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PROLOG

Wie jeden Morgen, erwacht Jenna noch vor der Dämmerung.

Und wie jeden Morgen gieren Armeen von dicken Regentropfen danach, in das Innere des kleinen Holzhauses am Waldrand zu gelangen; bemühen sich, die morschen Dachziegel zu durchschlagen; trommeln lautstark an die Fensterscheibe, die den unbarmherzigen Wassermassen der vergangenen Nacht – Gott sei Dank – noch einmal widerstanden hat.

Kaum, dass sie ihre Augen geöffnet hat, krümmt sich ihr ganzer Körper. Ein leises Stöhnen stiehlt sich aus Jennas Brust. Diesem dumpfen, nagenden Schmerz fühlt sie sich wie immer hilflos ausgeliefert. Ihre Hoffnung, dass er sich über Nacht verflüchtigt haben würde, entpuppt sich abermals als bloßer Wunschtraum. Im Gegenteil! Er wird mit jedem Tag unerbittlicher, heftiger, unbeherrschbarer.

Hört das denn nie auf? Wenn ich nur wüsste, was ich tun kann, damit er verschwindet.

Einen Arzt kann sich die Familie nicht leisten. Ob ich vielleicht schrecklich krank bin? Muss ich sterben? Was wird dann aus Mama, Papa, Jörge und Dana?

Es kostet Jenna unendlich viel Kraft, aufzustehen. Die Müdigkeit hängt nicht nur wie ein stinkender, alter Putzlappen um ihre Schultern, sondern durchdringt ihren ganzen Körper.

Jede Zelle.

Jedes Atom.

Mit bleiernen Beinen schleppt sie sich hinter das Haus.

Und dann steht sie vor dem verwitterten, brüchigen, stets überlaufenden Holzfass, das durch ein paar flüchtig zusammengezimmerte, vermodernde Holzlatten überdacht wird. Vielleicht hilft mir heute der Inhalt des Bottichs, munter zu werden.

Sie fühlt sich schrecklich müde, erschöpft, wie taub.

Automatisch taucht sie den vergrauten Waschlappen in das kalte Regenwasser und rubbelt sich damit von oben bis unten ab. Oh, ist das kalt!

Trotzdem bewirkt das Nass nicht die ersehnte Erfrischung, weckt keine belebende Kraft. Zwar ist sie jetzt wach, aber nicht gestärkt. Nur mit größter Anstrengung folgt sie der üblichen Routine. Das Handtuch, im selben Grau wie der Lappen, kann die Feuchtigkeit kaum aufnehmen. Alle Handtücher sind feucht. Genau wie die Kleidung, die Schuhe, die Mäntel, das Bettzeug, die Matratze, die Schulhefte… einfach alles.

Alles ist immer klamm. Immer feucht.

 

Ekel steigt in ihr auf. Den muffigen Geruch im Haus merkt sie gewöhnlich nicht, aber heute ausgesprochen intensiv.

Zurück im Zimmer, zieht sie sich das auf der Haut kratzende Unterkleid und die unzählige Male gestopften Strümpfe an, schlüpft widerwillig in den viel zu oft geflickten, grauen Rock, der ihr fast bis zu den Knöcheln reicht, knöpft die abgetragene, ausgeblichene Bluse ihrer älteren Schwester zu, greift nach ihrer verschlissenen Schultasche und huscht in die winzige Küche, in der Mutter das übliche Frühstück bereitet hat: Eine schmale Schnitte altbackenes Brot mit einem hauchdünnen Aufstrich aus Margarine und Kompott. Dazu ein Glas Milch.

Nein! Sie ist unfähig, auch nur einen Bissen davon zu nehmen. Eilig verlässt sie das Haus und erreicht den Schulbus mit den riesigen Traktorreifen gerade noch rechtzeitig.

Während der Fahrt betet sie inständig: Lieber Gott, lass mich heute nicht aufgerufen werden. Ich habe doch wieder keine Zeit gehabt, meine Hausaufgaben zu machen. Du weißt, dass ich bis heute früh um zwei Uhr noch den Stall der Familie Sterges blitzeblank putzen musste.

Auch Mutter und Vater waren erst in den frühen Morgenstunden von ihrer Arbeit nach Hause gekommen. Und obwohl Jörge, Dana und Jenna mehr als zwölf Stunden, Vater und Mutter sogar sechzehn Stunden arbeiten, sieben Tage in der Woche, reicht das Geld hinten und vorne nicht.

Lieber Gott, betet sie lautlos weiter, lass den Bus heute in einem der vielen Schlammlöcher stecken bleiben!

Aber, wie immer, scheint er sie auch diesmal nicht gehört zu haben.

In ihrem Inneren hört sie die Schreie.

Warum nicht?

Was habe ich angerichtet, dass er derart stumm bleibt?

Mich nicht erhört?

Warum lässt er uns alle so schrecklich leiden?

Warum hat er nicht auf Jana aufgepasst?

Warum musste sie sterben?

Warum auf so grausame Art?

Was hat sie verbrochen?

Das hagere, liebe Gesicht ihrer älteren Schwester taucht vor ihrem inneren Auge auf. Ihr schüchternes Lächeln; ihre großen, braunen Augen; ihre schwieligen Hände.

Tränen schießen ihr in die Augen. Sie weiß: der Anblick ihres zerschundenen, verstümmelten Körpers wird sie ihr Leben lang verfolgen. In wie vielen Nächten wachte sie in Schweiß gebadet auf und sah diese Hülle, die einmal ihre Schwester war, vor sich … weggeworfen wie ein Stück Abfall!

Sie war gerade erst sechzehn geworden!

Oh, Jana… ich vermisse dich so sehr!

Auch wenn dein Tod schon mehr als ein ganzes Jahr her ist, vermisse ich dich, wie am ersten Tag, nachdem du verschwunden bist.

Schon bald kommt das rote Backsteingebäude mit dem mannshohen, schwarz angestrichenen Eisenzaun mit den langen, scharfen Spitzen am oberen Ende in Sichtweite: Die Schule!

*

Völlig durchnässt erreicht Jenna den Klassenraum. Mit einem einzigen Blick sieht sie, dass nur noch wenige Schülerinnen fehlen. Leise huscht sie zu dem ihr zum Jahresanfang zugewiesenen Platz und blickt sich verstohlen um, bevor sie sich setzt. Alle Anwesenden halten ihren Kopf gesenkt und sprechen kein Wort. Wehe derjenigen, die wagt, zu sprechen!

Es ist den Schülerinnen der staatlichen Schule strengstens untersagt, ohne vorherige, ausdrückliche Aufforderung durch eine Lehramtsperson den Mund aufzumachen. Wie oft hatte sie mit ansehen müssen, wie es Mädchen erging, die diese Regel missachteten? Die drakonischen Strafen, von körperlicher Züchtigung bis zum spurlosen Verschwinden, hatten das Ziel der Abschreckung in ihrer Klasse jedenfalls nachhaltig erreicht.

Die Erinnerung an die am eigenen Leib gemachten Erfahrungen von Strafarbeiten, Sonderaufgaben, Schlägen und sogar Arrest bei Übertreten von Anweisungen lassen sie innerlich vor Angst erzittern.

Schon betritt Frau Korios, die strenge Lehrerin, den Raum. Wie auf ein unhörbares Kommando stehen alle Schülerinnen gleichzeitig auf. Wieder betet sie und wünscht sich sehnlichst, unsichtbar zu sein. Doch auch diesmal verhallt ihr Gebet ungehört im wabernden Nebel des grauen Schulalltags.

Die schreckliche Lehramtsperson mit den kleinen, engstehenden, kalten Augen, Frau Korios, ruft scharf ihren Namen und fordert sie auf, ihre Hausaufgaben im Unterrichtsfach Geschichte im Stehen vorzulesen.

Ganz langsam erhebt sich Jenna; kann ihr Zittern nicht beherrschen.

Mit den Augen sucht sie offensichtlich auf dem Boden nach einer Antwort.

Sie kann nicht sprechen.

Ihr Hals ist zugeschnürt; wie verstopft.

Ihr bricht der Schweiß aus allen Poren und läuft in kleinen Rinnsalen über ihr Gesicht.

Dunkle und helle Punkte flimmern vor ihren Augen.

Sie hört die drohende Stimme wie Kanonenschläge: „Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt, Jenna?“

Jedes Wort von dieser Frau, betont langsam gesprochen und schneidend wie ein Rasiermesser, fühlt sich für Jenna an wie ein Peitschenhieb.

Sie kann sich nicht bewegen.

Um Ihren Hals zieht sich eine unsichtbare Schlinge immer weiter zu.

Ihr Mund ist staubtrocken.

Die sich nun breitmachende unheimliche, beklemmende Stille, die das gesamte Klassenzimmer bis zum Bersten ausfüllt, lässt sie erbeben.

Sie spürt die nahende Katastrophe.

Ganz langsam kommt die stämmige Frau mit den kalten Augen auf sie zu, bleibt vor ihr stehen und stemmt ihre muskulösen Arme in die Seiten. Ein rascher, kurzer Blick in das Gesicht der Frau zeigt ihr, dass gleich ein schreckliches Unglück passieren wird.

Wieder treffen sie die Worte wie Peitschenhiebe; nur diesmal brüllt die Frau unbeherrscht: „Habe ich mich nicht klar ausgedrückt, Jenna?“

Das Mädchen nickt.

Der Schmerz in ihrer Brust verstärkt sich, ihr wird speiübel und sie hat das Gefühl, an dem Kloß in ihrem Hals zu ersticken.

Sie hustet erbärmlich.

Dann spürt sie den Druck auf ihrer Blase.

Fieberhaft sucht sie nach Worten.

Bevor sie auch nur einen Ton herausbringt, fühlt sie, wie ihre Beine nachgeben.

Wohlige, friedliche und erlösende Schwärze breitet ihre Arme aus und umarmt sie.

*

Wie durch eine dämpfende Nebelwand hört Jenna eine Frauenstimme. „Was passiert, wenn sie nicht mehr wach wird? Sie ist mit dem Kopf voll auf dem Steinboden aufgeschlagen.“

Eine andere weibliche Stimme antwortet verächtlich und gleichgültig: „Na, dann werden die Eltern benachrichtigt, die sie abholen und begraben können. Wen interessiert das schon? Auf so eine mehr oder weniger kommt es nicht an. Gut…wäre es einer der Jungs aus dem anderen Trakt oder eins der Mädchen von der Weißen Schule, dann… ja dann wäre das etwas ganz anderes. Aber so?“

Die Stimmen entfernen sich und Jenna vernimmt ein leises Stöhnen.

Es ist ihr eigenes!

Ganz langsam richtet sie sich auf und betastet ihren Kopf. Ja, sie fühlt eine große Beule am Hinterkopf, die heftig pocht. Ihr Kopf schmerzt, als hämmerten Hunderte von Bauarbeitern von innen gegen ihr Schädeldach.

Vorsichtig betastet sie noch einmal ihren Hinterkopf und fühlt das verkrustete Blut in ihren Haaren. Auf ihrer Hand sieht sie den roten Lebenssaft, der offenbar noch immer aus der Wunde sickert.

Verwirrt und unsicher, was sie tun soll, schaut sie sich im Krankenzimmer um.

Die angelehnte Tür zum Hinterhof lässt sie vor Schreck erstarren.

Und dann fühlt sie eine unbändige Erregung in sich aufsteigen.

Ihr Schwindelgefühl, der Schmerz sind wie weggeblasen!

Der Drang, loszurennen, zu flüchten, überrollt sie regelrecht.

Unmengen an Gedanken schießen kreuz und quer durch ihren Kopf.

Wie soll ich unbemerkt an den Überwachungskameras vorbeikommen?

Wie soll ich den Metallzaun überwinden?

Wo sind die Wachmänner?

Wo die Spürhunde?

Sie merkt, wie ihr Kopf sich leert, als hätte jemand den Stopfen aus einem Ausguss herausgezogen. Alle Gedanken fließen durch dieses unsichtbare Abflussrohr, lösen sich in Nichts auf. Verschwinden einfach.

Plötzlich beginnt ihr Körper, ein Eigenleben zu führen. Er entzieht sich vollständig ihrer Kontrolle. Ohne einen Augenblick zu zögern, schlüpft sie barfuß und lautlos durch die geöffnete Tür, huscht zum Zaun, hastet geräuschlos an ihm entlang, kriecht an einer Stelle, an der der Regen über Nacht eine Mulde am Ende des Erdpfostens gespült hat, unter dem Zaun hindurch. Gott sei Dank bin ich klein und zierlich und passe hindurch.

Sie hetzt in den angrenzenden Wald.

Und rennt, rennt, rennt!

Nur weg!

Weg von diesem Haus!

Weg von dieser Frau!

Weg von dieser schrecklichen Angst!

Weg von diesem Leben!

Irgendwie findet sie sich auf einem kaum erkennbaren Waldweg wieder, der sie immer weiter wegführt von diesem Gebäude. Weg von dieser Lehrerin. Weg von dieser alles zerfressenden Angst, die jede Zelle ihres Körpers vibrieren lässt.

Jeden Moment muss die Sirene losheulen. Bald schon wird das Hundegebell zu hören sein.

Sie werden sie jagen!

Hetzen!

Verfolgen!

Vor sich hertreiben!

Nein! Sie dürfen mich nicht kriegen!

Weg von hier!

Sie hört eine innere Stimme: Lauf weiter, Jenna!

Lauf!

*

*

*

Kapitel 1 - Jenna

Unablässig prasselt der Regen auf den völlig durchtränkten, schlammigen Waldboden. Das beständige Aufschlagen der dicken, schweren Tropfen, wie ein gleich bleibendes, monotones Stakkato, begleitet Jenna auf ihrer Flucht nun schon seit ungezählten Tagen und Nächten.

Ja, sie hatte schon längst aufgehört, sie zu zählen.

Triefende, dünne Kleidung klebt an ihrem Körper. Den langen Rock, der jeden Schritt zu einer zeitschindenden Qual werden ließ, hatte sie gleich am ersten Tag ausgezogen und liegengelassen. Aus ihren Haarsträhnen rinnt das Wasser auf ihre Schultern, an ihrem Körper entlang und versickert irgendwo im Erdboden. Sie weiß nicht, wie viele Wochen der modernde Laubgeruch, die tiefen Pfützen und der glitschige Morast, der ihre Füße bei jedem Schritt wie gierige Hände zu umklammern versucht, ihre einzigen Weggefährten sind. Irgendwann hat sich der schmatzende Sumpf ihre Strümpfe einverleibt.

Laufe ich überhaupt noch in die Richtung, in der ich mein Ziel ersehne?

Die tief hängenden, Wasser speienden Wolken, die alles Leben in ihrem einheitlichen Grau ertränken, erlauben keine Orientierung. Es ist, als würde der Himmel seit ewigen Zeiten und für alle Zukunft weinen.

Atemlos bleibt sie an einem der dicken Bäume stehen und hechelt nach Luft. Mit der rechten Hand greift sie in die Seite ihrer Taille, dort, wo der stechende Schmerz unaufhörlich pocht, während sie mit der linken Hand die Rinnsale aus ihrem Gesicht wischt.

Doch ihre Rast darf nur von kurzer Dauer sein! Also läuft sie keuchend weiter, nur noch ihrem Gefühl folgend, das ihr den unbekannten Weg weisen soll.

Auch wenn das entfernte Hundegebell – Gott sei Dank – längst verstummt ist, kann sie nicht sicher sein, dass ihre Verfolger die Suche aufgegeben haben. Sie weiß: Stöbern Phalems Häscher sie auf, landet sie in der schlimmsten Hölle, die sie sich nur vorstellen kann… in den finsteren Kasernen der neu rekrutierten, jungen, ungehobelten Soldaten, die sich wie ausgehungerte Wölfe auf sie, als ihre neue Beute, als willkommenes Frischfleisch, stürzen würden.

Jeder in Distremien weiß, was mit Mädchen passiert, die auf ihrer Flucht aufgegriffen und zurückgebracht werden. Auch wenn niemand darüber spricht, denn Phalems Spione können überall sein und ohne Vorwarnung zupacken, werden die grausam zerschundenen Körper der Mädchen früher oder später auf einem der wenigen, hochgelegenen Felder oder in einem der verwilderten Waldgebiete oder abgelegenen Wassergräben aufgefunden... wie Jana. Auch sie hatte es gewagt!

Nein!

Sie stolpert weiter. Immer weiter.

Nur weg!

In den Nächten sucht sie Schutz in Höhlen oder unter umgestürzten Baumstämmen. Manchmal findet sie Wurzelwerk und ein paar Beeren, doch ihr Magen knurrt ununterbrochen – nach Nahrung schreiend. Wenigstens ihren Durst kann sie aus den vielen Pfützen stillen, auch wenn das Regenwasser gallebitter schmeckt und einen fauligen Geruch verströmt.

Ihre Füße, Beine und Arme bluten aus unzähligen kleinen und größeren Wunden, hervorgerufen von Steinen, Dornen und anderen scharfkantigen Hindernissen im unwegsamen, ewig dämmrigen Gelände.

Sie ignoriert sie einfach.

Hoffentlich entzünden sie sich nicht.

Die aufkeimenden Bilder, wie sie in diesem Schlamm, diesem Morast versinkt und elendiglich stirbt, verdrängt sie. Was sollte sie auch sonst mit ihnen machen? Sie muss sie beiseiteschieben, sonst werden diese Bilder sie auffressen.

Irgendwann verliert Jenna jedes Zeitgefühl und ihre Schritte nehmen einen mechanischen, taumelnden Gang an. Nein, ihre Kraft schwindet zunehmend. Sie weiß nicht mehr, wo ihr ersehntes Ziel zu finden ist. Sie humpelt und wankt einfach nur noch weiter.

Hauptsache… ich drehe mich nicht im Kreis!

Sonst… Oh, Gott!

Während sie unentwegt weiter stolpert,  muss sie immer wieder an Jana denken.

Sie sollte mit einem reichen Gutsherrn vermählt werden. Aber ihre Schwester graute vor dieser Ehe. Sie wusste, dass sie – wie in den meisten Ehen – nur das Ansehen des Mannes steigern sollte. Niemals würde sie in einer solchen Verbindung glücklich werden. Die meisten der Heiratswilligen suchen eine Frau, die sich bedingungslos den Bedürfnissen, Erwartungen und Forderungen des Mannes unterordnet, ihnen Kinder schenkt – natürlich so viele Knaben wie möglich – und selbst keine Ansprüche zu stellen haben. Ja, Jana graute vor dieser Zukunft. Sie wusste um das Risiko ihrer Flucht. Genauso wie sie selbst es auch wusste, als sie aus der Schule flüchtete.

Ihre Eltern vertrösteten den Mann, der um Jennas Hand angehalten hatte, auf den Monat vor ihrem 16. Geburtstag. An diesem Tag sollte sie die Kleidung und die Kopfbedeckung der zukünftigen Ehefrau erhalten, als Zeichen, dass sie vergeben war. Es wäre der Tag ihrer Verlobung gewesen. Der dreißig Jahre ältere Larus hätte am Tag ihrer Verlobung das Recht erhalten, sie mit dem unübersehbaren Zeichen seiner Sippe zu versehen. Es wäre auf ihrer Stirn eingebrannt worden.

Und sie wusste genau – das Aufbringen dieses Zeichen wäre noch viel schmerzhafter gewesen, als die Markierungen auf ihrem Rücken, der sie als Mitglied des südöstlichen Landesteils auswies. Natürlich wurden nur die Mädchen auf diese Weise gekennzeichnet – nicht die Jungen.

Oh, Jana. Was haben wir nur getan, dass wir Mädchen diese furchtbaren Qualen erleiden müssen?

Nach zahllosen grauen Tagen und nasskalten Nächten bemerkt sie, dass der Regen tatsächlich ein wenig nachlässt und ein zunehmend diffuses Dämmerlicht ihr Umfeld verändert. Mit jeder Stunde, die sie weiterschwankt, spürt sie einen winzig kleinen Hoffnungsschimmer in sich aufkeimen.

Kann es sein, dass ich doch noch mein Ziel erreiche?

Ein Ziel, von dem ich nicht einmal weiß, ob es überhaupt existiert?

Mit jedem neuen Tag werden die Wolken durchlässiger und lassen mehr Licht auf den Waldboden hindurchströmen. Mit zunehmender Helligkeit um sich herum fängt ihr winziger Hoffnungsfunke ein wenig zu glühen an. Wird sie bald ihr ersehntes Ziel – Pakenia –erreichen?

Und dann geschieht etwas für sie Unvorstellbares: Die erste Nacht ihres 15 – jährigen Lebens im Trockenen!

Sie kann es nicht fassen!

Es gibt also doch einen Ort auf der Welt, an dem es nicht regnet?

Mühsam erhebt sie sich und wankt weiter. Immer weiter. Bis es erneut dunkel wird.

Schemenhaft entdeckt sie einen besonders dicken, umgestürzten Baumstamm. Rasch kriecht sie darunter. Er wird ihr zusätzlichen Schutz geben, so dass sie vielleicht ein wenig mehr als sonst ausruhen kann. Noch immer kann sie nicht fassen, dass es tatsächlich nicht regnet.

Erst jetzt bemerkt sie, dass sich auch der Boden unter ihren nackten Füßen anders anfühlt. Keine Pfützen. Kein tiefer Morast. Keine glitschigen, modernden Blätterhaufen.

Und sie weiß: Lange hält sie das Weiterlaufen nicht mehr durch. Sie spürt deutlich, dass ihre Kräfte zu Ende gehen. Erschöpft fällt sie zu Boden und fällt in einen traumlosen Schlaf.

*

Als sie erwacht, weiß sie nicht, wo sie ist.

Sie lauscht.

Kein Pladdern? Kein Stakkato? Kein Wasserrauschen?

Oh, ja! Jetzt erinnert sie sich. Unter Schmerzen klettert sie unter dem Baumstamm hervor und versucht, ihre Umgebung wahrzunehmen. Es ist zwar noch dunkel, aber ein ganz merkwürdiges Licht herrscht hier – trotzdem!

Ihr Blick geht nach oben.

Wie erstarrt bleibt sie stehen. Was für ein ungeheuerlicher Anblick! Noch nie hatte sie ein derartiges Glitzern über sich zu Gesicht bekommen: Unzählige, kleine Lichter, die sich über den gesamten Himmelsbogen erstrecken. Manche blinken, manche nicht.

Was ist das?

Ob das Sterne sind? So wie im Buch ihres Großvaters beschrieben?

Mein Gott, dieser Anblick ist viel, viel schöner als die allerschönste Beschreibung!

Langsam scheinen die kleinen Punkte weniger zu werden. Stattdessen nimmt der Himmel über ihr eine andere, hellere Färbung an.

Je heller es wird, desto mehr verblassen diese kleinen Pünktchen und am Horizont erwachen Farben zum Leben, die sie nur aus alten Bilderbüchern kennt. Nein! In ihrer Heimat gibt es schon seit Generationen keine solchen Farben mehr zu sehen.

Was ist das nur?

Mit jeder Minute wird es heller und heller. Sie kann kaum glauben, dass es keine dicke, graue Schicht über ihr gibt, die alles in ihrem Leben niederdrückt; jede Lebendigkeit ertränkt. Der Himmel hat all die Tränen geweint, die ich in mir trage, die zu unterdrücken, jeden Tag mehr Kraft von mir verlangte, schießt es ihr durch den Kopf.

Nein… Tränen darf niemand in Distremien weinen.

Die Farbe des Himmels verändert sich in jedem Augenblick. Aus dem Malunterricht weiß sie, dass dieses blasse Blau angeblich einst auch über Distremien zu sehen war. Selbst Großvater wusste nur aus Erzählungen seines Großvaters, dass es eine Zeit gegeben haben sollte, als es über Distremien noch nicht dauerhaft regnete. Für Jenna ist das, was sie hier erlebt, unbeschreiblich. Ihr fehlen einfach die Worte. Die zunehmende Helligkeit ist für sie kaum noch zu ertragen. Ihre Augen schmerzen. Aber sie kann den Blick nicht von der Stelle lösen, an der sich jetzt ein kleiner, gelbstichiger Lichtschein am Horizont zeigt.

Ist in den überlieferten Legenden nicht die Rede von einer großen, gelb leuchtenden Scheibe am Himmel, die zu bestimmten Jahreszeiten ihre Wärme auf die Haut der Erdbewohner übertragen haben soll? Und… gab es da nicht auch eine kleine Schwester, die jedoch meist nur dann erschien, wenn die große schlafen ging?

Ob ich vielleicht …?, schießt es ihr durch den Kopf. Aber, das ist unmöglich!

Ausgeschlossen!

Wie dumm ich doch bin!, denkt sie. Jeder weiß, dass beide Scheiben für immer verschwunden sind!

Dennoch… diese unbeschreiblichen Farben über ihr, die immer heller und immer leuchtender werden… Was ist das?

Vielleicht… hängt es doch mit der großen, gelben Scheibe zusammen?

In diesem noch immer fremden, diffusen Licht fällt ihr Blick auf üppige Sträucher, deren biegsame Äste vom Gewicht leuchtend dunkler Beeren zur Erde gezogen werden. Vorsichtig kostet sie von den Früchten.

Diese Süße auf der Zunge!

Unbeschreiblich!

Oh, wie köstlich!

Sie pflückt so viele davon so schnell sie kann und stopft sie in sich hinein so schnell es geht. Wer weiß, wann sie wieder so viele Früchte findet. Sie kennt sie zwar nicht, aber sie sind einfach zu köstlich!

Und wenn sie giftig sind?

Sie zögert, aber sie bemerkt keine unangenehme Reaktion.

Schon bald hat sie das Gefühl, vollkommen satt zu sein. Wie schon lange nicht mehr.

Langsam richtet sie sich auf und geht jetzt erheblich langsamer, beträchtlich ruhiger weiter.

Jetzt zeigt sich am Horizont ein Halbkranz aus schwachen Lichtstrahlen.

Vielleicht ist die Scheibe ja nur ein bisschen verschwunden…

Wieder bleibt sie staunend stehen. Der Lichtkranz wächst und die Leuchtkraft intensiviert sich. Es wird immer heller!

Nein, sie kann nicht weitergehen. Sie bleibt an Ort und Stelle stehen und verfolgt wie verzaubert das Schauspiel der sich verändernden Farben am Horizont.

Und dann trifft sie ein furchtbarer, greller Blitz!

Der Schmerz lässt sie aufschreien. Unwillkürlich schlägt sie beide Hände vor das Gesicht und fällt zu Boden. Sie zittert am ganzen Leib, denn niemand hatte in der Legende davon berichtet, dass die große Scheibe, die offensichtlich doch noch existiert, die Augen verbrennen kann. Lange Zeit bleibt sie mit den Händen vor ihrem Gesicht auf dem Boden hocken. Das Bibbern will nicht aufhören.

Doch damit nicht genug, denn nun hört sie ein Geräusch, das ihr Schauer über den Rücken jagt. Sie kennt dieses helle, seltsame Piepsen ebenso wenig, wie das rhythmische, echoartige Klopfen, das unvermittelt einsetzt, abrupt aufhört, um sogleich wieder zu beginnen.

Die Blätterhaufen auf dem Waldboden bewegen sich. Ist das Geräusch das, was in den alten Büchern mit Rascheln bezeichnet wird?

Triefende, durchnässte, faulende Blätter geben keine Geräusche ab.

Oh nein! Vielleicht wäre sie doch besser zu Hause geblieben, statt nach einem Land zu suchen, von dem niemand weiß, ob es überhaupt existiert!

Jenna! Reiß dich zusammen!, hört sie die innere Stimme.

Ganz vorsichtig löst sie eine Hand von ihrem Gesicht. Ihren Kopf hält sie tief gesenkt. Gott sei Dank! Wenn sie auf den Boden schaut, ist das blendende Licht erträglich. Mutig löst sie auch die andere Hand und sieht sich vorsichtig um.

Der Wald ist lichter geworden und hohes Kraut von unbeschreiblich leuchtendem Grün mit fächerartigen Blättern sprießt auf dünnen Beinen aus dem Boden.

In dem Buch, das Großvater verbotenerweise unter seiner Matratze versteckt gehalten hatte, das sich Lexikon nennt, hatte sie farbige Zeichnungen von ‚Farnkraut‘ gefunden und erkennt es deshalb. Wie zart und zierlich die Blätter sind. Wie majestätisch die dünnen, langen Stiele.

Sie kann nicht anders, als wieder nach oben zu schauen, aber sie vermeidet den direkten Blick in den Feuerstrahl. Die Farbe des Himmels, auf der gegenüberliegenden Seite der Quelle dieser Glut, entspricht genau den Beschreibungen in den Legenden, von denen ihr Großvater oft vor dem Schlafen gehen erzählt hatte. Das Blau des Himmels …, hieß es dort. So also siehtazurblau‘ aus?

Noch immer unsicher und zitternd steht sie auf und schleppt sich weiter. Bei dem Gedanken an den geliebten Großvater schießen ihr Tränen in die Augen, denn die Bilder der Erinnerung übermannen sie: Wie er eines Nachts von unbekannten, dunkel gekleideten Männern mit schweren Stiefeln aus dem Haus gezerrt worden war und niemand ihn seitdem mehr wiedergesehen hatte. Alle Versuche ihn zu finden scheiterten, und nach einigen Wochen wurde nicht mehr darüber gesprochen. Sie weiß im tiefsten Herzen, dass alle in ihrer Umgebung ihn vermissen, ihre Trauer lediglich unterdrücken und vor den anderen verheimlichen.

Nein, Gefühle zu zeigen, gilt in ihrer Heimat als äußerst unerwünscht und man macht sich damit schnell unbeliebt. Jeder in Distremien lernt von Kindesbeinen an, seine Gefühle zu unterdrücken, zu verdrängen oder zu ignorieren. Was für ein Glück, dass Opa ihr das einmal erklärt hat. Nur die Angst wird als Gefühlsregung toleriert, wenn auch nicht gern gesehen.

Erst jetzt bemerkt sie, dass fremde Gerüche in ihre Nase ziehen. Gerüche, die sie nicht kennt, denen sie keine Namen geben kann. Aber… sie sind angenehm. Zumindest das kann sie feststellen.

Ganz in Gedanken versunken stolpert sie weiter. Ja, sie lässt ihren Gedanken und Gefühlen tatsächlich freien Lauf… ein ungekanntes Erlebnis, das sich ohne ihr Zutun einfach breitmacht. Bisher hatte sie ihre Zweifel, Hoffnungen und ihre große Sehnsucht nach dem Ende der Angst und dem Schrecken für sich behalten. Nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, geisterten sie ununterbrochen in ihrem Gemüt herum. Nun erlaubte sie sich erstmals zu denken, zu fühlen und ein kleines bisschen davon wahrzunehmen.

Was für ein Erlebnis!

Sie fragte sich, ob es dieses Land, dieses Pakenia, wirklich gibt. Oder ist dieser Teil der Legende nur eine Phantasie? Kann es ein Land geben, wo die Menschen keine Angst haben? Wo es ein friedvolles Zusammenleben gibt? Ein Leben ohne Zwang, Schrecken und Furcht? Sie kann es sich nicht vorstellen. Doch… warum sollte Großvater gelogen haben?

Ihre Aufmerksamkeit wird abrupt gefangen genommen. Ein plötzliches Aufblitzen lässt sie für einen winzigen Augenblick wie versteinert stehenbleiben. Blitzschnell versteckt sie sich hinter einen der großen Baumstämme.

Woher kommt dieses Aufblitzen?

Was bedeutet es?

Natürlich bleibt sie in der Deckung der Bäume, schleicht vorsichtig weiter, huscht von Baum zu Baum. Ihre Deckung muss sie unbedingt aufrecht halten! Das Aufblitzen kommt von einem Mann!

Jeder Schritt, der sie näher zu diesem Mann hinführt, verstärkt das Hämmern in ihren Schläfen.

Es wird fast unerträglich!

Ja, jetzt erkennt sie es: Das Blitzen stammt von den Knöpfen an der Uniform dieses Mannes, der gemächlich an einer Hecke auf und ab schlendert. Das leuchtende Rot seiner Jacke wirkt unheimlich, ja bedrohlich! Noch nie hat Jenna ein Gewand in solch einer grellen Farbe gesehen. In Distremien werden nur dunkelgrüne, braune, schwarze oder graue Kleidungsstücke hergestellt. Andere Farben für Bekleidung kennt sie nur aus den zerfledderten Bilderbüchern, die Großvater ihr heimlich zugesteckt hat, und die sie wie einen Schatz unter ihrem Strohlager verborgen gehalten hat. Und natürlich aus dem Malunterricht. Aber… nie wäre sie auf die Idee gekommen, Kleidung in solchen Farben auf das Papier zu bringen. Oh, nein! Das hätte Frau Korios höchstens dazu veranlasst, drastische Strafen zu verhängen. Sie hätte es als Ausdruck rebellischer Gedanken, als gefährliches Aufbäumen gegen die bestehende Gesellschaftsordnung, als unerwünschte Systemgefährdung gebrandmarkt. Farben für Kleidungsstücke hatten ausschließlich den staatlichen Vorgaben zu entsprechen!

Und jetzt… das!

Je näher sie dem Mann in der roten Jacke kommt, desto schneller hämmert das Blut jetzt in ihrem Hals. Ja, sie ahnt, dass Unerwartetes ihrer harrt.

Wird ihr Ziel jetzt greifbar?

Wachsam studiert sie das Gesicht des Mannes.

Oh ja, sie kennt die Anzeichen der Gefahr ganz genau. Jedes Muskelzucken im Gesicht eines Menschen, der ihr gefährlich werden kann, ist in ihr Innerstes eingraviert. Doch die Augen dieses Mannes wirken ruhig; seine Mundwinkel sind entspannt.

Aber das kann täuschen!

Es ist auf jeden Fall besser, vorsichtig und auf der Hut zu bleiben.

Und dann überfährt sie die Erkenntnis wie ein überdimensionaler Bulldozer: Was jetzt?

Keinen einzigen Gedanken hatte sie daran verschwendet, was sie tun würde, wenn sie die Grenze Pakenias erreichte.

Aber… ist das überhaupt die Grenze zu Pakenia?

Woher sollte sie das wissen?

In ihrem Kopf macht sich wieder diese schreckliche Leere breit. In ihrem Magen grummelt es und ihre Beine fühlen sich an wie Kerzenwachs, das zu schmelzen beginnt.

Und jetzt?, hämmert es in ihrem Inneren, exakt im Takt ihres Herzschlages.

Und jetzt? Und jetzt? Und jetzt?

Noch immer hält sie sich hinter dem letzten Baum versteckt, der ihr Schutz vor den Augen des Mannes bietet. Nur noch ein einziger Schritt – und er würde sie entdecken.

Was geschieht dann?

Wird er schießen?

Mich gefangen nehmen?

Mich vielleicht foltern?

Verschleppen?

Vergewaltigen?

Oder gar noch Schlimmeres?

Die Minuten verrinnen und sie benötigt ihre ganze Kraft, ihre Panik im Zaum zu halten.

Doch… was nützt das?

Schließlich rafft sie all ihren Mut zusammen und tritt hinter dem Baum hervor.

Der Mann im roten Gewand bleibt stehen und sie erspäht seinen Blick.

Er lächelte sie an.

Ja, er lächelt!

Er lächelt?

„Wer bist du? Und wo willst du hin?“, fragt er. Seine Stimme klingt… ruhig; fast wie die von Großvater.

Ihr Herz hämmert; sie kann kaum sprechen. Die Angst schnürt ihr die Kehle zu – wie in der Schule. Sie räuspert sich. „Ich bin… mein Name ist… Jenna und ich… ich komme aus… aus Distremien. Ich möchte… in das Land Pakenia. Weißt du, ob ich… auf dem… auf dem richtigen Weg bin?“

Mein Gott!

Muss ich so erbärmlich stammeln?

Ganz langsam geht sie auf ihn zu, bereit, jeden Moment umzukehren und zurück in den Wald zu flüchten.

Der Fremde nickt. „Ja, du stehst vor dem Tor von Pakenia.“

Er mustert sie von oben bis unten.

Ihr läuft es eiskalt über den Rücken. Wie muss sie auf ihn wirken? Ihr dünnes Kleid ist vollkommen verschmutzt, klebt an ihrem Körper. Ihre nackten Füße sind verkrustet von getrocknetem Morast. Ihre Haare hängen strähnig, verklebt und kraftlos herab.

Was er jetzt wohl von mir denkt?

Sie spürt, wie das Blut in ihre Wangen schießt.

Doch der Fremde sagt mit unvermindert ruhiger Stimme: „Warte bitte einen Augenblick. Ich habe meinem Freund versprochen, ihn zu informieren, wenn sich jemand am Tor zeigt.“

Mit diesen Worten verschwindet er durch ein kleines Tor in der Hecke, das sie bisher nicht einmal wahrgenommen hatte. Müde setzt sie sich auf einen großen Stein. Erst jetzt fühlt sie ihre Erschöpfung. Gänzlich entkräftet schließt sie ihre Augen und empfindet zum ersten Mal wärmendes Licht auf ihrer Haut. Die überlieferten Legenden sind also wahr!

Sie ist noch immer fassungslos.

Wieder überflutet sie die Angst.

Wieso ist dieser Fremde so ruhig? Was führt er im Schilde? Holt er jetzt die Soldaten? Oh, Gott! Was werden sie mit mir machen? Aber… es ist zu spät. Jetzt ist es zu spät.

Nein, sie hat keine Kraft mehr, wegzulaufen.

Sie kann nicht mehr.

Wo bleibt der Mann?

Sicher muss er seinen Vorgesetzten fragen, ob sie überhaupt eingelassen werden darf. Oder vielleicht müssen sie erst den Gefangenenwagen holen. Bestimmt müssen Unmengen an Formularen ausgefüllt werden.

Und sie hat keine Papiere bei sich!

Keinen Pass, keine Geburtsurkunde, keinen Ausweis.

Daran hatte sie nicht gedacht!

Der Fremde kehrt mit einem zweiten Mann zurück. Dieser trägt ein orangefarbenes, ebenso leuchtendes Gewand. Genauso ruhig wie der Fremde im roten Rock fragt er Jenna: „Sei gegrüßt. Warum willst du nach Pakenia?“

Sie kratzt ihren Mut zusammen und hört sich stottern: „Ich habe von … Pakenia gehört und … und dass dort Frieden herrscht. Ich … ich wünsche mir ein Leben ohne diese … diese schreckliche Angst, die mich keine … keine Nacht mehr schlafen lässt. Mein Großvater hat mir von … von Pakenia erzählt. Deshalb bin ich … bin ich hier.“

Die beiden Männer wechseln flüsternd ein paar Worte. Der im orangefarbenen Rock nickt und sagt: „Gut. Ich bin Albert und das ist Timo. Wir heißen dich von Herzen willkommen. Timo wird dich zum Empfang begleiten. Dort wird man sich um dich kümmern.“ Mit einem ‚Komm‘ berührt er ihren Arm.

Als hätte eine giftige Natter sie gebissen, zuckt sie zusammen und springt unkontrolliert einen Schritt rückwärts.

Sie spürt noch, wie ihre Beine wegknicken.

Die barmherzige Schwärze ist zurückgekehrt.

*

Als sie erwacht, braucht sie einen Moment, um sich zu orientieren.

Die Bilder vor ihren Augen verschwimmen in einem wabernden Nebel. Doch sie spürt ein weiches Etwas unter ihrem Kopf. Nur allmählich beruhigt sich der Aufruhr in ihrem Inneren und sie hört: „Hallo Jenna! Schön, dass du wieder da bist.“

Was war passiert?

Sie erinnert sich. Ja, sie war einfach zusammengebrochen. Genau wie in der Schule.

„Wo bin ich?“, flüstert sie.

„Du liegst auf einer Trage vor der Grenze zu Pakenia. Du bist einfach umgefallen. Gott sein Dank, hat Albert dich aufgefangen, sonst hättest du dir wahrscheinlich den Kopf aufgeschlagen.“

Langsam hebt sich die Nebelwand vor ihren Augen und sie erkennt den Mann in der roten Uniform, der sich als Timo vorgestellt hatte.

Sie versucht, sich zu erheben.

Sanft drückt sie der Arm Timos zurück auf die Trage. „Bleib liegen, bis du wieder ganz sicher bist. Nimm dir Zeit.“ Er lächelte sie an.

Albert geht in die Hocke, lächelt sie ebenfalls an und reicht ihr eine Flasche Wasser. „Trink, Jenna. Das wird dir helfen.“

Gierig greift sie nach der Flasche und probiert vorsichtig von der klaren Flüssigkeit.

Trotz ihres großen Durstes, meldet sich ihr Misstrauen. Warum sind die so besorgt um mich? Wollen die mich nur einlullen? Ist das Wasser vergiftet? Oder wollen die mich mit irgendwas in diesem Wasser willenlos machen? Und dann?

Ihr Durst übertönt alle Bedenken. Nach dem ersten, kleinen Schluck schmeckt Jenna die Süße des Wassers. Nichts kann sie jetzt mehr hindern, das köstliche Nass durch ihre Kehle fließen zu lassen.

Behutsam hält Timo ihren Arm. „Nicht so viel auf einmal, Jenna. Trink langsam.“

Er hält ein Glas in der Hand, füllt es zur Hälfte und reicht es ihr zurück.

Sehr schnell leert Jenna das Glas und seufzt erleichtert.

„Geht es dir besser?“, möchte Albert wissen.

Sie nickt. „Darf ich aufstehen?“

Albert reicht ihr die Hand. „Komm, ich helfe dir.“

Jenna zögert und dreht sich zur Seite, um allein von der Trage aufzustehen.

Noch immer erwartet sie eine Falle, in die sie gelockt werden soll. Warum sollten die sonst so freundlich tun? Niemand ist freundlich ohne eine Gegenleistung zu verlangen, die meist unerfüllbar ist.

Timo und Albert treten zurück und warten.

„Jenna“, sagt Timo in beruhigendem Tonfall, „wir wollen dir nichts aufdrängen, das du nicht willst. Wir bieten dir an, dich in unser Empfangszentrum zu bringen. Dort kannst du dich von deiner langen Reise erholen, dich ausschlafen, vielleicht eine Kleinigkeit essen. Dort wirst du gut versorgt und alle kümmern sich ausschließlich um dein Wohlergehen.“

„Was hältst du davon?“, ergänzt Albert.

Ist das eine Falle oder meint er es ernst?

Wieder sagt er: „Komm!“

Nur zögernd folgt sie ihm. Was hätte sie auch sonst tun sollen?

Beide führen sie zu der Heckenöffnung und nach wenigen Schritten steht sie auf dem Boden Pakenias.

Durch die Baumreihe direkt hinter der Hecke konnte sie vorher nicht sehen, was sie erwartet. Aber jetzt? Sie ist sprachlos und unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Was für ein Anblick!

Soweit das Auge reicht, nur sanfte Hügel mit einem grünen Teppich bedeckt, unterbrochen von Bäumen und blühenden Sträuchern, die in Gruppen zusammenstehen. Eine einzige Augenweide!

Albert und Timo stehen neben ihr und warten.

Sie kann kaum glauben, was sie sieht.

„Was ist… dieser… grüne Teppich?“

In Timos Augen blitzt ein leises Lächeln auf. „Das nennen wir – Rasen.“

„Was ist… Rasen?“

„Komm mit“, erwidert Timo. „Komm, fasse es an. Streiche mit der Hand darüber.“

Soll ich?

Aber, was hat sie zu verlieren?

Zaudernd folgt sie ihm, geht in die Knie.

Er zeigt ihr, wie sie es machen soll.

Vorsichtig streicht sie mit den Fingerspitzen über den Rasen, wie Timo es ihr vorgemacht hat.

Dann führt sie ihre ganze Handfläche darüber.

Es fühlt sich weich an, die einzelnen Haare biegen sich – genau wie ihre Hand es ihnen befiehlt. Und als sie sie in die entgegengesetzte Richtung streicht, folgen sie ebenfalls ihrer Führung.

„Wieso haben wir diesen Rasen nicht in Distremien?“

Sie erschrickt über ihre Tollkühnheit. Darf sie das überhaupt fragen? Ohne aufgefordert zu werden?

Unwillkürlich duckt sie sich.

Doch… es passiert nichts!

Sie schaut seitlich hoch und sieht Timo… lächeln.

Schon wieder!

„Rasen, Jenna, braucht sowohl Regen als auch Sonne. Ohne Sonne kann Rasen nicht gedeihen. Und du weißt, dass über Distremien seit Jahrzehnten eine dicke, geschlossene Wolkendecke jeden Sonnenstrahl rigoros verschluckt.“

Langsam steht sie auf.

Hat er Sonnenstrahl gesagt?

„Komm“, fordert Timo sie erneut auf und führt sie zu einem äußerst seltsam aussehenden Ding. Sofort ist ihr Misstrauen hellwach und der Stein in ihrem Magen meldet sich ganz massiv.

Das Ding besteht aus einer rechteckigen Platte auf einem Gebilde, das sie an eine Luftmatratze erinnert. An der Platte sind seitlich Geländer aus dunklem Holz angebracht.

„Steig ein“, fordert er sie auf. Äußerst wachsam klettert sie hinein.

Timo steigt auf der gegenüberliegenden Seite ein und lächelt sie wieder an.

Weshalb lächeln die so oft? Dafür gibt es doch gar keinen Grund! Oder gieren sie schon jetzt nach ihrer neuen Beute? Ist dieses Lächeln Ausdruck von Vorfreude auf ein neues Opfer?

Die weichen Sitze überraschen Jenna. Sie sind so weich wie das Gefieder junger Küken. Das ganze Ding wird von einem dünnen Gewebe überdacht, gehalten von einem Gestänge, das an den vier Ecken des Dings angebracht ist. Was für ein Segen! Es dämpft dieses grelle Licht.

Timo drückt einige Knöpfe auf einer Tastatur und das Ding setzt sich lautlos, wie von Geisterhand gesteuert, in Bewegung.

„Was ist das für ein… ein Ding?“, fragt sie und erschrickt wieder gleichzeitig über ihre Dreistigkeit. Wie kann sie es wagen, jemanden einfach zu fragen? Ohne Erlaubnis?

„Das ist ein Lokumat“, erwidert der junge Mann. „Wir geben das gewünschte Ziel ein und der Wagen bringt uns automatisch dorthin.“

Ihre Neugier lässt sie ihre Angst fast völlig vergessen. „Aber – wie funktioniert das? Nirgends sehe ich einen Auspuff oder höre einen Motor brummen oder knattern?“

Timo lacht leise. „So etwas gibt es in unserem Land schon lange nicht mehr, obgleich ich es in unserem Museum schon einmal gesehen habe. Das Lokumat wird ohne Belastung für unsere Umwelt durch Solarenergie betrieben. Siehst du das Lichtband am Boden?“ Erst jetzt entdeckt sie einen schwach leuchtenden, schmalen Streifen auf dem Erdboden, der den Wagen offensichtlich lotst.

Sie begreift!

Timo fährt fort: „Durch dieses Band verfügen wir über den erforderlichen Antrieb. Der Strang ist durch eine Lichtverbindung mit einem Teil unterhalb der Bodenplatte verbunden. Auf diese Weise brauchen wir weder ein Steuer, noch ein Gaspedal oder sonstige mechanischen Vorrichtungen. Und weil unser Transportsystem vom Verkehrszentrum aus gelenkt wird, brauchen wir nur das Ziel einzugeben – den Rest erledigt das System vollautomatisch.“

Vor Staunen blieb Jenna fast die Luft weg.

Natürlich ist sie mit Automobilen vertraut, deren Abgase sich mit dem immerwährenden Regen vermischen und sich als giftiges Gemisch auf Pflanzen und Erde niederlassen. Ist deshalb die Luft hier so erfrischend? Nichts stinkt, nichts macht Krach!

Wieso gibt es das nicht bei uns?

Ihr Blick wird magisch von der Landschaft angezogen, durch die sie lautlos, ja fast gespenstisch, auf dem Lichtband dahingleiten. Was für ein Anblick!

Soweit das Auge reicht – Rasen! Und immer wieder diese wundervollen Baumgruppen, unter denen blühende Pflanzen ihren Blick regelrecht einfangen.

Nach einer Weile überqueren sie einen der sanften Hügel und Jenna erblickt ein großes, gläsernes Gebäude. Sachte hält das Transportmittel vor dem Eingang und Timo bietet ihr an: „Lass mich dich begleiten, damit du keine unnötigen Wege suchen musst.“

Warum macht er das?

Ob er mich bewachen muss, damit ich ihre Regeln auch ja nicht verletze?

Regeln, die ich nicht einmal kenne?

Sofort meldet sich wieder mein Herzklopfen.

Das ist bestimmt das Gefängnis. Natürlich müssen sie mich überprüfen und zuerst alle möglichen Formulare ausfüllen, bevor ich mit jemandem sprechen kann, der für Fremde, für Ausländer und Flüchtlinge zuständig ist.

Timo hält ihr die Glastür auf.

Was erwartet mich jetzt?

Sie traut sich kaum, ihn anzuschauen.

Im Inneren angekommen, blickt sie sich um.

Wie am Boden angenagelt, kann sie keinen Schritt weitergehen.

Unwillkürlich schnappt sie nach Luft.

Der Anblick ist überwältigend!

Was, in Gottes Namen, ist das hier?

Der glänzende Boden reflektiert helles, aber blendfreies Licht. Der Raum ist mindestens zehn oder fünfzehn Mal so hoch, wie das größte Zimmer in der Schule. Überall stehen große, tönerne Kübel mit riesigen, blühenden Pflanzen, die einen betörenden Duft verströmen. Kleine wohlproportionierte und geschickt aufgestellte Springbrunnen ergeben eine Anordnung der Schönheit.

Erschrocken schließt Jenna ihren Mund.

Kubusförmige Sessel laden zum Ausruhen ein. Der gesamte Raum ist erfüllt von einer harmonisch klingenden, leisen Musik, deren Quelle sie nirgends entdecken kann. Wo ist das Orchester, das solch wundervolle, großartige Musik aus seinen Instrumenten hervorbringen kann?

Noch immer steht sie wie festgeschraubt und bringt kein Wort hervor.

Nein, sie kann sich gar nicht satt sehen!

„So habe ich mir immer den Himmel vorgestellt. Nie hätte ich vermutet, dass so etwas auf Erden existiert“, bricht es ganz leise aus ihr heraus.

Erst jetzt fällt ihr auf, dass Timo sie nicht aus den Augen gelassen hat.

Das Herz rutscht ihr in die Hose. „Musst du mich jetzt ins Gefängnis bringen?“

Verblüffung zeigt sich auf seinem Gesicht. „Ins Gefängnis? Aber warum das denn? Nein, Jenna, Neuankömmlinge werden zuerst hierher gebracht, damit sie sich erfrischen und ausruhen können. Das hier ist eines unserer Empfangsareale. Hier befinden sich alle Annehmlichkeiten, die dich darin unterstützen sollen, dich erst einmal zu erholen. Die Zimmer sind zwar einfach, aber bequem eingerichtet. Du kannst dich selbstverständlich im Kleiderzentrum mit Kleidung deiner Wahl eindecken und unsere Entspannungstechniker stehen dir Tag und Nacht zur Verfügung. Du kannst dich völlig frei bewegen. Und… falls du möchtest, kannst du auch gern im großen Hallenbad oder im Freibad schwimmen gehen oder dich im Erholungstank mit neuer, frischer Energie aufladen.“

Erneut klappt ihr Mund zu. „Entschuldige bitte“, hört sie sich sagen und schüttelt den Kopf. „Ich habe kein Wort verstanden.“

Timo lächelt sie an und erwidert: „Schau, da kommt Ariane. Sie wird dir alles genau zeigen und erklären. Bitte entschuldige mich, ich will zurück zum Tor.“

Eine junge Frau in hellblauem, knöchellangem Gewand und dunkelbraunem, langem, seidig-schimmerndem Haar, die ein wenig abseits gestanden hat, nähert sich den beiden. Mit einer Verbeugung verabschiedet Timo sich.

Was soll ich sagen? Was tun die hier in Pakenia in meiner Situation?

Sie flüstert nur: „Danke.“

Die junge Frau in dem hellblauen Kleid ist jetzt herangetreten. „Herzlich Willkommen in Pakenia. Wie ich hörte, heißt du Jenna. Habe ich das richtig verstanden?“

Das Mädchen kann nur nicken. Die junge Frau streckt ihre Hand aus und fährt fort: „Mein Name ist Ariane. Sei ganz herzlich gegrüßt und willkommen, liebe Jenna.“

Eher mechanisch ergreift sie die Hand der Fremden. „Danke.“

Kann ich nichts anderes mehr sagen?

Noch immer kann sie kaum glauben, dass sie sich in der Realität befinden soll.

Ist das nicht alles ein Traum, aus dem ich gleich aufwache? Nein, ich traue mich kaum, zu sprechen.

Wie hübsch Ariane ist! Die strahlend braunen Augen mit den gelben Punkten, die Wangengrübchen, die schlanke, anmutige Gestalt. Wieder gewinnt Jennas Neugier die Oberhand und sie fragt tatsächlich: „Darf ich mich einmal in einen der Sessel setzen oder ist das verboten?“

Die Frau schmunzelt.

„In unserem Land gibt es keine Verbote, auch wenn das für dich kaum vorstellbar ist“, entgegnet Ariane. „Du kannst dich so frei bewegen, wie du möchtest. Selbstverständlich kannst du dich setzen – dafür sind diese Sessel da.“

Jennas Blick geht von Ariane zu dem Sessel und wieder zurück. Langsam geht sie auf eines der Sitzmöbel zu, das umrahmt wird von zwei großen Kübelpflanzen und direkt neben einem der plätschernden Brunnen platziert ist. Sie wagt es wahrhaftig, sich zumindest auf die vordere Sesselkante zu setzen. Das weiche Polster gibt nach und sie muss sich an den Armlehnen festklammern, sonst wäre sie darin versunken.

„Möchtest du eine Fußmassage genießen?“, fragt Ariane sie mit einem unbeschreiblichen Strahlen im Gesicht. „Dann bediene den gelben Kopf auf der linken Konsole.“

Das ist ein Trick! Eine Falle!

Alarmiert springt sie auf. „Nein! Danke!“

Fieberhaft sucht sie nach… ja wonach?

„Ich möchte mich gern waschen, aber ich habe nicht verstanden, was Timo mir eben erklärt hat. Kannst du mir helfen?“

„Gern, doch ich glaube, dass du zuerst eine Erfrischung gebrauchen kannst. Du siehst durstig und müde aus.“ Ariane sieht das Mädchen mit einem prüfenden Blick an. „Mit dem Essen solltest du noch etwas warten, wenn du einverstanden bist.“

Jenna kann nur nicken. Ariane sorgt für ein erfrischendes, kühles Getränk, von dem das Flüchtlingsmädchen nicht hätte sagen können, aus welchen Zutaten es hergestellt ist. Es schmeckt ihr jedenfalls herrlich.

Kaum hat sie das Glas geleert, fühlt sie, wie eine intensive Wärme bei den Fußsohlen beginnt, entlang der Wirbelsäule aufsteigt und eine nie gekannte Frische in ihrem Kopf verursacht.

Ein Getränk der Götter!

Ein Wundertrank!

Oder ein Betäubungsmittel?

Vielleicht sogar Gift?

Jenna bemerkt, dass Ariane sie nicht aus den Augen gelassen hat. Die junge Frau im langen Kleid schmunzelt – offenbar zufrieden. „Wenn du mir folgen möchtest, Jenna, zeige ich dir, welches Zimmer ich für dich hergerichtet habe. Ich hoffe, dass es dir gefällt und du dich, bis zur offiziellen Begrüßung, darin wohlfühlst.“

Das Mädchen folgt ihr einen weiß getünchten, breiten und hellen Gang entlang. Vorbei an vielen Türen, die alle ein andersfarbiger Anstrich ziert. Auf jeder der Türen bemerkt sie eine weiße, quadratische Stelle. Was hat die zu bedeuten? Ob das verdeckte Gucklöcher sind, durch die die Neuen beobachtet werden können? Diesmal traut sie sich nicht, nach der Bedeutung zu fragen. Aber ihr fällt etwas viel Schlimmeres auf: Keine der Türen besitzt eine Klinke! Also doch ein Gefängnis!

Erinnerungen steigen auf; überfluten sie.

Alle diese Türfarben kannte sie bisher nur aus Erzählungen, aus den Büchern und vom Malunterricht. Jetzt sind sie da!

Real!

Vor einer gelben Tür bleibt Ariane stehen und erläutert, während sie auf einen kleinen Knopf links von der Tür zeigt: „Wenn du jetzt auf diesen Knopf hier mit deinem linken Zeigefinger drückst, wird dein Fingerabdruck gespeichert. Auf dieses Weise ist sichergestellt, dass nur du ungehinderten Zutritt zu diesem Raum hast. Die Privatsphäre unserer Besucher hat die höchste Priorität für uns.“

Die Privatsphäre einer Einzelzelle?

Wie von Ariane angewiesen, legt sie ihren linken Zeigefinger auf den Knopf und… wie von Geisterhand geführt, schiebt sich die Tür lautlos seitlich in die Wand.

Jenna bleibt vor Schreck fast das Herz stehen!

Unabsichtlich macht sie schon wieder einen Schritt rückwärts.

Ariane lächelt. „Ich weiß, dass ist alles für dich neu und ungewöhnlich. Oft fühlen sich unsere Gäste von außerhalb verunsichert und oder sind sogar verängstigt. Wir verstehen das vollkommen und lassen dir deshalb alle Zeit, die du brauchst, um dich einzugewöhnen. Geh ruhig hinein, ich begleite dich und zeige dir alles.“

„Geh’ du vor.“

Ihr zu folgen ist sicherer.

Und schon wieder bleibt sie wie angewurzelt stehen!

Kann sie ihren Augen überhaupt noch trauen?

Zeigen sie ihr die Realität oder Hirngespinste? Sind es Ausgeburten ihrer übersteigerten Phantasie? Oder… sind das alles nur Lockmittel, um Fremde wie sie einzulullen? Dass sie sich sicher fühlen? Eine trügerische Sicherheit, die sie ins Verderben führt?

Überrascht sieht Jenna ein großes, mit weißen, glänzenden Laken und Decken ausgestattetes Bett, von zwei mit gelbem Stoff bezogenen Würfeln am Kopfende eingerahmt. Ein riesengroßer Spiegel entpuppt sich als Kleiderschrank und eine einladende, kleine Sitzecke, bestückt mit denselben kubusförmigen, gelben Sesseln, wie sie sie bereits in der Eingangshalle kennengelernt hat, vervollständigen das Mobiliar.

Das Zimmer ist wenigstens fünfmal so groß, wie die Wohnstube in ihrem Elternhaus. Hier, in diesem Zimmer, in diesem Bett, soll sie die Nacht verbringen?

Sie kann es kaum glauben.

Was für ein Unterschied zu ihrem Bett zu Hause!

Die dünne Matratze dort mit der tiefen Mulde auf dem Strohhaufen und dem groben Bettzeug, das die Haut wie ein Reibeisen geißelt.

Das hier ist ein wahres Himmelbett!

Ariane zeigt auf eine weitere Tür und weist ihren Gast an, auch hier den Knopf zu bedienen. Wieder gleitet die Tür lautlos in die Wand und wieder erstarrt Jenna beim Anblick, der sich ihr bietet: Ein großer Raum mit Boden und Wänden aus feinstem, weiß-glänzendem, poliertem Gestein; ein gelbes Gebilde, das Ariane als Volldusche bezeichnet; eine ebenfalls gelbe, längliche Vertiefung im Boden, die ihre Begleiterin Badewanne nennt, eine Toilette, sowie ein zweites, ähnliches Becken, das Jenna nicht kennt und ein großes Waschbecken. Strahlend weiße Handtücher stapeln sich auf einem Glasregal.

Keine halb verfaulte Regentonne, keine stinkende Brühe, keine feuchten, grauen, verschlissenen, ekligen Handtücher.

Ariane öffnet eine Tür des Spiegelschranks, der einen großen Teil der Wand einnimmt und zeigt Jenna das, was sie Dentalcenter nennt. Sie erklärt ihr, wie alle Geräte funktionieren und das Mädchen wünscht sich sehnlichst, alles im Gedächtnis zu behalten.

Nun tritt Ariane einen Schritt zurück und bittet ihren Gast, auf das etwas größere, glänzende Viereck im Boden zu treten.

Oh, Gott! Was passiert, wenn ich das tue? Werde ich vielleicht von diesem Ding verschluckt und verschwinde in irgendeinem unterirdischen Verlies? Oder werden mir damit Fußfesseln angelegt?

„Wenn du darauf trittst“, hört sie ihre Begleiterin, „nimmt der Computer alle deine Maße und dein Gewicht. Später werden dir einige Kleidungsstücke gebracht, die dir genau passen, damit du in frischer Kleidung deine Mahlzeit einnehmen kannst.“

Zwar ist Jenna immer noch skeptisch, aber sie betritt das Viereck und wartet auf ein Geräusch oder ein Signal, das den Beginn und das Ende des Messvorgangs anzeigt. Nur Sekunden später fragt Ariane sie: „Möchtest du jetzt ein Bad nehmen oder lieber eine Volldusche?“

Jenna ist völlig verwirrt. „Und was ist mit den Maßen?“

„Das ist schon erledigt. Im Bekleidungszentrum werden gerade ein paar Kleidungsstücke für dich zurechtgelegt.“

Immer noch konfus kehrt sie zum Bett zurück. „Was sind das für große Würfel?“

Ariane zeigt ihr die eingelassenen Knöpfe auf der Oberfläche, die das Mädchen noch gar nicht entdeckt hat. Ariane legt sich auf das Bett und führt ihr vor, welche Wirkungen sie mit den verschiedenen Knöpfen erzielt. Sie kann damit jede Liegeposition einstellen, und, wenn sie das wollte, würde das Bett im Laufe der Nacht speichern, welche Liegepositionen der Gast während des Schlafes bevorzugt.

Jenna schwirrt der Kopf.

„Ich habe für dich das Wasserbett gewählt, weil ich vermute, dass dir das eher vertraut ist, als das Monkorbett.“

Sie erklärt der neu Angekommenen, dass das Monkorbett vollautomatisch, Computergesteuert für die gesündeste Liegeposition der Wirbelsäule und der Innenorgane sorgt. „Das Monkorbett ist allerdings etwas gewöhnungsbedürftig“, schränkt sie ein, „deshalb habe ich für dich das Wasserbett gewählt. Bist du damit einverstanden oder möchtest du lieber ein anderes Bett?“

Bevor Jenna antworten kann, ertönt eine weiche Stimme: „Leon steht vor deiner Tür und möchte deine Kleider bringen. Möchtest du ihn hereinlassen?“

Hilfesuchend schaut sie Ariane an. „Was ist das? Wer spricht da?“

„Das“, erklärt diese, „ist unsere Computergesteuerte Klingel. Wenn du ungestört bleiben möchtest, reagierst du einfach nicht oder sagst nein. Wenn du dem, der vor der Tür steht, öffnen möchtest, dann sagst du es einfach.“

Sie antwortet für Jenna: „Ja, bitte!“

Wieder öffnet sich die Tür lautlos und ein blonder, junger Mann steckt lachend den Kopf durch den Türspalt. „Darf ich hereinkommen?“ Erst als Ariane zustimmt, übertritt er die Schwelle, begrüßt den Gast und reicht ihm eine Auswahl an Kleidungsstücken mit den Worten: „Wie ich hörte, ist dein Name Jenna. Habe ich ihn richtig ausgesprochen?“

Sie nickt stumm.

„Wenn dir die Farben oder die Stoffe nicht zusagen“, fährt er fort, „werde ich sie selbstverständlich umgehend deinen Wünschen anpassen.“

Erneut überrollt Jenna die pure Fassungslosigkeit!

Noch nie hat sie Kleider von derart edlem Stoff gesehen. Sie schimmern in den schönsten Farben. Nein, selbst bei den Reichen in Distremien, bei denen Jennas ganze Familie geputzt hat, gab es solche Kleidungsstücke nicht.

Was für Stoffe!

Weich! Leicht! Flauschig!

„Danke“, flüstert sie. „Danke. Ich kann mir nicht vorstellen, jemals schönere Kleider gesehen zu haben.“

Leon freut sich sichtlich und bietet sich an, für weitere Kleidungswünsche jederzeit zur Verfügung zu stehen. „Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“ fragt er.

Unfähig, irgendwas zu sagen, schüttelt Jenna ihren Kopf.

Nun wendet er sich Ariane zu. „Wie geht es dir? Ich habe dich lange nicht gesehen.“

„Danke, mir geht es gut. Ich war ein paar Tage bei meiner Familie. Und wie steht es bei dir?“

„Ausgezeichnet“, erwidert der junge Mann mit lachenden Augen. Sie nicken einander zu und er zieht sich zurück.

Verwirrung und Verunsicherung steigen in Jenna hoch. Sie spürt Arianes Blick auf sich ruhen. „Kann ich noch etwas für dich tun oder hast du noch Fragen, die du beantwortet haben möchtest?“, fragt diese.

Noch immer sitzt Jenna auf dem weichen Bett, schaut auf den hellen Boden und ringt um Fassung. Mit äußerster Kraft bemüht sie sich, ihre Gefühle nicht aufsteigen zu lassen. Doch es gelingt ihr nicht. Sie sind stärker als ihr Wille.

Tränen der Verzweiflung rollen ihr über die Wangen. Es bricht regelrecht aus ihr heraus. „Warum tut ihr das?“

Ihr ganzer Körper krampft sich zusammen. Sie kann das Schluchzen nicht länger unterdrücken.

Ariane setzt sich neben sie. „Du fühlst dich verwirrt, nicht wahr?“

Als hätte sich eine innere Tür geöffnet, lässt sich das Mädchen seitlich auf das Bett fallen und weint hemmungslos.

Ariane setzt sich neben sie und streicht ihr behutsam über den Rücken.

Nur allmählich beruhigt sich das Mädchen.

„Warum tut ihr das?“, bricht es wieder aus ihr heraus. „Ich meine – was habt ihr davon?“

„Du kannst dir nicht vorstellen, warum wir etwas Bestimmtes tun?“ Ariane schaut ihren Gast an.

Jenna kann es nicht zurückhalten: „Ja! Warum seid ihr alle so freundlich und zuvorkommend? Ständig lächelt ihr und seid so… so friedlich, so ruhig. Jeder fragt ständig, wie es dem anderen geht.“ Ihr Misstrauen lässt sich nicht bändigen. „Da steckt doch irgendetwas dahinter! Niemand kümmert sich derart um einen anderen, wenn er nicht etwas im Schilde führt, etwas von ihm will.“

„Oh!“ Jetzt scheint Ariane zu begreifen. „Du kannst dir nicht vorstellen, warum wir uns so intensiv um dein Wohlergehen bemühen? Gut. Lass mich dir zum jetzigen Zeitpunkt nur so viel sagen: Wir tun das, weil es unserem Wissens- und Erfahrungsstand nach die einzige Möglichkeit ist, Frieden und Wohlstand in unserem eigenen Volk zu sichern. Und die Frage, wie es dem anderen geht, ist uns wichtig. Wir wollen es wirklich wissen. Es ist eine echte, ehrliche Frage.“

„Das kann nicht sein! Wird das denn nicht von vielen schamlos ausgenutzt?“

„Nein, meine Liebe, denn niemand kann einen anderen Menschen ausnutzen, wenn alle freiwillig alles geben.“

„Das kann nur jemand sagen, der die Bewohner Distremiens nicht kennt, denn die sind abgrundtief böse. Ich weiß es besser. Schließlich habe ich mein ganzes Leben mit diesen… diesen… furchtbaren Menschen verbracht. Mir kann keiner was von Friede, Freude, Eierkuchen erzählen.

Mir nicht!“

Ariane wartet. Erst als Jenna sie anschaut reagiert sie. „Das mag dir so vorkommen, weil du dort aufgewachsen bist. Aber vielleicht kannst du dir vorstellen, dass wir Pakenianer davon überzeugt sind, dass Menschen niemals böse sein können, sondern nur unwissend und ängstlich. Und diese Unwissenheit, diese Angst lässt Menschen manchmal Dinge tun, die zwar böse zu sein scheinen, aber in unseren Ohren als Hilferufe vernommen werden.“

„Hilferufe?“ Jenna kann kaum glauben, was Ariane da von sich gibt. „Mir wurde beigebracht, dass Menschen der lückenlosen Kontrolle bedürfen, sonst halten sie sich niemals an Spielregeln und das Zusammenleben in der Gesellschaft würde nicht funktionieren.“

„Ja, ich weiß. Ich habe im Geschichtsunterricht gehört, dass solche Sichtweisen von vergangenen Generationen tatsächlich für wahr gehalten wurden. Aber wir haben erkannt, dass die Mitglieder solcher Gesellschaften nichts weiter als unwissend waren, basierend auf ihrer Angst vor dem Leben. Der Göttin sei Dank, dass ich nicht in einer solchen Gesellschaft geboren wurde.“

Jenna schießen wieder die Tränen in die Augen.

„Aber irgendetwas muss an dieser Sichtweise stimmen! Warum hätten sie meinen Großvater sonst verschleppt? Er muss etwas getan haben, das nach den Gesetzen nicht in Ordnung war!“

„Bedauerlicherweise haben viele Menschen dieser Gesellschaften Verschleppung, Folter, Gefängnis oder Tod erfahren. Es tut mir sehr, sehr leid, dass du deinen Großvater verloren hast. Doch das unterstreicht die Funktionalität unseres Systems und unserer Gesetze. Wir haben verstanden, dass wirkliche Freiheit nur aus der Liebe geboren werden kann. Jeder, der anderen die Freiheit verweigert, hält sich selbst gefangen und glaubt, dass auch andere nicht frei sein dürfen. Umgekehrt bedeutet das… jeder, der anderen die vollkommene Freiheit gewährt, ist selber frei.“

„Aber“, unterbricht Ariane ihre Erklärung, „bevor wir weiter darüber sprechen, möchte ich dir empfehlen, ein Bad zu nehmen. Ich glaube, du brauchst jetzt erst einmal Zeit, dein körperliches Gleichgewicht wiederzufinden. Was meinst du?“

Gewiss hat sie recht, stimmt Jenna ihr innerlich zu. Sie fühlt sich erschöpft und unsäglich müde. Aber… sie möchte jetzt auf keinen Fall allein sein. „Würdest du bitte bei mir bleiben?“

„Wenn du dich dadurch wohler fühlst, sehr gern.“

Ariane lässt Wasser in die große Wanne laufen. Jenna sieht zu, wie die hübsche, junge Frau aus den Flaschen, die mit Kamille und Arnika beschriftet sind, jeweils eine ordentliche Menge hineinkippt.

Nun muss ich mich wohl ausziehen. Und dann sieht sie die… Striemen auf meinem Rücken. Oh, Gott!

Ariane hilft ihr aus dem verdreckten, dünnen Kleid, hilft ihr, in die Wanne zu steigen und setzt sich neben sie auf den kleinen Hocker.

„Wie alt bist du?“, fragt Jenna.

„Ich bin vor ein paar Wochen 16 geworden.“

„Dann sind wir fast gleichaltrig. Ich werde in wenigen Wochen 16.“

Als Ariane ihr behutsam den Rücken massiert, zuckt das Mädchen zusammen.

Und dann lässt sie sich fallen, gibt sich ganz in die Hände ihrer Betreuerin. Bis jetzt ist nichts Schlimmes passiert. Warum und wogegen soll ich mich noch wehren?

Überwältigt schließt sie die Augen und spürt das angenehm warme Wasser, die sanfte Berührung ihrer Begleiterin und riecht den frischen Duft der weißen Flocken. Je mehr sie entspannt, desto intensiver spürt sie ihre Erschöpfung.

„Ich fühle mich so schrecklich müde.“

Ariane massiert ihren rechten Arm von der Schulter zur Hand.

„Wir lange warst du unterwegs?“

„Das weiß ich nicht genau, aber ich glaube, es waren mehrere Wochen.“

„Kein Wunder, dass du müde bist. Du kannst jederzeit selbst entscheiden, was du tun möchtest, denn du kennst dich selbst besser als irgendjemand sonst. Doch… darf ich dir eine Empfehlung geben?“

Jenna nickt wortlos und Ariane fährt fort: „Wäre ich an deiner Stelle, würde ich nach dem Bad vielleicht eine Kleinigkeit essen und dann erst einmal schlafen wollen – und zwar so lange, bis ich ganz von allein wach werde. Ich würde mich in den nächsten Tagen ausschließlich um meinen Schlaf kümmern, bis ich das Gefühl hätte, wirklich ausgeschlafen und ein wenig zu Kräften gekommen zu sein. Danach würde ich jemanden bei mir haben wollen, der mir alle meine Fragen geduldig und ausführlich beantwortet, bis ich weiß, worauf ich in meiner neuen Umgebung zu achten habe, um mich zurecht zu finden und wohl zu fühlen. Was meinst du?“

Ja, im Prinzip stimmt Jenna ihr zu, aber… ihre Neugier, ihre vielen Fragen, ihre Angst vor dem Unbekannten, das auf sie wartet, lässt sie zögern. „Können wir nach diesem Bad weiter über dein und mein Volk sprechen? Ich möchte so gern noch viel mehr über diese Freiheit wissen, von der du mir erzählt hast.“

„Selbstverständlich, meine Liebe“, erwidert Ariane und hilft ihr, die Haare zu waschen, die dennoch stumpf, farb- und kraftlos bleiben, wie Jenna im Spiegel erkennt. Sie möchte auch diesen seidigen Glanz in ihren Haaren sehen, wie er ihr bei Ariane ins Auge fällt.

Kurze Zeit später liegt sie, in ein wohlig weiches Nachthemd gehüllt, unter der Decke und fühlt ihre Erschöpfung mehr als je zuvor. Nach wenigen Augenblicken überlässt sie sich der Müdigkeit, die sie in ihre ruhige, erholsame und erlösende Schwärze hineinzieht.

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Kapitel 2 - Ariane

Auf Zehenspitzen verlässt Ariane den Raum und hinterlässt auf dem kleinen Kasten einen Zettel, der beschreibt, wie Jenna sie erreichen kann.

Sie will unbedingt Sabrina informieren!

Die Leiterin des Empfangsareals sitzt an ihrem Schreibtisch. Als Ariane den Raum betritt, schaut sie hoch, dreht ihren Monitor zur Seite und ein Lächeln erhellt ihr Gesicht.

„Schön, dich zu sehen, Ariane. Wie geht’s dir?“

„Danke, gut. Und dir, Sabrina?“

„Bestens. Du siehst aus, als würde dich etwas bedrücken. Willst du mir davon erzählen? Vielleicht geht es dir danach noch besser.“

„Das ist so lieb von dir, Sabrina. Schau… heute Morgen kam eine junge Flüchtlingsfrau aus Distremien bei uns an.“ In kurzen Worten berichtet sie ihr von den Geschehnissen seit Jennas Ankunft.

Mitgefühl zeigt sich auf dem Gesicht der Leiterin.

„Es ist immer wieder dasselbe“, seufzt sie. „Keiner unserer Neuankömmlinge kann verstehen, dass wir uns so verhalten. Dabei ist es doch das Natürlichste der Welt, seinen Mitmenschen mit Offenheit, Mitgefühl und Liebe zu begegnen. Warum weigern sich so viele Völker noch immer, das zu akzeptieren?“ Sabrina schüttelt der Kopf: „Ich begreife es nicht.“

„Ja, es ist für uns kaum nachzuvollziehen, dass Menschen aus Distremien in einer Welt der Angst und des Misstrauens gefangen sind. Wir können es zwar intellektuell verstehen… aber begreifen? Nein, begreifen können wir es nicht. Das Wissen, über das wir verfügen, steht doch allen Völkern zur Verfügung. Warum nutzen sie es nicht?“

Sabrina nickt. „Erinnere dich, was Lydia gesagt hat: Jesus sprach… Herr vergib’ ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun…“

„Ich erinnere mich“, stimmt Ariane zu. „Lydia meinte aber auch, dass wir heute erkennen und sagen können… Herr vergib’ ihnen, denn sie tun nicht, was sie wissen.“

Die Traurigkeit in Sabrinas Gesicht währt nicht lange. Sie strafft ihre Schultern un fragt: „Was kann ich für dich tun, Ariane?“

„Kannst du bitte ein Auge auf das Emersystem halten? Ich habe ihr den Queiter da gelassen.“

„Natürlich. Soll ich dir Bescheid geben, wenn sie wach wird?“

„Ja. Ich glaube, ich werde sie persönlich betreuen.“ Ariane kehrt in Gedanken zu Jenna zurück und fühlt ihren tiefen, innigen Wunsch, der jungen Frau zu helfen. „Sie ist erst 15.“

Ariane will unbedingt mit Lydia sprechen. Sie weiß am besten, was Jenna braucht.

„Würdest du mir bitte eine Verbindung zu Lydia herstellen?“

„Wird sofort erledigt.“ Sabrina lächelt.

Im großen Konferenzraum schaltet sich der wandgroße Monitor ein und Lydia erscheint.

„Hallo, Ariane! Wie geht es dir?“

„Danke der Nachfrage, Lydia, ich hoffe, dir geht es so gut, wie mir.“

„Ja, Danke. Was kann ich für dich tun?“

„Ich betreue eine junge Frau von 15 Jahren, die heute Morgen aus Distremien angekommen ist. Sie ist in einem sehr schlimmen Zustand. Jetzt schläft sie.“

„Schlaf ist das Beste, das sie tun kann. War sie schon im Energietank?“

„Nein, Lydia, dafür ist es noch viel zu früh. Ich möchte dich bitten, einen Termin vorzusehen, damit du sie mental und emotional untersuchen kannst.“

„Welchen Eindruck hast du von ihr? Ich meine… was ihren IQ betrifft?“

„So, wie ich es sehe, ist ihre intellektuelle Intelligenz normal entwickelt, aber ich habe den Eindruck, dass sie, im Gegensatz zu vielen anderen, sehr wissbegierig ist. Trotz ihrer Erschöpfung und… und ihren schrecklichen Narben auf dem Rücken, stellt sie viele Fragen, bevor sie sich um ihr körperliches Wohl kümmert.“

„Oh! Das ist allerdings sehr ungewöhnlich. Was die Narben betrifft… sie kommt offenbar aus dem äußersten Südosten, wo die Unterdrückung der Frauen am schlimmsten ist. Nun gut. Sieh zu, dass sie sich körperlich etwas erholt. Wie lange, meinst du, wird sie dafür benötigen?“

„Ich vermute, etwa eine Woche.“

„Wann stellst du sie Bettina vor, damit die Körperfunktionen überprüft werden?“

„In ein paar Tagen, wenn dieses arme Menschenkind sich ein wenig besser fühlt.“

„Wenn du sie in einer Woche, sofern Bettina keine Einwände hat, für den Energietank vorsiehst, merke ich für den darauf folgenden Tag das erste gemeinsame Gespräch vor. Bist du damit einverstanden?“

Ariane nickt. „Ja, dann dürfte ihr Energiemuster stark genug sein, um die Lichtschranke im Bildungszentrum zu passieren.“

„Kannst du sie begleiten, Ariane? Dann wäre sichergestellt, dass sie hindurch kommen und zu mir durchdringen kann. Mit Hilfe deines Energiemusters sollte sie es schaffen.“

„Ja, so machen wir es. Danke.“

Ariane verabschiedet sich von Lydia und schaltet den Monitor mit einer Handbewegung aus.

Gemächlich schlendert sie zum ERA, wie das Energieressourcenareal genannt wird und trifft auf Victor, der sich sichtlich freut, sie zu sehen.

„Hallo, Ariane, wie geht es dir heute?“

Sie erwidert sein Strahlen. „Wenn ich dich treffe, mein Freund, geht es mir immer gut, das weißt du doch!“ Sie umarmt ihn. Seine liebevolle Energie ist so wohltuend.

„Dann geht es dir, wie mir“, bestätigt er.

Mit verschmitztem Lächeln fragt er: „Was kann ich für die schöne Frau mit den warmen, braunen Augen und den hübschen bernsteinfarbenen Sprenkeln darin tun?“

„Danke, lieber Freund. Seit heute Morgen haben wir einen Neuankömmling aus Distremien. Die junge Frau, Jenna, braucht am Samstag unbedingt einen Schub. Kannst du den Energietank bereithalten?“

„Selbstverständlich! Um welche Uhrzeit möchtest du ihn reserviert haben und welchen Zusatz hältst du für geeignet?“

„Ich schätze, um 10 Uhr wäre prima. Und… O9 Ionen als Zusatz sollte helfen. Geht das?“

Victor durchsucht seine Datenbank und prüft ihren Wunsch.

„10 Uhr ist für dich reserviert, aber O9 Ionen habe ich nicht vorrätig. Am Samstag wird allerdings genügend davon vorhanden sein. Dafür werde ich sorgen.“ Nach kurzem Zögern setzt er hinzu: „Ist es wirklich so schlimm? O9 habe ich seit mindestens drei Jahren nicht mehr gebraucht? O5 ist das höchste, das ich sonst verwende. Es muss demnach wirklich sehr schlimm sein.“

„Ja, so schlimm habe ich es auch noch nicht erlebt. Ihre Arme und Beine bestehen nur noch aus Haut und Knochen. Ihr Rücken ist mit furchtbar vielen länglichen Narben übersät. Ihr Gesicht ist kreidebleich und an den Haaren und Nägeln kannst du erkennen, dass sie völlig unterversorgt ist. Sie ist richtig ausgemergelt. In der Küche habe ich bereits um entsprechende Zusätze gebeten. In etwa vier Tagen soll Bettina sie untersuchen. Dann wissen wir mehr. Was sie allerdings jetzt am meisten braucht, ist liebevolle Zuwendung. Sie ist energetisch völlig am Ende.“

Noch einmal umarmt sie Victor und betritt die Oase, wie der Speisesaal im Empfangsareal genannt wird. Sie schaut sich um und sucht einen freien Platz. Alle Tischgruppen sind durch hohe Palmen in voneinander abgeschirmte Bereiche gegliedert, den ‚Haids’. Auch hier, im Essraum, finden sich plätschernde Brunnen und prächtig blühende Pflanzen. Schon entdeckt sie einen freien Haid und lässt sich in den bequemen Sessel fallen. Auf der Konsole an der Wand drückt sie einen der Knöpfe. Ja, sie spürt, dass sie dringend ihre emotionalen Grünvorräte aufladen muss. Umgehend taucht der Haid in ein intensives, leuchtend grünes, strahlendes Licht. Nach wenigen Minuten fühlt sie die energetische Wirkung der Strahlen und kann nun, ebenfalls per Knopfdruck, ihre Bestellung aufgeben.

*

*

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Kapitel 3 - Dana

Mitten in der Nacht wird Dana wach. Ganz vorsichtig kriecht sie aus dem Bett. Sie will Jörge, ihren süßen, kleinen Bruder, unter keinen Umständen wecken. Die Familie hat genug durchzumachen.

Lautlos schnappt sie sich ihre Regenjacke und schleicht zur Hintertür.

Diese schrecklichen Albträume!

Seit Jennas spurlosem Verschwinden ist die Hölle los. Die ganze Familie wird regelrecht terrorisiert. Jeden Tag wird einer von der Familie ins Justizgebäude gezerrt. Niemand weiß, ob Mutter oder Vater zurückkommen.

Zuerst hämmern sie mit ihren Gewehrkolben gegen die Tür. Meist am sehr frühen Morgen. Jedes Mal zuckt Dana zusammen, obwohl sie sich eigentlich schon daran gewöhnt hat. Wenn es losgeht, rennen Jörge und sie wie der Blitz durch die Hintertür, waten durch den Schlamm und verkriechen sich im hintersten Teil vom Hühnerstall. Der Kleine zittert meist am ganzen Leib und sie hält ihn ganz fest.

Bisher ist es ihnen gelungen, diesen schrecklichen Soldaten zu entkommen. Nur einmal… ja, einmal war Dana nicht schnell genug. Da standen sie plötzlich an ihrem Bett.

Diese Blicke! Ja, das Schlimmste sind ihre Augen. Ihre gierigen, vor Unersättlichkeit glühenden Blicke verfolgen sie seitdem im Schlaf. Ob Jenna ihnen entkommen ist?

Wahrscheinlich. Warum sollten sie sonst bei ihnen auftauchen?

Als Jana damals weggerannt ist, waren sie nur ein oder zweimal da. Sie wollten sichergehen, dass sie von ihrer Familie nicht zur Flucht gedrängt worden war. Kurze Zeit später war Ruhe, auch wenn sie die Familie noch eine Zeitlang auf dem Kieker hatten.

Diesmal ist es anders.

Dana ist zwar erst 14, aber sie weiß, es ist nur eine Frage der Zeit, wann diese Kerle sie mitnehmen; sie in die Kaserne verschleppen. Und sie weiß nur zu gut, was ihr dann blüht. Der Gedanke schnürt ihr die die Kehle zu. Mein Gott! Ich habe schreckliche Angst.

Doch… was soll dir tun? Sie ist nicht so mutig wie Jenna. Niemals würde sie ihre Eltern und Jörge im Stich. Niemals!

Weiß Jenna eigentlich, was sie uns angetan hat? Sie kann es immer noch nicht glauben. Wieso hat sie das getan? Warum hat sie uns im Stich gelassen? Warum konnte sie sich nicht anpassen? Musste sie ein derartiges Unglück über uns alle bringen?

Jörge, der kleine Knirps von gerade mal fünf Jahren, wird seit ihrer Flucht im Kindergarten jeden Tag verprügelt. Die anderen Kinder lassen ihre ganze Wut an dem schmächtigen Kerlchen aus. Täglich kommt er mit neuen Verletzungen nach Hause. Die Kindergärtnerinnen haben für eine gelegentliche Absonderung des Kleinen gesorgt. Wie ein Aussätziger wird er behandelt. Was tue ich nicht alles, damit Jörge aufhört zu weinen?

Nein. Weinen ist das Schlimmste, was Kinder in der Öffentlichkeit tun können. Dana weiß, was er durchmacht. Auch ihr wurde das Weinen im Kindergarten mit aller Gewalt abgewöhnt. Gefühle sind zu unterdrücken! Unter allen Umständen!

Dana betet inständig, dass die Zeit der Verfolgung und der Rache bald vorbei ist. Irgendwann müssen die Soldaten und Behörden doch begreifen, dass die Familie wirklich nichts von Jennas Fluchtplänen gewusst hat.

Und jetzt, wo sie alle auf der Liste der Landesverräter stehen, können sie nicht mehr woanders unterkommen. Jeder, der der Familie Unterschlupf gewährt, wird ebenfalls automatisch in die Reihe der Verräter aufgenommen. Nein, sie müssen die Pein, die Folter und die Verachtung akzeptieren. Ein Auflehnen ist unmöglich.

Leise schleicht Dana sich in den Hof und versucht, sich zu beruhigen. Ob mir ein wenig Wasser aus der Regentonne hilft? Ihre Gedanken kreisen um Jenna. Wo mag sie jetzt sein? Ob sie geschnappt wurde? Wohl kaum, denn sonst hätte man die Familie sicher in Ruhe gelassen.

Was wird jetzt aus den bisherigen Arbeitsstellen werden? Nachdem sie wochenlang nicht putzen gehen konnten, haben sie kaum noch Geld. Nicht einmal das Allernötigste können sie sich besorgen. Wie soll das weitergehen?

Nach dem ersten Schluck Wasser schüttelt sie sich. Nein, es schmeckt scheußlich!

Sie hält es für besser, zurück ins Bett zu gehen. Vielleicht kann sie noch ein bisschen schlafen.

Nur wenige Schritte trennen sie von der Hintertür, als ein ohrenbetäubender Knall sie von den Beinen reißt und rücklings gegen die Hauswand schleudert.

*

*

*

 

Kapitel 4 - Jenna

 

Es ist stockdunkel, als sie erwacht.

Wo bin ich?

Und dann erinnert sie sich.

Ariane!

Das Bett!

Sie sucht nach dem Lichtschalter.

Oh, mein Gott!

Fahrig tastet sie eine Seite des Bettes ab. Auf einem dieser Würfel muss doch ein Lichtschalter sein! Plötzlich fühlt sie die Bedienungsknöpfe.

Prompt geht eine kleine Lampe an, die das Zimmer in behagliches Licht taucht.

Mit einem Ruck setzt sie sich aufrecht. Das kleine Kästchen auf einem der Tischwürfel fällt ihr ins Auge. Ein Blick auf den Zettel und sie folgt der Anleitung. Nur wenige Minuten später ertönt die weiche Stimme: „Ariane steht vor deiner Tür und möchte dich besuchen. Möchtest du sie hereinlassen?“

Hastig ruft sie: „Ja, bitte!“

Die Tür öffnet sich und Ariane fragt erneut: „Darf ich hereinkommen?“

Sie ist erleichtert, dass Ariane so schnell gekommen ist: „Aber ja. Bitte!“

„Wie geht es dir, Jenna? Hast du gut geschlafen? Fühlst du dich besser?“

Sie mustert Ariane. Bisher hatte sie nicht wirklich bemerkt, wie schön ihre Betreuerin ist. Das dunkelbraune, lange, glänzende Haar liegt in weichen Wellen auf den Schultern und federt mit jedem Schritt. Die braunen Augen mit ihrem warmen Glanz dominieren die feinen Gesichtszüge und ihr Gang ist geschmeidig und natürlich.

„Danke. Ich fühle mich schon sehr viel besser. Allerdings habe ich großen Hunger.“

„Das ist ein sehr gutes Zeichen“, erwidert Ariane und lächelt. „Ich habe mir erlaubt, weil ich es mir schon dachte, eine Kleinigkeit für dich zu bestellen. Es müsste gleich hier sein. Möchtest du dich umziehen?“

Verwundert schaut sie an sich herab. „Dieses Nachthemd ist so schön und so weich, dass ich es am liebsten gar nicht mehr ausziehen möchte.“

Ariane öffnet den Schrank und zeigt auf die Auswahl an Gewändern, die der jungen Frau zur Verfügung stehen. „Gefallen dir diese Kleidungsstücke nicht? Sie passen, wie ich finde, sehr gut zu deiner rötlichen Haarfarbe.“

Jetzt kann sie nicht mehr im Bett bleiben. Ja, die neuen Kleider! Sie steht vor dieser Pracht und kann immer noch nicht glauben, dass sie tatsächlich für sie sein sollen. Mit einer Hand streicht sie vorsichtig über ein hellgrünes Kleid.

„Das fühlt sich so gut an! Was ist das für ein Stoff?“

„Das ist Seide.“

„Seide? Was ist… Seide?

Ariane zieht sie aufs Bett zurück. „Hast du noch nie von Seide gehört?“ Sie sieht traurig aus. „Seide wird von einer Raupe gesponnen und zu Stoff verarbeitet.“

„Eine Raupe?“

„Ja, Jenna.“

„Gibt es die auch in Distremien?“

Ariane schüttelt den Kopf. „Ich glaube nicht. Die Distremier haben andere Sorgen.“

Ariane steht auf, ergreift das hellgrüne Kleid und legt es Jenna in den Schoß.

„Komm, Jenna. Zieh es an.“

Wieder lässt sie den Stoff durch ihre Finger gleiten.

Wie weich! Wie zart!

Sie könnte Stunden damit zubringen, das Gewebe zu streicheln. Es fühlt sich wunderbar an. Wie muss es sich erst am Körper anfühlen?

„Das darf ich anziehen?“ Sie kann es kaum glauben

„Ja, Jenna. Du darfst es tragen, so lange du willst.“

Die weiche Stimme ertönt erneut: „Sarah steht vor deiner Tür und möchte dir etwas zu essen bringen. Möchtest du sie hereinlassen?“

„Ja, gern!“, ruft sie laut und erschrickt über ihren Übermut. Die Tür gleitet wieder lautlos zur Seite.

„Darf ich hereinkommen?“, will eine blonde Frau mittleren Alters wissen.

Erst nachdem Jenna zustimmt, tritt Sarah mit einem großen Tablett, das mit einem darüber gelegten Tuch die Speisen bedeckt, durch den Türrahmen und stellt es auf den kleinen Tisch. Sie wendet sich zu ihr. „Wie geht es dir, Jenna?“

Wieder fühlt sie sich verwirrt. „Das habe ich gestern schon nicht verstanden. Warum fragt mich hier jeder, wie es mir geht? Jeder fragt hier jeden ständig danach. Warum? Ich begreife es nicht.“ Ihr Blick geht zu Ariane. Sie schämt sich. „Ich habe vergessen, was du mir gestern erklärt hast. Ist das schlimm?“

„Zunächst einmal, meine Liebe, war das vorgestern. Du hast fast dreißig Stunden geschlafen.“

Vor Schreck schlägt Jenna beide Hände vor den Mund. Dreißig Stunden?

Bevor sie darauf reagieren kann, fährt Ariane fort: „Kannst du dir vorstellen, dass es für uns das Wichtigste ist, zu wissen, wie es dem anderen geht? Schau… nur wenn es dem Menschen, dem ich begegne, gut geht, kann er mir zuhören und ist offen für das, was ich ihm sagen oder ihn fragen will. Fühlt er sich nicht gut, sehen wir alle es als unsere größte Freude an, unsere Unterstützung anzubieten.“

„Unterstützung… aber wobei?“, hakt Jenna nach.

„Wenn es jemandem nicht gut geht“, antwortet Ariane ernst, „befindet er sich in einem inneren Ungleichgewicht, seine Gesundheit kann sich verschlechtern und das lässt nicht nur seinen, sondern auch den Energiepegel seiner ganzen Umgebung absinken. Wir möchten, dass sich derjenige schnellstens wieder in seinem inneren Gleichgewicht erlebt. Deshalb fragen wir also stets als erstes nach dem Wohlbefinden.“

Jenna kann es kaum glauben. „Ja, ich erinnere mich. Das ist also wirklich echt gemeint?  … Und ich dachte, das wäre eine Floskel.“

„Nein, Jenna, wir verwenden nie Floskeln. Wir achten darauf, unsere Sprache wohlüberlegt zu gebrauchen, denn sie ist ein Instrument, das wir verwenden, unser Innerstes symbolisch verständlich für andere auszudrücken. Wir verwenden Sprache als ein feines, sehr präzises Werkzeug. Wir wissen sowohl um seine Unvollkommenheit, als auch um die Gefahr, die von unsachgemäßem oder nachlässigem Gebrauch ausgeht. Weil es ein unvollkommenes Werkzeug ist, legen wir besonders großen Wert auf größtmögliche Präzision in seiner begrenzten Anwendung.“

Wovon redet sie? „Von welcher Gefahr sprichst du?“

„Sprache kann sowohl heilen, als auch verletzen“, führt Ariane geduldig aus. „Betrachte die Sprache wie ein Messer – du kannst damit Brot schneiden oder töten. Wer seine Sprache nicht bewusst einsetzt, kann einen anderen verletzen, ohne es zu wissen. Die Anwendung der Sprache ist für uns in Pakenia einer der wichtigsten Bestandteile des friedvollen Zusammenlebens. Sobald wir das Sprechen lernen, werden wir in der gewissenhaften, verantwortungsvollen und bewussten Nutzung dieses Instrumentes geschult.“

Sarah meldet sich: „Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, doch ich befürchte, dass die Speisen kalt werden, wenn sie hier auf dem Tisch stehen bleiben. Deshalb mische ich mich ungefragt in euer Gespräch. Jenna, ich habe dir hier ein paar Gerichte zusammengestellt. Leider kenne ich deinen Geschmack noch nicht, aber ich hoffe, dass dir das eine oder andere mundet. Würde es dir etwas ausmachen, einen kurzen Blick darauf zu werfen, damit ich mich auf deine geschmacklichen Vorlieben einstellen kann?“

Sofort steht sie auf und entfernt das Tuch. Schon wieder ist sie sprachlos. So eine appetitliche und große Auswahl an verschiedensten Speisen hat sie noch nie in ihrem Leben zu Gesicht bekommen.

„Ach du meine Güte!“, platzt es aus ihr heraus. „Das sieht ja großartig aus… nur… ich habe keine Ahnung, was das alles ist? Kannst du mir das erklären?“

Sarah schmunzelt. „Gern!“ Während sie auf die jeweiligen Schalen und Schüsseln zeigt, erläutert sie die diversen Köstlichkeiten: „Hier findest du eine Obstmischung bestehend aus Bananen, Mangos, Papaya, Apfelsinen und Trauben. In dieser Schüssel befindet sich gekochter Reis mit gedünstetem Fisch in Safran. Diese Schale hier enthält Kartoffelscheiben mit Avocado und Käse überbacken. Die kleine Schüssel hier vorne enthält eine Hafersüßspeise mit Schokoladenguss.“ Sarah zuckt mit den Schultern und fährt bedauernd fort: „Aber… falls du Fleisch gewöhnt bist, kann ich dir leider nur Tofu als Ersatz anbieten, denn hier, in Pakenia, töten wir keine Tiere.“

„Nein, nein! Bitte kein Fleisch“, wehrt Jenna ab. „Nachdem alle unsere Tiere, einschließlich meiner geliebten Pferde, abgeholt und geschlachtet wurden, esse ich kein Fleisch mehr.“

„Dann wird dir das hier gut schmecken“, erwidert Sarah erleichtert und fügt hinzu: „Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“

Lange schaut Jenna sie an. „Danke, Sarah. Danke für diese üppige Mahlzeit. Ich glaube nicht, dass ich das alles essen kann, aber…vielen, vielen Dank!“

Auch Ariane bedankt sich bei ihr und Sarah verlässt den Raum. Jenna kann nur staunen.

Und sie bemerkt, dass es ihr nicht mehr ganz so schwer fällt, Fragen zu stellen.

„Was sind Apfelsinen? Davon habe ich noch nie gehört? Auch Avocados und Trauben sind mir unbekannt!“

„Ja, ich kann mir gut vorstellen, dass du diese Früchte nicht kennst“, erwidert Ariane, „denn sie benötigen viel Sonne und viel Wärme, damit sie wachsen können. In eurem Land beherrscht seit vielen Jahren, nein sogar seit Jahrzehnten, nur noch Regen euer Wetter. Deshalb ziehen wir das überschüssige Wasser aus eurem Boden zu uns nach Pakenia ab. Täten wir das nicht, euer Land wäre bereits im Wasser untergegangen.“

Jenna hält inne. „Das verstehe ich nicht.“

„Während ich dir das näher erläutere, iss bitte!“, mahnt sie ihren Schützling.

Ariane fährt erst fort, als Jenna anfängt, zu essen. „Schau, in unserem Klimazentrum haben sich diejenigen zusammengefunden, die alles über unser Wetter herausfinden wollen. Die große Forschungsabteilung führte viele Experimente durch und fand heraus, dass das Wetter genau den Gefühls-Stand des jeweiligen Volkes widerspiegelt – nur umgekehrt. Besteht in einem Land ein energetisches Ungleichgewicht zwischen Verstand und Gefühl, gibt es in dem Land entweder zuwenig oder zuviel Regen. Je ausgeglichener das Gefühlsleben des Volkes ist, desto ausgeglichener ist der Regenfall. Im Süden unseres Landes, da, wo Distremien liegt, fällt zuviel Regen, während im Norden, in Katalaria, zu wenig Regen fällt.“

„Wie kommt das?“, frage Jenna.

„Regnet es zuviel, haben sich die so genannten negativen Gefühle im Volk angestaut und es mangelt dem Volk am natürlichen Umgang mit Gefühlsenergien, die von der Vernunft, einem Bestandteil des Verstandes, behutsam, sachte und achtsam gelenkt werden müssen. Die Macht der Gefühle steht nicht dem Wohl des gesamten Volkes zur Verfügung.

Regnet es zu wenig, mangelt es dem Volk grundsätzlich an Gefühlen. Sie werden massiv verleugnet und zwar so lange, bis sie vermeintlich abgestorben sind. Diese Menschen haben sich bedauerlicherweise vollständig von ihren Gefühlen abgeschnitten. Es zählt nur noch der Intellekt, der Verstand. Unsere Klimaexperten haben deshalb das zuviel an Regen im Süden unterirdisch nach Norden geleitet, um einen Ausgleich zu schaffen. Auf diese Weise konntet ihr vor dem Ertrinken und die Katalarianer vor dem Verdursten gerettet werden.“

In Jennas Kopf tanzt eine Frage nach der anderen. Wie soll sie dabei essen können?

„Was ist das Gefühlsleben überhaupt? Und wieso sollen sie vom Verstand gelenkt werden?“

„Ja, ich dachte es mir.“ Ariane nickt. „Auch die letzten Flüchtlinge aus Distremien kannten diese Zusammenhänge nicht. Bei euch wird dieses Wissen wohl nicht vermittelt.“ Sie seufzt. „Es ist schade! Dabei ist es so einfach!“ Sie unterbricht sich und ermuntert Jenna erneut, weiter zu essen.

Ariane fährt fort: „Stell dir vor, du hast zwei Hauptanteile, die deine Persönlichkeit bilden. Der eine ist dein Verstand, der andere deine Gefühlswelt. Wir nennen Verstand und Gefühl auch Animus und Anima, nach einem Mann der vor mehr als 500 Jahren gelebt hat.“

„Was? Vor 500 Jahren?“ Verblüfft lässt Jenna das Besteck sinken. „Aber dann müssten wir in Distremien das doch auch wissen!“

„Nun ja…“ Ariane zögert. „Jede Regierung lehrt das in ihrem Bildungssystem, was sie möchte, dass das Volk glauben, also für wahr halten soll.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Schau, Jenna“, fährt Ariane geduldig fort. „Diese Zusammenhänge mögen für dich derzeit sicherlich interessant und wichtig sein. Bist du damit einverstanden, dass wir dieses Thema auf einen späteren Zeitpunkt… nur ein kleines bisschen verschieben? Ich verspreche dir, dass dir dieses Wissen von unserer Leiterin im Bildungszentrum viel tiefgehender erklärt werden kann.“

„Ja, natürlich“, beeilt sich Jenna, zuzustimmen. „Kannst du mir vielleicht ungefähr erklären, was du damit meinst? Nur ein kleines bisschen?“

„Nun gut. Zurück zu dem Mann, der vor 500 Jahren lebte. Dieser Mann, ein Carl Gustav Jung, formulierte damals: Jeder Mensch verfügt über zwei wichtige Persönlichkeitsanteile: Animus und Anima. Animus, der Verstand ist für die Auswahl von Gedanken zuständig. Die Gedanken, die du in dich einlässt, denen du zustimmst, bilden deine Überzeugungen. Anima, deine Gefühle, umschließen die von deinem Verstand, von Animus, akzeptierten Gedanken mit einer Energieschicht, damit sie in deinem Gedächtnis gespeichert werden können. Je dicker die Schicht ist, die einen Gedanken umschließt, desto intensiver ist das Gefühl, desto tiefer sitzt der Gedanke in deinem Innersten als Überzeugung.

Weil dieser Mechanismus so funktioniert, bleiben besonders freudige und besonders traurige Erlebnisse meist für immer im Gedächtnis haften… und zwar mit allen Einzelheiten. Das wiederum bedeutet: je mehr Gefühle du in einer konkreten Situation erlebst, desto leichter und schneller geht der Gedanke in dein Inneres ein. Kannst du mir folgen?“

„Ja, ich glaube schon“, bestätigt Jenna erregt. „Das kann ich sogar bestätigen, denn niemals werde den Tag vergessen, an dem mein Großvater abgeholt wurde. Das Grauen in seinen Hilferufen, das vergebliche Flehen und die Schmerzensschreie, als sie ihn schlugen, werden für immer unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingraviert bleiben.“

Ariane nickt. „Ja, so ist es. Die meisten Menschen in deinem Volk glauben, ihre Überzeugungen zu kennen, doch ist es tatsächlich so, dass diejenigen, die in einer Gesellschaft wie der deinen aufwachsen, sich ihrer Überzeugungen meist nur zu 10 Prozent bewusst sind. Die restlichen 90 Prozent ihrer Überzeugungen liegen im Unterbewusstsein, einem Teil des Gefühlslebens, der Anima, und… steuern ihr Verhalten.“

Ariane holt tief Luft. „Das schlimmste dabei ist, dass sie glauben, nicht anders handeln zu können. Sie glauben wahrhaftig, diesen Emotionen hilflos ausgeliefert zu sein, obschon nur sie selbst die Macht haben, sie zu verändern.“

Jenna hatte ihr Mahl beendet und nickt heftig. „Ja, genau das glaube ich auch. Ich kann mich gegen die Gefühle in mir nicht wehren. Ich soll Macht darüber haben? Ich soll sie verändern können? Nein! Das glaube ich nicht!“ Sie schüttelt heftig den Kopf.

„Das wird dann eine der Lektionen sein, die du als erstes zu lernen wählen kannst, deshalb möchte ich nicht vorgreifen“, erwidert Ariane. „Doch zurück zu deiner Frage nach dem Unterbewusstsein. Alle Gedanken, die die einzelnen Mitglieder eines Landes, eines Volkes, denken, fließen in einen großen, unsichtbaren Topf: dem kollektiven Bewusstsein. Wir nennen das… den kollektiven Animus dieses Volkes. Je mehr Mitglieder eines Volkes einen Gedanken als ‚wahr‘ annehmen, also in ihre Überzeugungen aufnehmen, desto stärker steuern diese Überzeugungen das gesellschaftliche Handeln. Daraus entsteht das, was wir als ‚gesellschaftliche Normen‘ bezeichnen. Nur… je früher diese mentale Programmierung einsetzt, desto schneller gelangt sie in das Unterbewusstsein. Der Verstand des Menschen erwacht erst, wenn er etwa zehn Jahre alt ist. Alle bis dahin aufgenommenen, akzeptierten Gedanken sind bereits im Unterbewusstsein gespeichert und sind dem Einzelnen in der Regel weder bekannt noch bewusst.“

„Gilt das für alle Völker?“

„Selbstverständlich. Es handelt sich dabei um ein Naturgesetz, das bekanntlich überall gilt. Das kannst du schon im kleinen Kreis – innerhalb einer Familie – beobachten, oder?“

„Und das hängt alles von Gedanken ab?“

„Nicht nur“, korrigiert Ariane behutsam. „Den Hauptanteil an Überzeugungen bilden die Gefühle. Ohne sie können wir Gedanken überhaupt nicht im Gedächtnis speichern, erinnerst du dich?“

„Ja, ich erinnere mich.“ Jenna schaut zu Boden. „Bitte, entschuldige. Ich kann im Augenblick kaum noch denken. Das, was du mir da erklärst, ist so viel und so gewaltig, dass ich kaum mitkomme.“

„Da gibt es nichts zu entschuldigen. Im Gegenteil! Es ist ausgezeichnet, wenn du deine eigenen Grenzen erkennst, annimmst und äußerst. Ich müsste mich viel eher bei dir entschuldigen, dass ich dich mit so vielen Informationen überflute.“

Sie wendet sich erneut dem Schrank zu. „Komm, Jenna, such‘ dir ein Kleid aus. Ich möchte mit dir einen kleinen Rundgang durch das Empfangsareal machen. Hast du Lust?“

Wieder steht Jenna vor der Auswahl und fühlt ihre Unschlüssigkeit. Sie schaut Ariane an. „Ich kann mich nicht entscheiden. Bitte hilf mir.“

Ariane lacht leise. „Gut. Wie viele Kleider siehst du?“

Rasch zählt Jenna die Anzahl. „Das sind 19 Kleider.“

„Prima. Und jetzt schau’ dir jedes einzelne Kleid genau an. Langsam. Stück für Stück. Präge dir das Muster ein, fasse den Stoff an, nimm die jeweilige Farbe auf. Ja, gut so. Und jetzt schließe deine Augen, Jenna. Ja… Führe nun deine linke Hand an den Kleidern entlang. Wieder ganz langsam. Und jetzt achte auf deine Gefühle. Wenn du das Gefühl hast, zugreifen zu wollen, lass es zu. Versuche, deinen Verstand zu zügeln, ihn beiseite zu schieben. Lass dich nicht von ihm ablenken. Konzentriere dich ausschließlich auf dein Gefühl.“

Es dauert eine Weile und Jennas Hand fährt vor und wieder zurück.

„Mein Verstand mischt sich dauernd ein“, ruft sie aus. „Ich fühle große Ungeduld.“

„Das ist gut“, erwidert Ariane. „Dein Verstand will unbedingt die Kontrolle behalten. Das ist ganz normal. Lass dich nicht beirren. Bleib auf dein Gefühl konzentriert. Mach weiter!“

„Oh, ist das schwierig!“, bricht es aus Jenna heraus.

Ariane kichert. „Der Verstand hat jetzt ein richtiges Problem. Er ist so daran gewöhnt, dich und dein Verhalten zu steuern, ja zu dominieren, dass er ins Schwimmen kommt. Er ist es gewohnt, dass du ihm ‚gehorchst‘.“ Nach kurzem Zögern fährt sie fort: „Wenn du jetzt dabei bleibst, dass nur dein Gefühl zählt, wird der Verstand seinen Griff lockern und du wirst spüren, nach welchem Kleid dein Gefühl greifen will.“

Es dauert weitere Minuten, bis Jenna ihren Ärger nicht mehr zügeln kann. „Was soll das? Es ist doch völlig egal, welches Kleid ich anziehe!“ Unwillig dreht sie sich um und lässt sich auf einen der Sessel fallen. Im selben Augenblick wird ihr übel. Erschrocken schlägt sie beide Hände vor den Mund und murmelt: „Oh! Bitte entschuldige, Ariane. Bitte, verzeih‘ mir! Ich verspreche… das kommt nie wieder vor!“

Als sie in das lächelnde Gesicht ihrer Begleiterin schaut, verliert sie fast wieder ihre Fassung. Kein strenger Blick! Keine Beschimpfung! Keine Drohung!

Stattdessen… liebevolle Augen, ruhige Bewegungen und ein Lächeln.

Ein Lächeln!

Ihre Hände fallen kraftlos in ihren Schoß. Unmut und Ärger verfliegen und sie ist nicht fähig, auch nur ein einziges Wort hervorzuwürgen.

Ein Lächeln!

Sie beobachtet, wie sich Ariane auf die Bettkante, ihr gegenüber, setzt. Mit unendlicher Behutsamkeit nimmt sie Jennas Hände, streichelt zärtlich darüber und meint: „Freue dich, Jenna, dass du den Ärger und den Unwillen herausgelassen hast. Und nimm wahr, wie sehr du bisher deine Emotionen gefangen gehalten hast.“

Freuen?, hallt es in Jennas Innerem nach. Freuen, dass ich gewagt habe, mich gegen Anweisungen aufzulehnen? Sie abzuwehren? Zu widersprechen?

„Aber… aber…“ stottert sie.

„Kein aber“, unterbricht Ariane sie, noch immer lächelnd. „Emotionen, die endlich freigelassen werden, die dir bewusst geworden sind, kannst du getrost... einfach vergessen. Viel wichtiger ist, dass jetzt der Weg frei ist, für die echten Gefühle, die stets hinter den Emotionen auf Entdeckung warten.“

Jenna versteht kein Wort. Emotionen? Gefühle?

„Ist das nicht dasselbe? Ich dachte immer, dass Emotionen und Gefühle dasselbe sind!“

„Oh, Jenna“, erwidert Ariane. „Emotionen sind meist Energien, die den wirklichen, echten Gefühlen im Wege stehen, sie am Ausdruck hindern. Sie sind wie Gefängniswärter, die den Ausbruch der „Feinde“, die echten Gefühle verhindern sollen.“

„Feinde?“

„Ja, Jenna, Feinde! Schau… Emotionen sind antrainierte Energien von Überzeugungen, die die echten Gefühle verhindern, sie mundtot machen sollen.“

„Mein Gott, Ariane… Warum? Warum sollen echte Gefühle mundtot gemacht werden?“

Traurig schaut die junge Begleiterin auf ihre Hände. „Es tut mir leid, Jenna. Ich würde dir jetzt gern eine Antwort geben, die für dich leicht anzunehmen wäre, aber… ich will nicht lügen. Die Wahrheit ist, dass sich die echten, menschlichen Gefühle der Kontrolle des Verstandes entziehen. Und das ist die Basis jeglicher Angst: Kontrollverlust.“

„Aber… ich dachte, dass… gerade die Beherrschung der Gefühle das Wichtigste ist!“

„Nein, Jenna. Echte Gefühle kann niemand beherrschen. Aber.. die Beherrschung der Emotionen ist nicht nur wichtig, sondern ganz fundamental. Wer versucht, die wahren Gefühle zu beherrschen, dem entziehen sie sich.“

„Aber… was sind denn nun die wahren Gefühle? Die, die im Gegensatz zu Emotionen stehen?“

Ariane erhebt sich. „Komm. Wir versuchen es noch einmal.“ Sie zeigt mit der Hand auf die Kleider. „Deine Emotionen, weil sie auf erlernten, antrainierten Überzeugungen basieren, beherrschen im Augenblick deine gesamte Wahrnehmung. Du wirst also zu einem Kleid greifen, das diesen Emotionen entspricht.“

Erneut zeigte sie auf die Kleider. „Ich bat dich, ein Kleid auszusuchen und du hattest gesagt: ich weiß nicht, welches ich wählen soll. Richtig?“

„Ja, genau.“

„Dein Verstand kann mit dem neuen Angebot an Kleidern nichts anfangen. Es gibt keine Erfahrung auf die er zurückgreifen kann. Noch nie hast du eine derartige Auswahl gehabt. Stimmt’s?“

„Genauso ist es.“

„Prima! Nun hat der Verstand aber den Anspruch an sich selbst, die Kontrolle über dein Leben haben zu müssen. Das kann er aber nur, wenn er auf Erfahrungen zurückgreifen kann. Und die, liebe Jenna, liegen zwangsläufig in der Vergangenheit. Kannst du das nachvollziehen?“

„Ja, natürlich.“

„Sehr gut! Kommt jemand wie du in eine akute Situation, in der ihm keine Erfahrung zur Verfügung steht, auf die er zurückgreifen kann, kommt der Verstand ins Schleudern, denn sein Anspruch, dein Leben kontrollieren zu müssen, bleibt ja bestehen. Und dann bringt er dir Ärger, Unwillen – bis hin zu Wut und Rage.“

„Aber warum, Ariane? Warum?“

„Weil er seine Macht bedroht sieht! Es besteht die große Gefahr, dass dir das bewusst wird; dass du erkennst, dass er gar nicht über die Macht verfügt, die du ihm bisher zugeschrieben, an die du geglaubt hast. Deshalb sind für uns Pakenianer diese Emotionen, also Ärger, Wut, Unwillen, Rage oder Angst, ein Ausdruck von Ohnmacht, die auf dem Kontrollanspruch des Verstandes basieren – also das Gegenteil von innerem Frieden, Ausgeglichenheit und Gelassenheit – den wahren Gefühlen.“

Ungläubig schaut Jenna ihre Begleiterin an. „Und das alles, weil ich mich nicht für ein Kleid entscheiden kann?“

Ariane lacht. „Ja, Jenna, nur weil du dich nicht für ein Kleid entscheiden kannst. Dieses Verhaltensmuster trifft auf alle Situationen zu, in denen jemand Entscheidungen treffen muss – ohne auf vorherige Erfahrungen zurückgreifen zu können.“

„Wie kann ich das vermeiden?“

Erneut lacht Ariane. „Das kannst du nicht, Jenna, außer du kehrst zurück nach Distremien. Dort kannst du dich so verhalten, wie du es gelernt hast. Da kannst du auf alle deine bisherigen Erfahrungen zurückgreifen. Hier in Pakenia kannst du das nicht. Deshalb habe ich dir das jetzt am Beispiel des Kleides so ausführlich beschrieben. Du wirst, ab sofort, jeden Tag mit neuen Situationen konfrontiert, in denen du auf keinerlei Erfahrungen zurückgreifen kannst.“

Jenna dämmert es. „Ich kann nicht zurück und ich kann nicht nach vorn. Meine Angst vor der Rückkehr ist genauso groß wie meine Angst fortzuschreiten.“ Sie stöhnt und birgt ihr Gesicht in ihren Händen. Wohin auch immer sie jetzt greift – sie stößt nur noch auf Angst.

Sie hört Arianes mitfühlende Stimme: „Zurückgehen, nach Distremien, kannst du nur allein. Und du weißt, dass dich wahrscheinlich dort nur der Tod erwartet. Ich kann dir versichern, dass, wenn du mir und meinen Freunden vertraust, du zumindest eine 50%ige Chance auf eine positive Veränderung deines Lebens hast.“

*

*

*

Kapitel 5 - Lydia

 

„Hast du die Mädchen schon befragt?“, fragt Lydia, die Leiterin des Bildungsareals ihre Assistentin Theresa.

„Nein, noch nicht“, erwidert die junge Frau und zögert. „Ich möchte die Begleitung von Jenna selbst übernehmen, wenn du nichts dagegen hast. Wenn es konkrete Einwände gibt, würde ich sie gern von dir hören.“

Lydias Blick ruht auf Theresa. Die strahlend blauen Augen ihrer Assistentin schauen hoffnungsvoll mit einem Schimmer von Achtsamkeit.

Die Leiterin lächelt. „Warum überlässt du das nicht einem der Mädchen? Anwärterinnen haben wir doch genug, oder?“

„Und ob!“, lacht Theresa. „Jede von ihnen ist heiß darauf. Wir haben gar nicht so viele Flüchtlinge wie Anwärterinnen zur Eingliederungshilfe.“

„Und warum möchtest du es selbst machen?“

„Du weißt, Lydia, dass ich kurz davor bin, den nächsten großen Schritt zur Steigerung meines LQ zu machen. Ich habe mir Jennas Energiemuster im EM-Viewer angesehen. Deshalb sehe ich in der Begleitung Jennas eine Herausforderung, die ich mir auf keinen Fall entgehen lassen möchte. Schau… ich weiß, dass Jenna eine ganz besondere Persönlichkeit zu haben scheint. Sie ist intelligent, neugierig, wissensdurstig und aufgeschlossen. Und… sie ist ganz schrecklich gebeutelt. Wie groß müssen ihre inneren Konflikte sein? Vollgestopft mit Überzeugungen, die den unseren absolut diametral gegenüberstehen; sehr schwer zu überwindende Hindernisse in ihrer Anima; tiefe Verletzungen in ihrem emotionalen Kleid und Narben in ihrem Energiemuster, die viel Geduld, Mut und Liebe brauchen, um wirklich zu heilen. Wenn wir sie einem der Mädchen überlassen, die sicherlich ganz hervorragende Arbeit leisten, dauert die Eingliederung erheblich länger, als wenn ich sie selbst begleite.“

Lange schaut Lydia ihre Assistentin an. „Ich sehe deinen Punkt, Theresa. Es wird tatsächlich ein steiniger Weg für Jenna. In dem Maße wie sie wächst, wirst auch du wachsen. Aber unterschätze deine eigenen Steine auf diesem Weg nicht.“

Theresa lächelt. „Nein, Lydia. Ich bin mir vollkommen bewusst, dass ich mir die gleiche Steingröße auf meinem Entwicklungsweg ausgesucht habe wie Jenna. Und genau aus diesem Grund möchte ich mir meine persönliche Wachstums-Chance nicht entgehen lassen.“

„Na gut“, stimmt Lydia zu. „Allerdings möchte ich, bevor ich deinem Wunsch endgültig zustimme, das neueste Untersuchungsergebnis deines LQ vorliegen haben. Du weißt wie entscheidend der Liebes-Quotient bei einer solchen Aufgabe ist. Bist du damit einverstanden?“

„Selbstverständlich.“ Theresa umrundet Lydias Schreibtisch und umarmt die Leiterin des Bildungsareals. „Danke, Lydia. Danke für diese große Chance. Ich weiß dein Vertrauen zu schätzen. Und du kannst dich darauf verlassen, dass ich mein Bestes geben werde.“

„Ich weiß, Theresa. Ich weiß.“ Sie zögert. „Du bist dir darüber im Klaren, dass Jenna letztlich selbst entscheidet, wer sie bei ihrer Eingliederung begleiten soll, nicht wahr?“

„Ja, Lydia, das weiß ich.“

„Sag mal, wie waren deine letzten Ergebnisse bei deinen Q-Tests?“

Wieder lächelt Theresa. „Der IQ war um 2 Punkte auf 128 gestiegen. Die EQ lag bei 49 und der LQ bei 48,5.“

„Ich verstehe.“ Lydia nickt, „Deshalb, also! Du stehst vor dem 50er Sprung. Ja, dann kann ich sehr gut nachvollziehen, dass du Jenna persönlich begleiten willst.“

Sie mustert ihre Assistentin. Theresa ist eine ehrgeizige Frau von 24 Jahren, ohne die Verbissenheit oder Sturheit des Fanatikers. Theresas Ausdauer, Beständigkeit und Festigkeit werden Jenna die Sicherheit vermitteln, die die junge Flüchtlingsfrau jetzt so dringend benötigt. Die Assistentin mit den kurzgeschnittenen, dunklen Haaren besitzt zudem eine gehörige Portion Humor, der es Jenna erleichtern wird, ihre EQ rasch zu steigern. Die Emotionale Qualität spielt im Entwicklungsprozess nun einmal die entscheidende Rolle – gerade bei Flüchtlingen aus Distremien. Das ist bei Jenna ganz gewiss nicht anders. Und die Assistentin verströmt die innere Sicherheit und Gelassenheit, die Jenna braucht. In Theresas blauen Augen wird Jenna den Frieden und das Vertrauen zu sich selbst entdecken, nach denen ihre Seele dürstet.

„Bist du dir darüber im Klaren darüber, Theresa, welche Konsequenzen Jennas Begleitung für dich haben wird, sofern sie erfolgreich verläuft?“

„Meinst du meine Tätigkeit als deine Assistentin?“

Lydia nickt.

„Nun…“ Theresa zögert. „Ich vermute, dass ich mich neu orientieren werde. Der Platz als deine Assistentin dürfte dann frei werden, nicht wahr?“ Sie lächelt.

„Deine zukünftigen Aufgaben werden mit weitaus mehr Verantwortung und Macht verbunden sein. Hast du schon eine Vorstellung?“

„Nein.“ Theresa schüttelt den Kopf. „Eine konkrete Vorstellungen habe ich noch nicht, eher eine vage Ahnung.“

Die junge Frau lehnt sich vor. „Ich erahne, fühle, dass ich reisen werde. Es sind noch diffuse Bildfetzen und eher nebulöse Umrisse als klare Bilder. Aber ich spüre deutlich die Energie von Abenteuern.“

Bedächtig nickt Lydia. „Ja, Jenna nimmt in der Entwicklung unseres eigenen Volkes eine ganz wichtige Stellung ein. Sie wird eine wesentliche Veränderung für Pakenia bewirken. Diese Bilder habe ich ebenfalls empfangen – wenn auch, genau wie bei dir, als Visionsfetzen. Die Energie, die von der sich abzeichnenden Vision ausgeht, ist enorm… ja gewaltig.“ Sie atmet tief durch. „Ich treffe mich heute Abend mit Konrad. Wir wollen uns austauschen. Die Visionsgruppe hat bereits klarere Bilder empfangen. Derek hat ebenfalls beunruhigende Messdaten an der Grenze zu Distremien aufgezeichnet.“

„Was ist mit Myra? Wird sie ebenfalls dabeisein?“

Wieder nickt Lydia. „Ja, die akustischen Informationen unserer Helfer sind unmissverständlich.“

„Dann wird sicherlich auch Pilar anwesend sein.“

„Selbstverständlich“, erwidert die Leiterin des Bildungsareals. „Sie ist die Hauptperson des Abends. Ohne ihre Informationen über die energetischen Vibrationen können wir die anderen Informationen kaum entschlüsseln.“

„Kann ich dich auf irgendeine Weise unterstützen, Lydia?“

„Danke für dein Angebot. Aber ich glaube, dass wir zunächst alle Daten sammeln und zusammenfügen müssen, bevor wir überhaupt erfassen können, was uns in naher Zukunft erwartet. Erst dann können wir darüber nachdenken, wie wir der Veränderung begegnen wollen.“

„Haltet ihr uns – wie immer – über das FS, das Faktensystem, auf dem Laufenden?“

„Selbstverständlich!“

*

*

*

Kapitel 6 - Jenna

 

Ein wenig erschöpft kehrt Jenna mit Ariane nach dem Rundgang durch das Empfangsareal in der Oase ein. Sarah strahlt sie an, als sie eintreten.

„Hallo, Jenna. Herzlich willkommen in der Oase. Wie geht es dir?“

„Danke, mir geht es soweit ganz gut. Ich bin ein wenig müde, aber sonst ist alles in Ordnung.“

„Dann solltest du dich ausruhen. Vorher möchte dir noch ein Kompliment machen. Das Kleid steht dir ganz ausgezeichnet. Das Grün harmoniert ganz hervorragend mit deiner Augenfarbe.“

„Danke“, erwidert die Angesprochene und spürt deutlich ihre Verlegenheit.

Sie erzählt ihr von ihrem Erlebnis mit der Kleiderwahl am Tag zuvor.

„Stell dir vor… das Kleid, das ich ganz spontan als erstes gewählt habe, entsprach tatsächlich dem, was mein Gefühl wollte. Ohne Arianes Hilfe hätte ich nie herausgefunden, was meinem inneren Gefühl tatsächlich am besten gefiel.“ Mit einem Seitenblick auf ihre Begleiterin fügt sie hinzu: „Ich bewundere noch immer Arianes Geduld und Unerschütterlichkeit. Ohne sie hätte ich das niemals herausgefunden.“

„Dann hast du einen großen Schritt in deiner Entwicklung gemacht“, erwidert Sarah. „Jetzt ist dir bewusst geworden, was dein echtes Gefühl will… und vor allen Dingen hast du gefühlt, wo es sich befindet, nicht wahr?“

„Das war für mich eine große Überraschung“, nimmt sie den Faden auf. „Ich habe tatsächlich zum allerersten Mal in meinem Leben den Unterschied zwischen Emotionen und echten Gefühlen erfahren, gespürt.“

„Und? Was ist dir dabei aufgefallen?“

„Nun ja…“ Sie lässt noch einmal ihr Erstaunen in sich aufsteigen. „Es ist eigentlich total verrückt. Irgendwo, ganz tief innen in mir, habe ich immer gewusst, was echte Gefühle sind. Es war für mich fast wie eine Art… Erinnerung – wenn auch nicht in dem Sinne, wie ich mich an Alltagserlebnisse erinnere. Nein, es ist eine völlig andere Art von Erinnerung; eine, die so tief in mir liegt, dass… dass ich an sie nur heranreiche, wenn der Rest in mir schweigt; wenn keine Gedanken mehr stören; wenn keine Emotionen dazwischenfunken. Nur dann haben diese Gefühle eine Chance, von mir bemerkt, wahrgenommen zu werden.“

„Ich freue mich so sehr für dich, Jenna“, reagiert Sarah. „Dann war es ein sehr, sehr schönes Erlebnis für dich.“

„Was kannst du uns heute empfehlen, Sarah?“, fragt Ariane. „Jenna und ich würden gern eine Kleinigkeit essen.“

„Worauf habt ihr Lust? Ich kann euch alles anbieten. Was ich heute als Tagesgericht zu bieten habe ist: Lachs auf Blattspinat und in Salzwasser gekochte Kartoffeln.“

„Das hört sich gut an“, bestätigt Ariane. „Das ist genau das, was ich gern hätte. Was ist mit dir, Jenna?“

„Ja, das hört sich auch für mich sehr lecker an.“

„Was wollt ihr dazu trinken?“

„Ich nehme einen Apfelcidre.“

„Was ist das?“ Jennas Gesichtsausdruck ist ein einziges Fragezeichen.

„Das ist Apfelsaft mit Hefe vergoren. Weil er gekühlt serviert wird, finde ich ihn immer sehr erfrischend.“

„Darf ich dir eine kleine Kostprobe davon bringen?“, will Sabrina wissen.

„Oh ja, gern.“

Ja, Jenna mag den Apfelcidre auch. „Der schmeckt herrlich“, schwärmt sie. „So etwas habe ich noch nie getrunken.“

„Hör zu, Jenna“, bittet Ariane, „Ich möchte, dass du dein Energiemuster mit frischer Rot-Energie auflädst. Das wird dir helfen, deine körperliche Müdigkeit zu reduzieren. Derweil gehe ich in den Haid nebenan und erfrische mich mit Grün-Energie. Es dauert nur ein paar Minuten. Einverstanden?

„Ich vertraue dir, Ariane.“

Ihre Begleiterin drückt auf einen Knopf und der Haid taucht in ein warmes, intensives Rot.

Ariane setzt sich dem strahlenden Grün aus.

Kurze Zeit später bringt Sabrina die Speisen und Getränke. Mit großem Appetit verzehren die beiden ihren Lachs auf Blattspinat.

Lächelnd schiebt Ariane ihren Teller zur Seite, nimmt einen letzten Schluck aus dem Glas und fragt: „Was möchtest du heute Nachmittag tun?“

Jenna zuckt mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Was würdest du mir empfehlen?“

Einen Moment denkt Ariane nach. „Ich würde an deiner Stelle jetzt ein kleines Nickerchen machen. Wenn ich wieder fit bin, würde ich schwimmen gehen, mir anschließend eine Fußreflexzonenmassage angedeihen lassen und dabei richtig schlummern.“

„Schwimmen? Von Wasser habe ich eigentlich für den Rest meines Lebens genug. Außerdem habe ich keinen Badeanzug.“

„Na, dann schau mal in deinen Schrank“, widerspricht Ariane und kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Darin wirst du mindestens drei Stück finden. Und was das Schwimmen betrifft… du brauchst ja gar nicht ins große Becken zu gehen… wir haben einen wunderbaren Whirlpool zu bieten.“

„Einen… was?“

„Erinnerst du dich nicht? Bei unserem Rundgang habe ich dir doch diese sechseckige Wanne gezeigt.“

„Ja, ja. Aber da war doch keiner drin.“

Ariane lacht. „In dem Augenblick, in dem jemand in diese Wanne hineinsteigt, entstehen lauter kleine Luftblasen. Und wenn du darin sitzt, fühlt sich das wunderbar an. Es ist wie eine angenehme, sanfte Ganzkörpermassage. Das solltest du unbedingt ausprobieren!“

„Und was ist diese Fuß… Massage?“

„Fußreflexzonenmassage. Lass dir das von Nora erklären. Sie ist unsere Expertin darin. Sie erklärt dir alles darüber. Viel besser als ich es je könnte. Ich kann dir nur sagen… probiere es unbedingt aus! Es ist einfach nur phantastisch. Und wie ich Nora kenne, schläfst du anschließend wie ein Baby – völlig entspannt und vollkommen ruhig. Und das wenigstens für eine halbe Stunde.“

Was soll sie dazu sagen? Das alles ist so neu, so unglaublich! Noch immer kann sie nicht fassen, dass ihr tatsächlich nur Menschen begegnen, die nichts von ihr verlangen, ihr keine Anweisungen geben, keine Forderungen stellen. Das kann doch nicht real sein! Irgendwann muss die Rechnung kommen! Irgendwann wird man mich bestimmt auffordern, eine Gegenleistung zu erbringen. Aber was?

„Ist alles in Ordnung?“, fragt Ariane.

„Bitte… entschuldige…“, stottert Jenna. „Ich war gerade… weit weg. Weißt du, für mich ist es noch immer kaum zu glauben, was ich hier erlebe.“

Sie sucht nach Worten.

„Bist du sicher, dass keine… Forderungen auf mich zukommen?“

Ariane ergreift ihre Hände. „Sei ganz beruhigt, meine Liebe. Es wird garantiert nichts auf dich zukommen, wovor du dich fürchten müsstest. Hast du noch nicht bemerkt, dass hier alle wirklich nur einen Wunsch haben: dass es dir gut geht und du dich wohlfühlst?“

„Das ist es ja!“, bricht es aus Jenna heraus. „Genau das kann ich mir einfach nicht vorstellen!“

„Ich verstehe“, bestätigt Ariane und nickt. „Und ich weiß genau, dass es für dich derzeit die größte Schwierigkeit ist, dein tiefes Misstrauen zu überwinden. Dein Argwohn sucht verzweifelt nach Bestätigung, nach Beweisen seiner Berechtigung. Du traust dem Frieden nicht. Du erwartest geradezu das böse Erwachen.“

„Kannst du hellsehen?“ Jenna fühlt sich verstanden. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist da diese junge Begleiterin, die sie wirklich versteht!

„Aber… aber… Ariane!“ In Jennas Kopf wirbeln die Gedanken durcheinander. „Wie kannst du mich verstehen, wenn du doch diese Gefühle gar nicht kennst? Ja, nie selbst kennengelernt hast?“

Mit einem Lächeln streichelt Ariane die Hände ihres Schützlings. „Auch wenn ich weiß, dass dein Verstand nach einer Erklärung giert, um diese Zusammenhänge wirklich zu erfassen, brauchst du Zeit. Lass mich nur so viel dazu sagen: Die Erfahrung des Misstrauens ist tief in deiner Volksseele verankert. Auch wir Pakenianer sind im Laufe unserer Entwicklung über die Jahrhunderte hinweg durch das tiefe, dunkle Tal des Misstrauens gewandert. Und zwar so lange, bis wir erkannten, dass Misstrauen unserem Wunsch nach Frieden und Harmonie, nach Wohlstand und Freiheit, nach Gesundheit und Freude im Wege stand, unseren Zielen nicht dienlich war. Immer mehr Menschen unseres Volkes probierten deshalb, anderen zu vertrauen. Zuerst probierten sie es im kleinen, familiären Kreis, dann mit den Nachbarn, dann am Arbeitsplatz, dann innerhalb ihres Ortsteils, der Kommune. Und so wurde der Kreis derer, die sich gegenseitig vertrauten, immer größer. Und irgendwann schwappte diese Erfahrung auf alle anderen über. Die Erfahrungen, die unser Volk damit machte, waren so machtvoll, dass das Misstrauen schließlich gänzlich überwunden wurde.“

Jenna kann nur staunen. „Aber haben das nicht viele schamlos ausgenutzt?“

„Am Anfang ganz bestimmt“, bestätigt Ariane. „Es gab sicherlich Rückschläge, Stillstand oder Rückfälle in alte Verhaltensmuster. Aber schließlich stabilisierte sich das neue Muster. Es wurde erweitert durch Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Zuversicht. Die ganz Mutigen probierten zusätzliche Merkmale aus: völlige Offenheit, Wehrlosigkeit oder offen erkennbare, tätige Liebe.“

„Und wie schnell vollzog sich dieser Wandel?“

„Nun ja…“ Ariane denkt einen Augenblick nach. „Es waren sicherlich einige Generationen, die noch mit alten Verhaltens- und Denkmustern zu kämpfen hatten. Genau kann ich dir das nicht sagen. Aber das ist auch nicht wichtig. Bedeutsam ist, dass irgendwann irgendjemand damit angefangen hat. Und so wie sich schädliche Denkmuster verbreiten, können sich stattdessen dienliche Muster durchsetzen. Beide müssen denselben Weg gehen – in den Geist der Menschen. Andere müssen die Meinung teilen, soll sich eine Ansicht durchsetzen. Bei diesem Prozess kommt es auf jeden Einzelnen an. Je mehr Menschen den neuen Gedanken, die neue Idee als wahr annehmen, desto schneller breitet er sich als neue, anerkannte Überzeugung aus.

Du siehst… es kommt auf den Ersten an, der die Idee hat und den Mut hat, sie in Handlung umzusetzen. Seine unmittelbare Umgebung kann ihn unterstützen – bis der neue Gedanke Fuß fasst, im Geist des ganzen Volkes verankert ist. Das ist die Geburtsstunde einer neuen Normalität.“

Voller Staunen hört Jenna ihrer Betreuerin zu. „Aber… warum hat das in Distremien nicht funktioniert?“

„Oh, Jenna. Du willst es aber wirklich wissen.“ Ariane stöhnt leise auf. „Würde es dir etwas ausmachen, mir eine kleine Pause zu geben? So schnell, wie du die Informationen ganz offensichtlich verarbeitest, komme ich mit meinen Erklärungen nicht nach.“

„Bitte, Ariane, entschuldige!“ Jenna fühlt sich schuldig. „Bitte hab’ Nachsicht mit mir. Sei mir nicht böse.“

„Kein Grund für eine Entschuldigung“, erwidert Ariane. „Du bist mir in mancher Hinsicht weit voraus. Das finde ich großartig! Ein Grund zur Freude, meine liebe Jenna – kein Anlass für ein Schuldgefühl. Sei stolz auf deine Fähigkeit und nimm sie als großes Geschenk deines Schöpfers dankbar an.“

Sie steht auf. „Ich würde empfehlen, dass du jetzt deinen Badeanzug anziehst, in den Whirlpool steigst, dir die Füße massieren lässt und dich ausruhst. Ich komme heute Abend so gegen kurz vor sieben zurück. Dann kannst du mir erzählen, wie es dir ergangen ist. Einverstanden?“

Jenna zögert. „Kommst du nicht mit?“

„Nein, meine Liebe. Du kennst dich mittlerweile ganz gut im Empfangsareal aus und kannst jeden, der dir begegnet fragen, wenn du Hilfe brauchst. Ich treffe mich jetzt gleich mit Bettina, der Ärztin, die wir morgen gemeinsam aufsuchen. Okay? Bis gleich.“

Ein wenig bang schaut Jenna ihr nach. Zum ersten Mal muss sie sich allein, ohne Ariane, im Empfangsbereich von Pakenia, bewegen. Aber… was soll mir hier passieren?

*

*

*

Kapitel 7 - Ariane

Die Tür zu Bettinas Praxis steht weit offen. Ariane mag die kleine, rundliche Frau mit den kurzen, fast schwarzen Haaren und den grau-blauen Augen, denen kaum etwas entgeht. Bettinas Lachen ist stets offen und ungemein ansteckend. Die Lachfältchen, die sich um ihre Augen gebildet hatten, wirken anziehend. Jeder im Empfangsareal mag die Ärztin mit dem großen, einfühlsamen Herzen.

Ariane klopft an den Rahmen. „Darf ich reinkommen?“

„Aber selbstverständlich“, ruft die Ärztin und winkt sie herein. „Wie geht’s dir, Ariane? Ich habe dich lange nicht gesehen.“

„Danke, mir geht es ganz ausgezeichnet. Und dir?“

„Mir geht es auch richtig gut. Komm, setz dich. Erzähl‘ mir, was ich für dich tun kann.“

Sie nimmt in dem bequemen Besuchersessel Platz. „Es geht um unseren Neuankömmling.“

„Meinst du… Jenna?“

„Genau die. Wir haben morgen einen Termin bei dir. Bleibt es dabei?“

„Selbstverständlich. Um 10 Uhr.“

Einen Moment schweigt Ariane. Sofort hakt Bettina nach: „Da scheint dich etwas zu beschäftigen. Was ist es?“

„Na ja…“, druckst die Besucherin etwas herum. „Ich habe den Eindruck, dass ihr Geist hellwach ist, aber ihr Körper kommt nicht mit.“

„Du meinst, dass sie ihre Körpersignale nicht ausreichend wahrnimmt?“

„Ja, so in etwa.“

Ausführlich berichtet sie von ihren Erlebnissen mit der jungen Flüchtlingsfrau.

„Ich sehe das als völlig normal in ihrem Zustand an – gemessen an ihrer Herkunft“, besänftig Bettina ihren Gast. „Sicher…. ihr Wissensdurst ist auffällig und ihre Auffassungsgabe scheint überdurchschnittlich zu sein. Was beunruhigt dich?“

„Irgendwie scheint sie den Kontakt zu ihrem Körper gänzlich verloren zu haben. Sie bemerkt nicht, dass ihr Körper ganz laut nach Aufmerksamkeit schreit.“

Bettina lächelt. „Und jetzt fragst du dich, wie du ihr helfen kannst, nicht wahr?“

Ariane nickt.

„Ach, Schätzchen, überfordere dich nicht. Lass mich morgen erst einmal meine Arbeit machen. Wenn die Ergebnisse vorliegen, kann ich dir sagen, was für sie am besten ist.“

„Vielleicht habe ich aber schon einen Fehler gemacht“, sagt Ariane kleinlaut.

„Und welchen?“

„Ich habe Victor O9 Ionen besorgen lassen. Vielleicht sind die viel zu stark.“

Bettina lacht. „Und wo ist jetzt dein Fehler? Noch ist nichts passiert. Hast du Zweifel? Zweifel an dir selbst?“

„Oh Gott!“, entfährt es Ariane. „Es stimmt. Ich zweifle tatsächlich an mir selbst.“

„Ariane…“ Bettina lächelt, und die Lachfältchen vertiefen sich. „Du bist 16 Jahre alt. Woher solltest du jetzt schon über die Erfahrungen verfügen, die erst mit zunehmendem Alter und der dazugehörigen Reife erlangt werden können? Zweifel, meine Liebe, sind dann gut und förderlich, wenn sie dir bewusst werden und du dir weiteres Wissen aneignest. Dann verschwinden die Zweifel ganz von selbst. Das weißt du doch. Also… was ist an deinen Zweifeln derart bedrohlich oder negativ für dich?“

„Aber sind Zweifel denn nicht Ausdruck eines schwachen Selbstbewusstseins?“ Sie staunt über die Frage der Ärztin.

Bettinas Lachen erfüllt den Raum. „Erinnerst du dich an die Lektion, als es um die Gratwanderung zwischen echtem Selbstbewusstsein und unechter Überheblichkeit ging? Erinnerst du dich an die Merkmale?“

Sie kramt in ihrer Erinnerung. „Ja! Ja, ich erinnere mich! Echtes Selbstbewusstsein geht stets mit Demut einher. Dazu gehört auch, dass Zweifel zu den menschlichen Eigenschaften gehören, die, sofern sie bewusst wahrgenommen werden, der persönlichen Entwicklung dienlich sind. Wird ihnen mit Wissensdurst und dem Streben nach Erfahrung begegnet, sind sie eine große Hilfe im seelischen Reifungsprozess. Nur die Überheblichen zweifeln nie. Und deshalb entwickeln sie sich nicht.“

„Richtig, Ariane. Diejenigen, die glauben, alles zu wissen und zu kennen, sind lernunwillig und… voller Angst. Bleib also stets offen für Zweifel und Unsicherheiten, sonst hörst du auf zu wachsen und dich weiterzuentwickeln… du hörst auf, zu leben!“

„Und was mache ich jetzt mit den O9 Ionen? Können die für Jenna schädlich sein?“

„Wie hat du diese Entscheidung getroffen? Hast du darüber nachgedacht? War es eine spontane Idee? Aus welcher Quelle in dir stammt sie?“

Ariane schließt die Augen, fühlt sich in ihr Inneres ein und lauscht.

„Was sagt dein Gefühl… jetzt?“, fügt Bettina hinzu und lehnt sich zurück.

Es dauert eine Weile, ehe Ariane antwortet: „Nachgedacht habe ich schon… wenn auch nur sehr kurz. Es war eine sehr spontane, aus dem Inneren kommende Entscheidung. Und jetzt… ich fühle, dass O9 Ionen genau richtig für Jenna sind.“

„Dann ist alles in Ordnung.“

„Meine Zweifel, Bettina, entspringen tatsächlich meiner Unerfahrenheit. Noch nie hatte ich bisher mit einer so hohen Dosis zu tun. Ich könnte es mir kaum verzeihen, wenn ich Jenna Schaden zufüge.“

Bettina lacht. „Aber Ariane… du weißt doch, dass das gar nicht geht. Keine Seele kann einer anderen Seele Schaden zufügen, ohne deren Zustimmung. Sieh zu, dass du deine Zweifel nutzt! Hör auf, an deinen tiefen inneren Gefühlen zu zweifeln! Das ist jetzt ganz offensichtlich deine Lernlektion. Du weißt… Zweifel kommen zu 90% aus dem Verstand, der die Macht der Gefühle nicht anerkennen will.“ Sie holt tief Luft. „Außerdem fühlen sich echte Zweifel, die im Gefühl liegen, völlig anders an, oder?“

„Du hast recht, Bettina. Die Zweifel aus dem Gefühl sind mit völlig anderen Empfindungen verknüpft.“

„Komm, Ariane. Beschreibe den Unterschied“, ermuntert Bettina sie.

„Nun ja… Zweifel aus dem Verstand drücken mich nieder, versetzen mich in Aufruhr und ich stelle meine Fähigkeiten in Frage. Zweifel aus dem Inneren… fordern mich eher auf, meine Entscheidung bewusst zu überprüfen. Sie drücken mich nicht nieder, sondern ermutigen mich, mir die Entscheidung ganz bewusst vor Augen zu führen. Wenn ich dem folge, fühle ich mich anschließend viel sicherer, aufgebaut und stärker. Außerdem… die innere Stimme ist meist sanft, liebevoll und sehr behutsam.“

„… und sie bringt dich wieder in dein inneres Gleichgewicht, nicht wahr?“

Sie horcht erneut in sich hinein. „Ja… aber manchmal ist die laute Stimme des Verstandes nicht zum Verstummen zu bringen. Dann übertönt sie weiterhin die sanfte Stimme im Gefühl.“

Bettina nickt bedächtig. „Und was machst du dann? Du weißt ja, was du dann zu tun hast, oder?“

„Ja. Dann weiß ich, dass ich auf den Teil in meinem Verstand gestoßen bin, der sich gegen die Macht in meinem Inneren stellt, der die Macht der Liebe in mir verleugnet… mein Ego. Es ist der Teil in meinem Verstand, der mir die Illusion der Unabhängigkeit als Wahrheit weismachen will. Aber niemand ist unabhängig von der Liebe in seinem Herzen.“

„Und was ist dann deine Aufgabe?“

„Dann bin ich dem inneren Saboteur auf der Spur, der mich davon abhalten will, ich selbst zu sein. Der mir sagt, dass er besser weiß, was gut für mich ist als mein Herz. Der mich glauben machen will, dass es eine Instanz außerhalb der Liebe gibt, eine Kraft, die stärker als die Liebe des Herzens ist. Dann ist es meine Aufgabe der in mir existierenden Überzeugung, die mit diesen Emotionen verknüpft sind, auf den Grund zu gehen. Wo kommen sie her? Wie sind sie in meinen Geist gekommen? Welcher Irrtum wartet hier auf meine Berichtigung?“

„Deine tiefen, inneren Gefühle sind und bleiben das Maß, mit dem du dein Leben gestaltest, ja… erschaffst! Lass dich von den flüchtigen Emotionen des Egos nicht beirren. Denk daran… es versucht lediglich, dich dir selbst zu entfremden. Und dann dreh den Spieß um und nutze sie, um dir selbst näher zu kommen.“

„Jetzt kommt die Erinnerung zurück, Bettina. Ich lernte diese Lektion im 4. Jahr meiner zweiten Stufe im Bildungsareal: Das Ego ist die Summe der Glaubenssätze, auf denen das ‚falsche Ich‘ gespeichert ist.“ Sie verstummz für einen Augenblick. „Und… das Ego ist nicht mein Feind, sondern mein größter Helfer in der Entwicklung, wenn ich seinen Zweck erfasst habe… und ihn für mich nutze.“

Erregt springt sie auf. „Jetzt begreife ich! Ich begreife, dass meine Lektion direkt mit Jenna zu tun hat. Ihre Überzeugungen lösten bei mir genau die Überzeugungen aus, die in mir zur Heilung, zur Korrektur anstehen!“

„Genauso ist es, Ariane. Solange du kein festes Vertrauen in deine inneren Gefühle hast, wie willst du ihr helfen, ihr Vertrauen in ihre Gefühle zu stärken?“

*

*

*

 

Kapitel 8 - Jenna

 

Nachdenklich steht Jenna wieder vor ihrem Kleiderschrank. Die vier Badeanzüge gefallen ihr. Einer ist schöner als der andere. Und wieder zögert sie, sich für einen zu entscheiden. Also probiert sie Arianes Anleitung aus und greift zuletzt wieder zu dem, der ihr bei ihrer ersten Sicht spontan am besten gefiel. Es funktioniert tatsächlich.

Mit dem hellblauen Badeanzug in der Hand sitzt die auf ihrem Bett. Der tiefe Rückenausschnitt, der bei allen Anzügen gleich oder ähnlich ist, behagt ihr ganz und gar nicht. Dann kann jeder meine schrecklichen Narben sehen. Dazu schämt sie sich zu sehr. Nein, diesen Anblick darf sie niemandem zumuten!

Erneut durchsucht sie ihre Kleidungsstücke und findet eine hübsche, leichte Baumwolljacke, die sie überstreifen kann. So ausgestattet, klettert sie vorsichtig in den angenehm temperierten Whirlpool. Als das Wasser mit den perlenden Luftblasen zu schäumen beginnt, hält sie für einen Augenblick die Luft an, bevor sie sich vollends ins Wasser gleiten lässt.

Auf der gepolsterten Unterwasserstufe mit Rückenstütze lehnt sie sich zurück und schließt ihre Augen.

Oh mein Gott! Das ist ja… unbeschreiblich!

Noch nie zuvor hat sie mit Wasser eine derartige körperliche Erfahrung gemacht. Noch nie hat ihr Wasser ein derart angenehmes, entspannendes und wohlriechendes Erleben beschert. Bisher kannte sie Wasser nur im unsäglichen Übermaß, das ihr ganzes bisheriges Leben bestimmt hatte. Ist mein Verhältnis zum Wasser für mein bisheriges Leben verantwortlich? Sind wir in Distremien deshalb so abgestumpft? Sind alle Distremier deshalb so apathisch, desinteressiert und teilnahmslos geworden? Macht das triste Grau so spröde, unempfindlich und gefühllos?

Die Helligkeit ihrer jetzigen Umgebung, die Ruhe und der Frieden um sie herum – das alles ist so fremd, so andersartig, so gegensätzlich zu ihren bisherigen Kenntnissen. Sie befürchtet noch immer, jeden Augenblick in ihrem Bett auf dem Strohlager in ihrem Elternhaus zu erwachen. In der ewigen Feuchtigkeit, der ständigen Dunkelheit, der unaufhörlichen Angst.

Das hier… kann doch nicht die Wirklichkeit sein!?

Noch immer sitzt sie mit geschlossenen Augen im Sprudelbad und genießt die sanfte Strömung, die ihren Körper unablässig liebkost.

Wie sehr wünscht sie sich, ihre jüngeren Geschwister bei sich zu haben; dass Großvater dieses wunderbare Erlebnis mit ihr teilen könnte, dass sie allen Freunden und Bekannten zurufen könnte: Schaut her! So friedlich, so ruhig und so sanft kann das Leben sein!

Und dann – wie aus dem Nichts – taucht plötzlich das harte Gesicht der schrecklichen Lehramtsperson in ihrem inneren Blickfeld auf: Die kalten Augen, die verkniffenen Gesichtszüge, die gefühllose Stimme, die mitleidlosen Befehle. Und Jenna fühlt die kalte Angst im Klassenraum, die alles Leben, jedes Lachen, jeden Frieden erbarmungslos stranguliert.

Wir würde diese böse und grausame Frau auf ein Erlebnis wie dieses reagieren? Würde sie das sprudelnde, lebhafte, schäumende und die Sinne anregende Gefühl überhaupt ertragen? Würde sie nicht vielmehr mit ihrer herrschsüchtigen Stimme befehlen, sofort das Wasserbecken zu leeren?

Existieren solche Annehmlichkeiten überhaupt in meiner Heimat? Nie hat jemand darüber berichtet. Keiner hat je davon erzählt. Selbst in den herrschaftlichen Häusern gibt es solche Einrichtungen wohl nicht.

Ganz langsam klettert sie aus dem Pool, trocknet sich mit den weichen Handtüchern, die überall verstreut auf den Liegen im Schwimmbad herumliegen, ab und schlendert zum Entspannungsareal. Überall trifft sie auf kleine Hinweisschilder, so dass sie den Weg ohne jedes Problem findet.

Die große Glastür gleitet lautlos zur Seite und sie erkennt die Räumlichkeiten von ihrem morgendlichen Rundgang wieder.

„Schön dich zu sehen, Jenna“, begrüßt die junge Frau sie, die sie am Vormittag herumgeführt hat. „Hast du dich schon ein wenig eingelebt? Geht es dir gut?“

Es war ihr zwar peinlich, aber sie musste fragen: „Bitte entschuldige, ich habe deinen Namen vergessen.“

Das strahlende Lächeln der jungen Frau beeindruckt sie. „Sei geduldig mit dir. Nach so kurzer Zeit könnte ich mir auch nicht alle Namen merken. Ich bin Nora.“

„Ach, ja!“, erinnert sie sich. „Ariane hat mir empfohlen, mir eine Fuß... Massage… geben zu lassen. Aber… wenn es nicht passt, dann… kann ich auch gerne… später wiederkommen.“

„Nein, nein!“ Nora macht eine einladende Handbewegung. „Komm ruhig herein. Ich habe Zeit. Und die Fußreflexzonenmassage wird dir gut tun, da bin ich ganz sicher.“

Jenna folgt der Frau in dem lilafarbenen, langen Kleid.

„Was weißt du über diese Art der Massage?“, fragt Nora. Sie stehen in einem Zimmer, in dem eine weich gepolsterte Liege die gesamte Mitte des Raums einnimmt. Als Jenna nicht reagiert, fragt sie weiter: „Darf ich dir die Zusammenhänge erklären?“

Jenna nickt und Nora schaltet mit einer Handbewegung einen wandgroßen Monitor ein, auf dem die Zeichnung eines menschlichen Körpers erscheint. Unterhalb der großen Abbildung befindet sich eine Darstellung der Fußsohlen, auf der lauter farbige Punkte eingezeichnet sind. Von den Punkten gehen Linien aus, die auf Körperregionen verweisen.

Nora zeigt auf die Punkte. „Schau, Jenna, es gibt ganz bestimmte Stellen an unseren Füßen, die mit ganz bestimmten Organen in Verbindung stehen. Durch die Massage dieser Punkte, können wir die Funktion der damit verbundenen Organe gezielt anregen. Und wir können durch eine entsprechende Massage das allgemeine, körperliche Wohlbefinden steigern.“

„Und das tut ganz bestimmt nicht weh?“ Jenna bleibt skeptisch.

„Das verspreche ich dir“, erwidert Nora mit einem Lächeln. „Im Gegenteil. Meist ist es so, dass diejenigen, die eine solche Massage ein einziges Mal ausprobiert haben, gar nicht genug davon bekommen können. Vor allen Dingen… wir fangen immer mit dem allgemeinen Wohlbefinden an, bevor wir uns gezielt irgendwelchen Organen zuwenden. Und das tun wir nur nach Rücksprache mit Bettina.“

Noch immer ein wenig skeptisch und mit gemischten Gefühlen klettert Jenna auf die Liege und streckt sich aus.

Nora zieht einen Schemel auf Rollen an das Fußende, setzt sich und greift nach einem Tiegel.

„Kannst du ein wenig näher zu mir rutschen?“, bittet Nora. „Dann komme ich besser an deine Füße. Zuerst creme ich die Füße mit einer Lotion ein.“

Wie von Nora gewünscht, rutscht Jenna ein wenig tiefer.

Die Creme tut gut und Noras Hände bearbeiten ihre Füße behutsam, sachte und sehr gefühlvoll.

„Du kannst dich entspannen, Jenna“, hört sie die Frau.

Die hat gut reden, denkt sie. Das muss ich erst noch lernen.

Doch nach wenigen Minuten merkt sie, wie gut ihr die Fußmassage tut. Es gibt auch nicht das kleinste Unbehagen, nicht den geringsten Schmerz. Nur ein Rundum-Wohlgefühl, das sie in dieser Form noch nie zuvor erlebt hat. Wieder fühlt sie ihre meine Müdigkeit, ihre Erschöpfung und auch ihre Kraftlosigkeit.

*

Als Jenna erwacht, braucht sie einen Augenblick, um sich zu orientieren. Ja, sie war wohl eingeschlafen. Sie schlägt die leichte, weiche Decke zurück und setzt sich langsam aufrecht.

 „Geht es dir gut, Jenna?“, hört sie Nora fragen und dreht sich um.

„Oh ja“, kann sie nur sagen und schaut in die strahlenden, braunen Augen der Masseurin. „Das war wunderbar, einfach wunderbar.“ Da sie ja nicht bezahlen kann, fragt sie sich, was sie jetzt tun soll. „Ich weiß gar nicht, wie ich dir dafür danken soll.“

„Oh“, entgegnet Nora, „ich habe zu danken.“

„Du?“ Jenna fasst es nicht. „Du… mir?“

„Ja. Du hast mir die Gelegenheit gegeben, dir etwas zu geben, das dir offenbar gut getan hat. Du hast mir die große Freude bereitet, dir ein Geschenk überreichen zu dürfen. Es gibt für uns Pakenianer nichts Schöneres, als jemandem zu begegnen, der ein Geschenk annimmt, das von Herzen gegeben wird.“

Wieder versteht Jenna kein Wort. „Wie meinst du das? Ich verstehe das nicht. Wenn du mir ein Geschenk machst, dann bin ich doch diejenige, die dankbar sein muss. Du hast mir doch etwas Gutes getan.“

Nora setzt sich vor sie auf den Drehhocker und ergreift ihre beiden Hände. „Ja, Jenna, so kannst du es sehen. Wir sehen es umgekehrt. Was nützt es, wenn jemand eine Gabe anzubieten hat, aber niemand nimmst sie an? Was, wenn du jemandem helfen willst, der deine Hilfe nicht annimmt? Was würde ich mit meiner Fähigkeit anfangen, anderen durch meine Fußmassage ein Wohlgefühl zu ermöglichen, aber niemand will diese Fähigkeit in Anspruch nehmen? Ich könnte nichts von dem geben, was ich so gern geben möchte, wenn nicht jemand da ist, der mein Geschenk annimmt. Siehst du, dass ich dir dafür danke, dass du mein Geschenk annimmst? Dein Annehmen bereichert mich. Ich fühle mich bestätigt, anerkannt und nützlich. Dein Annehmen gibt meinem Tun erst einen Sinn. Du gibst mir damit einen Wert, eine Bedeutung.“

Jenna kann kaum glauben, was sie gerade hört. „Aber… aber was ist, wenn jemand das zwar annimmt, aber es für selbstverständlich hält? Wenn er es gar nicht zu schätzen weiß? Oder es vielleicht sogar abwertet?“

„Dann tut mir dieses Menschenkind sehr leid.“

„Tut dir leid? Aber wieso?“

„Wie gering muss sich dieser Mensch schätzen? Welch ein angeschlagenes, geringes Selbstwertgefühl muss er haben?“

Nein, Jenna versteht kein Wort. „Bitte, Nora erklär mir das. Ich kann das nicht nachvollziehen.“

„Ja, Jenna. Ich weiß, dass das für Distremier sehr schwer zu verstehen ist. Schau… jeder Mensch, wirklich jeder, hat Fähigkeiten und Talente; irgendetwas, was er gut kann oder woran er Interesse hat. Er hat Talente – vielleicht, ohne es zu wissen, weil er sie noch nie ausprobiert hat. Es geht darum, diese Talente, diese vielleicht noch unentwickelten Fähigkeiten zu entdecken. Ja, es geht darum, das Gute, das Positive, das Schöne, das Erfreuliche in sich selbst zu sehen und zu entwickeln. DAS gibt ihm Selbstvertrauen, Selbstsicherheit und ein wahres Selbstwertgefühl. Jeder hat einem anderen etwas zu geben. Wirklich jeder!“

Jetzt muss das Mädchen heftig seinen Kopf schütteln. „Ich weiß mit Sicherheit, dass ich garantiert nichts zu geben habe, was anderen hilft.“

„Bist du sicher?“ Nora lächelt. „Ich bin anderer Meinung.“

Das kann einfach nicht sein!

„Schau“, fährt Nora fort, „allein deine Wertschätzung und deine Dankbarkeit für das, was wir zu geben haben, sind Zuwendungen, die du reichlich in dir trägst. Du brauchst sie nur zum Ausdruck zu bringen und berührst damit die Herzen derer, denen du begegnest.“

Jenna spürt, wie ihr die Tränen in die Augen schießen.

Nora drückt ihre Hände. „Ich bin absolut sicher, dass du noch viel, viel mehr Talente in dir trägst, die nur darauf warten, von dir entdeckt zu werden. Und je mehr du davon entwickelst, desto besser fühlst du dich; desto schneller wächst auch dein Selbstvertrauen und dein Selbstwertgefühl.“

Das Mädchen sieht sich nicht in der Lage, auf das zu reagieren, was Nora gesagt hat. Nein, es ist sicher, dass sich Nora irrt. Was soll sie, die heimatlose Flüchtlingsfrau schon zu geben haben?

Nachdenklich kehrt sie in ihr Zimmer zurück und lässt sich auf das Bett fallen. Nein, Nora musste sich irren. Und dennoch… was hatte sie nicht alles in der kurzen Zeit in Pakenia erlebt? Ja, noch immer meint sie, zu träumen. Noch immer befürchtet sie, bald aus einem wunderschönen Traum zu erwachen und sich auf ihrem feuchten, kalten Strohlager wiederzufinden; das magere Frühstück stehen zu lassen, in den schrecklichen Schulbus mit den Traktorrädern steigen zu müssen und mit gesenktem Kopf und mucksmäuschenstill in der Schulbank zu hocken, nur um von der kaltherzigen Lehrerin gedemütigt zu werden.

*

*

*

Kapitel 9 - Lydia

 

Es beginnt zu dämmern, als Lydia das Klimazentrum erreicht. Vor dem großen Konferenzsaal trifft sie auf Derek, ihren Lebensgefährten. Er umarmt sie innig und sie sieht seinen liebevollen Blick.

„Wie geht es dir, meine Liebste?“

„Wenn ich bei dir bin, kann es mir nur gut gehen.“

Seine tiefblauen Augen scheinen sie zu mustern. „Du siehst ein wenig abgespannt aus. Was ist passiert?“

Behutsam nimmt er ihren Arm und führt sie in einen kleinen Nebenraum, der ihnen die Privatsphäre erlaubt, die Lydia gerade benötigt.

„Es geht um Theresa und die junge Flüchtlingsfrau, die vor ein paar Tagen aus Distremien angekommen ist.“

„Was ist mit ihr?“

„Nun ja… ich ahne, dass mit ihr ein neues Kapitel in Pakenia beginnt. Sie hat eine ganz besondere Bedeutung für uns und unsere Entwicklung als Volk.“

„Oh!“ Derek runzelt die Stirn. „Das hört sich sehr ernst an. Müssen wir besondere Vorkehrungen treffen?“

„Nein, mein Schatz.“ Lydia schüttelt den Kopf. „Wir sollten nur möglichst umgehend Informationen sammeln und aus den gewonnenen Daten unsere Schlüsse ziehen.“

„Das würde zu meinen Beobachtungen passen“, bestätigt Derek. „Über Distremien braut sich etwas zusammen. Unsere Messdaten zeigen ungewöhnliche, energetische Aktivitäten, die negative Auswirkungen auf unsere Schutzschilde anzeigen.“

„Konrad hat ebenfalls von ungewöhnlichen Erlebnissen berichtet“, fügt Lydia hinzu. „Und er als Leiter der Visionsgruppe ist uns meist einen Schritt voraus.“

„Dann wird auch Pilar anwesend sein, nicht wahr?“ Derek erhebt sich. „Komm, wir wollen sie nicht warten lassen.“

Lydia hält ihren Mann am Arm fest. „Warte, Derek. Ich muss dir unbedingt noch etwas sagen, bevor wir rausgehen.“

Der hochgewachsene Mann mit den blonden Stoppelhaaren erschrickt sichtlich. „Lydia! Ist alles in Ordnung?“

Sie lächelt. „Ja, mein Schatz. Du kannst ganz beruhigt sein. Es ist… ich bin… schwanger.“

Derek braucht einen Moment, um das, was Lydia gesagt hat, zu erfassen. Dann geht ein Strahlen über sein Gesicht. „Oh, meine Liebste!“ Er nimmt sie zärtlich in den Arm. „Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich mich freue. Fühlst du dich wirklich gut?“

„Bis auf die morgendliche Übelkeit, ja.“ Sie lacht leise. „Aber das ist ja normal.“

„Normal schon“, bestätigt Derek. „Aber du hast sicher schon mit Bettina gesprochen, oder?“

„Nein.“ Lydia schüttelt den Kopf. „Ich wollte zuerst mit dir sprechen.“

„Heißt das…“ Derek war sichtlich fassungslos. „Heißt das, du warst noch nicht einmal im Pränatal-Zentrum?“

„Nein. Das habe ich für morgen auf meinem Plan.“

Derek nimmt sie an die Hand, zieht sie aus dem Raum und betritt mit ihr den großen Konferenzsaal. Alle warten auf sie.

„Schön, dass ihr da seid“, ruft Konrad. „Können wir anfangen?“

„Nein“, hält Derek den Sprecher der Visionsgruppe zurück. „Bevor wir anfangen, habe ich noch eine ganz erfreuliche Nachricht.“ Er holt tief Luft. „Lydia ist schwanger.“

*

Im Nu scharen sich alle Anwesenden um Lydia und beglückwünschen sie zu dem Ereignis.

„Was sagt Bettina?“, will Pilar sofort wissen, und Myra fragt: „Hast du dir schon deine Zusatzenergie geholt?“

„Hört zu, meine Lieben“, erwidert Lydia, „alle Termine sind gemacht. Ich wollte es euch eigentlich erst morgen sagen, aber Derek war schneller.“

„Willst du tatsächlich mit uns weitermachen?“ Konrad schaut Lydia erstaunt an.

Die Leiterin des Bildungsareals erhascht Konrads besorgten Blick. „Hey, Konrad, ich bin nicht krank, ich bin schwanger.“ Sie lächelt ihn an. „Ich weiß, dass du um mein Wohlergehen besorgt bist. Du warst schon immer mein Ersatzvater. Aber lass es gut sein. Ich komme bestens zurecht.“

Die hochgewachsene, hagere Pilar mischt sich ein. „Es warten unruhige Zeiten auf uns. Meinst du nicht, du solltest dich jetzt schonen? Du brauchst deine Energien jetzt für das Ungeborene.“

„Da bin ich ganz deiner Meinung, Pilar.“ Myrna nickt heftig. „Das schaffen wir auch ganz gut ohne deine intensive Unterstützung.“

Lydia schaut von einem zum anderen. „Ihr seid so lieb. Nur… diesmal ist die Situation eine andere.“

„Wie kommst du darauf?“ Konrad hakt sofort nach.

„Ihr habt doch mitbekommen, dass die junge Distremierin, diese Jenna, eine große Rolle in unserer Zukunft einnehmen wird, oder?“

Myrna schaut Lydia entsetzt an. „Die ist gemeint?“ Sie schüttelt den Kopf. „Ich fasse es nicht! Ich wusste zwar, dass die anstehenden Veränderungen etwas mit einer Flüchtlingsfrau zu tun haben, aber ich ahnte nicht, dass sie schon hier ist, hier in Pakenia.“

„Ich hatte auch keine Ahnung“, bestätigt Pilar. „Ich hatte ebenfalls gehofft, wir hätten noch etwas mehr Zeit.“

„Ich verstehe“, murmelt Konrad und streicht mit einer Hand sein weißes, kurzes Haar zurück. „Du und dieses junge Mädchen – ihr seid also die Hauptpersonen.“

„Wie bitte?“ Derek kraust die Stirn. „Ausgerechnet jetzt?“

Lydia erhebt die Stimme. „Freunde! Besinnt euch! Wenn es denn so sein soll, werde ich auch die Kraft und die Energie haben, meine Aufgabe zu erfüllen. Ihr wisst… nichts geschieht ohne die Zustimmung der beteiligten Seelen.“

Auf der Stelle verstummen alle im Raum.

„Du hast recht, Lydia“, meldet sich Konrad als Erster. „Bitte lasst uns in unsere innere Mitte, unseren inneren Frieden zurückkehren.“ Er wendet sich an Myra. „Was sagen unsere Freunde dazu?“

Myra versetzt sich unmittelbar in einen Entspannungszustand und gleitet innerhalb weniger Sekunden in Trance. Nach etwa zehn Minuten reckt sie sich und öffnet die Augen. „Unsere Freunde auf der anderen Seite der Nebelwand bestätigen, dass wir vor einer sehr großen Herausforderung stehen. Sie empfehlen uns, alle Informationen zu sortieren und zu strukturieren.“

„Das stimmt mit unseren Informationen überein“, bestätigt Konrad. „Unsere vordringliche Aufgabe ist es jetzt, Ruhe zu bewahren, in Kontakt mit unseren jenseitigen Freunden zu bleiben und mit ihnen gemeinsam einen Handlungsplan zu erstellen.“

Alle setzen sich an den großen Tisch.

„Okay“, beginnt Derek, „dann fange ich mal an. Wir haben festgestellt, dass unsere energetischen Schutzschilde an der Grenze zu Distremien ungewöhnliche Ausschläge anzeigen.“

„Und was bedeutet das?“, will Konrad wissen.

„Dass es Unruhen in Distremien gibt. Offenbar lehnt sich die Bevölkerung gegen das Regime auf – zumindest ein Teil davon. Für uns heißt das: Wir sollten unbedingt unsere Schutzschilde verstärken.“

„Aus welchem Grund?“, hakt Pilar nach.

„Wenn wir das versäumen, könnten Soldaten aus Distremien über die Grenze nach Pakenia gelangen. Ihr wisst, dass die Energieschranke bisher ausgereicht hat, das zu verhindern.“

„Das ist eure Aufgabe“, wendet sich Derek an Myra. „Ihr habt die energetischen Vibrationen im Visier, oder?“

„Natürlich“, antwortete Myra und sieht Derek mit ihren klugen grau-blauen Augen an. „Die Vibrationsmuster sind tatsächlich extrem unregelmäßig. Und wir sollten uns überlegen, wie wir vorgehen wollen, wenn diese Unregelmäßigkeiten sich weiter verstärken.“

„Vor allen Dingen dürfen wir die klimatischen Auswirkungen nicht unterschätzen“, ergänzt Derek. „Hatte Distremien schon bisher mit Wassermassen zu kämpfen, kommen gewiss schon bald heftige Gewitter und Hagelstürme hinzu. Und ich weiß nicht, ob wir diese Wassermassen noch gezielt steuern können. Ich kann nicht ausschließen, dass unser Klima beeinträchtigt wird.“

„Und genau an dieser Stelle kommt die junge Flüchtlingsfrau ins Spiel.“ Pilar sieht Lydia an. „Wieviel Zeit, glaubst du, braucht das Mädchen, um ihren LQ soweit anzuheben, dass sie für ihr Land tätig werden kann?“

Lydia denkt einen Moment nach. „Bevor wir überhaupt vom LQ sprechen können, müssen wir uns erst einmal um ihre Emotionale Qualität, ihre EQ kümmern. Der Liebes-Quotient kann erst Beachtung finden, wenn ihre EQ auf mindestens 30 angestiegen ist.“

Sie zögert. „Ich habe mit Theresa gesprochen. Sie möchte sich persönlich um Jenna kümmern. Deshalb bin ich überzeugt, dass sie rasche Fortschritte erzielen wird… zumal ich von Ariane weiß, dass das Mädchen wissbegierig und ungemein lernwillig ist.“

Myra nickt. „Ja, Jenna ist diejenige, die für uns den nächsten Entwicklungsschritt einläutet. Sie ist… eine Schlüsselfigur… auch für die Entwicklung in Distremien.“

„Okay“, erwidert Konrad. „Ich fasse zusammen: Die Unruhen in Distremien bedrohen auf lange Sicht, sofern diese Unbeständigkeiten anhalten, auch den Frieden in Pakenia. Die Entwicklung der Q-Werte der jungen Flüchtlingsfrau Jenna nimmt die oberste Priorität ein, weil sie eine Schlüsselrolle in der friedlichen Entwicklung beider Länder einnimmt. Sowohl unsere auditiven wie akustischen Helfer jenseits der Nebelwand werden uns mit Informationen auf dem Laufenden halten.“

Er wendet sich an Derek. „Du behältst die klimatischen Veränderungen und die Wirksamkeit der Schutzschilde im Fokus. Du, Pilar, verfolgst die energetischen Vibrationen über Distremien. Und du, Myra, verstärkst mit deiner Gruppe die Verbindung zu unseren akustischen Helfern, weil sie die direkteste Informationsquelle darstellen. Ich werde mit meiner Gruppe durch Kontemplation die Verbindung zu unseren Visionären intensivieren.“

Konrad schaut in die Runde. „Habe ich noch etwas vergessen?“

„Ja“, antwortet Lydia. „Wir sollten Jennifer bitten, ihre Gruppe zu aktivieren.“

„Natürlich!“ Konrad nickt heftig. „Wie konnte ich das vergessen? Jennifer sollte mit unseren Unterstützern auf dem Pyramiden-Hügel die Liebes-Energie kräftigen. Das wird unser aller Aufgaben wesentlich erleichtern.“

„Ich gebe die Informationen ins Fakten-System ein, damit alle Pakenianer wissen, was uns möglicherweise erwartet.“ Lydia, als Leiterin des Bildungsareals, ist schließlich auch für die lückenlose Information aller Bewohner verantwortlich. Absolute Offenheit, Transparenz und Ehrlichkeit bilden nun einmal die ehernen Fundamente des Friedens in Pakenia.

*

*

*

Kapitel 10 - Dana

Es musste eine schreckliche Explosion in Zwicras, der Hauptstadt Distremiens, gegeben haben. Dana rappelt sich hoch. Außer ein paar Schrammen am Rücken ist sie – Gott sei Dank – unverletzt geblieben. Nur wenige Augenblicke später steht ihre ganze Familie im Hof. Ängstlich drücken sich Jörge und Dana an ihre Mutter. Theo starrt in den finsteren Nachthimmel, der wie immer unablässig seine Tränen über Distremien ausgießt. In dieser Nacht jedoch zeigt ein unübersehbarer Schein am Horizont, dass ein großes Feuer wüten musste.

Ein Feuer? Über der Hauptstadt? Nein, das kann nichts Gutes bedeuten.

Danas Vater scheucht seine Familie ins Haus. Mutter befüllt die Lampe mit ein wenig vom verbliebenen Rest aus der Flasche mit Petroleum, zündet den Docht an und stellt die Lichtquelle mitten auf den Tisch.

„Setzt euch“, fordert Theo seine Familie auf. „Ich muss euch was sagen. Seit Tagen wird gemunkelt, dass sich ein Teil unseres Volkes zum offenen Widerstand versammelt.“

Erschrocken schlägt Danas Mutter die Hände vor den Mund, als wollte sie sich das Sprechen verbieten. „Oh Gott!“, bricht es flüsternd aus ihr heraus. „Das wird Phalem, unser Präsident, niemals dulden. Es wird ein Massaker geben, wie es Distremien noch nie erlebt hat.“

Dana versteht nicht, was ihre Mutter meint. „Was heißt das für uns?“

Als hätten ihre Eltern sie nicht gehört, fährt Vater Theo fort: „Phalem wird toben! Er wird die gesamte Armee in Gang setzen und alle verhaften, die sich in seinen Augen verdächtig verhalten. Es wird einen Bürgerkrieg geben.“

„Was ist ein… Bürgerkrieg?“, fragt Jörge.

Die steile Falte auf der Stirn ihres Vaters lässt Dana frösteln. Nein, so kennt sie ihn nicht. Ihr Vater hat stets gehorsam und ergeben seine Pflichten erfüllt. Meist spricht aus seinem Gesicht Resignation, Hoffnungslosigkeit und Teilnahmslosigkeit. Zum ersten Mal kann Dana Widerwillen, Abscheu und Verachtung in seinem Gesicht erkennen.

„Bürgerkrieg, mein Junge, ist das Ende eines Leidensweges… unseres Leidensweges. Wenn ein Teil der Bevölkerung die Schinderei einer anderen Gruppe von Bürgern nicht mehr erträgt, beginnen sich die unterdrückten Menschen dagegen zu wehren.“

„Aber… warum tun Menschen das?“, fragte Jörge weiter. „Warum unterdrücken einige Menschen andere?“

Dana sieht die Qual in den Augen ihres Vaters. „Ich weiß es nicht, mein Junge. Ich weiß es nicht.“ Theo stützt die Ellbogen auf den Tisch und vergräbt sein Gesicht in den Handflächen. Kaum hörbar wiederholt er: „Ich weiß es einfach nicht.“

Martha, Danas Mutter, schluchzt: „Was sollen wir tun, Theo? Was machen wir jetzt?“

Ihr Vater sackt in sich zusammen. „Oh, Martha. Ich habe keine Ahnung. Wir können nur beten. Beten, dass wir am Leben bleiben.“

Wutentbrannt springt Dana auf. „Beten? Beten? Zu wem? Zu einem Gott, der uns sowieso nicht hört? Wo ist dieser Gott denn die ganze Zeit? Warum hat uns dieser Gott so elendiglich im Stich gelassen?“

„Dana!“, ermahnt die Mutter sie. „Versündige dich nicht!“

„Versündigen? Was haben wir verbrochen, dass wir so viel Leid, soviel Elend und so viel Demütigungen ertragen müssen?“ Dana ist außer sich. Nie zuvor hatte sie gewagt, frei und ohne Angst, ihre inneren Gedanken und Gefühle verlauten zu lassen. Es war, als hätte die Explosion über Zwicras ihre Hemmungen mit weggesprengt.

Martha kann ihre Fassungslosigkeit nicht verbergen. „Kind! Was ist in dich gefahren? So darfst du nicht sprechen!“

„Und warum nicht?“ Dana spürt das Brennen in ihrem Gesicht. „Warum darf ich nicht aussprechen, was wir alle denken und fühlen?“

„Setz dich“, bittet Theo seine Tochter. „Wir müssen jetzt einen klaren Kopf behalten. Es nützt nichts, wenn wir unseren Gefühlen, unserer Wut und unserem Unmut freien Lauf lassen. Das könnte uns in Teufels Küche bringen.“

Dana bleibt stehen. „In Teufels Küche? Sind wir nicht schon viel zu lange in der Hölle? Oder nennst du unser Leben etwa lebenswert? Wir schuften in den herrschaftlichen Häusern für einen Hungerlohn, folgen gehorsam den Anordnungen der Regierung und gehen pflichtgemäß jeden Sonntag in die Kirche.“ Sie holt tief Luft, stützt ihre Hände auf den Tisch und beugt sich vor. „Und wofür? Sag es mir, Vater. Wofür?“

„Kind!“ Theos Angst erreicht seine Tochter. „Dana! Wir gehören ohnehin schon zum Kreis der Verräter, zu denen, die im Verdacht stehen, gegen die Regierung aufzubegehren. Jenna hat… Wir müssen jetzt ganz besonders loyal gegenüber Phalem sein.“

„Was sonst?“ Dana spürt ihren geballten, inneren Widerstand. „Was sonst, Vater? Wie viel schlimmer kann es noch werden? Wir haben kaum noch zu Essen, keine Arbeit mehr, Jörge wird verprügelt, gedemütigt und man versucht alles, um ihn kleinzukriegen, seinen Willen zu brechen, ihm jedes Gefühl auszutreiben. Also – was kann uns noch passieren?“

„Der Tod, Dana“, flüstert ihre Mutter. „Der Tod. Wenn wir uns jetzt öffentlich gegen Phalem stellen, werden wir alle sterben.“

„Pah!“ Danas Empörung bricht ungehindert aus ihr heraus. „Wir werden auch sterben, wenn wir uns nicht gegen Phalem stellen. Wir werden schlicht und ergreifend verhungern. Also? Wir haben die Wahl zwischen dem langsamen, qualvollen Hungertod und dem schnellen Tod durch Phalems Gefolge.“ Verächtlich schaut sie auf ihre Mutter. „Ist das eine Alternative? Eine echte Wahl?“

Für einen Augenblick herrscht Totenstille in der Wohnstube des kleinen Hauses am Waldrand. Dana schaut in das zerfurchte Gesicht ihres Vaters. Der jahrelange Kummer hatte tiefe Einschnitte in seinem Gesicht hinterlassen. Seine Schultern hängen kraftlos herab, seine Brust ist eingefallen und sein Rücken ist gebeugt von der schweren Arbeit im Bergwerk.

Dana bedauert ihren Ausbruch. „Bitte entschuldige, Vater. Dich trifft keine Schuld. Ich weiß, dass du alles getan hast, damit wir überleben. Aber welche Möglichkeiten, welche Chancen hast du gehabt? Nein. Mein Ärger richtet sich nicht gegen dich. Ich bin unglaublich wütend auf… Jenna. Mit ihrer Flucht hat unser Leid erst wirklich begonnen.“

„Tust du ihr damit nicht Unrecht?“ Dana zuckt zusammen unter dem gequälten Blick ihres Vaters, der fortfährt: „Jenna trägt keine Schuld. Sie hat uns durch ihre Flucht nur vom Glauben an eine bessere Zukunft geheilt. Es ist ein Irrglaube, dem wir nachgelaufen sind, dass es eine Veränderung zum Besseren geben würde… irgendwann, in naher Zukunft, wenn wir uns nur genug anstrengen, wenn wir noch härter arbeiten, noch mehr unsere Pflichten erfüllen.“ Er seufzt. „Nein, Dana. Jenna hat uns die Augen geöffnet. Schon immer war das System in Distremien ungerecht, verlogen und auf Gewalt gegründet.“

„Aber wir hatten wenigstens genug zu essen“, gibt Martha zu bedenken.

Theo sieht seine Frau lange Zeit wortlos an, bevor er reagiert. „Ja, Martha, das hatten wir. Wir wurden auf die Stufe eines Tieres gestellt, dass gerade genug Futter bekommt. Und weshalb? Um dem System zu dienen, zu arbeiten, willfährig zu sein.“ Ein hartes Lachen kommt aus seinem Mund. „Seit Tausenden von Jahren funktioniert dieses System: Halte das Volk in beständiger Überlebensangst gefangen und es ist ganz leicht zu manipulieren. Es wird dankbar sein für jedes Stückchen Brot, das ihm zusätzlich gewährt wird.“ Nach kurzem Zögern fügt er hinzu: „Nur… das Volk darf diese Zusammenhänge auf keinen Fall durchschauen! Ihm muss das Muster verborgen bleiben, sonst… begehrt es auf.“

Er wendet sich an Jörge. „Das, mein Sohn, ist der Grund für einen Bürgerkrieg.“

„Ja“, bestätigt Dana. „Das ist schon immer so gewesen. Ich frage mich nur…“, sie zögert. „Warum lernt die Menschheit nicht aus der Vergangenheit? Warum macht sie immer wieder dieselben Fehler?“

Theo schüttelt den Kopf. „Nein, Dana. Das stimmt nicht ganz. Was in Distremien passiert, hat nichts mit der Menschheit an sich zu tun. Erinnere dich daran, was Großvater erzählte. Er hat uns von Pakenia berichtet, wo ein anderes System herrschen soll, eines, das menschlich, barmherzig und auf Liebe aufgebaut ist.“

„Glaubst du das wirklich?“ Dana zweifelt.

„Warum sollte Großvater uns belogen haben?“

Darauf wusste das Mädchen keine Antwort.

„Wurde er deswegen abgeholt?“, lässt sich Martha vernehmen.

Theo zuckt mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, Martha.“

„Vater?“ Dana denkt plötzlich an die Bücher, die sie unter Jennas Matratze gefunden hat. „Ich glaube, Großvater ist schuld, dass Jenna weggelaufen ist.“

„Wie kommst du denn darauf?“

Sie erzählt von den Büchern, holt sie aus ihrer Schlafstube und legt sie auf den Tisch.

Dana sieht, wie ein Lächeln über das Gesicht ihres Vaters huscht.

„Ich habe mich schon gewundert, wo sie geblieben sind“, antwortet er zu Danas Überraschung. „Darin habe ich schon als Kind geblättert. Ich konnte mich nie sattsehen an den Farben, den Bildern und den wunderschönen Landschaften. Dein Großvater, Dana, also mein Vater, war ein gebildeter Mann. Er war Lehrer von Beruf. Ein sehr guter Lehrer. Er verstand es, das Interesse seiner Schüler zu wecken. Wenn er von den überlieferten Legenden erzählte, war es mucksmäuschenstill im Klassenraum. Und wenn er die Bilderbücher herumreichte, konnten wir Kinder träumen; träumen und uns vorstellen, wie eine Welt ohne Dauerregen sein würde. Ja, er erreichte unsere Gefühle, unsere Begeisterung, unsere Innenwelt. Kinder können noch träumen, sie können noch innere Realitäten entdecken. Aber nur so lange, bis ihnen beigebracht wird, dass solche Realitäten nicht existieren, dass sie Hirngespinste, krankhafte Auswüchse der Phantasie sind.“

Dana runzelt die Stirn. „Wenn ich nach draußen komme, sehe ich meine jetzige Realität. Ich sehe und fühle den Regen. Ich rieche den modernden Geruch des faulenden Holzes. Ich kann doch nicht behaupten, dass die Farben, die Landschaften, die Bilder in diesem Buch der Realität entsprechen!“

„Ich weiß, Dana. Ich weiß.“

*

*

*

 

Kapitel 11 - Ariane

 

„Heute ist es soweit.“ Ariane erhascht Jennas besorgten Blick. „Mach’ dir keine unnötigen Gedanken, Jenna. Du wirst Bettina mögen, glaube es mir. Sie ist eine von den Ärztinnen, die jeder sofort in sein Herz schließt.“

Als Jenna nicht reagiert, fährt Ariane fort: „Hast du Bedenken?“

„Nun ja…“ Die junge Frau zögert. „Ich kenne nur Ärzte, die mir gesagt haben, was ich zu tun habe, die mir ein paar Medikamente verschrieben und mich so schnell wie möglich wieder loswerden wollten.“

„Erzähl’ mir davon“, ermuntert Ariane sie und lässt sich in einen der Sessel nieder, die in Jennas Zimmer stehen.

Das Mädchen zuckt mit den Schultern. „Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Wenn jemand krank ist, macht er einen Termin im Krankenhaus. Da bekommt man einen Tag und eine Uhrzeit genannt, der oft erst Wochen später ist. Und wenn du dann immer noch krank bist, erzählst du dem Arzt, welche Probleme du hast. Wenn du Glück hast, untersucht er dich, was allerdings manchmal sehr schmerzhaft ist. Meistens bekommst du nur einen Zettel, auf dem ein Medikament aufgeschrieben ist. Damit gehst du dann in die Medikamentenabteilung im Krankenhaus. Da musst du meist lange warten, bis du drankommst. Wenn du wieder Glück hast, bekommst du die Pillen oder Tropfen, die dir vom Arzt verschrieben wurden, gleich mit. Sonst muss das Medikament erst besorgt werden und du musst dich ein paar Tage später wieder anstellen, um die Pillen abzuholen.“

Ariane ist entsetzt. „Und wenn jemand richtig krank ist?“

„Dann kommt er auf ein Zimmer im Krankenhaus und wird vom Arzt behandelt.“

„Das hört sich… schrecklich an; so kalt, so herzlos.“ Ariane ist erschüttert. „Wenn jemand krank ist, dann braucht er doch ganz viel Liebe, Aufmerksamkeit und Geborgenheit. Wer ist dafür in Distremien zuständig?“

Jennas Blick trifft Ariane in ihrem tiefsten Inneren. „Geborgenheit? Aufmerksamkeit? Liebe?“ Jenna schüttelt den Kopf. „Das gibt es nicht in Distremiens Krankenhäusern. Die sind derart überfüllt, dass man jeden Platz, der frei wird, schon für drei andere Kranke braucht.“

„Das ist ja… ungeheuerlich!“ Ariane findet kaum Worte. „Das hört sich nicht an wie ein Ort, an dem jemand gesund werden kann.“

Jenna hatte sich fertig angekleidet. „Lass uns gehen“, sagt sie und Ariane vernimmt die Angst in der Stimme der jungen Frau.

*

Kurze Zeit später sitzen sie in der gemütlichen Besucherecke in Bettinas Praxis.

Mit ihren kurzen, schwarzen Haaren und in ihrem bequemen, roten Jogginganzug sieht die Ärztin eher aus wie eine Sportlerin, die sich anschickt, eine Runde im Fitness-Zentrum zu verbringen.

„Schön, dass ihr da seid“, begrüßt Bettina die beiden. „Und ich freue mich ganz besonders, dich kennenzulernen, Jenna. Ich habe schon so viel Positives von dir gehört, dass ich wirklich neugierig auf dich bin. Hast du dich schon ein bisschen eingelebt? Gibt es etwas, das ich tun kann, damit du dich noch wohler fühlst?“

Ariane sieht Jennas erstaunten Blick. Das Mädchen bringt kein Wort hervor.

Mit einem offenen Lächeln fährt Bettina fort: „Du hast offensichtlich noch immer Bedenken, deine Befindlichkeit zu äußern. Das macht nichts, Jenna. Lass dir Zeit. Ich stelle mich ganz auf dein Tempo ein. Du bestimmst, ob, wie und wann es weitergeht. Wir sind dafür da, dich zu unterstützen.“

„Möchtest du etwas trinken?“ Ariane will unbedingt ihren Beitrag für eine entspannte Atmosphäre leisten. „Darf Sarah dir einen Apfelcidre bringen?“

„Nein, danke“, flüstert Jenna kaum hörbar. Sie zögert und schaut Bettina an. „Was… was machst du? Ich meine… was machst du… mit mir, wenn du mich untersuchst?“

Die Ärztin beugt sich vor. „Zunächst einmal, Jenna, mache ich gar nichts. Ich möchte, dass du mir von dir erzählst. Wenn du magst, kannst du mir auch von früheren Krankheiten erzählen oder ob dir im Augenblick etwas weh tut. Für mich ist wichtig, was du fühlst.“

Wieder schaut Jenna die Ärztin an. „Damit habe ich… die größten Schwierigkeiten. Ich bin es nicht gewohnt, meine Gefühle überhaupt zuzulassen, geschweige denn wahrzunehmen.“

Die Ärztin nickt. „Ich weiß, Jenna, dass das für Distremier das größte Hindernis ist, das sie in Pakenia zu überwinden haben. Aber… wie ich schon sagte… lass dir Zeit. Niemand kann seine Lebenszeit besser einsetzen als für die Heilung seiner Gefühle. Und du stehst ganz am Anfang. Bevor deine Gefühle heilen können, darfst du es dir erlauben, sie wahrzunehmen. Das ist der erste Schritt zur Heilung. Und wenn du das heute noch nicht kannst, ist das völlig in Ordnung.“ Bettina schaut das Mädchen an. „Darf ich dir eine Empfehlung geben?“

Jenna nickt wortlos.

„Du hast eine sehr entbehrungsreiche Zeit hinter dir. Das zeigt mir dein ganzer Körper. Du hast Untergewicht, eine blasse Gesichtsfarbe, deinem Haar fehlt der Glanz und an deinen Fingernägeln kann ich körperliche Mangelerscheinungen ablesen. Besonders deine Augen sind müde und glanzlos – ein untrügliches Zeichen für deine große Erschöpfung. Ich empfehle dir folgendes: Wenn du dich darauf einlassen kannst, untersuche ich dich – völlig schmerzfrei. Ich stelle fest, woran es dir körperlich fehlt und sorge für einen entsprechenden Ausgleich – in Form von Ernährungstipps, vorübergehenden Ergänzungsmitteln und natürlich ganz angenehmen, wohltuenden Körperbehandlungen.“

„Und die Untersuchung tut wirklich nicht weh?“, hakt Jenna sofort nach.

„Mit absoluter Gewissheit!“, versichert Bettina der jungen Frau.

Ariane sieht die Angst in Jennas Augen.

„Wenn ich dich bitte aufzuhören“, bohrt Jenna weiter, „hörst du dann auf?“

„Das verspreche ich dir.“

„Kann ich mich darauf verlassen?“

Bettina beugt sich vor. „Schau mich an, Jenna. Hat dir irgendjemand seit deiner Ankunft wehgetan? Dich verletzt? Dich belogen oder betrogen? Hat sich dir jemand unanständig genähert? Oder beleidigt?“

„Nein, nein!“ wehrt das Mädchen heftig ab. „Es ist nur… ich werde weder meine Angst, noch mein Misstrauen los.“

„Wäre ich in Distremien groß geworden“, erwidert die Ärztin, „ginge es mir gewiss nicht anders. Aber glaube mir, Jenna, wenn du dir ein bisschen Zeit gibst, wirst du diese beiden Quälgeister los. Hab den Mut, dich auf uns einzulassen. Tu dir selbst den Gefallen, die Angst loszulassen. Es lohnt sich.“

Jenna überwindet ihre Angst. „Na gut. Du darfst mich untersuchen. Aber wenn ich Stopp sage, hörst du sofort auf. Einverstanden?“

„Einverstanden.“

Die Untersuchung dauert nicht lange und Bettina fasst schließlich zusammen: „Derzeit kann ich keine besorgniserregenden Symptome erkennen. Hat es dir wehgetan?“

„Überhaupt nicht.“

„Ich halte allerdings eine Blutuntersuchung für dringend erforderlich. Hast Du Angst vor Spritzen?“

„Nicht wirklich, sofern du nicht mehrfach stechen musst.“

„Ich mache es so behutsam wie möglich.“

„Wie lange dauert es, bis die Ergebnisse vorliegen“, fragt Ariane.

„Spätestens morgen.“

Der kleine Piekser scheint Jenna tatsächlich nichts auszumachen, stellt sie erleichtert fest.

Nach dem Austausch weiterer Nebeninformationen, verlassen Ariane und Jenna die Praxis und kehren zum Empfangsareal zurück.

*

*

*

Kapitel 12 - Dana

 

Der Druck auf ihre Familie, stellt die 14jährige Dana fest, nimmt immer weiter zu.

Sie selbst muss täglich zur Schule. Jörge in den Kindergarten. Obwohl sie jede Nacht mit den Überfallartigen Kontrollen durch die Soldaten konfrontiert wird, erscheint sie pünktlich in der Schule. Nein, sie wird der Schulverwaltung garantiert keinen Anlass geben, ihr eine Schulverweigerung anzukreiden, noch bringt sie ihre Eltern in Erklärungsnot.

Jeder in Distremien spürt die Veränderung, die im Land vor sich geht. Alle wissen, dass es in der Bevölkerung rumort. Der Widerstand gegen die Regierung wächst. Aber… es gibt keine offene Revolte. Die Regierungsgegner haben sich auf passiven Widerstand eingeschworen. Phalem und seine Regierungsbeamte finden deshalb keinen Angriffspunkt, um die Gegner zu verhaften und einzusperren.

Als ein Munitionsdepot in die Luft fliegt, ruft Phalem den Ausnahmezustand aus und verfolgt jede noch so kleine Spur, um die ‚Terroristen‘ zur Strecke zu bringen.

Ohne Erfolg!

Dass der Notstand genau das ist, was die Widerstandskämpfer erreichen wollten, ist dem Präsidenten erst klar, als die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung wegen des Ausnahmezustandes ihren Arbeitsplätzen fernbleibt.

Was Phalem völlig zur Verzweiflung bringt, ist der neue, noch nie dagewesene Zusammenhalt in der Bevölkerung. Plötzlich hilft jeder jedem. Die Grundversorgung in Distremien gerät aus den Fugen. Keine LKW-Fahrer mehr; keine Bauarbeiter mehr; keine Dienstleister mehr.

Das bringt natürlich die reichen Gutsbesitzer auf den Baum. Keine Leute mehr, die die Ställe ausmisten, das Vieh versorgen und – die Kühe werden nicht gemolken.

Theo macht sich die Situation sofort zunutze. Seine Nachbarn versorgen seine Familie mit Essbarem – er sorgt für Kohle aus dem Bergwerk zum Heizen.

Als das große Kraftwerk südlich von Zwicras durch Sabotage stillgelegt wird, aktiviert Phalem seine Streitkräfte und alle Reservisten. Wird es einen Bürgerkrieg geben? Werden die Soldaten und Reservisten auf die eigene Bevölkerung schießen?

Dana ist erleichtert, dass endlich die nächtlichen Überfälle ausbleiben. Die ungehobelten Kerle werden jetzt wohl für andere Aufgaben gebraucht.

*

*

*

Kapitel 13 - Lydia

Mitten in der Nacht schreckt Lydia hoch.

Impressum

Texte: Karin Welters
Bildmaterialien: Karin Welters
Cover: Karin Welters
Lektorat: Karin Welters
Korrektorat: Karin Welters
Satz: Karin Welters
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2018

Alle Rechte vorbehalten

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