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Jette Berger und Anne Weller - Ihre zweiten drei Fälle

Karin Welters

 

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Jette Berger und Anne Weller - ihre zweiten drei Fälle © Karin Welters

Published by LitArt-World Mönchengladbach © 2018

 

 

 

Jette Berger, die mütterliche Freundin von Anne Weller, vertritt die Meinung: „Finde das emotionale Problem, das durch den Mord NICHT gelöst wurde.“

Jettes Devise geht Anne, Oberkommissarin beim KK11 in Mönchengladbach, zwar mächtig auf die Nerven, aber bisher hat die ehemalige Hauptkommissarin stets Recht behalten.

Ihre zweiten drei Fälle, die die beiden mit kräftiger Unterstützung der jungen Kommissarin Iris Stelzmann lösen, finden sich in diesem Buch.

Frauenpower mal drei!

 

4. Fall: Jette Berger und… die Tote ‚am Berg‘

5. Fall: Jette Berger und… der Autobahnmörder

6. Fall: Jette Berger und… der mörderische Gourmet

 

 

Handelnde Hauptpersonen

 

Jette Berger

Die 53jährige Hauptkommissarin a.D. ist Anne Wellers mütterliche Freundin und steht der Oberkommissarin als Beraterin zur Seite. Mit unkonventionellen Methoden erreicht sie Ergebnisse, die Anne Weller verwehrt bleiben. Sie liebt ihren Wintergarten, in dem sie oft und gern Tee trinkt.

 

 

Anne Weller

Die 38jährige Oberkommissarin beim KK11 in Mönchen­gladbach sieht sich durch die Vorschriften oft in ihrer Arbeit eingegrenzt. Sie liegt ständig im Clinch mit dem Polizei­präsidenten, den sie nicht ausstehen kann. Besonderes Kennzeichen: rote Lockenpracht, die sie bei aufsteigendem Ärger in den Nacken wirft.

 

 

Iris Stelzmann

Die 26jährige Jung-Kommissarin gilt als Computerfreak. Auf ihre Spezial-Kenntnisse greift sogar das LKA gern zurück. Wegen ihrer rotblonden Haarmähne, trägt sie seit ihrer Kindheit den Spitznamen „Löwchen“. Am liebsten flirtet sie mit jungen Uniformierten.

 

 

Jochen Peters

Der 43jährige Kollege von Anne und Iris unterstützt das Damentrio zunehmend auf Anweisung des Polizeipräsiden­ten. Die anfängliche Missstimmung zwischen Anne Weller und ihrem Kollegen entspannt sich zunehmend, je öfter Peters in die jeweiligen Fälle eingebunden wird.

 

 

Toni Heckersbach

... ist der 52jährige Polizeipräsident in Mönchengladbach und einer von den Chefs, die immer schnelle Ergebnisse sehen wollen, ein Ansinnen, das sich ab und zu als chole­rische Ausbrüche bemerkbar macht. Weil der Polizeidirek­tor Ludewig schon seit längerer Zeit wegen Krankheit ausgefallen ist, muss sich Anne Weller mit dem "Lackaffen", wie sie ihren obersten Dienstherrn insgeheim nennt, herumschlagen.

 

 

Paul Kemmerling

Der 52jährige Staatsanwalt hat – nach anfänglicher Skepsis – der Zusammenarbeit des KK11 mit Jette Berger zugestimmt. Als Kavalier „alter Schule“ freut er sich stets auf Jettes Einladung in deren Wintergarten, wenn die ehemalige Hauptkommissarin wieder einmal einen besonders verzwickten Fall aufdröselt.

 

Jette Berger und die Tote 'am Berg'

 

Sonntag, 03. Mai 2015

*

„Ich finde das ganz schrecklich“, seufzte Anne Weller, Oberkommissarin beim KK11 Mönchengladbach und schüttelte den Kopf.

„Was meinst du damit?“, fragte Jette Berger, Annes mütterliche Freundin, und griff nach der Kaffeetasse.

„Das junge Mädchen heute früh, das wir tot am Berg gefunden haben; auf dem dicken Grundstein und ausgerechnet direkt hinter dem Bildstock.“ Wieder schüttelte sie den Kopf. „Einfach nur schrecklich!“

Jette setzte die Tasse ab. „Du hast dich noch immer nicht an den Anblick gewöhnt, nicht wahr? Selbst nach 15 Jahren nicht.“

„Ich habe im Laufe meines Berufslebens schon viele Leichen ansehen müssen, aber ich werde mich nie an den Anblick toter, junger Mädchen gewöhnen.“ Sie zögerte. „Das macht mich jedes Mal wütend, ärgerlich und… und es lässt mich deutlich meine Hilflosigkeit spüren. Diese jungen Frauen hätten noch ihr ganzes, pralles Leben vor sich gehabt – geheiratet, Kinder gekriegt oder Karriere gemacht. Ich finde, es ist so eine… eine… ja, so eine sinnlose Verschwendung jungen Lebens. Und wir kommen immer erst, wenn es zu spät ist, wenn sie tot sind.“

Anne fühlte den Blick der Freundin auf sich ruhen. Jette sah aus wie eine ältere Dame, sprach wie eine ältere Dame, aber… ein aufmerksamer Beobachter hätte die wachen, grauen Augen bemerkt, denen nichts entging. Er hätte den flotten Haarschnitt wahrgenommen, den Bubikopf und nicht die Dauerwellenlöckchen, die man einer älteren Dame zuord­nete. Nein, Jette entsprach ganz und gar nicht dem Typ ‚ältere Dame‘. Auch fand sich kein Spitzendeckchen oder ein Häkeltuch über dem Sofa. Pink- und lilafarbene Rattansessel zierten stattdessen den Wintergarten, den Jette heiß und innig liebte. Anne sah, wie Jette die Stirn krauste. „Du siehst müde aus, meine Liebe.“

„Ist das ein Wunder?“ Die Oberkommissarin wischte sich mit der Hand über die Augen, als wollte sie die Erschöpfung fortwischen. „Bis Mitternacht die Untersuchung dieser Explosion in der Sparkasse.“ Anne beugte sich vor. „Da waren Pseudo-Profis am Werk, die den Geldautomaten sprengen wollten. Bis Mitternacht haben wir den Tatort durchwühlt.“ Mit einer wegwerfenden Handbewegung fügte sie hinzu: „Diese Idioten!“

„Wieso die Mordkommission?“ Jettes Verblüffung stand auf ihrem Gesicht. „Was habt ihr mit einem Sprengversuch bei der Sparkasse in Rheindahlen zu tun?“

Anne schwieg für einen Augenblick. „Erinnerst du dich an die Katastrophe in Giesenkirchen im letzten Monat?“

„Ach ja! Das hat ja groß genug in allen Zeitungen gestan­den“, erwiderte die Freundin.

„Siehst du“, fuhr Anne fort, „dabei ist ein unbeteiligter Passant getötet worden. Diese Vollidioten! Und seitdem sind wir immer dabei. Die Handschrift der Täter hier in Rhein­dahlen ist dieselbe wie in Giesenkirchen. Also wurden wir gerufen.“

Wieder schwieg Anne für einen kurzen Augenblick.  „Nun ja… also bis Mitternacht bei der Sparkasse. Kaum war ich eingeschlafen, klingelte um kurz nach vier Uhr mein Mobil­telefon: Die Tote am Berg.“ Anne gähnte. „Vier Stunden Schlaf sind ein bisschen wenig.“

„Dann war also meine Idee, das Langschläferfrühstück hier in Mone‘s Café Herzlich zu genießen, genau richtig, oder?“

„Und ob! Ich hatte tatsächlich noch keine Zeit, irgendwas zu essen. Und der Kaffee hier… der ist sowas von gut! Ich wünschte, wir hätten dieselbe Qualität im Roten Kasten.“ Anne schaute sich um. „Echt gemütlich! Seit wann gibt es dieses Café in Rheindahlen?“

„Du bist mir eine!“ Jette lächelte. „Hast wohl keine Zeit mehr fürs Ausspannen, was? Mone’s Café gibt’s schon seit April 2014.“

„Was? Seit 2014?“ Anne seufzte. „Ach, Jette. Auch in Gladbach halten sich die Verbrecher an keine festen Arbeits­zeiten. Das solltest du doch wohl am besten wissen.“

Anne spürte ihren Frust. Ihr wurde wieder einmal klar, dass sie viel zuviel arbeitete und kaum mehr Zeit hatte, sich um ein bisschen Privatleben zu kümmern – geschweige denn, Zeit in einem gemütlichen Café wie hier im Mone‘s zu verbringen. Wie immer, wenn sie ungehalten war, warf sie ihre roten Locken in den Nacken, streckte ihr Kinn nach vorn und schüttelte den Kopf.

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Mone’s Café Herzlich

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Anne fühlte Jettes Hand auf ihrem Arm. „Was ist nun mit der Toten am Berg? Habt ihr Hinweise? Spuren?“

Die Oberkommissarin schüttelte den Kopf. „Nein, leider nicht. Bisher zumindest keine offensichtlichen.“

„Wie starb sie?“

„So wie es aussieht – Tod durch Erdrosseln.“

„Erzähl mir alles, was du weißt“, ermunterte Jette ihre Freundin.

„Nun ja…“ Anne zögerte. „Der Doc schätzt sie auf etwa 15 bis 25 Jahre, lange, schwarze Haare, kurzes, rotes Minikleid. Keine Tasche, also auch keine Papiere, keine Hinweise.“

„Ihr wisst also nicht, wer sie ist?“

Anne schüttelte erneut den Kopf. „Nein. Noch nicht.“

„Irgendetwas Besonderes?“ Jette hakte nach – wie immer.

„Das einzig Besondere ist, dass sie keine Schuhe trug. Auch in der Umgebung haben wir keine gefunden.“ Anne sah Jette an. „Kennst du den Berg?“

„Na und ob! Eine sehr schöne Wohngegend. Die Leute sind bodenständig, bieder und gesellig. Wenn ich so an die vergangenen Bergfeste denke…“

„Bieder?“, wiederholte Anne ungläubig. „Lass das bloß nicht die Leute am Berg hören.“

„Wieso?“ Erstaunen stand in Jettes Blick. „Mit bieder meine ich nicht spießig, sondern verlässlich, vertrauenswür­dig und rechtschaffen. Was ist daran verkehrt?“

Anne lachte verhalten. „Nichts, meine Liebe. Gar nichts. Wenn du es so meinst, ist überhaupt nichts daran verkehrt.“

Jette runzelte die Stirn. „Umso erstaunlicher ist der Fundort der Leiche, findest du nicht?“

„Ja.“ Anne erinnerte sich an den Anblick der weit geöffneten, toten, blauen Augen. „Sie war ein hübsches Ding.“

„Was meinst du?“ Jette blieb beharrlich. „Ist der Fundort auch der Tatort?“

Anne zuckte mit den Schultern. „Das wird erst die Auswertung der Spuren zeigen. Aber… wenn du mich fragst, ich würde sagen – nein.“

„Wie kommst du darauf?“

„Nun ja… sie war zwar ein zierliches Persönchen, aber ich bezweifle, dass sie sich nicht gewehrt haben soll. Da es aber keine erkennbaren Spuren gibt, auch kein zertrampeltes Gras, ist sie wohl woanders gestorben und später erst auf den Grundstein gelegt worden.“ Wie zur Bekräftigung schüttelte Anne heftig den Kopf. „Nein, Jette. Ich glaube, der Fundort der Leiche ist nicht der Tatort.“

„Und solange ihr nicht wisst, wer die Tote ist, kommt ihr mit euren Ermittlungen auch nicht weiter.“

„So ist es“, bestätigte Anne.

Jette winkte der Café-Inhaberin. „Kann ich bitte zahlen?“

„Sofort!“, rief Simone Kaisers zurück.

Wenige Minuten später verließen Anne und Jette das Café.

Vom Bürgersteig vor dem Café aus konnte man das gelbe Absperrband vor der Sparkasse sehen. Der Tatort war weiträumig abgesperrt worden. Die Autofahrer konnten von der Plektrudisstraße aus kommend nur nach links abbiegen.

„Komm, Jette, ich zeige dir den Schlamassel“, meinte Anne und hakte die Freundin unter. Sie bedeutete dem Orts-Sheriff, das Absperrband hochzuheben, damit sie näher an den Tatort gelangen konnten. Der Bürgersteig und die Straße vor der Bank waren mit Glassplittern übersät; Trümmer der Türrahmen und verbogene Blechteile der Automaten lagen verstreut auf der Fahrbahn.

Auf dem Marktplatz vor dem Gebäude hatte sich eine Menge an Schaulustigen versammelt. Sie diskutierten heftig über das Geschehen der vorherigen Nacht. Ein Anschlag auf ihre Sparkasse? Ja, das war doch die Höhe! Und das im friedlichen Rheindahlen! Nein, das ging ja nun gar nicht!

Anne flüsterte Jette ins Ohr: „Und wenn die morgen oder übermorgen erfahren, dass zur selben Zeit eine Tote am Berg gefunden wurde… fallen die Rheindahlener vom Glauben ab.“

„Zu Recht, meine Liebe. Zu Recht!“

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Montag, 04. Mai 2015

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Als Anne die Tür zu ihrem Büro öffnete, wurde sie vom Kaffeeduft begrüßt. Iris Stelzmann, die junge Kollegin, hatte die Maschine bereits in Gang gesetzt.

„Hallo, Löwchen!“, rief Anne erstaunt. „Bist du aus dem Bett gefallen?“ Sie warf ihren Trenchcoat über den Garderobenhaken.

Iris zeigte ihre rotblonde Mähne über dem Monitor und grinste. „So ungefähr.“

„Was heißt das – so ungefähr?“

„Habe ich gesagt, dass ich aus meinem Bett gefallen bin?“

Nun musste auch Anne grinsen. „Und? Wer ist diesmal der Glückliche?“

„Also Anne!“ Iris war empört. „Diesmal? Ich bin immer noch mit Holger zusammen.“

„Holger? Holger Bertrams? Der gut aussehende junge Mann vom Raubdezernat? Der bei dem Skelettfund in Garzweiler verletzt wurde?“

„Genau der! Im Gegensatz zu dir habe ich noch ein einigermaßen intaktes Privatleben.“

„Was willst du damit sagen?“

Iris grinste über das ganze Gesicht. „Na, was wohl? Du bist ja heiliger als jede Nonne im Kloster – zumindest wenn es um Privates geht.“

In diesem Augenblick stürmte der Kollege Peters herein.

„Hallo, Jochen“, begrüßte ihn Iris.

„Tag, Löwchen.“ Er drehte sich zu Anne um. „Hallo, Anne. Wir wissen jetzt, wer die Tote aus Rheindahlen ist.“

„Oh, Tag, Jochen. Und? Wer ist es?“

„Eine Jessica Schuster, 17 Jahre alt. Geht aufs Gymnasium in Rheindahlen und war am Samstagabend auf einer Party. Die Eltern haben geglaubt, dass sie bei einer Freundin über­nachtet und sich deshalb keine Sorgen gemacht. Erst Sonntagabend haben sie angefangen, zu telefonieren. Schließlich haben sie sich bei der Polizei gemeldet und wollten eine Vermisstenanzeige aufgeben.“

Anne nahm den Zettel mit der Anschrift der Eltern entgegen. „Aha. Laniostraße. Und? Haben die Eltern ihre Tochter schon identifiziert?“

Jochen Peters nickte. „Ja. Die Mutter ist fast zusammen­geklappt. Sie hatte nur dieses eine Kind. Keine Geschwister.“

„Hast du mit den Eltern sprechen können?“

„Nur mit dem Vater. Die Mutter steht unter Schock und wird medizinisch behandelt und psychologisch betreut. Die können wir erst in ein paar Tagen ansprechen. Der Vater, Ralf Schuster, ist auch völlig durch den Wind. Dem sollten wir auch etwas Zeit geben.“

Anne entgegnete heftig. „Bei allem Mitgefühl, Jochen, du weißt, dass wir keine Zeit zu verlieren haben. Die ersten Tage sind mitentscheidend. Je früher wir anfangen, desto größer sind die Chancen, dass wir den Kerl erwischen.“

„Ich weiß“, bestätigte der Kollege. „Nur… die Schusters sind gar nicht fähig, irgendwelche verlässlichen Aussagen zu machen.“

„Das verstehe ich. Aber Namen von Freundinnen und Mitschülerinnen sollte er wenigstens zusammenbringen. Warst du schon in der Schule?“

„Noch nicht, aber ich bin auf dem Weg. Kommt eine von euch mit?“

Iris schaute Anne mit flehendem Blick an. „Kannst du das machen, Anne? Ich bin noch nicht so ganz klar im Kopf heute Morgen.“

Anne war überrascht. Ich soll mit Peters allein nach Rheindahlen fahren?, schoss es ihr durch den Kopf. Ausgerechnet mit dem? Was denkt sich Iris dabei? Sie weiß doch, wie ich zu ihm stehe! Am liebsten hätte sie die Kollegin angepfiffen, aber diese Blöße wollte sie sich in Anwesenheit von Peters nicht geben. Doch konnte sie sich nicht verkneifen, anzumerken: „Ja, ja… zu wenig Schlaf rächt sich – ganz egal, aus welchem Grund der Mangel zustande kommt. Ob durch zuviel Arbeit oder…“

„Anne!“, unterbrach Iris die Kollegin heftig. „Es reicht!“

Anne grinste, schnappte sich ihren Mantel und ihre Tasche und ging mit Jochen Peters zum Parkplatz. Der Berufsverkehr war vorbei und die Theodor-Heuss-Straße und Hittastraße waren frei. Über die Bahnstraße fuhren sie in Richtung Rheindahlen. Nachdem sie Holt durchquert und das Nordpark-Stadion hinter sich gelassen hatten, bogen sie an der ersten Ampel, kurz hinter Kothausen, nach links auf die Gladbacher Straße.

Nur wenige Minuten später erreichten sie das Gymnasium. Anne parkte ihren Dienstwagen, überquerte den gepflasterten Platz und steuerte auf das Schulgebäude zu. Offensichtlich hatte der Unterricht bereits begonnen, denn der Schulhof lag verwaist in der noch blassen Morgensonne.

Anne erinnerte sich an ihre Schulzeit. Mann, ist das lange her, dachte sie. Spontan fragte sie ihren Kollegen: „Wo bist du zur Schule gegangen, Jochen?“

„Ich?“ Kollege Peters war sichtlich erstaunt. „Ich bin in Odenkirchen zur Schule gegangen.“

„Ach? Du warst auf dem Elite-Gymnasium?“

Er lachte. „Den Ruf hatte es damals noch nicht.“ Er zögerte kurz. „Und du?“

„Ich war auf einem Gymnasium in Düsseldorf.“

Sie erreichten das Sekretariat und wurden umgehend in das Büro des Schulleiters begleitet.

Anne schätzte Wilfried Thiemann auf Ende vierzig, Anfang fünfzig, mittelgroß, unauffällig. Ein etwas nachlässig ge­kleideter, grauhaariger Lehrertyp. Nervös hantierte er mit diversen Heften, Ordnern und Büchern auf seinem Schreib­tisch.

„Bitte entschuldigen Sie“, erklärte er und fuhr sich mit der Hand durch sein Haar, „ich habe nur sehr wenig Zeit. Zwei meiner Lehrer haben sich krank gemeldet. Und ich habe keinen Ersatz. Unsere Personaldecke ist derart dünn, dass ich nicht weiß, wo mir der Kopf steht.“

„Sie werden sich dennoch Zeit für uns nehmen müssen, Herr Thiemann“, sagte Jochen Peters ruhig. „Es geht um eine Ihrer Schülerinnen – eine Jessica Schuster.“

„Jessica Schuster? Was ist mit ihr?“ Bevor er weitersprach, rauschte er an Anne vorbei, öffnete die Tür zum Sekretariat und bat die Vorzimmerdame: „Frau Schläger, bitte schauen Sie nach, in welcher Klasse Jessica Schuster ist. Ich möchte in der großen Pause mit der Klassenlehrerin oder dem Klassenlehrer sprechen.“

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Er schloss die Tür und bat Anne und Jochen, Platz zu nehmen.

„Also? Was ist mit Jessica Schuster?“

„Nun ja“, begann Anne zögernd, „Jessica ist tot, Herr Thiemann.

Anne beobachtete ihn genau. Er war kreidebleich geworden und ließ sich ganz langsam in seinen Bürostuhl sinken.

Es dauerte einige Augenblicke, bis er die Nachricht verdaut hatte. „Wie ist das passiert? Hatte sie einen Unfall?“ Dann schien er sich zu erinnern. „Aber… Sie sind… sagten Sie nicht, Sie sind von der Mordkommission?“

„Ja, Herr Thiemann. Jessica Schuster wurde ermordet.“

Der Schulleiter schaute ungläubig von Anne zu Jochen und wieder zurück. „Ermordet? Hier in Rheindahlen?“ Er schüttelte den Kopf. „Das kann nicht sein! Sowas passiert nicht in Rheindahlen. Sie müssen sich irren.“

Es klopfte leise an der Tür und die Vorzimmerdame steckte den Kopf durch den Spalt. „Die Klassenlehrerin von Jessica Schuster ist Frau Brandes.“

„Danke, Frau Schläger“, erwiderte er. „Auch das noch!“ Wilfried Thiemann stöhnte auf und fuhr mit beiden Händen durchs Haar. „Sie ist eine von denen, die sich heute Morgen krank gemeldet haben.“

„Welche Klasse unterrichtet Frau Brandes?“, hakte Anne nach.

„Die 10c, wenn ich mich nicht irre. Sie gibt Deutsch und Geschichte.“

Anne erhob sich. „Bitte bringen Sie uns in die Klasse. Wir müssen mit den Mitschülern reden.“

„Selbstverständlich“, erwiderte der Schulleiter und sprang auf. „Bitte folgen Sie mir.“

Im Hinausgehen instruierte er die Sekretärin, dass er alle Unterlagen von Jessica Schuster einsehen wollte. Alle Noten, Klassenbucheintragungen, Fehlzeiten und so weiter. Frau Schläger nickte und die beiden Kommissare folgten dem Leiter der Schule durch diverse Flure.

Vor einer der hellgrauen Klassentüren blieb er stehen, klopfte laut und betrat den Raum.

„Entschuldigen Sie bitte, Herr Kollege, dass wir den Unterricht stören.“

Wilfried Thiemann erklärte den Grund für die Unterbrechung und ließ Anne und Jochen berichten, was passiert war.

„Wir brauchen jede Information über Jessica, die wir bekommen können. Ihr wollt sicher auch, dass wir den Täter erwischen, oder?“ Jochen hatte eindringlich an die Unterstützungsbereitschaft der jungen Leute appelliert.

Allgemeines Murmeln bekundete die Zustimmung.

„Darf ich etwas dazu sagen?“, fragte der Lehrer. „Ich bin völlig sprachlos. Ein Mord in Rheindahlen? Das ist das Letzte, das ich mir je vorstellen konnte. Ich unterrichte Mathematik und Jessica war ein kluges Mädchen. Ja, sie war eine der Besten in Mathe. Allerdings war sie sehr zurückhaltend und hat sich leider im Mündlichen kaum beteiligt.“

Anne hatte die Klasse, insbesondere die Mädchen, nicht aus den Augen gelassen. Und ihr war ein Mädel aufgefallen, das so aussah, als könnte es jeden Moment in Ohnmacht fallen. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen; mit großen, weit aufgerissenen Augen starrte sie den Schulleiter an und ihre Hände verkrampften sich ineinander.

Anne konnte die Betroffenheit aller Schülerinnen und Schüler in deren Gesichtern ablesen, aber dieses junge Mädchen war wie erstarrt. Die Kommissarin erkannte schlag­artig, dass sie jedem der Anwesenden die Chance geben musste, allein mit der Polizei zu sprechen. Wenn jemand etwas wusste, würde er sicherlich nicht vor der Klasse auspacken.

„Wir sind noch den ganzen Vormittag hier“, sagte Anne. „Sie können uns jederzeit ansprechen. Und… wir werden jede Information, soweit möglich, vertraulich behandeln. Sie finden uns im Sekretariat.“

Noch im Hinausgehen hörte Anne, wie der Mathelehrer den Schülern mitteilte, dass der Unterricht für heute beendet sei und alle die Gelegenheit haben sollten, die schlimme Nach­richt zu verarbeiten.

Zurück im Büro des Schulleiters, fand Wilfried Thiemann alle Unterlagen der ermordeten Schülerin auf seinem Schreibtisch. Er blätterte sie durch und reichte sie an Anne weiter.

Die überließ die Papiere ihrem Kollegen und fragte: „In Jessicas Klasse ist mir ein Mädchen aufgefallen. Sie saß ganz rechts, am Ende der Tischreihe. Dunkelblondes, kurzes Haar, pinkfarbenes T-Shirt und große, goldfarbene Ohrringe. Die möchte ich unbedingt sprechen. Geht das?“

„Einen Moment, bitte.“ Wilfried Thiemann verließ den Raum und kam kurze Zeit später mit dem Mathelehrer zurück. „Darf ich Ihnen vorstellen – das ist Herr Borchert.“

Anne wiederholte ihre Beschreibung.

„Das ist Lena Kayzer. Ich glaube, sie ist die einzige in der Klasse, die mit Jessica auch in den Pausen zusammen war.“ Der Klassenlehrer zögerte sichtlich, bevor er fortfuhr: „Ich habe mich eben vor der Klasse sehr vorsichtig ausgedrückt. Jessica war nicht nur zurückhaltend, sondern regelrecht gehemmt. Wenn ich sie aufrief, wurde sie immer puterrot im Gesicht. Sie war ungewöhnlich schüchtern, ja, fast ängstlich.“

„Das ist ungewöhnlich“, ergänzte der Schulleiter erstaunt. „Die jungen Mädchen in diesem Alter sind heute meist selbstbewusst und forsch im Auftreten. Viele sind dazu noch patzig – sozusagen Nachwehen der Pubertät.“

„Abgesehen von den… wie soll ich sagen… von den… Abgebrühten, die andere mobben, bedrängen oder gar angreifen“, fuhr der Mathelehrer fort.

Bevor Anne oder Jochen auf das reagieren konnten, was die beiden Lehrer erzählt hatten, klopfte es an der Tür und Lena Kayzer schlüpfte herein.

Sie sah Anne an und fragte direkt: „Kann ich Sie allein sprechen?“

Anne entschuldigte sich und verließ mit der Schülerin den Raum.

„Wo können wir ungestört reden?“, fragte sie das Mädchen.

„Kommen Sie mit in meine Klasse. Borchie – ich meine, Herr Borchert – hat uns nach Hause geschickt. Wir sind alle derart durch die Schüssel, dass sowieso keiner mehr was in die Birne kriegt.“

*

Auf dem Rückweg zum Auto fassten die beiden Kommissare ihre Erkenntnisse zusammen.

„Was hältst du von dem Mädchen?“, wollte Jochen wissen. „Warum wollte sie dich unbedingt allein sprechen?“

Anne lächelte. „Lehrer, Schulleiter und Kriminalbeamte wirken auf Mädchen dieser Alterskategorie in der Regel etwas einschüchternd – vor allem, wenn sie im Rudel auftreten. Bei Frauen ist es für die Mädels leichter, frei zu sprechen.“

„Und? Was hat sie dir erzählt?“

Bevor Anne darauf eingehen konnte, bat Peters sie: „Können wir zum Fundort der Leiche fahren? Ich war in all den Jahren nicht in Rheindahlen und kenne mich überhaupt nicht aus.“

„Kein Wunder“, erwiderte Anne. „Hier finden kaum Verbrechen statt, zu denen wir gerufen werden könnten. Rheindahlen ist einer der Außenbezirke, in denen die Welt noch in Ordnung ist – ich meine… war.“

Kurz hinter dem Bahnübergang bog Anne in die Hermann-Ehlers-Straße ein.

„Du kennst dich hier gut aus“, merkte Peters an.

Anne lachte leise auf. „Vergiss nicht… Jette wohnt hier in Rheindahlen. Und… ich war in der Nacht hier. Hier vor Ort.“

Sie bog nach links ab. „Hier ist der Grotherather Berg. Und gleich da vorn, auf der linken Seite, ist der Platz.“

Sie parkte am Straßenrand und zeigte auf den Gründerstein.

„Hier ist es. Da obendrauf wurde sie gefunden.“

Sie stiegen aus und schlenderten zu der Sitzbank, die auf der Rasenfläche stand, rechts vom Gründerstein und dem Bildstock.

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Kein Absperrband war mehr zu sehen. Offensichtlich war die Spurensicherung mit ihrer Arbeit fertig.

Peters starrte auf den großen Steinblock. „Kaum zu glauben, dass hier – an diesem friedlichen Plätzchen – ein derart furchtbares Verbrechen geschehen ist“, flüsterte er kaum hörbar. Anne sah ihn überrascht an. Dieser Mann schien tatsächlich Anteil zu nehmen. Peters? Anne schüttelte innerlich den Kopf. Das konnte nicht sein. Doch nicht Peters!

Laut sagte sie: „Jessica hatte am Samstagabend ein Rendezvous. Und zwar mit einem Unbekannten. Selbst Lena, die sich als ihre beste Freundin einstuft, konnte aus Jessica nicht herausbekommen, wer das ist. So wie Lena erzählte, ist sie der Meinung, dass es wohl Jessicas allererstes Date war.“

„Ja – und gleichzeitig ihr letztes“, murmelte Jochen mit trauriger Stimme.

„Jessica und Lena waren auf einer privaten Party“, fuhr Anne fort. „Lena war sicher, dass die Fete bis mindestens zwei oder drei Uhr nachts abgehen würde. Deshalb war sie völlig baff, als Jessica schon um kurz nach Mitternacht gehen wollte.“

„Hat Jessica erzählt, wo sie den Typ, mit dem sie sich treffen wollte, kennengelernt hat?“

Anne schüttelte den Kopf. „Nein. Auch das wollte Jessica ihr nicht sagen. Lena ist sich ziemlich sicher, dass Jessica ihn im Internet kennengelernt haben muss. Sie meinte, dass sie sonst garantiert etwas mitbekommen hätte.“

„Oh, Mann!“ Jochen stöhnte auf. „Wann lernen die Kids, dass sich in diesen Chatrooms die schlimmsten Verbrecher verstecken und aufs Beste tarnen können?“

Anne schwieg.

„Wer hat sie gefunden?“, wollte Peters wissen und zeigte jetzt eindeutig Mitgefühl.

Sie schaute ihn an. Was ist mit ihm los?, fragte sie sich. Wird er jetzt etwa sentimental? Zum ersten Mal sah sie ihn aus einem anderen Blickwinkel. War er bisher für sie der ungeliebte Kollege, der ihr nicht gut gesonnen war, sah sie plötzlich eine Seite von ihm, die sie nicht vermutet hatte.

„Alles okay?“, fragte er.

„Ja, ja“, beeilte sie sich, zu reagieren. „Alles in Ordnung. Ich habe gerade nur gesehen, dass du… ja, dass du dieselbe Augenfarbe hast wie diese Jessica Schuster. Genauso blau. Deshalb war ich ein wenig geistesabwesend.“

Peters nickte. „Ja, das kann ich gut verstehen.“ Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. „Trotzdem… wer hat sie gefunden?“

„Ein Berthold Weigel. Er kam von einer Betriebsfeier, die wohl ein bisschen später wurde als geplant.“ Anne rief sich das Gespräch noch einmal in Erinnerung. „Er ist mit dem Taxi nach Hause gekommen, ist aber vorne, an der Ecke, ausgestiegen.“ Sie zeigte in die Richtung des Spielplatzes, an dem sie vorbeigekommen waren. „Er wollte die Nachbarn nicht unnötig stören – wie er meinte.“

„Doch wohl eher seine Frau nicht aufwecken, oder?“ Jochen Peters grinste.

Anne schüttelte den Kopf. „Nein, Jochen. Ich habe mitbekommen, dass die Leute hier am Berg tatsächlich noch Rücksicht aufeinander nehmen.“

„Kaum zu glauben, wenn man in der Innenstadt lebt.“

Anne stand auf. „So, jetzt hast du auch den Fundort gesehen. Fahren wir zurück?“

„Klar.“

Als sie sich beide angeschnallt hatten, erzählte Anne weiter. „Ich habe Lena gefragt, welche Schuhe Jessica getragen hat. Stell dir vor, sie trug knallrote Schnürstiefel – passend zum Kleid. Lena meinte, dass sie unheimlich gut aussah: attraktiv, appetitlich und… sexy. Ja, das waren ihre Worte.“

Auf der Rückfahrt zum Roten Kasten, wie Anne das Präsidium nannte, nahm sie die Strecke über die Aachener Straße. „Diese Schleicherei über die Bahnstraße geht mir ziemlich auf den Keks“, begründete sie ihre Routenänderung.

„Also… ich kann die Anwohner verstehen“, widersprach der Kollege und wechselte das Thema. „Hoffentlich ist der Autopsiebericht fertig.“

„Ja, dann wissen wir, was wirklich passiert ist.“

*

Rasch schaute Anne in ihre E-Mails. Ja, der Kurzbericht der Obduktion war da.

„Jochen?“, wandte sie sich an den Kollegen. „Sei so gut und informiere Iris über unsere Gespräche heute Vormittag. Ich fahre jetzt mit dem Bericht zu Jette. Ich will das mit ihr durchsprechen.“

*

Das kleine Backsteinhaus schien förmlich zu glühen. Jettes Zuhause war in das warme, strahlende Licht der Nachmittagssonne getaucht. Anne betätigte den wie immer blank geputzten Messingknopf und hörte den Dreiklang der Glocke. Sie brauchte nicht lange zu warten. „Hallo, Anne“, wurde sie herzlich begrüßt. „Schön, dass du da bist. Komm rein, meine Liebe.“

Während Anne ihren Mantel aufhängte, klapperte Jette bereits mit den Utensilien in der Küche. Natürlich würde es Tee geben. Es ging schließlich auf fünf Uhr zu. Und der Fünf-Uhr-Tee war Jette nun einmal heilig. Anne grinste in sich hinein. „Ich geh schon mal durch, Jette. Okay?“

„Ja, natürlich“, rief sie aus der Küche zurück. „Mach es dir bequem.

In Jettes sonnendurchflutetem Wintergarten war der Tisch schon gedeckt und Anne atmete tief durch. Hier kann man Urlaub machen, dachte sie. Und wenn es auch nur für ein oder zwei Stündchen ist.

Jette kam mit dem großen Tablett herein, stellte Annes Tasse ab und verteilte Kanne, Zucker, Milch und natürlich eine kleine Glasschüssel mit selbstgebackenen Keksen auf dem Tisch. Das Tablett stellte sie schräg an die Wand. Mit einem aufatmenden ‚Ahhh‘ ließ sie sich in ihren pinkfarbenen Lieblingssessel fallen und schenkte den heißen Tee ein.

„Na, Anne? Was führt dich zu mir?“

„Na, was wohl… die Tote am Berg natürlich.“

„Habe ich mir schon gedacht.“ Ein Lächeln huschte über Jettes Gesicht. „Ein bisschen Brainstorming – oder besser gesagt… Gehirnstürme erzeugen, was?“

„Du sagst es.“ Anne rührte in ihrer Tasse, griff nach einem der Kekse und reichte Jette den vorläufigen Autopsiebericht. Doch Jette legte das Papier an die Seite, nahm ihre Tasse in die Hand und lehnte sich zurück. „Ich mag jetzt nicht lesen. Erzähl mir lieber, was drinsteht.“

„Einverstanden“, antwortete Anne. „Also… Jessica Schuster wurde vergewaltigt, bevor sie erdrosselt wurde. Der Täter hat offenbar ein Kondom benutzt, es gibt wahrscheinlich keine DNA, aber die Verletzungen sind eindeutig. An ihrer Klei­dung fand man allerdings winzig kleine Krümel von Haschisch. An ihren Strümpfen hingen klitzekleine Steinchen, die noch untersucht werden. In ihren Haaren waren Gras- und Pflanzenpartikel. Und im Blut waren wohl ein paar Substanzen, die da nicht hineingehören. Die Ergebnisse der toxikologischen Analyse dauern noch etwas, aber Frau Dr. Gundlach vermutet, dass sie mit K.O.-Tropfen außer Gefecht gesetzt wurde.“

„Und ihr müsst auf die Auswertung der Faserspuren warten.“

„So ist es.“ Anne seufzte. „Wer weiß, wie lange das dauert.“

„Dadurch gewinnt der Täter Zeit“, bestätigte Jette. „Genau das, was ihm in die Hände spielt.“

„Frau Dr. Gundlach meinte noch, dass sie mit einem dünnen Seil erdrosselt wurde. Sie versucht noch herauszufinden, welche Art Seil es gewesen sein könnte. Es hat ein bestimm­tes Muster am Hals hinterlassen.“

Jette lächelte. „Ich wünschte, ich hätte während meiner aktiven Zeit als ermittelnde Hauptkommissarin auf solche forensischen Beweise zurückgreifen können wie ihr heute.“

Anne berichtete von dem Besuch des Gymnasiums am Vormittag und Lena Kayzers Geschichte.

Jette beugte sich vor. „Na, das ist aber interessant! Wo wohnt die junge Frau?“

„Auf dem Südwall. In der Nähe vom ehemaligen Kranken­haus.“

„Und Jessica Schuster? Wo hat sie gewohnt?“ Jette wollte offenbar ein klares Bild bekommen.

„Auf der Laniostraße. Weißt du wo der Akropolis-Grill ist? Wenn du die Gladbacherstraße weiter in Richtung Stadion fährst und an der ersten Straße hinter den Bahngleisen links abbiegst, dann kommst du dahin.“

„Nun“, folgerte Jette, „dann muss Jessica am Gymnasium vorbei, über den Bahnübergang und durch die Siedlung am Berg gelaufen sein, um nach Hause zu kommen. Eine Abkürzung.“

„Du meinst also“, nahm Anne den Faden auf, „dass der Mörder ihr unterwegs aufgelauert hat? Nun ja… auf dieser Strecke gibt es ein paar ziemlich dunkle Ecken.“

„Nein, nein“, wehrte Jette lebhaft ab, „so habe ich das nicht gemeint.“

„Woran denkst du denn?“

„Na… an die Schuhe, meine Liebe. Habt ihr den Weg schon abgesucht?“

„Ich gehe davon aus, dass Kollege Peters das eingeleitet hat.“ Nach kurzer Pause konnte sie sich den etwas sarkastischen Kommentar nicht verkneifen: „Er ist ja schließlich außergewöhnlich kompetent, wenn man dem Herrn Polizei­präsidenten Glauben schenkt.“

„Du und dein Kollege.“ Jette schüttelte den Kopf. „Was hast du eigentlich gegen ihn?“

„Ich?“ Anne war verblüfft. „Ich habe gar nichts gegen ihn. Es stinkt mir nur, dass der Lackaffe, dieser aufgeblasene Pfau von Polizeipräsident, ihn mir ständig vor die Nase hält – wie gut er ist, wie kompetent und wie überaus eifrig und engagiert.“

Anne fühlte sich unwohl, als Jette sie lange schweigend anschaute.

„Ja, ich weiß“, ergänzte sie genervt, „ich sollte das für mich klären. Aber… im Moment ist der Mord an Jessica Schubert wichtiger.“

Nach einem erneuten, langen Blick erwiderte Jette: „Nein, meine Liebe. Nichts ist wichtiger als ein friedliches Innenleben. Nur wenn du innerlich ausgeglichen und gelassen bist, kannst du gute Polizeiarbeit leisten.“

Anne verdrehte die Augen. „Komm mir jetzt nicht schon wieder mit deiner Psycho-Nummer. Das kann ich heute gar nicht gebrauchen.“

„Ach, ja?“ Jette grinste. „Wann, liebe Anne, hast du die – wie du sie nennst – Psycho-Nummer jemals akzeptiert? Und? Wie oft lag ich mit meiner Intuition richtig?“

Nun musste auch Anne unwillkürlich grinsen. „Ich muss gestehen… bisher hast du immer ins Schwarze getroffen. Trotzdem geht mir diese Psycho-Nummer – und ich bleibe bei diesem Ausdruck – auf die Nerven.“

„Genug geplänkelt!“ Jette beugte sich vor. Ihr Gesicht war ernst. „Ich will jetzt wissen… was wirst du unternehmen, um den Mörder dieses armen Geschöpfes zu schnappen?“

„Na, was schon?“ Anne war irritiert. „Es wird eine Soko geben. Man wird jeder noch so kleinen Spur nachgehen. Das LKA wird hoffentlich ein Täterprofil erstellen – soweit das möglich ist – und wir befragen alle, die uns was zu sagen haben. Ich gehe davon aus, dass morgen oder übermorgen die Sache in den Zeitungen ist und wir eine Reihe von Hinweisen bekommen werden.“

*

*

*

Dienstag, 05. Mai 2015

*

Jette war ungewöhnlich früh auf den Beinen. Sie wollte am Hauseingang von Lena Kayzer sein, bevor diese zur Schule ging. Sie wollte unbedingt mehr von Jessica Schuster erfahren. Ja, sie wusste, dass Zeugen gegenüber der Polizei weitaus zugeknöpfter waren, als wenn sie mit einer ältlichen Frau sprachen, die sie an Tante Frieda, Oma Anna oder die Nachbarin Frau Müller erinnerte. Ja, das war Jettes Masche. Sie konnte das Schnüffeln einfach nicht lassen, auch wenn ihre aktive Zeit als Hauptkommissarin schon ein paar Jahre zurück lag.

Sie hatte sich ein wenig abseits des Hauses gestellt und kramte intensiv in ihrer Handtasche. Es dauerte nicht lange und ein junges Mädchen, auf das Annes Beschreibung passte, kam aus dem Haus gestürmt. Jette machte einen Schritt vorwärts und stieß frontal mit ihr zusammen, so dass ihr Tascheninhalt sich mit Geklapper auf dem Bürgersteig verteilte.

Jette drohte, das Gleichgewicht zu verlieren und versuchte, sich an der Hauswand abzustützen. „Oh. Entschuldigung!“, rief das Mädchen erschrocken aus, ließ ihre eigene Tasche fallen und hielt Jette am Arm fest.

„Danke, danke“, erwiderte Jette. „Ich war aber auch ganz in Gedanken versunken. Ich muss mich auch bei Ihnen ent­schuldigen, Fräulein…?“

Der verdutzte Gesichtsausdruck der Schülerin ließ Jette innerlich lächeln. Wer sagte heute noch Fräulein? Das konnte ja nur eine ältere Frau sein, die den Anschluss verpasst hatte, oder?

„Lena“, erwiderte die Schülerin. „Ich bin Lena.“

„Also… Fräulein Lena…“

„Nein, bitte. Nur Lena.“

„Nun ja…“ Jette spielte weiter die alte Tante. „Na gut. Lena… bitte entschuldigen Sie, ich war noch ganz in Gedanken. Dieses tote junge Mädchen – am Berg… das lässt mich einfach nicht los. Können Sie das verstehen? Ich meine… so etwas kann einen ja wirklich völlig aus der Bahn werfen und…“

Lena unterbrach sie. „Ja, ja… aber ich muss mich beeilen. Ich bin schon spät dran.“

Als hätte sie den Einwand gar nicht gehört, fuhr Jette fort. „Kannten Sie sie? Sie muss doch in Ihrem Alter gewesen sein. Und die jungen Leute feiern doch heute auch immer noch zusammen, oder? Haben wir jedenfalls früher so gemacht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein… was für ein Unglück. Vor allem für die Eltern…“

„Gute Frau… ich komme zu spät…“

Jette hielt sie am Ärmel fest. „Bitte, Fräulein… ich meine… Lena… helfen Sie mir.“ Während sie ihre Utensilien aufhob und in ihre Tasche stopfte, fuhr sie fort: „Ich komme damit einfach nicht zurecht. Ich brauche jetzt einen jungen Menschen zum Reden. Einen, der im Alter dieser… wie hieß sie noch?...“

„Jessica. Jessica Schuster.“

„Ja, stimmt. Jessica Schuster. Kannten Sie sie?“

Lena schien ihren Zeitdruck vergessen zu haben und half Jette bei Einsammeln ihres Tascheninhalts. Offenbar war es Jette gelungen, das Mädchen für sich zu gewinnen. Die Erinnerung, das Geschehen hatte Spuren im Gesicht von Lena Kayzer hinterlassen. Jette sah die dunklen Ringe unter den verweinten Augen. Ja, das Mädel hatte ein Problem.

„Ja“, flüsterte Lena und brach in Tränen aus. „Sie war… Jessica war… ich meine… meine… beste Freundin.“ Das Schluchzen wollte nicht aufhören.

Jette nahm sie in den Arm und tröstete sie. „Oh, das tut mir so leid, Lena. Das ist schrecklich!“ Sie zögerte einen Moment. „Wissen Sie was? Kommen Sie mit zu mir, ich rufe bei der Schule an, dass Sie auf keinen Fall heute kommen können und dann erzählen Sie mir alles, ja? Das erleichtert, glauben Sie mir.“

Jette brauchte nicht zweimal zu bitten. Lena schien nur allzu bereit, der Einladung zu folgen. Eine halbe Stunde später saßen die beiden in Jettes Wintergarten und schlürften Tee. Jette hatte, wie versprochen, die Schulleitung informiert und betont, dass Lena noch ganz durcheinander war und nicht fähig sei, Unterrichtsstoff aufzunehmen.

Lena griff zu, als Jette ihre selbstgebackenen Kekse auf den Tisch stellte.

„Haben Sie schon gefrühstückt, Lena?

Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Nein, dazu hatte ich keine Zeit.“

Jette stand auf. „Na, dann kommen Sie mit in die Küche. Ich mache uns ein richtig gutes, englisches Frühstück – mit Rührei und Schinken, Würstchen und gegrillte Tomate. Toast und Orangenmarmelade. Was meinen Sie?“

Auch Lena stand auf. „Sowas hab ich noch nie zum Frühstück gehabt.“

*

Nachdem der Tisch abgedeckt und das Geschirr wieder im Schrank war, kehrten die beiden zurück in Jettes Wintergarten.

„So, Lena, jetzt erzählen Sie mir von Ihrer Freundin Jessica.“

Umgehend schossen der Schülerin die Tränen in die Augen. Jette sah das Glitzern und rückte ihren Stuhl näher heran. Sie ergriff Lenas Hand. „Weinen Sie ruhig. Das hilft manchmal, den Schmerz zu ertragen.“

„Ich kann es immer noch nicht fassen“, schniefte Lena. „Sie war so eine gute Freundin. Immer für mich da. Immer hilfsbereit und immer so… so ruhig.“

„Es trifft oft die, die es am wenigsten verdient haben“, bestätigte Jette und tätschelte Lenas Hand. „Komm, erzähl‘ mir mehr von ihr. Darf ich ‚du‘ sagen?“

*

Es war kurz vor Mittag, als Lena sich verabschiedete. „Danke, Frau Berger, dass ich mich ausheulen durfte. Jetzt geht es mir schon etwas besser.“

Jette umarmte das Mädchen an der Haustür und verabschiedete es. „Lena, du weißt, dass du jederzeit zu mir kommen kannst. Wenn du jemanden brauchst, der dir zuhört, denk daran – ich bin für dich da.“ Rasch setzte sie hinzu: „Auch mitten in der Nacht.“

„Ja. Danke nochmals.“

Jette schaute ihr nach, bis sie um die Ecke gebogen war. Zufrieden lächelnd drückte sie die Haustür hinter sich zu. Umgehend setzte sie sich an ihren Schreibtisch und notierte sich einige Details, die sie von Lena erfahren hatte. Die wichtigsten Fragen, die ihrer Meinung nach als vordringlich zu beantworten waren, listete sie auf:

*

  1. Wo sind Jessicas Stiefel?
  2. Was wussten ihre Eltern wirklich?
  3. Katzenhaare?

*

Anne, Iris und Jochen hatten den gesamten Vormittag damit zugebracht, die vorhandenen Spuren, Ermittlungsergebnisse und Protokolle zu ordnen und nachzuvollziehen, wie der letzte Tag im Leben der Jessica Schuster verlaufen war.

„Also“, sagte Anne, „Am Samstagmorgen stand sie um etwa 10:30 Uhr auf und ging nach dem Frühstück mit ihrer Mutter einkaufen.“

„Ja“, bestätigte Iris, „zum Supermarkt, zum Metzger und zum Bäcker.“

„Zu Fuß?“, fragte Jochen dazwischen.

„Nein“, entgegnete Iris, „mit dem Wagen.“

„Hat die Familie nur einen Wagen oder mehrere?“

„Vater Schuster meinte dazu: wir kommen sehr gut mit einem Wagen aus“, ergänzte Iris.

„Ist die Mutter der gleichen Meinung?“, hakte Jochen nach.

„Ich glaube nicht“, erwiderte Iris. „Ich hatte den Eindruck, dass sie anderer Meinung ist, aber sich nicht traut, ihrem Mann zu widersprechen.“

„Ach ja? Ist er ein Tyrann?“ Anne schaute auf.

„Also… Tyrann würde ich nicht sagen, aber ein Patriarch, der keinen Widerspruch duldet.“

„Wie leben die Schusters?“, wollte Jochen wissen.

„Deren Hütte ist so sauber und aufgeräumt, dass ich neidisch werden könnte. Meine Bude ist nicht halb so ordentlich.“ Iris lächelte. „Andererseits… man traut sich kaum, sich in den Sessel zu setzen, weil das Kissen eine asymmetrische Delle bekommen könnte.

„Okay, was ist danach passiert? Nachdem Mutter und Tochter vom Einkaufen zurück waren? Und was hat Vater Schuster in dieser Zeit gemacht?“ Anne stand am Flipchart und wartete auf Informationen, die sie notieren konnte.

„Das hab ich recherchiert“, meldete sich Jochen. „Laut Aussagen der Nachbarn hat er den ganzen Vormittag im Keller gearbeitet. Er wollte für den Balkon eine Blumentreppe bauen. Das Kreischen der Säge störte die Nachbarn und deshalb haben sie sich auch gleich bei mir beschwert.“ Jochen blätterte in seinem kleinen Block. „Ihr solltet euch noch einmal die Nachbarin zur Rechten vorknöpfen. Die scheint mehr zu wissen.“

„Was zum Beispiel?“, unterbrach Anne ihn.

„Nun ja…“ Jochen zögerte. „Sie machte ein paar Andeutungen. So in die Richtung… er wollte eigentlich keine Kinder… und schon gar kein Mädchen.“

„Was heißt das?“

„Vater Schuster hat immer diverse Nachbarsjungen eingeladen, ihm im Keller bei seinen Basteleien und beim Herumwerkeln zu helfen.“

„Was ist er von Beruf?“

„So eine Art Hausmeister und damit Mädchen für alles. Er ist handwerklich geschickt und ganz stolz auf seine Werkstatt, wie er seinen Keller nennt.“

„Nun gut“, fuhr Anne fort. „Und was hat Jessica dann gemacht?“

„Sie hat ihrer Mutter beim Kochen geholfen und sich nach dem Essen in ihr Zimmer zurückgezogen – laut Aussage der Mutter, um sich auf die Mathe-Arbeit der kommenden Woche vorzubereiten und zu üben.“ Iris grinste, als sie fort­fuhr. „Deshalb waren Mama und Papa auch einverstanden, als sie zu ihrer Freundin Lena gehen wollte – angeblich, um mit ihr gemeinsam zu lernen. Lena ist nämlich nicht besonders gut in Mathe, wie Mutter Schuster meint.“

„Aha“, folgerte Anne, „so haben die beiden Mädels Mama und Papa Schuster ausgetrickst.“

„Iris nickte. „Ja, Lena war die akzeptierte beste Freundin von Jessica. Die Schusters hatten nichts gegen sie. Ihrer Meinung nach war Lena in Ordnung.“

„War sie ja auch“, grinste Jochen. „Nur eben nicht so, wie Schusters es glaubten. Im Gegensatz zu den Schusters scheinen mir Lenas Eltern, Björn und Sigrid Kayzer, moderner und realistischer eingestellt zu sein. Und das wusste Mutter Schuster – hütete sich aber, ihren Mann darüber aufzuklären.“

„Das heißt“, fasst Anne zusammen, „Vater Schuster wusste nichts davon. Auch nicht, dass seine Tochter im Begriff war, sich abzunabeln.“

„Okay, was haben wir noch?“ Anne wollte weiterkommen.

Iris fuhr fort: „Lena hat erzählt, dass sie mit Jessica gegen neun Uhr abends zu der Party ging, die am Dahlener End gefeiert wurde. Und zwar im Keller eines Mitschülers.“

„Wie heißt der?“

Jochen blätterte in seinem Notizblock. „Hier! Ein Bobby Lenzen. 18 Jahre. Die Eltern sind momentan verreist und er hat sturmfreie Bude.“

„Habt ihr euch umgesehen?“ Anne hoffte auf Hinweise.

„Leider nicht.“ Iris schüttelte den Kopf. „Wir haben im Moment keine Anhaltspunkte, dass die Party etwas mit dem Mord an Jessica zu tun hat. Kein Richter unterschreibt uns eine Durchsuchungserlaubnis. Dazu haben wir viel zu wenig.“

„Gut. Und was ist bei der Party passiert?“

„Bei der Party selbst“, fuhr Iris fort, „ist wohl nichts passiert.“

„Aber jetzt kommt der wichtige Teil“, fuhr Anne fort. „Im Gespräch mit mir hat Lena gesagt, dass Jessica – anders als vorgesehen – nicht bis zum Ende der Party blieb, sondern sich um kurz nach Mitternacht davongemacht hat. Lena weiß nicht wohin und auch nicht, mit wem sich Jessica getroffen hat.“

„Also der große Unbekannte.“ Iris seufzte.

„Habt ihr Jessicas Computer beschlagnahmt und ausge­wertet?“, wollte Anne wissen.

„Computer?“ Iris schüttelte den Kopf. „Den hatte sie nicht. Dieses Teufelszeug wollte Vater Schuster auf keinen Fall im Haus dulden.“ Ein Lächeln huschte über Iris‘ Gesicht. „Mutter Schuster war schlauer. Sie wusste, dass Jessica ein Laptop besaß. Lena hatte es von Freunden besorgt und ihr geschenkt. Vater Schuster durfte nur nichts davon wissen.“

„Wie haben die beiden Frauen es vor ihm geheim gehalten?“

„Das ist doch ganz einfach“, meinte Iris mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Mutter Schuster brauchte nur zu sagen – ein Vater hat im Zimmer seiner 17jährigen Tochter nichts zu suchen – und schon waren die Verhältnisse wieder klar, oder?“

„Mit der Auswertung des Laptops sind die Kollegen noch beschäftigt“, fügte Jochen an. „Das wird noch ein bisschen dauern.“

„Sonst noch was?“, hakte Anne nach.

„Ja“, erwiderte Iris, „der vollständige Autopsie-Bericht ist da. Es fehlen zwar noch die toxikologischen Befunde, aber trotzdem solltest du dir den Bericht ansehen.“

„Jetzt mach es nicht so spannend, Iris. Was steht drin?“

„Kein einziger Fingerabdruck. Keine einzige, fremde Faser. Keine DNA. Kein einzelnes Haar, das nicht von Jessica stammt. Einfach… nichts. Jedenfalls nichts Ungewöhnli­ches.“

„Was heißt das – nichts Ungewöhnliches?

„Man hat nur ein paar kleine Vogelfedern gefunden.“

Heftig schüttelte Anne den Kopf. „Hör auf, Iris! Denk‘ an unseren Fall am Geroweiher. Erinnerst du dich? Da waren die Katzenhaare das Beweismittel schlechthin. Also lasst bloß die Vogelfedern untersuchen und stellt die DNS von dem Vieh fest.“

„Geht klar!“

Anne zögerte. „Mageninhalt?“

„Cola und wahrscheinlich Wodka. Aber das ist noch im Labor. Genau wie die Blutprobe. Es dauert mindestens noch zwei Wochen, bis wir die Ergebnisse haben.“

Es entstand eine Schweigepause, in die Jochen fragte: „Und was machen wir jetzt?“

„Befragt alle Mitschüler – zumindest aus ihrer Klasse, alle Partygäste vom Abend zuvor. Quetscht die Nachbarn aus. Sucht nach den Stiefeln. Findet ihre Handtasche. Redet mit den Kassiererinnen im Supermarkt, den Verkäuferinnen beim Metzger und in der Bäckerei. Vielleicht kann uns irgend­jemand was Neues sagen. Und überprüft, wieviel Geld Jessica hatte, wieviel Taschengeld sie bekam, ob sie sich noch etwas hinzuverdient hat und wenn ja, wie.“

*

Pünktlich zum Fünf-Uhr-Tee saß Anne in Jettes Wintergarten und knabberte genüsslich an den Keksen. „Sag mal, Jette, wie machst du die? Ich meine, die sind ja sowas von lecker… da kann ich mich nie zurückhalten. Machst du mir mal eine Dose voll?“

Jette lachte. „Wenn das alles ist… kein Problem. Besorge du die Dose und ich kümmere mich um den Inhalt.“ Anne sah, dass Jette plötzlich ernst wurde.

„Was ist, Jette?“

„Bevor ich dir erzähle – sag du mir, was du weißt.“

Anne fasste den Vormittag und die Ergebnisse zusammen.

„So, jetzt bist du dran.“

Die Freundin erzählte ihr von Lenas Besuch und was sie erfahren hatte.

„Na, das ist aber interessant. Davon hat mir Lena aber nichts erzählt“, merkte Anne an und fühlte ihren Ärger aufsteigen. „Wieso hat sie mir das nicht erzählt?“

Sie sah die steile Falte zwischen Jettes Augenbrauen. „Hast du es immer noch nicht begriffen?“ Jette zeigte deutlich ihr Unverständnis. „Du bist von der Polizei… ich nur eine alte Frau, die an Tante Frieda erinnert. Du weißt, dass die Leute mir immer viel mehr erzählen als der Frau Oberkommis­sarin.“ Bevor Anne reagieren konnte, fuhr sie fort: „Du solltest froh sein, dass du über mich als zusätzliche Informationsquelle verfügst, Aber nein! Stattdessen fühlst du dich in deiner Eitelkeit gekränkt.“

Anne grinste. „Ist ja gut, Frau Berger. Lass mir mein bisschen Eitelkeit, sonst geh ich gänzlich unter.“

Heftig schüttelte Jette ihren Kopf. „Nein, meine Liebe. Genau umgekehrt! Lass deine Eitelkeit beiseite und komm endlich mal hinter deiner Fassade hervor.“

Anne schnappte nach Luft. „Wie… wie meinst du das?“ Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss.

„Wörtlich, meine Liebe. Wörtlich!“

Nun lächelte Jette. „Ins Schwarze getroffen, wie?“ Sie

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Jette Berger und Anne Weller - ihre zweiten drei Fälle © Karin Welters / Published by LitArt-World Mönchengladbach © 2018
Bildmaterialien: Coverfotos © 123 RF, Cathy Yeulet, Tasskorn Sriramat
Cover: Cover Layout © / Karin Welters
Tag der Veröffentlichung: 02.08.2017
ISBN: 978-3-7438-2619-9

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