Autorin:
Karin Welters
Copyright © 2019
All rights reserved
ISBN-13: 978-3-948078-19-5
Cover Fotos © 2019 by/123RF, subbota
Cover Layout © Karin Welters
Frauen morden sanfter © Autorin
Published by © LitArt-World, 2019
Nichts ist so, wie es erscheint. In diesen zehn Kurz-krimis geht es hinterlistig, boshaft oder heimtückisch zu. Es wird gemeuchelt, betrogen, getäuscht und irregeführt – oft mit unerwarteten Wendungen.
Die Autorin hat ihrer kriminellen Fantasie keine Grenzen gesetzt und mit ihrem „Schatzkästchen voller Cosy Crimes“ verräterische Spuren hinterlassen.
Seit 52 Jahren sortierte Adele von dienstags bis samstags von halb acht bis acht in einem frisch gestärkten, weißen Kittel die Lockenwickler nach Größen und Farben. Ihre etwas gichtigen Hände bereiteten ihr an jenem trüben Mittwoch im Oktober ein wenig Unbehagen, doch sie ließ sich Ewald gegenüber nichts anmerken. Der war um diese Zeit, wie immer, mit der Abrechnung des Vortages beschäftigt. Adele schaute liebevoll zu ihrem Mann hinüber, der sich ganz auf sein Tun konzentrierte. Seine Halbglatze schimmerte im Neonlicht und Adele schwelgte für einen kurzen Moment in Erinnerungen an die Zeit, als sie ihn kennenlernte. Gut, er war nicht besonders groß mit seinen 1,64m, ein Grund, warum Adele ihr ganzes Leben immer nur flache Schuhe trug. Aber seine vollen, dunkelblonden Locken und seine lebendigen, blauen Augen hatten es ihr bei ihrer ersten Begegnung – damals, vor 54 Jahren – angetan.
Das ‚Rrrretsch’ der alten Rechenmaschine, wenn Ewald den seitlichen Griff herunterdrückte, holte sie in die Gegenwart zurück. Kurze Zeit später hielt sie einen Abriss von der vergilbten Papierrolle in der Hand – eine kurze Zahlenreihe, die wieder einmal bestätigte, dass der Tagesumsatz weiter gesunken war. Adele war froh, dass das Haus abbezahlt war und die Rente ausreichte, um den Salon mehr oder weniger als Freizeitvergnügen weiter betreiben zu können. Nein – leben konnten sie von den ständig schrumpfenden Einkünften nicht mehr. Aber… was hätten sie sonst tun sollen? Außerdem hatten sie und Ewald, davon war Adele felsenfest überzeugt, noch eine sehr, sehr wichtige Aufgabe auf Erden zu erfüllen.
Pünktlich um acht Uhr schlurfte Ewald zur Tür und drehte den Schlüssel, um unangemeldete Kunden einzulassen, die ohnehin seit Jahren nicht mehr vor dem Geschäft in der ruhigen Seitenstraße warteten. Adele seufzte. Als die Umgehungsstraße vor 15 Jahren fertig gestellt und eingeweiht wurde, atmeten die Anwohner erleichtert auf, aber sie und Ewald wussten, dass davon nur die umliegenden Friseursalons profitieren würden, denn die Laufkundschaft verirrte sich nie in ruhige Nebenstraßen.
Ein wenig umständlich setzte Adele ihre Brille auf und sah im großen Terminbuch nach, welche Kundinnen sich an jenem Mittwoch für einen Besuch angemeldet hatten. Nur zwei Namen waren verzeichnet: Helene Baumann um 09.30 Uhr und Selma Taubert um halb elf. Und beide, so besagten die Eintragungen, wollten eine Dauerwelle. Adele lächelte leise in sich hinein, denn die beiden über 80jährigen, langjährigen Stammkundinnen hatten bestimmt viel Neues zu berichten.
Adele blieb reichlich Zeit, die dunkle Wandvertäfelung aus Mahagoni mit Politur und den grünen Linoleumboden mit Bohnerwachs zu bearbeiten und alles zum Glänzen zu bringen. Ja, Adele legte großen Wert auf ein gepflegtes und wohlriechendes Ambiente. Das war sie ihren treuen Kundinnen schuldig.
Pünktlich um 09:30 Uhr wurde Helene Baumann von ihrer fürsorglichen Tochter Gaby in den Salon geleitet. Helene bevorzugte stets den Platz unmittelbar am Fenster und ließ sich ächzend in den höhenverstellbaren Lehnstuhl fallen.
„Hallo, Adele! Wie geht’s?“
„Grüß dich, Helene. Ganz gut. Und dir?“
„So lala. Wenn dieses ständige Herzrasen nicht wär, ging es mir besser.“
„Ach. Seit wann hast du das denn?“
„Nun… seit etwa vier Wochen.“
„Und was sagt der Arzt dazu?“
„Pah! Ärzte! Hör mir auf mit denen. Die finden immer mehr Krankheiten, als du Beschwerden hast.“
Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Denk nur an die arme Berta. Kaum, dass sie die Dosis ihrer Pillen gegen ihr schreckliches Rheuma erhöhte, segnete sie das Zeitliche.“
„Ja wir vermissen sie alle. Viele unserer Kundinnen sterben uns weg.“
Ewald trat hinzu. „Was macht Theo?“, fragte er.
Helene wandte sich ihm zu. „Danke. Theo geht’s gut. Seine Arthrose setzt ihm zwar heftig zu, aber das ist nun mal so, wenn man auf die neunzig zugeht.“
„Da sagst du was.“
Adele schob Ewald zur Seite. „Nun lass mich meine Arbeit tun. Schließlich ist Helene hier, um sich verschönern zu lassen.“ Mit einem Augenzwinkern fügte sie hinzu: „Die Zeit beim Friseur wollen unsere Damen nicht auch noch mit Gesprächen über ihre Ehemänner verbringen. Gerade die wollen sie einmal für kurze Zeit vergessen. Nicht wahr, Helene?“
„Das ist wohl wahr“, schmunzelte die Kundin.
Helene beugte sich nach vorn, über das große, viereckige Waschbecken, an dem vor Jahrzehnten ein Stück Emaille abgesplittert war und drückte den obligatorischen Waschlappen vor die Augen, während Adele die Haare mit Shampoo einrieb.
Kurze Zeit später drehte Adele die kleinen, rosafarbenen, gebogenen Lockenwickler in das weiße Haar ihrer Kundin. Sie holte die Flasche mit der Thioglykolsäure aus dem Regal und führte die Spitze der Flasche an jedem einzelnen Lockenwickler entlang. Dann legte sie Helene eine Reihe von Zeitschriften der Regenbogenpresse vor und fragte: „Möchtest du einen Kaffee, Helene? Wie immer?“
„Nein, liebe Adele. Seit ich dieses Herzrasen habe, kann ich keinen Kaffee mehr vertragen.“
„Wie wär’s dann mit einem Wasser?“
„Ja gern“, erwiderte Helene und griff begierig nach den Zeitschriften, die sich mit Schlagzeilen über diverse Königshäuser gegenseitig übertrumpften. Schließlich tränkte Adele das vorbehandelte Haar ihrer Kundin mit Wasserstoffperoxid, damit die Locken für einige Zeit ihren Halt bewahrten.
Wieder läutete die Messingtürglocke und Selma Taubert humpelte herein. Ewald begrüßte sie: „Guten Tag, Selma. Wie geht es dir?“
„Frag nicht“, stöhnte die dürre, alte Dame und stützte sich auf ihrem Ebenholzstock mit dem silbernen Griff ab. „Frag nicht, Ewald. Ich wünschte, der liebe Gott würde mich holen.“
„Aber Selma! So etwas sagt man doch nicht!“
„Lass es gut sein, Ewald. Wenn einem jeden Morgen die Knochen wehtun, dann fällt das Aufstehen schon arg schwer.“
Sie erblickte Helene. „Ach schau einmal an – unsere liebe Helene ist auch mal wieder da.“
„Grüß dich, Selma“, tönte die Weißhaarige mit den Lockenwicklern. „Sieht man dich auch mal wieder?“
„Na ja – wozu der Friseurbesuch doch gut ist.“
„Sag mal, Selma, wo warst du denn bei Bertas Beerdigung am letzten Freitag? Wir haben dich vermisst“, fragte Adele dazwischen.
Selma schüttelte den Kopf.
„Ich kam an dem Morgen einfach nicht hoch. Du weißt doch – mein Rheuma. Es wird immer schlimmer.“
„Ja, das war bei Berta auch so, nicht wahr?“, meldete sich Ewald.
„Du sagst es, Ewald. Du sagst es. Die Ärmste“, bedauerte Selma die ehemalige Freundin.
„Ja, aber jetzt ist sie erlöst“, erwiderte Helene.
Adele nickte: „Ja, ihr geht es erheblich besser auf der anderen Seite als uns hier.“
„Und ob“, pflichtete Selma bei, „ich wünschte, es ginge bei mir genauso schnell wie bei Berta.“
Ewald und Adele wechselten einen schnellen Blick und Adele errötete. Gott sei Dank bemerkten weder Helene noch Selma den kleinen Vorfall.
Während Adele die Chemikalie aus Helenes Haar wusch, plauderten Ewald und Selma weiter.
„Wie ich hörte“, bemerkte Selma, „war Berta nur wenige Tage vor ihrem Tod noch bei euch. Stimmt das?“
„Oh ja“, bestätigte Ewald. „Ihr Haar war ganz prächtig zurechtgemacht, wie wir hörten. Bertas Freundin Maria erzählte, dass sie aussah, als ob sie schliefe, als sie sich am offenen Sarg von ihr verabschiedete.“
Selma runzelte die Stirn. „Wenn man es nicht besser wüsste... man könnte meinen, dass der Besuch bei euch ein böses Omen bedeutet.“
„Wie meinst du das?“, fragte Ewald freundlich.
„Na ja“, zögerte Selma, „Lisbeth und Grete waren auch kurz vor ihrem Tod noch bei euch. Stimmt’s?“
„Ist das nicht ein Zufall?“, lachte Ewald und zeigte auf diese Weise sein neues Gebiss. „Wenigstens haben sie sich alle bestens frisiert von dieser Welt verabschiedet.“
„Jetzt weißt du“, unterbrach Adele, „warum wir immer weniger Kundinnen bedienen. Uns sterben einfach die Damen weg.“
„So ist das nun einmal mit zunehmendem Alter“, pflichtete Helene bei, „wer weiß, wann wir abberufen werden.“
„Du sagst es, Helene, du sagst es“, seufzte Selma.
Ewald griff nach den großen Lockenwicklern und drehte Helenes weiches Haar auf. Dann rollte er die Trockenhaube heran und fragte: „Adele, welches Netz soll ich nehmen?“
Adele drehte sich um, sah Ewald fest in die Augen und meinte: „Nimm ein graues aus der rechten Schublade.“
Ewald nickte und schnürte das graue Haarnetz behutsam um die Lockenwickler. Und während Helene unter der Haube in ihrer Zeitschrift blätterte, widmete sich Adele ihrer nächsten Kundin. Auch sie beugte sich über das Waschbecken und Adele wusch ihr das dünne, feine Haar. Selmas Haare waren so spärlich und fein, dass ihre rosafarbene Kopfhaut durchschien. Adele hatte Mühe, das Haar auf die ganz dünnen, weißen Lockenwickler aufzudrehen. Bei Selma wurde das Prozedere aus Thioglykolsäure und Wasserstoffperoxid auf die konisch gebogenen Rollen wiederholt, damit schöne Locken für einige Wochen die Kopfhaut zierten. Auch Selma bekam einen Stapel Zeitschriften, damit während der Einwirkungszeit keine Langeweile aufkam.
Helenes Haare waren mittlerweile getrocknet und Ewald rollte die fahrbare Trockenhaube zur Seite. Mit geübten Händen frisierte er seine Kundin, toupierte die Locken, zupfte hier und da an winzigen Lockenspitzen und sprühte am Schluss reichlich Haarspray darüber. Helene verabschiedete sich, als Gaby erschien, um sie abzuholen.
Adele wusch die Chemikalien aus Selmas Schopf und ließ Ewald die größeren Wickler eindrehen. Als er fertig war, fragte er erneut: „Adele, welches Netz soll ich nehmen?“
Adele zögerte mit der Antwort. „Nun ja… nimm das grüne, aus der linken Schublade.“
„Bist du sicher?“
„Ja, Ewald. Das ist jetzt genau das richtige für Selma.“
„Wenn du es sagst, Liebes.“
Er griff in die Schublade zu seiner linken und holte ein sorgfältig gefaltetes, grünes Haarnetz hervor.
„Bist du ganz sicher, Adele?“, vergewisserte er sich.
„Ja, mein Lieber. Ganz sicher.“
„Es ist das letzte grüne.“
„Nun, dann müssen wir neue besorgen, Ewald.“
Der Alte drapierte das Netz vorsichtig über Selmas Lockenwickler, zog die Trockenhaube heran und führte sie sachte über den Kopf der alten Dame.
Gegen Mittag verließ Selma den Salon mit einem gut frisierten Haarschopf. Ewald hatte sich besondere Mühe gegeben und war stolz auf seine Arbeit. Mit Adele zusammen schaute er zu, wie Selma zum wartenden Taxi humpelte, gestützt auf ihrem Ebenholzstock mit dem silbernen Knauf, und beide winkten ihr zum Abschied noch einmal zu. Adele seufzte und drehte sich um. „War es wirklich das letzte grüne Netz, Ewald?“
„Ja, Liebes.“
„Nun, dann wird es Zeit für einen Besuch im Aquarium, oder?“
„Meinst du?“
„Aber natürlich, Ewald.“
Ewald sah Adele ein wenig betrübt an. „Sollten wir nicht lieber aufhören, meine Liebe?“
„Wo denkst du hin, Ewald? Was sollen wir denn den ganzen Tag machen? Der Salon ist doch unser Lebenswerk. Damit macht man doch nicht so einfach Schluss! Außerdem braucht der liebe Gott unsere Hände hier auf Erden.“
Ewald zuckte mit den Schultern und widmete sich seiner Zeitung.
Drei Tage später las Adele im Lokalteil der Zeitung: „Nach langer, schwerer Krankheit entschlief unsere geliebte Mutter, Schwiegermutter, Oma und Tante – Selma Taubert – in der vergangenen Nacht sanft und friedlich .....“
„Hier, Ewald. Schau nur! Selma ist endlich da, wo sie sich wünschte zu sein – bei unserem Herrgott.“
„Ja, Liebes. Jetzt hat sie ihren Frieden. Übrigens… ich habe mit Herrn Tagahashi telefoniert. Er sagte, dass er heute eine neue Lieferung von Kugelfischen erwartet.“
„Dann sollten wir uns beeilen. Die neuen, grünen Netze sind nämlich auch eingetroffen.“
„Und was ist, wenn Herr Tagahashi misstrauisch wird?“
„Warum sollte er?“
„Nun ja, es ist immerhin der fünfte Kugelfisch, den wir in diesem Jahr kaufen.“
„Na und? Dann erzählen wir ihm, dass ganz offensichtlich etwas mit unserem Wasser im Aquarium nicht stimmt.“
„Ja, das könnte funktionieren.“
„Schaffst du es denn bis Mittwoch, die neuen Haarnetze zu präparieren, Ewald?“
„Ich glaub schon. Warum?“
„Nun, am Donnerstag kommt Martha Reimers zur Dauerwelle. Du weißt doch – sie hat den dritten Schlaganfall gehabt und sitzt im Rollstuhl. Bis dahin sollte unbedingt ein grünes Netz fertig sein.“
„Ja, Liebes.“
Sie war eindeutig tot. Die glasigen, starren Augen sprachen ihre eigene Sprache. Das Messer in ihrer Brust auch. Und ich war eindeutig müde. Ich war seit vierzehn Stunden auf den Beinen, denn mein Kollege hatte sich wieder mal krank gemeldet und ich durfte Doppelschichten schieben. Warum, in Gottes Namen, wurde diese alte Frau, die offensichtlich von Hartz IV lebte, in einer schäbigen Zweizimmerwohnung hauste und außer einem altersschwachen Wellensittich keine Gesprächspartner zu haben schien, ermordet? Die abgenutzten Möbel und armseligen Utensilien waren peinlich sauber. Mein Blick fiel auf den Aschenbecher, der wie ein Fremdkörper auf der Wachstuchdecke des Küchentisches wirkte. Ein einzelner, filterloser Zigarettenstummel.
„Wer hat sie gefunden?“, fragte ich den Uniformierten.
„Der Nachbar“, antwortete er mürrisch.
Das gefiel mir nicht und ich reagierte gereizt: „Geht’s ein bisschen genauer?“
Er kapierte und berichtete ausführlich, dass der Mieter von nebenan, Walter Höhler, Lärm hörte und nachsehen wollte, was los war. Er fand die Ärmste. Im Flur wartete der ungewaschene Typ in Achselhemd, mit Bierbauch und kleinen, listigen Augen und trat unruhig von einem Bein aufs andere. In seiner Wohnung sah es aus wie auf einer Müllhalde: überall Abfalltüten, Kippen und leere Flaschen. Während er seine Geschichte erzählte, ließ ich ihn nicht aus den Augen. Sein Bericht weckte mein Misstrauen.
„Und Sie wollen den Täter nicht gesehen haben?“
„Ich schwöre, Frau Kommissarin, als ich die Tür bei Frau Wester aufstieß, war keiner da.“
Ich glaubte ihm nicht, aber was sollte ich tun? Also fuhr ich nach Hause und wartete auf die Ergebnisse der Spurensicherung und den Autopsiebericht. Gott sei Dank brauchte ich im Zeitalter des Internets nicht mehr in die Stadt zu fahren, denn, obwohl Hameln schöner als andere Städte ist, fühlte ich mich in Holtensen wohler. Ich war nun mal ein Landei und kein Stadtkind. Drei Tage später fand ich die Berichte in meinen E-Mails und war ziemlich verblüfft. Martha Wester hatte mehr als 1,8 Promille im Blut. Zwei Messerstiche trafen mitten ins Herz. Und das Messer stammte aus ihrer eigenen Schublade, denn es war mit ihren Fingerabdrücken übersät. Das machte mich stutzig. Die DNS aus dem Zigarettenstummel im Aschenbecher gehörte Walter Höhler. Die Liste seiner Vorstrafen war lang: Trunkenheit am Steuer, Schlägereien, Diebstahl und Hausfriedensbruch. Ja, das passte zu ihm. Aber – Mord? Ich knöpfte ihn mir noch mal vor. Unter Druck geraten, gestand er bald, in Martha Westers Wohnung gewesen zu sein. Typisch. Erst wenn sie erwischt werden, geben sie Einzelheiten zu. Und sein Gejammer: „Ich habe mit dem Mord nichts zu tun“, widerte mich an. Aber in seinen verschlagenen Augen zeigte sich zum ersten Mal Angst. Die Schweißperlen auf der schmuddeligen Stirn hinterließen Spuren wie kleine Rinnsale auf einer staubigen Fensterscheibe.
„Erklären Sie mir, wieso Martha Wester fast zwei Promille im Blut hatte“, sagte ich. Er wand sich wie ein Aal, aber er rückte schließlich mit der Wahrheit heraus: „Wir haben ihren Gewinn gefeiert.“
„Was für einen Gewinn?“
„Na ja… ihren Lottogewinn.“
Er knetete seine Finger und suchte mit dem Blick Hilfe an der Decke. „Wo ist der Lottoschein?“, fragte ich. „Die Spurensicherung hat nichts gefunden. Also – wo ist er?“ Er geriet in Panik, denn seine Augen traten vor Schreck fast aus den Höhlen. Mit einem verdreckten Taschentuch wischte er sich den Schweiß von der Stirn. „Fragen Sie ihren Neffen. Der müsste das wissen.“
„Wo finde ich den?“
„Auf der Osterstraße. In der Nähe vom Kreiskrankenhaus.“
„Und wie heißt er?“
„Frieder Tomma.“
Ich konnte den Seufzer hören, als ich die Wohnungstür hinter mir zuzog.
Frieder Tomma war ein harter Typ. Kalt wie eine Hundeschnauze und – er hatte ein wasserdichtes Alibi. Zu wasserdicht. Es roch getürkt. Aber riechen und beweisen sind zweierlei Paar Schuhe.
Ich ließ Walter Höhler ins Präsidium bringen. Ganz offiziell mit Streifenwagen und Uniformen. Einige Stunden Verhör würden ihn schon mürbe machen. Ich setzte ihm ziemlich zu, aber er blieb stur und ich musste ihn gehen lassen. Und dann verschwand er von der Bildfläche. Natürlich tobte der Staatsanwalt, aber was sollte ich machen – ohne Beweise und ohne Geständnis? Am nächsten Tag fanden spielende Kinder seine Leiche am Torbayufer in der Nähe der Münsterbrücke. Zwei Messerstiche mitten ins Herz. Das Messer war aus Höhlers Schublade. Und da wusste ich, was mich bei der alten Frau stutzig gemacht hatte. Die Reinlichkeit der Wohnung passte nicht zu den vielen Fingerabdrücken auf dem Messer. Sie hätte das Messer niemals benutzt in die Schublade gelegt. Wieso waren also so viele Fingerabdrücke darauf? Na – ganz einfach. Schon der erste Stich musste tödlich gewesen sein. Um von sich abzulenken, zog der Mörder das Messer aus der Wunde, drückte es dem toten Opfer mehrfach in die Hand und stieß dann ein zweites Mal zu. Über so viel Kaltblütigkeit verfügte Höhler nicht. Aber er hatte den Täter bestimmt gesehen und dann versucht, ihn zu erpressen. Das passte zum Bild. Zum Profil des Täters
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: © Karin Welters 2019
Bildmaterialien: © 123RF subbotina
Cover: © Karin Welters 2019
Tag der Veröffentlichung: 02.01.2019
ISBN: 978-3-7438-9218-7
Alle Rechte vorbehalten