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Eine Nacht in der Bibliothek

Vom Schreiben kann man leben, wenn man erstens talentiert ist, zweitens Glück und drittens einen guten Verleger hat. Mir war das nicht beschieden, und so musste ich mir eine andere Verdienstquelle suchen. In Anbetracht meiner insgesamt eher bescheiden zu nennenden Fähigkeiten bewarb ich mich um den Posten eines Nachtwächters in der größten Bibliothek der Stadt. Es gab einige sehr wertvolle Exemplare, die man zu keiner Stunde ohne Bewachung lassen wollte.

Für mich als passionierte Leseratte konnte es keine spannendere Tätigkeit geben, denn Nacht für Nacht vergrub ich mich in die Wälzer der Weltliteratur. Besonders interessant fand ich den Raum mit Erstausgaben berühmter Bücher. Dort hielt ich mich oft auf und blätterte in den alten Folianten. Zeit hatte ich genug. Nur einschlafen durfte ich nicht, sonst verlor ich meinen Job.

Eines späten Abends, ich hatte mich gerade in Moby Dick vertieft, schreckte ein Geräusch mich auf, das nicht hierher gehörte. Es klang, als würde ein Messer gewetzt. Was jedoch definitiv nicht stimmen konnte, nicht hier in der Bibliothek. Bevor ich reagieren konnte, spürte ich eine scharfe Klinge an meinem Hals.

„Wo ist dieser Schurke?“, schrie mich der Besitzer des Halsabschneidegeräts an.

„Wer? Was? Wie?“

„Stell dich nicht dumm! Wo ist Peter?“

„Welcher Peter? Ich kenne mindestens drei.“

„Noch so eine Antwort und du bist einen Kopf kürzer!“

Die Situation kam mir so skurril vor, dass ich vermutete, mich in einem Traum zu befinden. Doch die Schneide des Messers war verdammt scharf und real. Der Blutstropfen, der mir den Hals herunterlief, fühlte sich unglaublich echt an.

„Ich weiß nicht, welchen Peter Sie meinen.“

„Es gibt nur einen Peter. Wo ist Peter Pan?“

Nein, das konnte nicht sein. Das war unmöglich! Der Mann, der seinen Säbel gegen meine Kehle drückte, konnte nicht ...

„Hook ...?“

„Ha, du weißt, wer ich bin? Dann kennst du Peter mit Sicherheit. Wo ist er?“

Ich wandte den Kopf, um meinen Widersacher in Augenschein zu nehmen. Die Wut in seinen Augen war echt, und es war eindeutig nicht gut Kirschenessen mit ihm.    

„Ja, ähem, wie soll ich es sagen ...? Peter und du … ihr seid nur Romanfiguren.“

„Ach, was du nicht sagst? Und mein Säbel stammt auch nur aus einem Buch, was?“ Der Druck an meinem Hals wurde stärker und ein weiterer Blutstropfen suchte sich einen Weg nach unten.

Verdammt, der Mann hatte recht. Der bestialische Gestank, der von ihm ausging, war zu echt, um eingebildet zu sein. Zwischen Hook und Seife musste Todfeindschaft herrschen oder eine sonstige Inkompatibilität grundsätzlicher Art vorliegen.

Doch nein! Wie konnte ich so etwas auch nur denken? Hook gab es nicht wirklich!

 

„Belästigt dich dieser Mann?“, unterbrach eine helle Stimme meine Überlegungen.

„Meinst du mich?“, fragte ich zurück.

„Siehst du sonst noch einen Typen, an dessen Hals gerade herumgeschnippelt wird?“

Das Bürschchen, das mit seinen altklugen Bemerkungen nicht gerade zur Entschärfung der Angelegenheit beitrug, war höchstens sechzehn und dünn wie ein Hungerhaken. Keine Hilfe also in meiner Situation.

Aber Hook interessierte sich plötzlich mehr für ihn als für mich. Er ließ mich los, um sich auf den Knaben zu stürzen. Kaum war er einen Schritt auf ihn zu getreten, stürzte sich ein anderer Junge im gleichen Alter von hinten mit einem dicken Knüppel auf den bärtigen Seeräuber und schlug ihm mit voller Wucht in die Beine. Hook versuchte noch, sich aufrecht zu halten, doch dann sank er in die Knie und fiel vornüber der Länge nach hin.

 „Nichts wie weg!“, brüllten die beiden Jungs unisono. Ohne das Brodeln in meinem Kopf zu beachten und unnütze Gedanken aufkommen zu lassen, rannte ich hinter ihnen her. Hooks ohnmächtiges Gebrüll verfolgte uns durch die Gänge der Bibliothek.

„Klasse, Tom, das haben wir prima hinbekommen“, klatschten sich die beiden ab, als wir endlich stehen blieben. Ich war völlig außer Atem, ganz im Gegensatz zu meinen neuen Freunden, die sich munter unterhielten und begeistert von ihrem Streich waren.

„Danke, ohne euch wäre ich verloren gewesen“, schaltete ich mich ins Gespräch ein.

„I wo, der alte Hook ist eine lahme Kröte. Was wollte er eigentlich von dir?“, fragte der, den ich schon als Tom kannte.

„Garantiert wollte er wissen, wo er Peter findet“, kam mir sein Freund zuvor. „Er ist ständig hinter ihm her, doch er erwischt ihn nie. Peter ist viel zu clever für den alten Käpt‘n. Der ist so grenzenlos dumm.“ Er kicherte.

„Der hat immer noch nicht geschnallt, dass Tom und Huck stets im Doppelpack auftreten.“

Erst jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Tom und Huck! Natürlich.

„Kann es sein, dass du in Wahrheit Huckleberry heißt?“, wollte ich mich vergewissern, und Hucks Nicken bestätigte mir, was ich bereits wusste: Ich war in eine abgedrehte und aberwitzige Geschichte geraten.

„Habt ihr wirklich keine Angst vor Hook?“, wollte ich wissen. „Er sah gefährlich aus“

„Es gibt nur einen hier, den man fürchten muss“, antwortete Tom.

„Und wer ist das?“

„Du wirst ihn an seinem Holzbein erkennen.“

Kaum hatte er seinen Satz beendet, erklang ein ‚Tock, Tock, Tock’, das langsam näherkam.

„Wenn man vom Teufel redet“, wandte sich Huck missbilligend an seinen Freund.

„Verflucht, das ist John. Am besten, wir verschwinden.“

Mittlerweile vertraute ich den beiden und nahm mit ihnen Reißaus.

„Wer war der Kerl?“, wollte ich wissen.

„Long John Silver.“

„Irre! Sucht er immer noch die Schatzinsel?“

„Klar, ist so eine Art Hobby von ihm. Aber woher weißt du das? Kennst du ihn? Ich sehe dich heute zum ersten Mal.“ Tom schaute mich misstrauisch an.

„Ja, ich bin neu hier. Und will auch schleunigst wieder weg. Hab nur keine Ahnung, wie ich das anstellen soll.“

„Dir gefällt es hier also nicht?“, fragte Tom mit missbilligendem Unterton.

„Doch, schon, aber …“, stotterte ich, denn ich wollte meine neu gewonnenen Freunde nicht verärgern.

„Aber …?“

„Ich habe eine dringende Verabredung mit einer jungen Dame“, log ich das Blaue vom Himmel, „und wenn ich nicht pünktlich bin …“

„Verstehe!“, zeigte sich Huck einsichtig, „Damen darf man nicht warten lassen.“

„Und, wo ist das Problem?“, wollte Tom wissen.

„Ich weiß nicht, wie ich diese Räume wieder verlassen kann.“

„Scheint ein vertracktes Problem zu sein“, meinte Huck.

„Yepp!“

„Ist es sehr vertrackt?“

„Ich denke.“

„Dann ist es ein Fall für Sherlock.“

„Was?! Der ist auch hier? Den will ich unbedingt kennenlernen. Er kann mir bestimmt helfen“, gab ich mich zuversichtlich. Mittlerweile war mein Geist so verwirrt, dass ich nicht mehr sicher war, ob die beiden Buben und Sherlock real waren oder nicht. Selbst meiner eigenen Person hätte ich keine Echtheitsbestätigung ausgestellt.

 

Die Suche nach Sherlock Holmes war aufwendig. Wir begegneten unterwegs dem Großinquisitor (gefährlich), Jim und Lukas (samt Emma), Lady Macbeth (sehr gefährlich) und Maria Stuart (bedauernswert). Letztere sah aus wie eine Nonne, gekleidet in ein schwarzes Satinkleid, gesäumt mit schwarzem Samt. Am Gürtel waren zwei Rosenkränze befestigt und ein weißer Schleier bedeckte ihr Haar. Letzteres irritierte mich, denn sie trug ihren Kopf unter dem Arm. Als sie uns höflich begrüßte, war ich kaum einer Antwort fähig.

Doch schließlich fanden wir Mr. Watson, der uns zum größten Detektiv der Literaturgeschichte brachte.    

„Ein interessantes Problem“, kommentierte der meine ausführliche Schilderung. „Natürlich ist Ihre Prämisse nicht real, denn dass wir hier alle Romanfiguren sind, ist blühender Unsinn.“

„Nein! ...“, wollte ich protestieren, doch mit einer herrischen Armbewegung wischte er meinen Einwand beiseite.

„Aber ich liebe Rätsel und wir tun mal so, als wäre die Prämisse korrekt. Jetzt kommt es darauf an, von dieser gegebenen Grundlage aus richtige Schlüsse zu ziehen. Denn Schlüsse sind wie Küsse, sodass je zwei zusammen einen ergeben.“

Sein heiseres Lachen füllte den Raum, und ich staunte nicht schlecht, dass eine Romanfigur Shakespeare zitieren konnte.

 „Wenn alle Menschen in diesem Gebäude Romanfiguren sind, die aus einem der Bücher in der Bibliothek stammen, dann ergibt sich zwingend ... na, was wohl?“

„Ähem, keine Ahnung“, gab ich zur Antwort. Auch Tom und Huck schüttelten den Kopf.

„Dass auch Mr. Porta eine Romanfigur ist“, bewies Watson seinen geschulten Verstand, „und das Buch, dem er entsprungen ist, steht in dieser Bibliothek.“

„Richtig! Prima Mr. Watson. Und welche Frage müssen wir uns als nächste stellen?”

„Dafür sind Sie zuständig, Mr. Holmes“, zog sich der Musterschüler aus der Affäre.

„Dann wollen wir gemeinsam überlegen, wer als Autor dieses Buches infrage kommt. Wie uns Mr. Porta erzählt hat, schreibt er Geschichten und veröffentlicht sie auch. Ist es nicht möglich, dass er eine Geschichte geschrieben hat, in der er selber vorkommt?“

„Natürlich, das habe ich. Schon öfters. Aber wie soll uns das weiterbringen?“

„In der Bibliothek stehen nur Bücher berühmter Autoren, und keiner von denen wird über den doch ziemlich unbedeutenden Mr. Porta geschrieben haben. Das dürfen wir mit einer vernachlässigbaren Fehlerwahrscheinlichkeit annehmen.“

Tja, da musste ich ihm recht geben.

„Nichtsdestotrotz befindet sich ein Buch in dieser Bibliothek, in dem Mr. Porta eine Rolle spielt. Es kann erst kürzlich dorthin gelangt sein, sonst wäre er früher bei uns aufgetaucht. Wenn ich dann noch die Tatsache ins Kalkül ziehe, dass ein gewisser Nachtwächter Zutritt zur Bibliothek hat, der Geschichten schreibt, und zwar, wie er eben zugegeben hat, auch solche über sich selbst, ergibt sich zweifelsfrei folgender Schluss: ...“

Er verstummte und wir alle hielten die Luft an.

„Na, Mr. Watson?”

„Dass er selber ...“

„Haargenau!“ Sherlock klatschte in die Hände und strahlte über beide Backen.

„Mr. Porta hat ein Buch dort deponiert, in dem er selber vorkommt.“

 „Äußerst klug kombiniert, Mr. Holmes. Doch leider weiß ich nichts davon, und das widerlegt ihre Schlussfolgerung“, wagte ich einzuwenden.

„Keineswegs. Wenn Sie eine Romanfigur sind, haben Sie den Wissensstand der Person, die Sie zur Zeit der Niederschrift waren. Das Buch aber haben Sie erst deponieren können, nachdem es geschrieben war. Ergo ...“

Seiner Logik war ich nicht gewachsen. Direkt unheimlich!

„Gut, Sie haben recht. Aber wie mir diese Schlussfolgerungen helfen sollen, von hier zurück in die Wirklichkeit zu kommen, ist mir immer noch schleierhaft“, gab ich zu bedenken.

„Ist eigentlich ganz einfach. Wir suchen das Buch, verbrennen es, und schon sind Sie verschwunden. Zurück in der Realität.“

„Klar, warum bin ich nicht selbst darauf gekommen? Auf, suchen wir das Buch!“

Es war Irrsinn, doch er hatte Methode. Gemeinsam stürmten wir durch die Bibliothek. Sie war riesig und es schien ein hoffnungsloses Unterfangen, besagtes Buch in absehbarer Zeit zu finden, denn die Bücher waren nicht nach dem Alphabet sortiert.

„Das Alphabet würde uns sowieso nicht weiterhelfen“, kommentierte Sherlock meine Niedergeschlagenheit angesichts des ersten Misserfolgs.

„Wieso?“, wollte ich ungläubig wissen.

„Weil Sie, Mr. Porta, das Buch mit Sicherheit nicht irgendwo so hingestellt haben, dass es in absehbarer Zeit gefunden werden kann. Überlegen Sie sich mal den Skandal, wenn herauskäme, dass ein Buch von minderwertiger Qualität hier deponiert worden ist.“

Langsam ging mir Herr Holmes mit seinen Überlegungen auf den Wecker.

„Sie haben es versteckt, und wir müssen jetzt logisch vorgehen. Welcher Raum gefällt Ihnen denn am besten?“, wollte Sherlock wissen.

„Der mit den Erstausgaben.“

 „Also auf, folgt mir!“, forderte uns Sherlock auf, und mit uns allen im Schlepptau begab er sich zu besagtem Raum. Dort angekommen schaute er sich kurz um.

„Was bietet sich da als Versteck mehr an als ...“

Beherzt griff er in eine Lücke hinter der Heizung und zog ein Heft hervor.

„Eine Nacht in der Bibliothek“, las er den Titel vor. „Und der Autor: Marcel Porta.“

Seine triumphierende Stimme erhöhte keineswegs meine Sympathie für den alten Knaben. Schon zückte er ein Feuerzeug, blätterte das Heft auf, und die Seiten fingen Feuer. Sollte er am Ende recht behalten und ich verschw...

 

 Auch in der folgenden Geschichte sollten wir unseren Verstand nicht damit strapazieren, alle Zusammenhänge verstehen zu wollen. Drehschwindel und ein dem Delirium tremens zum Verwechseln ähnlicher Zustand wären unabwendbar die Folge. Der Autor lehnt jedwede Entschädigungsforderung hiermit im Voraus kategorisch ab.

 

 

Zeit ist Illusion

Die Katze ist das Wappentier unserer Gilde der Zeitreisenden. Wegen des Wahlspruchs. „Manipulation Ist Absolut Untersagt!“ MIAU!

Seit mehr als zwanzig Jahren gehöre ich dazu, habe das ZRZ als einer der Ersten erhalten. Das Zertifikat wird nur herausragenden Wissenschaftlern erteilt, weil man sich darauf verlassen muss, dass nur beobachtet wird, keine Manipulation erfolgt. Die Folgen könnten furchtbar sein.

Bis letzte Woche hätte ich jeden Eid geschworen, dass nichts mich in Versuchung führen könnte, mein Privileg zu missbrauchen. Und doch bin ich jetzt unterwegs, um genau das zu tun. Seit ich Helga mit meinem besten Freund Siegmund in unserem Ehebett erwischt habe, geht mir nur noch eins durch den Kopf: Wie ich ihn aus meinem Leben streichen kann. Dieser Zustand darf nicht ewig dauern!

Siegmund und ich waren beide sechsundzwanzig, als wir uns kennen lernten. Bei einem Verkehrsunfall. Direkt vor meinen Augen wurde ein Mann von einem Lastwagen umgefahren und war sofort tot. Der Schock darüber traf mich direkt ins Herz, sodass ich wie paralysiert da stand.

„Was ist mit dir? Fehlt dir was“, sprach mich ein dunkelhäutiger Mann an und griff mir unter die Arme, als ich in mich zusammensackte.

„Ich weiß nicht, aber dieser Unfall … mir ist schlecht, und ich muss kotzen, glaube ich“, gab ich zur Antwort und schon kam es mir hoch.

Siegmund, denn er war es, der mich angesprochen hatte, schleppte mich zu einem Gulli und half mir, diese schwere Stunde zu überstehen. Bis heutigen Tags habe ich keine Ahnung, warum es mir damals so schlecht ging, tödliche Unfälle gab es in unserer Stadt jeden Tag. Und da ich als Rettungsarzt arbeitet, konnten solche dramatische Anblicke mich eigentlich nicht schocken. Doch dieser unbegreiflichen Unpässlichkeit war es zu verdanken, dass Siegmund und ich uns kennen lernten, und wenn ich es schaffte, den Unfall zu verhüten, würde ich ihm nie begegnen und Helga würde niemals in seinen Armen landen.

 

Ein ziemlich schlechtes Gewissen bedrängte mich, als ich aus der Zeitmaschine stieg und die Uhr mir verriet, dass ich am richtigen Tag angekommen war. Wissenschaftliche Beobachtungen durften wir durchführen, sonst nichts, und der Eid, den wir Zeitreisende geschworen hatten, war meines Wissens noch niemals gebrochen worden. Von niemandem. Ich würde der Erste sein. Schreckliche Folgen waren uns prophezeit worden, von Wirklichkeitsumstülpungen infolge unumkehrbarer Paradoxa war die Rede gewesen, doch daran glaubte ich nicht. Das waren Ammenmärchen, um uns einzuschüchtern. Gar nichts würde passieren, außer dass mir dieser unerträglich Anblick von Helga und Siegmund in unserem Ehebett erspart bliebe. Dafür war ich gerne bereit, etwas zu riskieren und meine wissenschaftliche Reputation aufs Spiel zu setzen.

Verdammt, die Zeit wurde knapp. Wenn ich mich richtig erinnerte, fand der Unfall kurz vor zwölf statt, ich musste mich beeilen, wenn ich rechtzeitig eingreifen wollte. Ich rannte los und kam keuchend kurz vor dem erforderlichen Zeitpunkt am Marktplatz an. Kurz blieb ich stehen, um mich zu orientieren. Und dann sah ich mich. Jung und unbeschwert stand mein jüngeres Ich da, kaum zwanzig Meter von mir entfernt. Wenn ich mich recht erinnerte, kam der junge Kerl, der ich war, gerade aus einem Vormittagskonzert der Philharmoniker. Und in wenigen Minuten würde er Siegmund treffen … oder eben nicht treffen, wenn ich es verhindern konnte.

Plötzlich sah ich den Lastwagen, er kam eben um die Ecke geschossen. Ich hatte keine Ahnung, wer das Opfer sein würde, ich musste die Situation genau beobachten, um diese Person rechtzeitig wegzureißen.

Panik stieg in mir hoch, denn ich sah niemanden, der in Frage kam, kein Mensch stand auf dem Weg, den der LKW nehmen würde. Ich schaute zu meinem sechsundzwanzigjährigen Ebenbild hinüber und mir blieb fast das Herz stehen. Siegmund stand nur zwei Meter neben ihm. Noch hatte es keinen Kontakt gegeben, ich musste hin, um ein Zusammentreffen zu verhindern!

Kaum war ich losgerannt, wusste ich, welchen tödlichen Fehler ich begangen hatte. Der Lastwagen raste auf mich zu und es gab keine Chance zu entkommen …

 

 

So kann es natürlich nicht weitergehen. Langsam, aber wirklich nur langsam, bewegen sich die Geschichten für die geistige Gesundheit zuträglicheren Gefilden zu. Eine gute Portion Leichtgläubigkeit schadet jedoch nicht, oder die nähere Bekanntschaft mit einigen orientalischen Märchen, bei denen Geister in Flaschen wohnen.

 

 

 

Schnurgelhupf

Hans Ingolf Martin Glück war mit einem sonnigen Gemüt gesegnet, hatte viele Freunde und keine Feinde. Sein Leben verlief ruhig und ohne besondere Höhepunkte. Er war mit sich und der Welt zufrieden, lebte im Einklang mit der Natur und hielt sich nicht für etwas Besonderes. Umso erstaunter war er, dass ausgerechnet ihm eines Tages ein Flaschengeist erschien.

Als ordentlicher Mensch wollte er die alte Flasche, die er im Wald auf einem Spaziergang gefunden hatte, nicht da liegen lassen. Also hob er sie auf und steckte sie in seinen Rucksack, um sie zu Hause zu entsorgen. Gerade, als er sie in den Behälter für Glasabfall werfen wollte, sah er auf dem vergilbten Etikett einige seltsame Kringel, die sich bei näherer Betrachtung als arabische Schriftzeichen entpuppten.

„Seltsam“, sprach er zu sich, „wie kommt eine solch exotische Flasche in den Oberen Wald? Was da wohl drin war?“ Seine Neugierde ließ ihn den Korkstöpsel herausdrehen, und damit begann für Hans ein seltsames Abenteuer.

 „Ich kann dir deine Frage beantworten!“, dröhnte eine Stimme durchs Zimmer, die ihn fast taub werden ließ. Zu Tode erschrocken entfuhr ihm ein Fluch.

„Verdammt!“ Niemand außer ihm befand sich im Raum, er war mutterseelenallein. Sein ängstlich im Schädel zusammengekauertes Gehirn weigerte sich, ordnungsgemäß zu funktionieren, und so reichte es nicht zu intelligenteren Äußerungen.

„ICH war in der Flasche! ICH, Schnurgelhupf, der größte, beste, beliebteste, schönste, intelligenteste ...“

„Hör auf zu brüllen!“, versuchte Hans, die Stimme zu übertönen, indem er trotz seiner Angst so laut gegen sie anschrie, wie er konnte. Er hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu, denn der Lärm war unerträglich. Tatsächlich schaffte er es, die Stimme zum Schweigen zu bringen.

„Wenn du mir was sagen willst“, fuhr er leiser fort, „dann versuch zu flüstern. Mir dröhnt der Kopf und die Ohren fallen mir ab.“

„Ich bin Schnurgelhupf“, ertönte es bedeutend leiser, „der größte, beste, beliebteste, schönste ...“

„Das weiß ich schon, komm endlich zu Potte!“, unterbrach ihn Hans, ganz entgegen seiner ansonsten höflichen Art. Einer Stimme ohne körperliche Präsenz gegenüber war sein Geduldsfaden jedoch um etliches kürzer als gewöhnlich.

„Ich wurde in einen Flaschengeist verzaubert.“

Schnurgelhupfs Stimme klang weinerlich, und es berührte Hans, diesem körperlosen Schniefen zuzuhören.

„Was ist denn los mit dir? Kann ich dir irgendwie helfen?“ Ja, da war er wieder, der alte Hans. Immer hilfsbereit und ganz Gentleman.

„Die Hexe Mumpelfrunz hat mir meinen wunderschönen, eleganten, einzigartigen ...“

„Räusper!“ „

... Körper weggezaubert und mich in diese Flasche eingesperrt“, beendete der Geist seinen Satz ziemlich abrupt.

„Tragisch!“, bekundete Hans sein Mitleid. „Gibt es eine Möglichkeit, dir zu helfen?“

„Ja! Wenn du das wirklich tust, werde ich dir zum Dank ... lass mal überlegen ... mein Lieblingslied vorsingen. Es fängt so an: Wenn meine heißen Lippen ...“

„Um Gottes willen! Sei still!“

Erst als Ruhe eingekehrt war, nahm Hans die Hände wieder von den strapazierten Ohren. Wie man vier Worte mit so vielen falschen Tönen singen konnte, überstieg sein an klassischer Musik geschultes Gehör. Er spürte den Schmerz bis in die Zehennägel, die er bisher für unmusikalisch gehalten hatte.

„Ich helfe dir, auch ohne Dank. Was muss ich tun?“

„Du musst dir drei Dinge wünschen. Wenn ich sie erfüllen kann, bin ich frei und bekomme meinen Körper zurück.“

„Hmm, das ist schwierig.“

„Wieso das denn?“

„Ich habe keine Wünsche. Mit geht es rundum gut. Was sollte ich mir also wünschen?“

„Nein!“, schrie Schnurgelhupf auf, „da stecke ich zweihundert Jahre in dieser engen Flasche, und wer findet mich? Ausgerechnet der einzige Mensch auf dieser vermaledeiten Welt, der keine Wünsche hat.“

Die letzten Worte stieß er so untröstlich hervor, dass sie Hans zu Herzen gingen.

„Weißt du, ich hab eine Idee. Ich könnte ja ...“

„Was?“, drängte ihn der Geist, als Hans verstummte.

„Ich wünsche mir einen Zentner Gold, hier direkt vor meinen Füßen.“

„Oh, ja, prima. Das ist eine meiner leichtesten Übungen. Siehst du, man muss nur überlegen, dann kommen die Wünsche.“

„Ich sehe aber kein Gold? Hast du etwa geflunkert?“

„Nein, natürlich nicht. Simsalabim, ruckel, ruckel, raschel, raschel, drei Mal schwarzer Kater.“ Wie aus dem Nichts erschien vor Hans ein Brocken Gold. Erst war er noch durchsichtig, doch seine Konturen wurden immer schärfer, bis der Klumpen fertig zu sein schien. Hans betastete ihn vorsichtig, überzeugte sich, dass es pures Gold war, das da vor ihm lag.

„Wow, Schnurgel, das war beeindruckend. Du hast es wirklich drauf.“

„Gell?! Ich bin nämlich der beste, größte, bekannteste, unvergleichlichste ...“

Hans verdrehte die Augen und brachte die Stimme so zum Verstummen.

„Dann zeig mir jetzt beim zweiten Wunsch, wie gut du wirklich bist. Lass das Gold wieder verschwinden!“

„Was?!“ „Hab ich genuschelt?“

„Verschwinden?!“

„Genau, damit hast du dann schon zwei Wünsche erfüllt.“

„Schon gut, ich tu’s. Du bist eindeutig der komischste Kauz, der mir in den letzten tausend Jahren begegnet ist.“

Ein Fingerschnippen ertönte und das Gold war verschwunden.

„Hey, was ist mit dem Zauberspruch?“, erstaunte sich Hans.

„Ach, das ist nur unnützes Beiwerk, eigentlich reicht es, wenn ich mir den Wunsch vorstelle. Aber du musst zugeben, dass es anders eindrucksvoller ist.“

„Ja, unbedingt“, stimmte ihm Hans zu.

„So, und was darf ich jetzt als dritten Wunsch vermerken? Noch mal einen Klumpen Gold?“

„Verflixt, das hab ich gar nicht bedacht. Ich hab ja nur noch einen Wunsch und kann ihn nicht mehr rückgängig machen. So ein Mist!“

„Du bist nicht nur seltsam, sondern auch noch ein Dummkopf, scheint mir“, amüsierte sich die körperlose Stimme.

„Wenn du mir so kommst, mein Lieber, dann überlasse ich dir den dritten Wunsch. Denk dir etwas für mich aus, mir ist es egal!“

„Unglaublich! Auf diese Idee ist noch niemand vor dir gekommen. Du bist also doch nicht so blöd, wie ich vermutet habe. Lass mich einen Augenblick nachdenken.“

Während der nächsten Minuten vernahm man ein lautes Gemurmel,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Marcel Porta
Bildmaterialien: Cover und alle weiteren Bilder: Klaus Maßem
Lektorat: Egon Jahnkow, Katharina Conrad
Tag der Veröffentlichung: 17.02.2016
ISBN: 978-3-7396-3812-6

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Allen gewidmet, die Spaß verstehen und Humor haben.

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