Cover

Einleitung

 

Nicht nur, weil Jaquelines Geschichte meinem Lektor Egon Jahnkow besonders gut gefällt, steht die folgende Geschichte an erster Stelle in diesem Buch. Zudem stammt nämlich die Idee von meiner Frau und sie hat mich darin bestärkt, sie zu veröffentlichen. Und da sie letztlich auch eines meiner Herzensangelegenheiten betrifft, darf sie den Reigen der Geschichten dieses Buches eröffnen.

K139

„Entschuldigen Sie bitte, darf ich Ihren Namen erfahren?“

„Natürlich, ich heiße … äh, Jaqueline. Und Sie?“

„Elsa. Ich hätte eine Bitte an Sie, Jaqueline.“

„Ja, was kann ich für Sie tun?“

„Könnten Sie ein bisschen zur Seite rücken, ich fühle mich so beengt.“

„Ach kommen Sie, hier ist es doch nicht eng. Sie sollten mal sehen, wie es bei uns zu Hause zugeht. Da ist der Platz hier drinnen fast ein Luxus.“

„Noch enger als hier? Da bekäme ich ja überhaupt keine Luft mehr. Und dieses entsetzliche Ruckeln macht mich noch wahnsinnig.“

„Ja, das stört mich auch, Elsa. Das wäre ein Grund, sich zu beschweren.“

„Sagen Sie mal, wissen Sie, wohin wir fahren, Jaqueline?“

„Nein, ich habe keine Ahnung. Ich kenne mich in der Welt nicht aus, bin selten von zu Hause weggekommen.“

„Mir ist überhaupt nicht wohl. Jetzt sind wir schon so lange unterwegs, es ist heiß hier drinnen und ich habe Durst.“

„Mir scheint, Sie sind ganz schön verwöhnt, meine Beste. Immer

hin haben wir ein Fenster, durch das ein wenig Luft hereinkommt, und wir können hinausschauen. Etwas Interessanteres kann ich mir nicht vorstellen. Schauen Sie doch nur, diese Farben! Eine ist dabei, die habe ich noch nie gesehen.“

„Wie kann man eine Farbe noch nie gesehen haben? Ich glaube, Sie wollen mich verarsch... Oh, entschuldigen Sie bitte.“

„Nur nicht so zimperlich, Elsa. Aber ich sage die reine Wahrheit, wie heißt denn die Farbe, in der diese große Fläche da draußen gestrichen ist?“

„Meinen Sie mit Fläche etwa diese Wiese da?“

„Wiese heißt sie also!?“

„Aber Jaqueline, Sie werden mir doch nicht einreden wollen, dass Sie noch nie eine Wiese gesehen haben?“

„Hab ich wirklich noch nie, aber ... sie gefällt mir, diese Wiese. Irgendwie bin ich ganz verliebt in sie.“

„Sie ist grün.“

„Grün? Ich dachte Wiese.“

„Die Farbe. Sie heißt Grün.“

„Oh, hört sich toll an, dieses Wort. Grüüüün, das kann man sich auf der Zunge zergehen lassen. Grüüüün. Es klingt irgendwie … saftig“

„Jaqueline, darf ich Sie etwas fragen?“

„Aber natürlich, Elsa. Ich unterhalte mich gerne mit Ihnen. Sie sind nett und wissen so viel.“

„Ach, machen Sie mich bitte nicht verlegen! Aber was ich fragen wollte: Haben Sie Kinder?“

„Oh ja, viele.“

„Und das Jüngste, ist es noch bei Ihnen?“

„Nein, natürlich nicht. Warum fragen Sie?“

„Weil meines verschwunden ist. Vor drei Tagen. Wie all die anderen zuvor.“

„Aber das ist doch ganz normal. Wenn sie geboren sind, verschwinden sie wieder.“

„Und trotzdem fällt es mir so schwer. Ein halbes Jahr ist so kurz!“

„Ich weiß, wie lange ein halbes Jahr ist, aber was hat das mit den Kindern zu tun?“

„Na, so lange bleiben sie doch bei einem.“

„Aber Elsa, jetzt wollen Sie mich veräppeln! Wer hat so was schon mal gehört?“

„Wieso machen Sie sich über meine Trauer lustig, Jaqueline? Habe ich Ihnen was getan?“

„Aber Elsa, die Kinder kommen doch sofort nach der Geburt weg. Das war noch nie anders. Sie wollen doch nicht wirklich behaupten, dass ...“

 

„Eben waren Sie noch so traurig, liebe Elsa, und nun lächeln Sie zufrieden. Woran denken Sie?“

„Erinnerungen, Jaqueline, das sind Erinnerungen.“

„Sie Glückliche. Woran haben Sie gerade gedacht, ich möchte mich mit Ihnen freuen.“

„An den Vater meiner Kinderchen.“

„Was ist das, Vater meiner Kinderchen?“

„Aber Jaqueline?! Haben Sie nicht eben noch gesagt, Sie hätten auch Kinder gehabt? Viele sogar?“

„Schon, aber ich verstehe Ihre Ausdrucksweise nicht.“

„Hannibal heißt er, der Wilde, wie ich ihn immer bei mir nenne. Es war himmlisch mit ihm. Wer hat Ihnen denn die Kinder gemacht, Jaqueline, wie hieß er und wie sah er aus? War er groß und kräftig?“

„Darüber möchte ich nicht reden!“

 

„Jaqueline, darf ich fragen, wie alt Sie sind? Mir scheint, Sie sind viel jünger als ich. Obwohl ich ja gar nicht gut im Schätzen bin.“

„Ich bin ziemlich genau fünf Jahre alt, und Sie?“

„Elf. Aber ich muss mich wundern, mit fünf schon auf Reisen. Bei uns zu Hause geht niemand vor seinem zehnten Lebensjahr auf Reisen.“

„Was?! Elf?! Es ist an mir, mich zu wundern, denn ich habe noch niemals jemanden in Ihrem Alter getroffen. Und Sie sehen noch so blendend aus, Elsa, mein Kompliment.“

„Sie schmeicheln mir, Jaqueline!“

„Nein, im Gegenteil. Ihr Haar glänzt wunderbar, und meines … ist stumpf. Wie haben Sie das nur geschafft?“

„Ich glaube, das liegt am Essen. Denn im Winter werden meine Haare auch etwas stumpf. Da gibt es ja auch kaum frische Sachen.“

„Ich weiß zwar nicht genau, was Sie mit frischen Sachen meinen, Elsa, doch daran wird es liegen. Wenn ich zurück bin, werde ich danach fragen. Nach frischen Sachen.“

 

„Ach Elsa, ich muss Ihnen etwas gestehen, es liegt mir auf der Seele, seit wir uns kennen gelernt haben.“

„Nur heraus damit! Drüber reden ist allemal besser, als es in sich zu vergraben.“

„Es ist mir peinlich, aber eigentlich … heiße ich gar nicht Jaqueline, sondern K1395. Doch ich finde, das klingt nicht halb so gut wie Jaqueline ... oder Elsa.“

„Aber wie sind Sie ausgerechnet auf Jaqueline gekommen?“

„Nun, ich habe eine schreckliche Vorliebe für schöne Klänge. Und auf dem Weg zum Bahnhof habe ich von draußen eine Stimme gehört, die rief: ‚Jaqueline, du bist eine blöde Kuh!’. Ich weiß nicht, was blöd bedeutet, doch es klingt genau so schön wie ‚grüüün“. Und Jaqueline erst ... der Name ist ein Juwel. So hab ich mich, als Sie so unvermittelt nach meinem Namen gefragt haben ...“

„Mir gefällt Jaqueline auch sehr gut, und ich werde mir den anderen Namen gar nicht merken. Für mich werden Sie immer Jaqueline sein.“

„Oh danke, meine Liebe. Sie sind nicht nur klug, sondern haben auch ein gutes Herz.“

An dieser Stelle fand die Unterhaltung zwischen Elsa und K1395 ein abruptes Ende, denn der Schlachthof war erreicht, und es blieb nicht einmal Zeit, sich vernünftig zu verabschieden.

***

So könnte diese Geschichte enden, doch die Alternative gefällt mir besser. Deshalb vergessen wir den letzten Abschnitt und machen an der Stelle mit dem guten Herzen weiter.

 

Ohrenbetäubender Lärm ... quietschende Bremsen ... ein Wagen springt aus dem Gleis, fällt um ... Holzwände splittern, dass die Fetzen fliegen.

“Sind Sie verletzt, Jaqueline?“

„Ich denke nicht. Was ist passiert?“

„Ich glaube, das war ein Gewitter. Da knallt es auch immer so laut.“
„Es ist gar nicht mehr eng hier, Elsa. Und da, schau mal, eine komische blaue Decke über uns.“

„Ach Jaqueline, das ist der Himmel. Wir sind im Freien. Da kenne ich mich aus. Komm, lass uns von hier verschwinden. Diese Enge will ich nicht wieder ertragen, und Durst hab ich auch.“

„Aber wo ist denn hier die Tränke? Es gibt doch gar keine Wände, an denen sie festgemacht sein könnte. Ich habe Angst, Elsa.“

„Hier gibt es bestimmt Bäche und Seen. Nur nicht bange sein, wir werden nicht verdursten. Und Hunger brauchen wir auch nicht zu leiden, da drüben gibt es saftiges Gras.“

„Gras? ... Oh, das ist ja ... grüüüün! Wie ich diese Farbe liebe! Und das kann man essen? Schmeckt das gut?“

„Und wie! Komm, bleib nur dicht bei mir, wir galoppieren erst mal ein Stückchen, damit wir von diesem blöden Waggon wegkommen.“
„Au ja, galoppieren! ... Was ist das?“

Drei Monate später wurden Jaqueline und Elsa aufgegriffen, doch da die Medien sie zum Star mit allem dazugehörigen Rummel machten, wurden sie nicht ihrer vorgesehenen Bestimmung zugeführt, sondern erhielten Zuflucht in einem Gnadenhof.

Wenn sie nicht inzwischen gestorben sind, könnt ihr sie dort besuchen. Grüßt sie recht nett von mir, denn sie liegen mir am Herzen.

 

 

Was wir unseren Tieren zufügen, geht auf keine Kuhhaut. Doch nicht nur sie müssen leiden, auf die Umwelt nehmen wir auch keine Rücksicht. Wir sollten uns nicht einbilden, dass die schleichende Vergiftung der Umwelt durch die chemischen Düngemittel und die allgegenwärtigen biologischen Kontaminierungen keine gravierenden Folgen für die Zukunft der Menschheit hat. Ein solches Szenario bietet die nächste Geschichte.

 

 

 

 

Wenn wir so weitermachen

Wenn sie vorher gewusst hätten, dass ein Waldkulmaz in der Nähe war, hätten sie eine andere Taktik gewählt. So aber nahm das Verhängnis seinen Lauf.

Mit äußerster Konzentration schlichen sie sich an. Das leiseste Knacken konnte sie verraten. Ein Sindalon zu jagen, erforderte Mut und Geschicklichkeit in gleichem Maß. Das Tier hatte ein ausgezeichnetes Gehör und seine langen Reißzähne giftige Widerhaken. Wen es einmal gepackt hatte, der war verloren, selbst wenn das Raubtier dabei starb. Sein Gift ließ dem Opfer keine Chance. Bisher war es keinem Schamanen gelungen, ein Kräutlein dagegen zu finden.

Mit Gesten verständigten sich die beiden Jäger. Sie konnten sich blind aufeinander verlassen, jedes Detail war tausendmal erprobt. Wien näherte sich dem Sindalon von links, Lissa von rechts. Sie wussten, dass Sindalons niemals vorwärts oder rückwärts flüchten, sondern immer seitlich ausbrechen. Lissa sah, dass ihr Partner in guter Position für einen Wurf war. Langsam hob er den Speer und wartete gespannt wie die Haut einer Trommel, bis das Tier von seinem blutigen Mahl abließ und den Kopf hob. Sein gepanzerter Körper war für einen Speer undurchdringlich, lediglich Hals und Kopf boten eine Chance, es zu erlegen.

Mit aller Kraft schleuderte Wien den Speer, der pfeilgerade auf das Sindalon zuschoss. Doch genau in diesem Moment flog ein Waldkulmaz unmittelbar vor der Nase des Sinadlons auf. Der Vogel war bestens getarnt, bisher hatte das Sindalon ihn nicht entdeckt, obwohl es sich um seine Lieblingsbeute handelte. Der massige Kopf schnellte nach vorne, um den Kulmaz mit der Zunge zu durchbohren. Aus diesem Grund verfehlte der Speer sein Ziel und streifte nur den Hals des Raubtiers. Sofort schaltete es von Angriff auf Flucht um und raste auf den Busch zu, hinter dem Lissa sich verbarg. Als sie ihren Speer nach oben reißen wollte, flog der Kulmaz direkt auf sie zu und irritierte sie, sodass sie das Sindalon einen Moment aus den Augen verlor. Und schon war das Raubtier über ihr. Nun war ihr Speer nutzlos und sie hatte nur noch das Messer, um sich zur Wehr zu setzen. Noch niemand hatte ein Sindalon mit dem Messer erlegt. Sie war verloren. Der faulige Atem der Bestie drang ihr in die Nase, als es das Maul aufriss und sich anschickte, die Zähne in ihren Hals zu schlagen.

Doch kurz vor dem Biss drang Wiens Messer dem Tier ins linke Auge. Todesmutig hatte er sich von hinten genähert und beim Sprung auf den Rücken des Sindalons nach dem Auge gezielt. Die Klinge drang bis zum Heft in den Kopf des wilden Tieres. Aufheulend stürmte es davon, schleppte Wien noch eine kurze Strecke mit sich fort, da er sein Messer nicht verloren geben wollte. Ein Ast streifte seinen Kopf und halb betäubt fiel er zu Boden, was zwar den Verlust der Waffe nach sich zog, ihm aber vielleicht das Leben rettete.

Lissa hatte sich inzwischen hochgerappelt und half auch Wien wieder auf die Beine.

„Verdammt, das war knapp“, gab Lissa keuchend ihrer Erleichterung Ausdruck.

„War meine Schuld, ich hätte es nicht verfehlen dürfen“, antwortete Wien zerknirscht.

„Ach was, ich hätte mich nicht ablenken lassen dürfen. Dieser verflixte Kulmaz.“

„Wir gehen dem Sindalon nach, weit kann es nicht kommen mit dem Messer im Auge.“

Die Sonne hatte noch kaum ihre Stellung am Himmel verändert, als sie das verletzte Tier fanden. Es hatte sich in ein Dornengestrüpp verkrochen, das seinem dicken Panzer nichts anhaben konnte, andere Tiere aber abzuhalten vermochte.

Doch Wien und Lissa gaben nicht auf. Zu wertvoll waren die Beute und Wiens Messer. Mit Lissas Messer schnitten sie sich mühsam den Weg frei und näherten sich dem Sindalon, das sie aus dem einen verbliebenen Auge böse beobachtete. Je näher sie kamen, desto lauter wurde sein Fauchen.

„Es wird bald angreifen“, vermutete Wien. „Wir müssen es töten, bevor wir ihm zu nahe kommen.“

„Es ist dein Wurf“, meinte Lissa.

„Diesmal wirst du sterben!“, flüsterte Wien und hob den Arm mit dem Speer. So weit es das Gehölz zuließ, holte er aus und schleuderte das Wurfgerät in Richtung Sindalon. Das Tier war chancenlos, es konnte nicht ausweichen und der Speer drang tief in seine Gurgel ein. Ein Strom hellroten Blutes ergoss sich auf den Waldboden und das Röcheln wurde stetig leiser.

„Warum musste das blöde Vieh sich derart tief hier drin verkriechen“, schnaufte Wien, als sie versuchten, den Kadaver aus dem Dornbusch zu befreien.

„Sei froh, dass es nicht noch weiter gelaufen ist. Und dein Messer hast du auch wieder.“ Lissa war wie immer die Praktische von den beiden.

Sie mühten sich ab und keuchten heftig, als das Tier endlich außerhalb der Dornen lag.

„Da werden sich Paris und London freuen!“, triumphierte Lissa, „sie lieben Sindalonsteak. Wenn die verdammten Gentechniker die Viecher nur nicht so wehrhaft gemacht hätten!“

„Immerhin kann man sie essen, nicht wie diese Schifteriten, die nur gefährlich sind. Die Viecher hasse ich wirklich!“

 

“Oh, ein Sindalon! Das habt ihr prima hinbekommen. Und nur mit Speer und Dolch, nehme ich an.“ Blitzschnell fuhren Wien und Lissa herum, die Messer stoßbereit in Händen. Doch der Fremde, der eben gesprochen hatte, war etliche Meter von ihnen entfernt. Und er hielt etwas in Händen, das die beiden zuvor noch nie gesehen hatten, doch von dem sie durchaus wussten, wie es hieß und wozu es diente. Die Mündung war auf Wien gerichtet, weshalb Lissa sich sofort von ihrem Mann entfernte. Mit einer derartigen Waffe hatten sie noch nie zu tun gehabt.

„Ihr habt keine Feuerwaffen, aber eure Speere sind erstklassig. Aus einem olympischen Trainingszentrum, vermute ich. Karbon?“

Obwohl der Fremde plauderte, als wären sie auf einem Warentauschplatz, gaben sich Wien und Lissa keinen Illusionen hin. Der Mann war gefährlich. Wer solche Waffen trug, benutzte sie auch. Wenn er Munition dafür hatte. Doch das herauszufinden, mochte das Leben kosten.

„Was wollen Sie? Wir haben nichts außer unseren Waffen. Und die brauchen wir zum Überleben.“

„Ich will doch nichts von euch! Mich nur ein wenig unterhalten. Ihr habt eben von Paris und London gesprochen. Eure Kinder?“

Jetzt wurde es ernst. Diese Frage und die Vermutung, die sich dahinter verbarg, waren gefährlicher als die feindlichste Drohung. Wenn der Fremde in Lissa eine gebärfähige Frau vermutete, war allerhöchste Vorsicht geboten.

Nur noch eine von zehntausend Frauen konnte Kinder bekommen. Jahrzehntelang hatte man die Gefahren für die Menschheit an der falschen Stelle gesehen. Atomwaffen, biologische und chemische Waffen. Dabei waren die schleichende Vergiftung der Umwelt durch die chemischen Düngemittel und die allgegenwärtigen biologischen Kontaminierungen es letztlich gewesen, die der Menschheit in der alten Form den Garaus gemacht hatten.

Eine Frau, die Kinder gebären konnte, war eine Rarität und entsprechend wertvoll.

„Kinder? Gibt es überhaupt noch welche?“, fragte Wien zurück. Nun war klar, wieso der Angreifer seine Waffe auf ihn gerichtet hielt. Lissa war die Beute, die unbedingt lebendig gefangen werden musste.

„Nun, wir werden es herausfinden. Ich töte ungern Menschen, doch wenn es nötig ist, zögere ich nicht. Deine Frau kommt mit mir, und wenn sie sich weigert, werde ich dich erschießen. Ist das klar?“

„Lassen Sie ihn am Leben! Ich werde mitkommen. Allerdings werden Sie eine Enttäuschung erleben, ich kann keine Kinder bekommen. London und Paris sind mein Bruder und dessen Frau. Sie können nicht jagen, denn London hat ein Bein bei der Jagd verloren und Paris ist ohne Hände geboren. Sie sind auf uns angewiesen.“ Lissa ging während ihrer Worte weiter auf den Eindringling zu.

„Deshalb lasse ich deinen Mann ja auch leben, wenn ihr kooperiert. Ich bin kein Unmensch“, erwiderte dieser.

Wiens Augen folgten Lissa, die nun fast bei dem Fremden angekommen war.

„Bleib stehen!“ befahl der Mann, denn er witterte eine Gefahr, „leg die Hände hinter den Kopf, damit ich sie sehen kann.“

Eine letzte Verständigung mit den Augen, und Wien hechtete aus dem Stand ins Gestrüpp, nutzte die Schneise, die sie eben für das Sindalon geschlagen hatten. Bevor der Fremde die Waffe wieder auf ihn richten konnte, stand Lissa hinter ihm und drückte ihr Messer an seine Kehle. Ein Blutstropfen fand seinen Weg am Hals herab.

„Denk nicht einmal daran abzudrücken!“, sprach sie leise ins Ohr des Überrumpelten. „Dein Tod wäre nicht schnell und barmherzig, das garantiere ich dir. Und jetzt lass deine Waffe fallen.“

Der Mann zögerte, doch als der Druck an seiner Kehle zunahm und ein kleines Rinnsal entstand, ließ er die Waffe los. Sie fiel ins weiche Gras.

„Und jetzt verschwinde“, befahl Wien, der nähergekommen war und den Mann nach weiteren Waffen abgetastet hatte. Die Munition für die Pistole steckte er ein. „Dreh dich nicht um und schau nicht zurück, dann kannst du weiterleben.“

„Wir müssen in Zukunft noch vorsichtiger sein“, flüsterte Lissa, als der Angreifer verschwunden war, „niemand darf auch nur das Geringste von unseren Kleinen ahnen.“

 

 

Eine weitere Bedrohung der zukünftigen Generationen ist die Überbevölkerung. Wir steuern da auf eine Klippe zu, über die ein Teil der Menschheit wird springen müssen, wenn noch Platz übrig bleiben soll. Doch wer trifft die Auswahl und welches sind die Kriterien? Ein eher unschönes Auswahlverfahren bietet die folgende Geschichte, deren Idee von einer wunderschönen Story meiner Schreibkollegin Angela inspiriert wurde. Herzlichen Dank dafür!

 

 

 

 

 

 

Die Quote

„Ah, ein Leidensgenosse! Wie heißt du?“

„Jakob, und du?“

„Winfried.“

Die beiden weißhaarigen Greise stehen sich gegenüber und schütteln sich die Hand. Die Lichtung im Wald, auf der sie sich begegnet sind, liegt in strahlendem Sonnenschein. Staubpartikel tanzen durch die Luft.

„Du bist zum ersten Mal bei der Jagd, stimmt’s, Winfried?“

„Ja, woran hast du das gemerkt?“

„Später! Beantworte erst mal ein paar Fragen. Du bist älter als 65, oder?“

„Ja, ich bin 75.“ Winfried greift unwillkürlich an den Identifikationsring um seinen Hals. „Beim 65. und 70. Jahrestag war ich beim Wettlauf.“

„Und warum hast du zur Jagd gewechselt? Meinst du, das sei einfacher?“

„Die Jagd ist meine einzige Chance. Beim Wettlauf zu meinem Siebzigsten bin ich dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen. Alle, die nach mir ins Ziel kamen, wurden ausgesondert, ich hatte unglaubliches Glück.“

„Ich weiß, die Eliminationsquote war verdammt hoch.“

„Es war wahnsinnig stressig. Die Quoten werden ja nicht mehr vorher bekannt gegeben. Du weißt also zu keiner Zeit, ob es reicht oder nicht. Du rennst und rennst und hast keine Garantie. Ich hab am Ziel Rotz und Wasser geheult, weil ich fix und fertig war. Zudem hab ich mir in die Hose gemacht vor Angst, ob es gereicht hat.“

„Bei der Jagd ist es umgekehrt, Winfried, die Letzten überleben. Wenn die Quote an Abschüssen erfüllt ist, wird die Jagd abgebrochen. Ich bin zum vierten Mal dabei, ich weiß, wovon ich rede.“

Jakob hat eine seltsame Art, seine Rede mit der Hand zu untermalen. Der rechte Arm ist in ständiger Bewegung, während der linke in einer Schlaufe hängt. Sein zerknittertes Gesicht und das vorgeschobene Kinn drücken die Entschlossenheit aus, die seinem Gegenüber fehlt. Winfried ist voller Angst, und das spiegelt sich in seinem Gesicht wider.

„Dann bist du also schon achtzig“, nimmt Winfried nach kurzer Pause das Gespräch wieder auf. „Wie hast du es geschafft zu überleben?“

„Ich bin Jäger von Beruf, mein Lieber, und der Wald ist mein Zuhause.“

„Mann, hab ich ein Glück, ausgerechnet dich getroffen zu haben.“

„Wir werden nicht zusammenbleiben können, Winfried. Zu zweit sind wir chancenlos. Viel zu leicht als Wärmequelle auszumachen. Du kannst in meiner Nähe bleiben, aber du darfst niemals dichter als 20 Meter zu mir aufschließen. Das wäre ein tödlicher Fehler.“

„Und woran hast du erkannt, dass ich noch nie bei der Jagd war? Steht mir doch nicht auf der Stirn geschrieben?!“

„Quatsch, aber wer mit solchen Klamotten hier auftaucht wie du, wird das nächste Mal nicht erleben. Deine Hose ist zu hell und auf deine Jacke könntest du genauso gut eine Zielscheibe malen. Hier ist eine Pfütze, wälze dich drin herum, bis du als vollwertiger Dreckspatz durchgehst.“

In den nächsten Minuten kann man beobachten, wie ein Greis sich wie ein spielendes Kleinkind im Matsch suhlt.

„So gefällst du mir schon besser.“ Jakob wirft einen Blick auf seine Uhr. „Es wird Zeit, dass wir aufbrechen, in fünfzehn Minuten wird die Jagd eröffnet. Dann müssen wir untergetaucht sein.“

Ohne sich nach ihm umzudrehen, marschiert Jakob los und Winfried hat Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Die Äste, die Winfried am Weiterkommen hindern, scheinen vor Jakob zurückzuweichen.

„Bleib hier stehen, Winfried, ich bin gleich zurück. In der Nähe ist ein Wasserfall, ich muss sicherstellen, dass die Luft rein ist. Die Nähe von Wasser ist immer gut.“

Winfried ist dankbar, einige Minuten ausruhen zu können. Lange hätte er dieses Tempo nicht mehr durchhalten können. Eine tiefe Stille umfängt ihn und er setzt sich auf den Boden, um auszuruhen und seinen zitternden Beinen eine Pause zu gönnen.

 

***

 

„Bist du alleine?“

Winfried schaut sich um und kann niemanden entdecken.

„Hey, wer ist denn da?“

„Ich bin Sieglinde, bist du alleine hier?“

Wieder schaut er sich erfolglos um.

„Nein, ich bin mit Jakob hier. Er schaut sich beim Wass…“ Winfried verstummt. Am Ende hätte er gar nichts über den Wasserfall verraten dürfen.

„Verdammt!“ Eine Frau erhebt sich aus einem Gebüsch, kaum zwei Meter neben ihm. Sie ist mindestens so alt wie Winfried. Ihre Tarnkleidung und das bemalte Gesicht lassen sie fast mit dem Hintergrund verschmelzen.

„Hat er also wieder einen Dummen gefunden.“

„Was meinst du damit?“

„Das ist seine Masche. Er sucht sich ein Opfer unter den Erstlingen. Wenn’s dann brenzlig wird, wirft er den der Meute vor.“

„Was?!“ Winfried springt auf, als hätte ihn eine Hornisse gestochen. „Was sagst du da?“

„Isso, und bisher ist seine Rechnung jedes Mal aufgegangen.“

„Du verarschst mich doch!“, entgegnet Winfried.

„Warum sollte ich. Geh mit ihm und du bist so gut wie tot. Er wird dich zwischen sich und den Wärmedetektor bringen. Bis sie dann mit dir fertig sind, hat er Zeit zu verschwinden.“

„Und was soll ich jetzt machen?“

„Beten!“

„Und du? Wie schaffst du es zu überleben?“

„Ich habe eine Höhle entdeckt, die niemand kennt.“

Winfried schaut sie ungläubig an. „Wieso erzählst du mir davon?“

„Ich kenne dich, du bist der Mann von Katharina.“

„Ich dich aber nicht. Und Katharina ist seit fünf Jahren nicht mehr am Leben.“

„Ich weiß, du warst der Letzte vor dem Cut, und sie war eine Runde hinter dir. Ich hab zugesehen.“

Winfried taumelt zurück. Plötzlich war alles wieder da. Niemals wird er verkraften, was damals passiert ist.

„Woher kanntest du sie?“

„Ich …“

Hundegebell kommt näher. Schüsse peitschen auf.

„Komm mit! Oder geh zu Jakob, er wird sich freuen.“

„Ich komme mit dir.“

Unvermittelt gleitet Sieglinde davon und so schnell ihn seine alten Füße tragen, folgt Winfried dieser Frau, die er nie zuvor gesehen hat, und die ihm dennoch Vertrauen einflößt. Weil sie Katharina kennt, oder vielmehr kannte. Irrational, denkt er sich, aber so ist es eben.

Es dauert nur fünf Minuten, bis sie einen Bach erreichen. Sie laufen einige hundert Meter in ihm, dann biegen sie rechts ab und erreichen die Höhle. Winfried sieht sie erst, als sie direkt davor stehen. Drinnen ist es stockdunkel.

„Es geht ein Stück abwärts, du musst springen.“

„Nein, du zuerst!“

„Du traust mir

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Marcel Porta
Bildmaterialien: Klaus Maßem
Cover: Klaus Maßem
Lektorat: Egon Jahnkow
Tag der Veröffentlichung: 15.06.2018
ISBN: 978-3-7438-7243-1

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Allen gewidmet, die am Leben verzweifeln

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