele geraden Zahlen gibt. Die ganzen ungeraden Zahlen wie 1, 3, 5 sind ja nicht dabei.“

 

Frau Zwischenseh ist jetzt irritiert, was soll diese blöde Fragestellung. Doch das breite Grinsen in Herrn Limes-Grenzwerts Gesicht verunsichert sie.

„Machen Sie sich auf eine Überraschung gefasst, Frau Zwischenseh. Wann sind denn zwei Mengen gleich groß?“

„Nun, wenn sie gleich viele Elemente enthalten. So haben wir es in der Schule gelernt.“

„Es gibt eine Definition, die besser ist und bei endlichen Mengen zum gleichen Ergebnis führt. Die Gleichmächtigkeit. Dazu müssen wir Abbildungen zwischen den Mengen betrachten. Wenn es solch eine Abbildung, die ja eine Zuordnungsvorschrift ist, mit bestimmten Eigenschaften gibt, bezeichnen wir die Mengen als gleichmächtig.“

„Aha! Wie haben wir uns das vorzustellen?“

„Betrachten wir die Menge der Buchstaben des deutschen Alphabets und die der Zahlen von 1 bis 26. Wir definieren eine Abbildung, indem wir dem Buchstaben A die Zahl 1, dem B die 2 zuordnen und am Ende dem Z die 26. Dann ist jedem Buchstaben genau eine Zahl zugeordnet, und umgekehrt jeder Zahl genau ein Buchstabe. Solche Abbildungen heißen Bijektionen“

„Klingt logisch und einfach“, bestätigt Frau Zwischenseh, um ihre Schlappe von gerade eben wieder wettzumachen. Nur nie den Eindruck vermitteln, dass man keine Ahnung vom Gegenstand des Gesprächs hat.

 

„Ja, einfach! Das dachten die Zeitgenossen von Cantor auch. Bis er dieses Prinzip auf die geraden Zahlen anwandte und sie allen ganzen Zahlen zuordnete.“

„Ach, und was kam dabei heraus?“

„Als Abbildung nehmen wir für jede Zahl a die Vorschrift Abb(a) = 2*a. Wir verdoppeln also die Ausgangszahl. Erstens können wir so jeder Zahl genau eine gerade Zahl zuordnen, nämlich das Doppelte. Zweitens wird jeder geraden Zahl genau eine ganze Zahl zugeordnet, nämlich die Hälfte. Folglich ist diese Abbildung eine Bijektion, und die beiden Mengen sind gleichmächtig.“

Die Stimme des Mathematikers klingt so triumphierend, als habe er gerade einen bedeutenden Sieg über die Ignoranz errungen.

„Es klingt verrückt, doch wie Sie es eben erklärt haben, sind die beiden Mengen wirklich gleich groß.“

Frau Zwischenseh ist echt verblüfft. Oder tut jedenfalls so. Das kann sie unbeschadet tun, denn mit diesem Ergebnis hat sicher keiner der Zuhörer gerechnet.

 

„Ja, das ist ein wunderschönes Ergebnis, doch es kommt noch besser“, fährt Herr Limes-Grenzwert mit Stolz in der Stimme fort.

Einen Zweitupel nennt man ein Gebilde (a,b), wobei in unserem Fall a und b Zahlen sind. Man erhält so alle Kombinationen von ganzen Zahlen. Wenn man etwa in der ersten Zelle eine 1 schreibt und in der zweiten Zelle nacheinander alle ganzen Zahlen, so ist klar, dass diese Menge gleichmächtig zu den ganzen Zahlen ist.“

„Hm, das ist evident.“ Ab und zu muss man solche Worte benutzen, wenn man im Geschäft bleiben will.

„Wenn man nun aber auch die erste Zelle variabel lässt, also alle ganzen Zahlen durchlaufen lässt, wird die Menge sehr viel größer, sollte man meinen. Nämlich unendlich multipliziert mit unendlich.“

„So wie zwei mal zwei, meinen Sie?“

„Genau, Sie haben gut aufgepasst, Frau Zwischenseh.“

Inzwischen ist sie froh, dass man das Gesicht ihres Gastes nicht im Fernsehen betrachten kann, denn es ist unzweifelhaft belustigt.

 

„Entgegen unserer Vermutung ist aber diese neue Menge ebenfalls abzählbar, also gleichmächtig zur Menge der ganzen Zahlen. Auch das hat Cantor bewiesen.“

„Unglaublich! Das ist, wie wenn zwei mal zwei gleich zwei wäre.“

„Ja, das dachten Cantors Zeitgenossen auch. Wenn man statt Zweitupel Dreitupel nimmt oder irgendeine andere endliche Zahl, ändert sich nichts, es bleibt abzählbar.“

„Dann gibt es also nur eine einzige solche Kandenalzahl? Das ist doch langweilig, oder?“

 

„Eben nicht. Cantor hat gezeigt, dass es für Unendlichtupel keine bijektive Abbildung zur Menge der natürlichen Zahlen geben kann. Dafür hätten einige konservative Mathematiker ihn am liebsten gekreuzigt. Dabei ist der Beweis so unglaublich schön und einfach. Soll ich ...?“

„Ich glaube, das ist wirklich nicht nötig, ihre bisherigen Darlegungen führen uns eindringlich vor Augen, dass man auch zur Mathematik ein zärtliches Verhältnis haben kann. Vielen Dank Herr Limes-Grenzwert.“

 

...

 

„Ist er weg? Gott sei Dank! Ein Irrer ...“

Impressum

Texte: Marcel Porta
Cover: OpenClipart-Vectors auf Pixabay
Lektorat: Marcel Porta
Korrektorat: Egon Jahnkow
Tag der Veröffentlichung: 30.06.2023

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Allen, denen Naturwissenschaften etwas bedeutet

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