Langsam schlurft Dieter durch die Küche zur Spüle. Sucht eine Tasse, die nicht ganz so dreckig ist wie der aufgetürmte Rest des Geschirrs. Kurz hält er das ausgewählte, mit Kaffeerändern versehene Gefäß unter fließendes Wasser, dann tippelt er zurück zum Esstisch. Der Kaffee in der French-Press ist dünn. Die Magenwände vertragen ein aromatisches, starkes Gesöff nicht mehr. Die Säure vermehrt sich nach dem Kaffeegenuss im Magen, wie Wasser im Fluss nach einem Sturzregen. Und Dieter ist ohnehin zum Kotzen zumute. Wie eigentlich immer. Vor allem morgens. Aber ohne Kaffee geht gar nichts.
Beim Öffnen der Kaffeesahne spritzt ein Teil über den Tisch, den Rest schüttet Dieter in die Tasse. Als er das lauwarme Getränk eingießt, gießt er ein wenig daneben. Kleine Kaffeeinseln vermengen sich mit der Sahne und bilden braunweiße Atolle. Mit dem Ärmel seines Bademantels wischt Dieter den Tisch sauber, dann schlürft er das Gebräu in sich hinein. Er reißt die Zellophanverpackung eines Croissants auf und beißt in das Gebäck. Angewidert spuckt er den Bissen wieder aus. Marzipanfüllung, wie eklig. Margit hätte das gemocht. Aber die ist nicht mehr da.
Zumindest ruft das Getränk Erinnerungen an Kaffee hervor. Zucker fehlt zwar, den findet er einfach nicht mehr, der muss sich irgendwo verkrümelt haben. Doch der Koffeingenuss putscht auf. Ist nötig nach einer Nacht fast ohne Schlaf.
Mühsam fischt Dieter ein Zigarettenpäckchen aus der Bademanteltasche. Die Finger sind dick, entbehren jeder Fähigkeit zur Feinmotorik. Um an den vorletzten Glimmstängel zu kommen, muss er die Packung zerreißen. Mit zittrigen Fingern zündet er eine Zigarette mit dem Feuerzeug an, das ebenfalls in der Packung steckt. Den anderen Sargnagel legt er an die Tischkante. Für nachher.
Als Margit noch lebte, durfte er das nicht. Rauchen am Frühstückstisch. „Geh raus, an die frische Luft“, sagte sie immer. Er hat den Klang noch im Ohr. Wie gerne würde er sich jetzt von ihr nach draußen schicken lassen, obwohl er es immer so gehasst hat. Dieses Vorschriften machen. Dieter mach dies, Dieter lass das! Jetzt sagt ihm keiner mehr was. Und das ist noch viel schlimmer!
Meine Margit, meine Margit, warum hast du mich verlassen?!
Blasphemie, denkt er. Wie jedes Mal. Und dennoch kommt ihm dieser Satz immer und immer wieder in den Kopf. Wie konnte sie ihm das antun? Sie hatten doch schon alles festgelegt. Wir sterben zusammen, das war abgemacht. Wir lassen es nicht so weit kommen, dass einer von uns allein zurückbleibt. Wir bestimmen unser Leben selbst. Bis zuletzt. Und dann war sie plötzlich weg. Ließ ihm keine Chance mitzugehen.
Wenn ich diesen Autofahrer in die Finger bekäme … ich würde ihn kaltmachen, denkt Dieter. Ohne Gewissensbisse. Mit meinen eigenen Händen. Er hat mir mein Leben genommen und doch bin ich nicht tot.
Mitten auf dem Zebrastreifen! Erwürgen wäre noch zu gütig!
Seine Finger krampfen sich um die Tasse, die Zigarette fällt auf die Tischplatte und glimmt weiter vor sich hin. Dieter beugt den Kopf nach vorne und Tränen fallen in die Tasse. So sitzt er einige Minuten und netzt seinen inzwischen kalten Kaffee. Die Zigarette glimmt nicht mehr, als Dieter sie aufhebt. „Scheiße“, sagt er emotionslos. Der entstandene braune Fleck auf dem Tisch ist einer von vielen. Margit ist schon lange tot.
Dienstag ist heute, denkt er. Zeit aufzubrechen. Die Zugehfrau kommt in wenigen Minuten. Sie säubert die Wohnung notdürftig und füllt den Kühlschrank. Dieter will ihr nicht begegnen und legt das Geld mitten auf den Tisch. Hat sich schon eingespielt. Mittlerweile hat Frau Winkler akzeptiert, dass ausschließlich ihre Arbeit erwünscht ist, keine Konversation. Nur das Nötigste. Es ist ihm egal, was sie zu essen bringt. Nichts schmeckt mehr. Selbst der Alkohol ist nur noch in der Erinnerung ein Genuss. Doch die starken, filterlosen Zigaretten, davon muss sie immer genügend mitbringen.
Früher, ganz zu Anfang, ist er spazieren gegangen, wenn Frau Winkler durchs Haus wuselte, Kirchenlieder sang und die Böden schrubbte. Doch das macht er schon lange nicht mehr. Er erträgt das Zwitschern der Vögel nicht länger. Das Rauschen der Bäume. Das Zirpen der Grillen. Es war immer Margit gewesen, die ihn auf diese Geräusche hinwies. Die hatte alles gehört, selbst einen Wurm, der sich aus der Erde grub. Er dagegen hörte nie was. Immer musste sie ihn erst aufmerksam machen. Und jetzt … Naturgeräusche machen ihn wahnsinnig!
Nein, kein Spaziergang mehr, jetzt setzt er sich in die Sauna. Sie ist seit Jahren nicht mehr in Betrieb, dorthin kommt Frau Winkler nie. Was sollte sie da auch putzen. Hier sitzt Dieter dann seine vier Stunden ab, bis die Kirchenlieder verstummt sind. Erst dann kommt er wieder hervor und zerstört nach und nach die Ordnung, die Frau Winkler geschaffen hat. Einziger Lebenszweck, der ihm noch bleibt.
Die Tasse und das angebissene Croissant lässt er zurück, die letzte Zigarette und das Feuerzeug nimmt er mit. Eine kann er dort drin rauchen. Mehr nicht, sonst erstickt er. Was ja nicht verkehrt wäre, doch der Husten könnte ihn verraten. Wie sollte er das Frau Winkler erklären? Dass er sich in seinem eigenen Haus versteckt. Weil er es nicht erträgt. Alles nicht mehr erträgt. Nicht die Menschen und nicht das Leben. Und am wenigsten sich selbst.
Es ist falsch! Gott hat die Menschen als Fehlkonstruktion erschaffen. Warum hat er ihnen ein Bewusstsein gegeben, ab und zu Intelligenz und im günstigsten Fall Weisheit. Und dann einfach den Knopf vergessen. Den Ausschaltknopf. Luft anhalten - und aus. Oder fest genug ans Nichtsein denken - und aus. Wie viel Leid hätte der Menschheit erspart werden können. Und mir erst! Ich hätte ihn längst bedient, denkt Dieter, während er die eine zugestandene Zigarette inhaliert. Den Knopf. Gleich zu Anfang schon, als Margit da so vor mir lag, sich nicht mehr regte. Ich hab‘s ja versucht, aber es ging nicht. Egal, wie groß die Todessehnsucht ist, es funktioniert nicht. Ums Verrecken nicht. Das verzeihe ich ihm niemals. Dem „großen“ Schöpfer, dem grandiosen Fehlkonstrukteur.
Endlich ist sie wieder weg. Kein schlechter Mensch, diese Frau Winkler. Gottesfürchtig. Menschenfreundlich. Nur zählt er sich nicht mehr dazu. Zu den Menschen. Von Rechts wegen müsste ich tot sein, sagt er sich. So lange schon, dass die Würmer ihr Festmahl weitgehend beendet hätten. Bei dem Mahl ist euch der Wurm der wahre Kaiser. Shakespeare hat es auf den Punkt gebracht. Und ich hätte es ihm längst gegönnt, dem Wurmkaiser. Mich ihm gegönnt.
Frau Winkler hat Nachschub dagelassen. Zuverlässig, wie sie ist. Zehn Packungen, obwohl sie Zigaretten auf den Tod nicht ausstehen kann. Eine treue Seele.
Treu war ich auch, denkt Dieter. Meiner Margit. All die Jahre nie einer Versuchung nachgegeben. Warum auch, sie war mir genug. Ein Mensch, auf den man sich verlassen kann, den man liebt, das genügt. Mehr hat das Leben sowieso nicht zu bieten. Alles andere ist nur Beiwerk. Geld … pah! Erfolg? Ein überschätzter Popanz!
Ein angenehmer Duft lockt Dieter in die Küche. Frau Winkler hat für ihn gekocht. Macht sie ab und zu, wenn sie mit der restlichen Arbeit schneller fertig geworden ist. Obwohl das nie ausgemacht war.
Bratkartoffeln mit Speck und heiße Würstchen. Gut gemeint. Vielleicht am Abend. Warmes Essen ist er nicht mehr gewöhnt. Er lässt es stehen und begibt sich zu seinem Lieblingsplatz. Dem Ohrensessel. Den hat Margit ihm zum 65. geschenkt. Damit er seine Rente genießen kann. Hat sie gesagt. Hat er auch gemacht. Aber da war sie noch da! Jetzt sitzt er nur noch rum. Wartet. Dass die Zeit vergeht.
Wenigstens ist es eine Einbahnstraße, überlegt er. Mit jeder Sekunde, Minute und Stunde kommt das Ende näher. Ich muss es nur aushalten. Muss es nur irgendwie aushalten …
Texte: Marcel Porta
Cover: Coverbild: Paul H., „Toter Baum“, CC-Lizenz (BY 2.0) http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de Alle Bilder stammen aus der kostenlosen Bilddatenbank www.piqs.de
Lektorat: Egon Jahnkow
Tag der Veröffentlichung: 01.12.2018
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Allen gewidmet, die sich so fühlen, wie der Protagon ist dieser Geschichte.