„Erika, beeil dich, wenn wir den Bus bekommen wollen, müssen wir los!“
Wie immer braucht sie eine halbe Ewigkeit. Paul weiß genau, was noch fehlt, was unweigerlich kommt, unmittelbar bevor sie das Haus verlassen.
„Huch, ich habe ja noch gar keine Kette an.“
Ein fröhliches Grinsen stiehlt sich in Pauls Gesicht. Unverzeihlich, als Hobbykunsthandwerkerin ohne Schmuck aus dem Haus zu gehen. Mindestens so unmöglich wie für eine Kosmetikerin, ohne den zur Gelegenheit passenden Lippenstift unterwegs zu sein. Seit fast zehn Jahren sind sie nun zusammen, und er liebt sie für diese kleinen Eigenheiten.
„Heute werden wir die richtigen Ringe finden“, verkündet sie, „das spüre ich unter den Fingernägeln.“
„Ganz sicher, genau wie letztes Mal und vorletztes Mal und ...“
Mit gespieltem Zorn geht Erika auf ihn los und trommelt mit beiden Fäusten auf seine Brust.
„Du bist ein Ekel! Ich werde mir das noch gut überlegen, ob ich dich heiraten will.“
„Nein, das wirst du nicht! Weil wir heute Glück haben und die passenden Ringe uns ins Gesicht springen. Gleich am ersten Stand. Da nehme ich Wetten an.“
„Na endlich, das ist die richtige Einstellung, mein Liebling.“
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Karl und Egon sind unterwegs nach Stuttgart, Tankstellen beliefern. Wie jeden Tag.
„Wie weit ist es noch, Karl?“
„Zwanzig Kilometer. Plus minus.“
„Ein Katzensprung also. Den restlichen Weg muss unsere Debby alleine finden. Ich schalte jetzt auf Autopilot.“
Ein alter Witz, den einer der beiden bei jeder Fahrt zum Besten gibt. Debby, so nennen sie liebevoll ihren Tanklaster, zurzeit randvoll mit Benzin.
„Was hat Olga dir denn heute zu essen eingepackt? Meine Monika ist mal wieder nicht aus den Federn gekommen, da hab ich mir selber ein paar Wurstbrote geschmiert.“
Karl muss lachen und meint: „Einen Stinkerkäse. Wenn ich den hier im Laster auspacke, werden wir ohnmächtig. Da rollen sich unsere Zehennägel auf, der Kitt fällt aus der Brille und wir bekommen Ausschlag.“
„Verdammt, wo Olga den nur immer auftreibt? Dafür müsste es eine eigene Gefahrgutverordnung geben.“
Sie sind gut drauf, Karl und Egon. Seit über zwanzig Jahren sind sie Kollegen und treffen sich auch gelegentlich privat. Erst gestern haben sie gemeinsam Olgas Geburtstag gefeiert - und es ist spät geworden. Blöd, wenn man am Montag die erste Schicht hat, aber sie sind ein eingespieltes Team, da kann man sich das leisten.
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„Mensch, ich bin hin und weg von den Ringen. Hol sie raus, dann schauen wir sie uns noch einmal an.“
Paul und Erika sitzen auf der Terrasse eines Cafés. Vor jedem steht ein Riesenstück Schwarzwälder Kirschtorte, dem sie gleich ihre hungrige Aufmerksamkeit widmen wollen. Immerhin sind sie vier Stunden auf der Schmuckmesse von Stand zu Stand gelaufen, haben unendliche Mengen an Hochzeitsringen angeschaut, anprobiert, verworfen, in die engere Wahl genommen, verglichen und endlich, endlich welche gekauft. Paul hat am Ende zu allem Ja gesagt, so fertig war er.
„Sie sind wunderschön. Die werden den Standesbeamten so blenden, dass er sie uns abkaufen will. Für den doppelten Preis.“
„Ich werde sie mit meinem Leben verteidigen!“ Erika springt auf und schwingt einen imaginären Degen durch die Luft. Sie erregen Aufmerksamkeit, doch das ist ihnen egal. Sie sind glücklich. Über den heutigen erfolgreichen Tag und das Leben, das es gut mit ihnen meint. Sie haben sich gefunden und werden bald verheiratet sein. Nur noch eine Woche bis zur Trauung.
„Wir werden ihm stattdessen ein paar Ringe aus dem Kaugummiautomaten unterjubeln, für horrendes Geld“, führt Paul den Spaß weiter.
„Ist schon blöd, dass sie hier keine Fußgängerzone gemacht haben. Die Straße ist doch ziemlich laut“, beschwert sich Erika, weil sie Pauls letzte Worte nicht richtig verstanden hat.
Die Autos kommen zwar nur von rechts, weil es sich um eine Einbahnstraße handelt, doch kurz vor dem Café beschreibt sie eine Kurve, nach der die meisten Autos wieder beschleunigen.
„Ist für nächstes Jahr geplant. Auch weil die Kehre zu gefährlich ist“, weiß Paul.
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„Mannomann, der verdammte Käse hatte es wirklich in sich.“ Egon hält sich mit zwei Fingern symbolisch die Nase zu.
„Klar doch! Dein Wurstbrot war aber auch nicht von schlechten Eltern. Das selbst gebackene Brot von Monika schmeckt herrlich“, meint Karl.
„Ich freue mich schon auf das Bier heute Abend.“
„Wir läuten das Wochenende freitags mit einem Schluck Wein ein. Heute gibt es einen Amarone. Hab ich gestern gekauft.“
Danach schweigen sie wieder, sie müssen nicht dauernd miteinander reden. ‚Wir sind ja keine Weiber‘, pflegt Karl zu sagen, wenn seine Frau Olga ihn zu Hause ausquetscht, was Egon im Verlauf des Tages so alles erzählt hat.
„Du, pass auf, da vorne kommt die vermaledeite Kurve. In der hab ich mich schon mal fast verkeilt“, warnt Egon seinen Kollegen Karl, der gerade fährt.
„Ich weiß, bin froh, wenn die neue Strecke endlich fertig ist.“
„Dann brems auch ab, sonst schaffst du es nicht.“
„Tu ich doch! Aber die Karre reagiert nicht!“
„Was heißt das, reagiert nicht?“
„Verdammt, die Bremse tut nicht!“
„Was?! …“
Sowohl Karl als auch Egon ist das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Mit aller Kraft zieht Egon an der Handbremse, aber die Wirkung ist geradezu lächerlich. Mit gespenstischer Geschwindigkeit kommt die Häuserfront auf sie zu.
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Physik ist gnadenlos … p = m * v … Impuls gleich Masse mal Geschwindigkeit.
Stahlhartes Metall verbiegt sich wie Gummi.
Mauern stürzen ein.
Das Führerhaus wird zerquetscht wie eine Laus.
Zwei Menschenleben verlöschen.
Wie in Zeitlupe legt sich der Tanker auf die Seite, kippt fast … kippt fast … kippt.
Ein Mauervorsprung zerfetzt die äußere Hülle, schrammt an der inneren entlang, reißt sie auf.
Benzin ergießt sich über die Straße, fließt in die Gullys, dringt in die Keller der Häuser ein.
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„Was ist das für ein Lärm? Oh verdammt!“
Erika und Paul drehen sich um und sehen, wie das Benzin auf sie zuläuft. Wie alle anderen springen sie auf und flüchten in die entgegengesetzte Richtung. Erika ist langsamer als Paul, er ergreift ihre Hand und zerrt sie hinter sich her. Ein Blick zurück zeigt ihm, dass der Vorplatz des Cafés bereits komplett überflutet ist.
„Die Ringe!“, schreit Erika, reißt sich los und bleibt stehen, Verwirrung im Gesicht.
„Was ist?“, brüllt Paul zurück, denn er ist weitergelaufen.
„Wir haben sie liegen lassen“, schreit Erika verzweifelt. Sie ist bereits wieder auf dem Weg ins Café.
„Nein, das ist Wahnsinn, komm zurück!“ Das Entsetzen verzerrt Pauls Gesicht zu einer Fratze. Schritt für Schritt weicht er vor dem sich weiter ausbreitenden Benzin zurück, lässt kein Auge von Erika.
Sie ist mittlerweile an dem Tisch angelangt. Ein Griff nach ihrer Handtasche, schon ist sie wieder auf dem Rückweg.
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Ein Mensch überquert eine Straße, ein Auto fährt vorbei. Wäre es einige Millisekunden früher dort entlang gefahren, wäre der Mensch tot gewesen. Das Leben besteht aus Millionen solcher Ereignisse, die sich zeitlich in genau der richtigen Abfolge ereignen müssen, damit wir überleben können.
Niemand weiß, warum das Benzin den Holzofen in einem der überfluteten Keller genau zu diesem Zeitpunkt erreichte. Wäre es nur fünf Sekunden später geschehen, hätte Paul sich nicht sein Leben lang Vorwürfe machen müssen, weil er Erika nicht fest genug an der Hand gehalten hat.
Texte: © Marcel Porta, 2015
Bildmaterialien: Coverfoto: Harry Neumaier, „Feuergesicht“, CC-Lizenz (BY 2.0) http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de Das Bild stammt aus der kostenlosen Bilddatenbank www.piqs.de
Lektorat: Egon Jahnkow
Tag der Veröffentlichung: 03.08.2015
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