Wieso ist sie mir erst heute aufgefallen? Es ist die letzte Vorlesung im Semester, und ich versuche gerade, Miss Unwissend in der dritten Reihe und Mister Flegel, der zwei Sitze in der hintersten Reihe belegt, sowie zwei Dutzend weiteren mathematischen Ignoranten die Feinheiten endlicher, auflösbarer Gruppen nahezubringen. Da sehe ich sie plötzlich in der vorletzten Reihe. Die Ähnlichkeit ist verblüffend. Nicht so sehr ihr Aussehen, die Gesichtszüge oder die Haarfarbe. Mehr ihre Sitzhaltung, die Art, wie sie das, was ich an die Tafel schreibe, in ihr Heft überträgt, wie sie ihre Haare aus dem Gesicht streicht, ihre Mimik und Gestik wecken wehmütige Erinnerungen …
Während ich mechanisch den Beweis der Auflösbarkeit aller Gruppen von Primzahlpotenzordnung an der Tafel skizziere, wandern meine Gedanken zurück. Damals war Sylvia ungefähr im Alter dieser Studentin.
„Und du willst wirklich mit mir zusammen lernen?“ Sylvia ließ ihren Blick skeptisch an mir hoch wandern, als ich mich endlich traute, ihr meinen Vorschlag zu unterbreiten.
„Ja, ich glaube, wir wären ein gutes Team. Wir ergänzen uns bestimmt hervorragend“, gab ich mich selbstsicherer als ich war.
„Woher willst du das denn wissen? Wir kennen uns ja kaum.“ Da lag sie unbedingt richtig. Bisher hatte ich sie nur aus der Ferne angehimmelt. Meine Schüchternheit stand mir wie so oft im Weg.
„Ich weiß es eben. Wenn ich dich ansehe, fallen mir tausend Beweise dafür ein.“
„Aha, Beweise sind für einen Mathematiker schon mal nicht schlecht.“
„ … auch wenn keiner davon etwas mit Mathematik zu tun hat.“
„Zumindest bist du ehrlich.“ Sie lachte mich an … oder aus, das wagte ich nicht zu entscheiden.
„Und du meinst, das Wiesental sei der beste Ort, um die Prüfung in Gruppentheorie vorzubereiten?“
„Wo kann man Anfang Mai und bei diesem Wetter besser lernen?“
Natürlich wusste sie genau, dass mir die Mathematik und die bevorstehende Prüfung schnurz waren, als ich sie zu dem Ausflug ins Wiesental überredete. Sie ging das Wagnis ein und wies den ein Jahr jüngeren Studenten, der noch die Eierschalen der Mathematik hinter den Ohren und gerade erst das Vordiplom in der Tasche hatte, nicht als Spinner zurück. Irgendetwas muss sie an mir fasziniert haben, auch wenn sie mir nie verraten hat, warum sie auf meinen Vorschlag eingegangen ist. Ein Adonis war ich mit Sicherheit nicht.
Wir konnten es damals nicht wissen, aber in dieser ersten Begegnung lag schon der Grundstein zu einer langen, glücklichen gemeinsamen Zeit. Ohne ihre Bereitschaft, sich auf mich einzulassen, wäre unser Augenstern Mandy nicht geboren worden. Und ich hätte womöglich ohne den Menschen auskommen müssen, der den Wahnsinn des Lebens für mich erträglich gemacht hat. Ihr Humor und ihre Fröhlichkeit waren die Quelle, aus der ich meine Kraft geschöpft habe. Und heute … vegetiere ich nur noch dahin. Ohne sie bin ich nur ein Schatten meiner selbst.
Während ich den Beweis an der Tafel entwickle, spüre ich den damaligen schönen Gefühlen nach. Das Wiesental war ein voller Erfolg. Noch nie hatte ich in schönere Augen geschaut, länger geküsst oder verliebtere Schwüre von mir gegeben. Seit Wochen hatte ich von diesem Treffen geträumt. Sylvia wusste nichts davon, aber sie war mein Schwarm seit langer Zeit.
Die Sehnsucht nach ihrer Nähe, die in der darauffolgenden Nacht meine Brust zerpflügte, hat mich mein ganzes Leben lang nicht mehr losgelassen. Wirklich gut ging es mir nur, wenn sie bei mir war.
Wie sehr sie mir doch fehlt! Dumpf schleppe ich mich durchs Leben und versinke tiefer und tiefer in Depressionen. Es vergeht kaum eine Stunde, in der ich nicht an sie denke. Selbst der Schlaf ist durchdrungen von Einsamkeit, seit sie von mir gegangen ist. Beseligend einzig die seltenen Träume, in denen sie quicklebendig an meiner Seite ist. Und es ist immer wieder dieser erste Frühling, dieser erste gemeinsame Ausflug, an dessen vorgeschobenen Grund wir beide keinen Augenblick geglaubt haben, den ich in allen Einzelheiten wieder erlebe.
Kurz muss ich mich konzentrieren, denn ich bin an einem kniffligen Teil des Beweises angekommen. Doch dann schweifen meine Gedanken wieder umher.
Vor vierzig Jahren habe ich ihr im Wiesental meine Liebe erklärt, auf die Gefahr hin, mich lächerlich zu machen. Und wie sehr hat sich die Welt seitdem verändert. Unsere Tochter ist inzwischen selbst Mutter eines kleinen Wesens, dessen Erscheinen im Jammertal des Lebens Sylvia noch miterleben durfte. Dafür bin ich dankbar. Es war in ihrem letzten Frühling.
Der Frühling hat sie von mir genommen, wie er sie mir geschenkt hat. Seitdem verbindet mich eine Art Hassliebe mit dieser Jahreszeit …
Es ist nicht gut für den Menschen, allein zu sein. Und noch viel schlimmer ist es, allein zurückzubleiben. Die Jahre, die ich jetzt noch lebe, wie gerne hätte ich sie alle hingegeben für einen einzigen unbeschwerten Monat mit ihr. Ich habe noch nie an einen Gott geglaubt, der sich um uns Menschen kümmert. Denn wenn es ihn gäbe, hätte er das anders eingerichtet! Eine gemeinsame Lebenszeit für Liebende. Irgendwann ist sie aufgebraucht, einverstanden, dann geht man. Aber zusammen!
Der Beweis ist skizziert, auch wenn meine Gedanken, wie so oft, ganz woanders gewesen sind. Die Vorlesung geht zu Ende.
Ein Student - die Schildkröte, wie er bei mir seines langen Halses wegen heißt – kommt nach vorne und redet auf mich ein. Während ich mir seinen unsinnigen Vorschlag, den Beweis abzukürzen, mit halbem Ohr anhöre, folgen meine Augen Sylvias Doppelgängerin. Sie steuert auf die obere Tür des Hörsaals zu. Ihr etwas eckiger Gang entfacht die Illusion erneut, und mein Herz im Schlepptau verlässt sie den Saal.
Nur Sehnsucht und Traurigkeit bleiben zurück.
Texte: Marcel Porta
Bildmaterialien: Coverfoto: Houdn_von'em_Doudn, „Tal-Verlauf“, CC-Lizenz (BY 2.0) http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de Das Bild stammt aus der kostenlosen Bilddatenbank www.piqs.de
Lektorat: Egon Jahnkow
Tag der Veröffentlichung: 03.10.2016
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die den Sinn ihres Lebens verloren haben.