Cover

Bruders Reise

Ein Roman von Karin Welters -

 

 

Prolog

 

Dieser Roman ist aus Textfragmenten entstanden, die Anton-Andreas Guha verfasste, aber nicht als vollständigen Text hinterließ, der veröffentlicht werden konnte. Zu viele Seiten fehlten, Lücken mussten geschlossen werden und das Ende sogar erst noch geschrieben werden – einschließlich intensiver Recherche, um das Ende der Geschichte in eine schlüssige Zeitangabe einzubetten. Insofern lieferten die Fragmente eher einen Denkansatz, denn ein veröffentlichungsreifen Text.

 

Nie hätte ich geglaubt, was diese Textfragmente

 

 – Bruders Reise

 

mit mir und in mir anstellte.

 

Als ich die Fragmente vor mir liegen hatte, begriff ich, dass hier tatsächlich ein Roman erst verfasst werden musste. Darauf war ich zwar nicht vorbereitet, sah mich jedoch durchaus imstande, der Herausforderung, daraus ein veröffentlichungsreifes Buch zu schaffen, gerecht zu werden. Aber… nachdem ich inhaltlich in die Textfragmente eingetaucht war, erlebte ich mich völlig verwirrt.

Konnte es reiner Zufall sein, dass ‚Bruders Reise‘ die Geisteshaltung von Hans Jonas, einem der bedeutendsten jüdischen Philosophen und Literaten mit Mönchengladbacher Wurzeln, auf frappierende Weise widerspiegelte?

War es reiner Zufall, dass mich das Geschriebene von Toni Guha bis ins tiefste Innere berührte?

Mir schlaflose Nächte bereitete? Mir? Einer Frau, die drei Kinder geboren hat und sich an acht Enkelkindern erfreut? Mir, die ich mit 66 Jahren glaubte, das Wesentliche im Leben begriffen zu haben?

 

Weit gefehlt!

 

Als Nachkriegskind, das von den Eltern im Sinne der Verdrängung, der Verleugnung und des Totschweigens über deren Erfahrungen zwischen 1933 und 1945 erzogen wurde, habe ich Filme und Berichte der Nazizeit zwar zur Kenntnis genommen, mich jedoch nie tiefgehend damit beschäftigt. Irgendwann erlebte ich eine Art innerer Sättigung der Thematik und schaltete ab, wenn es um die Geschichtsschreibung der NS-Zeit ging, zu der ich keinen Bezug hatte; die mich nicht berührte, mich irgendwie nicht betraf.

Und welche 17-Jährige interessierte dieses Thema in den 68ern? Die Woodstock-Berichte, die Beatles und die Flower-Power-Bewegung in San Francisco waren zu jener Zeit weitaus interessanter!

Und heute?

Was interessiert die heutigen 17-Jährigen?

Haben wir nicht genug andere Sorgen? Andere Schauplätze auf Erden, die unsere ganze Aufmerksamkeit verlangen?

Der schreckliche Syrien-Krieg; die Gräueltaten des so genannten IS; die unerträglichen Umstände, unter denen Frauen in Indien um ihre Daseinsberechtigung kämpfen – und oft mit dem Leben bezahlen; die Radikalisierung in Deutschland – scheinbar ausgelöst durch Flüchtlingsströme, die in den Menschen Ängste wecken – und von Demagogen aller Couleur skrupellos für eigene Zwecke gezielt geschürt werden? Und… und… und… Nigerias Boko Haram, Pulverfass Naher Osten, Brexit, Putschversuch in der Türkei, Griechenlands Eurokrise, die Krim-Annexion, Atomraketentests in Nord-Korea, das Wahlergebnis in den USA…

Und dann bohrt sich ein Stapel von Textfragmenten in mein geistiges Knochenmark. Von einem Autor, der 2010 verstarb.

Anton-Andreas Guha behandelt das Thema Nationalsozialismus aus einer Perspektive, die mich beim Lesen schon sehr bald an Berthold Brechts Mutter Courage erinnerte.

Brechts Absicht, dem „kleinen Mann“ nahezubringen, dass es niemals ein „Arrangement mit dem Krieg“ geben kann, übertrug Guha auf die Zeit des Nationalsozialismus. Brechts Theaterstück spielt Mitte des 17. Jahrhunderts – Guhas Romanentwurf im 20.  Jahrhundert.

Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass Bruders Reise ebenso den Weg auf die Bühnen der Welt findet.

Guha verlagert die Örtlichkeit zwar ins 20. Jahrhundert – aber mit derselben Botschaft, derselben Absicht und auf demselben Niveau wie Brecht.

Für mich ist Guhas Romanansatz Bruders Reise eine Art ‚Neuauflage‘ von Mutter Courage – mit anderen Schauplätzen, anderen Figuren – aber immer noch mit derselben Intention und derselben Botschaft.

Er ist aus meiner Sicht ein sehr würdiger Nachfolger Berthold Brechts, der – im Sinne von Hans Jonas – das beweist, was Jonas in seinem Hauptwerk >Das Prinzip Verantwortung< schrieb:

 

„Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“

 

In Bruders Reise erfährt der Hauptprotagonist diese Wahrheit und Weisheit unmittelbar, schonungslos und – im wahrsten Sinne des Wortes – viehisch am eigenen Leib: Die Wirkungen seiner eigenen Handlungen.

Lassen Sie sich berühren. Lassen Sie die Schrecken einer vergangenen, aber niemals zu vergessenden Zeit in sich erstehen. Die Wahrheit und Weisheit sowohl von Hans Jonas‘ Gedankengut wie auch dessen Umsetzung in Bruders Reise sollten meiner Meinung nach zur Pflichtlektüre in jeder Schule erhoben, gemeinsam gelesen und bearbeitet werden.

 

Lassen Sie sich auf Ihre beim Lesen aufsteigenden Gefühle ein!

Es lohnt sich!

 

In diesem Sinne lege ich Ihnen Toni Guhas letztes Vermächtnis, Bruders Reise, direkt ans Herz. Lassen Sie Ihren Intellekt erst in zweiter Instanz zu Worte kommen. Glauben Sie mir – es wird ihm (dem Intellekt) schwerfallen, angemessene Worte für Ihr Empfinden, Ihr Erleben aufzutreiben.

Guhas Denkansatz in Bruders Reise wird – genau wie Berthold Brechts Mutter Courage – noch in Jahrzehnten aktuell sein, denn… leider scheint die Spezies Mensch nicht bereit zu sein, aus vergangenen Fehlern zu lernen.

 

Ganz persönliche, herzliche Grüße an Sie

Karin Welters

 

Bruders Reise - Im Viehwaggon nach Auschwitz

 

Dr. Werner Bruder hatte es eilig. Bevor der Zug losfuhr, musste er unbedingt noch mit Wiesinger reden; ihn überzeugen. Er wusste, dass der Mann im letzten Waggon zu finden sein würde. Nur… er, der Gauleiter Dr. Werner Bruder, durfte bei seinen Kameraden und Untergebenen nicht auffallen – und schon gar nicht unangenehm. Seine Reputation als Obergruppenführer musste absolut unangetastet bleiben. Deshalb näherte er sich fast wie absichtslos dem Zugende; zumindest musste ein Beobachter diesen Eindruck haben Noch einmal sah er sich verstohlen nach allen Seiten um.

Der Gauleiter wartete noch ein Weilchen und trat dann umso hastiger an den offenen Waggon heran, in dessen Düsternis etwa 45 oder 50 Personen – eher mehr – nur schemenhaft zu erkennen waren. Sie sangen immer noch: „Leise zieht durch mein Gemüt, liebliches Geläute…“

An den Stimmen erkannte er, dass sich alle beteiligten: Männer, Frauen und Kinder. Offenbar hatten zumindest einige jetzt sogar Lust am Singen gefunden. Er schwang sich auf die Laderampe und stand auf dem Waggon. Für einen Moment brach das Singen ab, doch eine Stimme forderte energisch zum Weitermachen auf. „Nicht aufhören! Bitte, singt weiter!“

Und die Eingeschlossenen sangen. Der Gauleiter machte drei vorsichtig tastende Schritte in die Finsternis. Er berührte weiche Leiber, die seinen Stiefeln auszuweichen versuchten. Ein Mief waberte in diesem Kasten, obwohl doch die Türe die ganze Zeit über offen gestanden hatte. Er war unange­nehm berührt. Es roch nach Schweiß und auch nach Angst, nach mitgebrachtem Essen und Knoblauch, den er eigentlich schätzte. Aber hier – zum Kotzen. Na ja, Juden halt! Wie Vieh. Und nach Kuhscheiße stank es auch, zugegeben.

„Wiesinger?“, fragte er mit gedämpfter Stimme in das Dunkel hinein, doch die Leute sangen weiter. „Zieh hinaus bis an das Haus, wo die Veilchen…“

„Ist Dr. Wiesinger hier?“, rief der Gauleiter, diesmal schon lauter, allmählich unwirsch werdend. „So hören Sie doch mit der verdammten Singerei auf!“, zischte er mit kaum unterdrücktem Ärger in die Finsternis hinein. Mit Mühe konnte er an sich halten, seinen  Stiefel in einen dieser Leiber vor sich zu treten. Doch die Juden sangen weiter, als wäre er nicht da. „…wenn du eine Rose schaust, sag…“

Aus der Schwärze des hinteren Waggonteils tauchte plötzlich ein Schemen auf.

„Ich protestiere, dass wir in Viehwaggons abtransportiert werden“, sagte eine Stimme laut und fest. Der Gesang starb im Nu, im Waggon wurde es still. „Wir sind zwar Juden, aber kein Vieh, müssen Sie wissen, Herr Obergruppenführer.“ Es war Wiesinger, der, obwohl einen halben Kopf kleiner als Bruder, ganz nahe an ihn herangetreten war und ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust tippte. Das war trotz der Dunkelheit klar zu sehen. Der Obergruppenführer war über diese Respektlosigkeit zunächst eher verwirrt, konnte aber auf sie nicht angemessen reagieren, da er in höchster Eile war.

„Nun lassen Sie es gut sein, Wiesinger“, antwortete er abwiegelnd und um einen kumpelhaften Ton bemüht. „Kommen Sie doch bitte für eine Sekunde mit nach draußen, ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen, der Ihnen offensichtlich…“

In diesem Moment knirschten Stiefel auf Schotter, der Strahl einer Taschenlampe irrlichterte durch den Waggon und enthüllte für Sekundenbruchteile bleiche Gesichter mit großen Augen. Nur den Obergruppenführer erfasste der schwache Lichtkegel nicht.

„Auch den Herrschaften hier eine erholsame Reise!“, krächzte eine schon heisere Stimme. Dann ebenso heiseres Gelächter und die Ladentüre fiel ächzend ins Schloss. Sofort rastete der Hebel ein, ein endloser Pfiff aus der Trillerpfeife folgte.

„Fertiiig! Abfahreeen!“

*

Im Waggon herrschte totale Finsternis, die Hand war vor den Augen nicht mehr zu sehen. Man konnte sich selbst und die Anderen nur durch das Atmen wahrnehmen. Der Gauleiter und Obergruppenführer Dr. Werner Bruder verstand die Situation nicht sofort. Er glaubte für einige Sekunden, zu träumen. Totenstille im Raum, nur die Finsternis dröhnte in den Ohren. Erstaunen erfasste ihn, ja eine gewisse  ungläubige Heiterkeit, als führe man ihm eine Groteske vor, wobei man ihm aber zumutete, selbst dabei mitzuwirken. Für wenige Sekunden nur, die ihm aber wie eine Ewigkeit vorkamen, war er unfähig zu irgendeiner Reaktion. Das konnte im Ernst nicht möglich sein! Doch der Zug fuhr an, als hätten es die Lokführer nicht erwarten können, mit einem harten Ruck und begann, immer schneller zu rollen. Er musste Halt suchen, seine Arme ruderten durch die dicke Finsternis. Seine Rückenmuskeln krampften sich zusammen.

Dann endlich begriff er: die Rangierer!

Mit einem Aufschrei warf er sich gegen die Tür, wieder und wieder und diesmal rücksichtslos auf weiche Leiber und Gepäckstücke tretend. Er hämmerte mit beiden Fäusten gegen die dicken Bohlen. Aber mit seinen feinen Wildlederhandschuhen erzeugte er nur ein dumpfes Geräusch – zumal – auch die Juden jetzt, da sich der Zug klirrend zu einem drohend unbekannten Ziel in Bewegung gesetzt hatte, mit aufbrechender Angst gegen die Waggonwände schlugen.

„Aufmachen! Sofort aufmachen! Verdammt noch mal. Hier ist der Obergruppenführer Bruder. Der Gauleiter! Hören Sie, Sie Idioten! Aufmachen!“

Weil er glaubte, er könne noch um die Blamage herum­kommen und sein Gesicht wahren, auch vor diesem Pack hier, vermied er es zunächst, aus Leibeskräften zu brüllen, da seine Stimme dann so kastratenhaft schrill wurde. Andererseits hätten ihn seine Leute gerade an dieser unverwechselbaren Stimme erkannt. Schließlich begann ihn Panik zu erfassen. Er meinte, die Finsternis wie eine zähe, klebrige Masse greifen zu können. Das Lachen der drei Rangierer hallte noch in seinen Ohren nach. Die schienen sich amüsiert zu haben, so dass ein jüdischer Witzbold doch tatsächlich geschrien hatte, er sei der Obergruppenführer Dr. Bruder. Er musste tief Luft holen, während die Räder über die Weichen holperten. Doch gleich würde man den Perron des Nebengleises passieren, wo seine Männer noch stehen mussten.

Da packten ihn von hinten die Fäuste zweier starker Kerle und zerrten ihn energisch zurück. Gleichzeitig wurde ihm ein Taschentuch oder ein Schal auf den Mund gedrückt, zwar fest, aber doch eher rücksichtsvoll.

„Psst“, zischte eine Stimme an seinem Ohr. Es war wieder Wiesinger. „Seien Sie bitte ganz still! Es hört Sie ohnehin niemand. Also seien Sie vernünftig!“

*

Die Fäuste lockerten den Griff etwas und das Stück Stoff wurde von seinem Gesicht fortgenommen. Der Ober­gruppenführer keuchte vor Wut, mehr aber noch vor Überra­schung. Judenkerle hatten es gewagt, ihn anzufassen, ihn auch nur anzurühren. Fieberhaft versuchte er, seine Gedanken zu ordnen. Nur jetzt den Kopf nicht verlieren. Nur ruhig, ganz ruhig, redete er sich ein. Die Kontrolle behalten und kaltes Blut bewahren, vor allem keine Angst zeigen. Darauf warten die ja nur. Ich darf auch nicht um mich schlagen, sagte er sich. Haltung, Gelassenheit.

Die Absurdität seiner Lage verwirrte ihn. Und dazu kam plötzlich doch die Angst, ein Gefühl, das der Ober­gruppenführer schon längst zu empfinden verlernt hatte. Angst pflegte er – und das seit langem – immer nur bei anderen wahrzunehmen. Bei Reichsfeinden und Volksschäd­lingen, wenn sie zitternd und stotternd vor ihm standen, zuweilen freilich auch bei Untergebenen. Eine Angst, die ihm Lust bereitete.

Ich bin gefangen! Ich bin ein Gefangener dieser Juden. Ich bin ihnen ausgeliefert, auf Gedeih und Verderb! Er nestelte nach seiner Pistolentasche – und erschrak – sie war leer. Die Pistole war weg. Hatte er sie vergessen? Nein, ausgeschlossen, unmöglich. Also war sie ihm gestohlen worden. Die Judenkerle eben – und bei dieser Rangelei hatte er nichts bemerkt. Diese Schweine machen dich jetzt kalt, schoss es ihm durch den Kopf, als wäre der Gedanke bereits die Kugel. Er spürte den Angstschweiß kalt auf seiner Stirn. Dann aber wiegelte er wieder ab. Nein, sie werden es nicht wagen, einen Obergruppenführer der SS… Nein, das werden diese Knilche nicht wagen.

Aber warum nicht? Die Logik der Situation zwang sich ihm unerbittlich auf. Was haben die denn schon zu verlieren? Nichts, buchstäblich nichts. Die fahren eh ins Gas. Also werden sie dich doch kalt machen und ins Jenseits mitnehmen. Die wären ja bescheuert, wenn sie’s nicht täten. Und niemandem würde es weiter auffallen, denn bei der Ankunft in Auschwitz in drei oder vier Tagen würde es in diesem Zug viele Leichen geben.

Aber sie wissen ja gar nicht, dass es ihnen an den Kragen geht, sie vermuten es höchstens nur. Er griff wieder nach dem Strohhalm. Wenn sie es nicht wissen, werden sie sich hüten, dem Obergruppenführer Werner Bruder etwas anzutun. Doch weshalb hatten sie ihm dann die Möglichkeit genommen, sich bemerkbar zu machen? Aufs Neue schoss ihm ein heißer Schwall Angst in die Brust. Wollten sie ihn als Geisel behalten? Ihn gegen ihre Freilassung austauschen? Absurd. So naiv konnten die doch nicht sein. Die SS würde sich darauf nicht einlassen.

Er schnappte nach Luft, riss seinen Mantel auf. Dann nahm er sich zusammen und schüttelte die Fäuste von seinen Schultern ab. Er spürte indes keinen Widerstand. Man tat ihm nichts mehr. Er war wieder frei.

*

Der Zug befand sich auf freier Strecke und ratterte monoton dahin. Sonst war es still, niemand sprach ein Wort.

„Das werden Sie mir büßen“, zischte er wütend in die Finsternis, merkte aber gleich, wenn auch ärgerlicherweise zu spät, dass seine Drohung in dieser Situation albern wirken musste. Er erhielt auch keine Antwort, und so versuchte er, wenigstens halbwegs souverän zu erscheinen, obwohl ihn niemand sehen konnte. Aber das würde ihm helfen, seine Situation schonungslos und realistisch zu analysieren. Er würde sich auf alles, auf das Schlimmste, vorbereiten müssen. Den Tatsachen ins Auge sehen, wie hart und unbe­quem sie auch sein mochten – und dabei, natürlich, Haltung bewahren. Dieses Gesindel hier würde einen deutschen Obergruppenführer und Gauleiter erleben: mit tadelloser Haltung, auch und gerade im Angesicht des Todes oder – hier musste er schlucken, der Ehrlosigkeit.

Er beruhigte sich allmählich, zumal die Hoffnung aufzukeimen begann, dass man ihn ja bald vermissen würde und sich leicht ausmalen konnte, wo man ihn finden müsste. Das würde er diesem Gesindel schon beibringen. Doch halt, diese Vorstellung hatte, je intensiver er darüber nachdachte, wenig Beruhigendes an sich. Denn natürlich würde er vor seinen Kameraden und vor der ganzen Partei eine Erklärung benötigen, wie er denn in diesen Waggon geraten sei. Doch zunächst schob er diesen lästigen Gedanken beiseite. Das würde sich finden. „Soll ich denn die ganze Nacht hier stehen bleiben oder kann ich mich vielleicht setzen?“, fauchte er ins Dunkel.

Ein Feuerzeug flammte auf und eine Kerze, die in einem Glas steckte, wurde entzündet. Der Gauleiter erkannte allmählich in den großen, tanzenden Schatten des Kerzen­lichtes die Gestalten. Verwirrend viele waren es, die zwischen den Gepäckstücken auf dem Stroh kauerten oder lagen, Körper an Körper, bedeckt mit ihren Mänteln oder mit Decken. Es war kaum ein freies Fleckchen auszumachen.  Einige hatten nichts, womit sie sich gegen die Kälte schützen konnten. Sie hatten sich offenbar diesen Transport ganz anders vorgestellt. Jetzt hockten sie da, zitterten oder suchten notdürftig Unterschlupf unter einer fremden Decke. Was für eine Enge, dachte der Obergruppenführer befremdet, geradezu grotesk. Eine Sardinenbüchse war ja im Vergleich dazu der reinste Tummelplatz. Wieso hatte man das nicht bedacht? Warum hatte er sich das so nicht vorgestellt? Obwohl er doch, fiel ihm ein, heute Nachmittag ausdrücklich Befehl gegeben hatte, den Wiesinger-Waggon von der Durchschnittsbelegung auszunehmen.

Auch die Männer, die ihn vorhin gepackt hielten, hatten sich wieder auf der aufgeschütteten Streu niedergelassen, aber gestützt auf die Oberarme und wie zum Sprung bereit. Es waren die beiden Söhne Wiesingers, er kannte sie. Hochgewachsene, kräftige Kerle, gute Sportler, das musste man zugeben. Da der eine germanenblond war, der andere schwarzhaarig, rief man sie nur Totila und Teja. Diese Anspielung auf die beiden letzten Könige der Ostgoten hatte er einmal als sehr originell empfunden, jetzt kam sie ihm reichlich geschmacklos vor. Der Gauleiter sah die Augen auf sich gerichtet, und in jedem Auge flackerte eine winzige Kerze. Die Blicke empfand er diesmal fast wie lebendige Wesen, die ihn abtasteten, aber anders als der glasige, angedrillte Blick salutierender SS-Kameraden.

*

Ein paar Worte auf Hebräisch wurden halblaut gesprochen, dann erhoben sich einige Personen, andere rückten noch enger zusammen und machten so etwa zwei Quadratmeter in der linken hinteren Ecke des Waggons frei. Gleichzeitige kam die Kerze schwankend auf ihn zu, er konnte das Gesicht hinter dem Schein nicht sehen, fühlte sich aber voll angeleuchtet, weshalb er seine Schirmmütze mit dem Totenkopf-Abzeichen tief in die Stirn zog und ein trotziges, drohendes Gesicht zu machen versuchte.

„Sie können es sich dort in der Ecke bequem machen, Herr Obergruppenführer, so bequem es eben geht. Sie können sich bereits als privilegiert sehen, was den Platz betrifft“, sagte eine Männerstimme freundlich, doch dem Gauleiter entging ihr ironischer Ton keineswegs. Das Spotten wird dir bald vergehen!, drohte er stumm und dachte an den Führer, der in seiner letzten Rede diesen Satz fast wörtlich so gesprochen hatte, als letzte Warnung an das europäische Judentum.

„Übrigens, ich bin Robert Wiesinger, samt Familie hier präsent. Wir kennen uns ja.“

Verdammte Scheiße! So hatte er sich das Zusammentref­fen mit Wiesinger nicht vorgestellt. Geiselhaft! Wenn die versuchen sollten, ihn als Faustpfand zu benutzen… Unvor­stellbar, einfach unvorstellbar. Eine Kata­strophe, nicht nur für ihn, sondern auch für die SS und die gesamte Bewegung.

Für einen Augenblick hatte ihn wieder blankes Entsetzen gepackt. Er konnte Wiesinger nicht antworten, weil er keine Silbe hervorzuwürgen  in der Lage gewesen wäre. So tastete er sich an der Waggonwand entlang in die Ecke. Während er sich niederkauerte, bemerkte er, dass er tatsächlich viel Platz hatte, jedenfalls mehr als die anderen. Die nächste Person – Jacob, der älteste Sohn Wiesingers – lag etwa zwei Meter entfernt. Also doch Respekt!, dachte er mit Genugtuung. Oder Angst, was keinen Unterschied machte. Mögen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten.

*

Der Zug hatte jetzt Fahrt aufgenommen und der Gauleiter registrierte mit wachsendem Missbehagen, dass es durch die Ritzen und Luken äußerst unangenehm zog. Man konnte sich ja den Tod holen. Er schob sich die Mütze mit dem Totenkopf tief ins Gesicht, schlug den Mantelkragen hoch und vergrub die Hände in den weiten Taschen. Für einige Augenblicke überlegte er, ob er sich in der Mitte des Waggons einen Platz suchen sollte, verwarf aber diesen Einfall bald wieder. Hier lagen ja die Juden fast schon über­einander. Außerdem wäre er in der Mitte eventuellen Attacken wehrlos ausgeliefert. Wenn er nur seine Pistole hätte, gleichzeitig wusste er aber, dass ihm die auch nichts nutzen würde. Die Kälte kroch durch seinen dicken Mantel und seine Uniform, sein Kreuz wurde langsam steif und kalt. Er rückte etwas von der Wand ab und versuchte, Stroh zwischen seinen Rücken und die Waggonwand zu schieben. Das half etwas. Dabei hatte er das untrügliche Gefühl, dass alle ihn trotz der Finsternis aufmerksam beobachteten und registrierten, was er tat.

Er fingerte nervös das Päckchen Zigaretten aus seiner Manteltasche und steckte sich eine an. Im Schein der aufflackernden Flamme des Feuerzeugs fand er wirklich alle Augen auf sich gerichtet. Doch kaum hatte er den Rauch des ersten, tiefen Zuges ausgestoßen, kroch, behende wie ein Reptil, eine schwarze Gestalt durch das Stroh und über die Leiber auf ihn zu, um dann vor ihm aufzuspringen. Die Zigarette wurde ihm aus dem Mund gerissen.

„Das geht nicht, Herr Obergruppenführer“, zischte eine Stimme energisch, es war wieder einer der Wiesinger-Buben. „Das Stroh ist alt und trocken. Ein Funke – und alles steht in Flammen. Und dann holt uns hier keiner raus.“

Dem Gauleiter schoss die blinde Wut ins Gesicht. Das war zuviel! Sein Körper straffte sich, er sprang auf und trat mit voller Wucht in die Richtung, in der er diesen Judenlümmel vermutete. Gleichzeitig fuhr seine Rechte wieder zum Pistolenhalfter.

„Verdammter Hurensohn!“, schrie er außer sich in die Schwärze des Raumes hinein. „Was erlaubst du dir!“ Doch der Tritt ging ins Leere, ein nachfolgender Hieb ebenfalls. Die Waggonwand bewahrte ihn vor einem Sturz, und um sich herum bemerkte er die raschelnden Bewegungen der ausein­anderstrebenden Körper im Stroh. „Ihr habt doch auch eine Kerze angezündet vorhin, oder? Na, also. Verdammt! Was euch erlaubt ist, ist mir wohl auch erlaubt!“ Und während er schwer atmend seiner Empörung nachlauschte und dem pochenden Geräusch des Blutes in seiner Schläfe, kam eine Stimme aus dem Dunkel.

„Hier bestimmen ausschließlich wir, Herr Gauleiter. Bitte merken Sie sich das!“

Diese wenigen, trockenen Worte machten ihm seine Lage endgültig klar – und er hockte sich hin, von ihrer absurden Realistik überwältigt. „Schon gut“, murmelte er und schämte sich nicht einmal für diese beschwichtigende, weil seine Ohnmacht ausdrückende Bemerkung. Im Übrigen hatte der Kerl ja Recht. Rauchen während der Fahrt war hier tatsächlich lebensgefährlich.

Er spürte die Spannung im Raum und sie schien ihm jetzt bedrohlich. Er stopfte wieder Stroh zwischen Rücken und Wand und beschloss, morgen bei Tageslicht, wenn der Anblick seiner SS-Uniform und seiner hochdekorierten Gestalt mit dem EK ihre Wirkung täten, die Dinge hier zurechtzurücken. Er hatte noch nicht erlebt, dass eine SS-Uniform nicht ihre Wirkung getan hätte.

Aber das erzwungene Rauchverbot wurmte ihn doch mächtiger, als er sich eingestehen wollte. Es war demütigend. Neulich hatte er sogar in der Oper geraucht, einfach weil ihm danach war und keiner hatte auch nur mit einem Blick anzudeuten gewagt, dass er diese Eigenmächtigkeit als deplatziert empfände. Selbst seine Helene hatte nur angestrengt und schweigend durchs Glas auf die Bühne geblickt und so getan als merke sie nichts. Doch der Logen­portier hatte im Nu einen Aschenbecher herbeigezaubert.

Und jetzt diese Unverschämtheit, die ihn obendrein gewahr werden ließ, dass er Hunger hatte, gewaltigen Kohldampf sogar. Aber keine Aussicht, bis Auschwitz auch nur einen Bissen zu bekommen. Dieser Unannehmlichkeit versuchte er mit einem seiner praktischen Argumente zu begegnen, das er öffentlich, aber zuweilen auch gegenüber seinen Mitarbeitern, Kameraden und Parteigenossen gerne anzuführen pflegte: Nicht an sich selbst denken, sondern an unsere braven Soldaten an der Front! Die können sich jetzt auch nicht alle Wünsche erfüllen. Solidarisch sein! Der Weg zum Endsieg ist mit Entbehrungen und Verzicht gepflastert!

Wenn er gute Laune hatte und seine Gesprächspartner ihm vertraut waren, äußerte er gelegentlich die Überzeugung, dass Verzicht das Bewusstsein sogar erweiterte und daher Bestandteil der Erziehung sein müsste, zumindest aber der öffentlichen des Staates. Die Ausbildung in der Hitlerjugend orientierte sich an diesem Grundsatz. Im Übrigen war Fasten nicht nur gesund, es war auch gemeinschaftsstiftend. Alle Religionen wussten um diese Wirkung. Im Fasten waren alle gleich. Schließlich bewies auch die Evolution, dass Vielfalt und auch Schönheit nur unter der kreativen Herrschaft des Mangels gediehen. Und der war hier an der Front, an der vordersten sogar, wie die Soldaten in Russland. Sein Magen aber knurrte und nahm seinen Argumenten viel von ihrer Erhabenheit.

*

Unter dem monotonen Rattern der Räder begann sich die Spannung im Waggon etwas zu entkrampfen, offenbar stellte sich bei den meisten Müdigkeit ein. Es mochte auf 21:30 Uhr zugehen. Jetzt kam auch der Durst hinzu. Drei Tage und Nächte ohne Wasser! Ihn schauderte, weil er sich seinen Zustand vorzustellen versuchte, wenn sie in Auschwitz ankämen. Zwar hoffte er immer noch, war sich dessen sogar sicher, vorher aus seiner misslichen Lage befreit zu werden – irgendwann müssten die doch eine Kontrolle machen, der Ordnung halber, wozu fuhr denn schließlich Wachmann­schaft mit – aber wenn nicht, dann würde eine Jammerge­stalt, stinkend und gewandet in eine SS-Uniform, aus dem Waggon taumeln. Verdammt!

Weil es so finster war, hatte der Gauleiter die beiden Wasserfässer in der gegenüberliegenden Ecke noch nicht bemerkt. Und wieder solidarisierte er sich – nolens, volens – innerlich mit den Soldaten an der Ostfront. Aber wenigstens litten die keinen Durst, bei dem vielen Schnee und Eis in Russland!

Ich muss versuchen zu schlafen, beschwor er sich und wusste doch, dass an Schlaf nicht zu denken war. Er war innerlich immer noch zu aufgewühlt, sein Zorn auf sich selbst, seine Tollpatschigkeit, und die Wut auf die Juden­bagage bohrten in ihm. Aber auch die Angst ließ sich nicht einfach fortwischen. Wollten sie ihn wirklich kaltmachen?

Im Grund fürchtete er sich davor, seine Lage wirklich schonungslos zu analysieren, denn er hatte noch keine plausiblen Antworten auf unvermeidliche Fragen parat. Er war vollkommen verwirrt, es war ihm unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn, Alternativen zu entwickeln. In ihm nagte nur die Gewissheit, dass er selber nichts für seine Befreiung tun konnte. Er war dem automatisch ablaufenden Geschehen hilflos ausgeliefert. Vor allem aber empfand er seine Lage als unwürdig.

*

Vielleicht wäre es angebracht zu behaupten, das Juden­gesindel habe ihn unter einem Vorwand in den Waggon gelockt und auf diese Weise in seine Gewalt bekommen, als er den Transport inspizierte. In der Dunkelheit sei das niemandem aufgefallen. Aber warum war er denn alleine gewesen und hatte obendrein die Posten weggeschickt? Nun, alleine sei er nicht gewesen, könnte er dagegenhalten, da er ja die drei Rangierarbeiter unmittelbar hinter sich gewusst habe. Aber dieser Wiesinger ahnte doch, weswegen er gekommen war. Wenn der aussagte..., doch das ließe sich vielleicht noch verhindern. Dennoch fuhr seine Rechte plötzlich in den Mantel und an die linke Brusttasche. Dort steckte die Übereignungserklärung, die Wiesinger unterschreiben sollte. „Hiermit übereigne ich, Dr. Robert Wiesinger, mein Haus in der Savigny-Str. 114 samt dazugehörendem Grundstück an die Eheleute Johannes und Gerlinde Wolff, wohnhaft in...“

Die Eheleute Wolff waren seine Schwiegereltern und hatten an der Freundschaft zu den alten Wiesingers bis zu den spontanen Ereignissen im November 38 mit einer gewissen, in seinen Kreisen allmählich als peinlich geltenden Sturheit festgehalten.

Er hatte seine Helene bei den Wiesingers kennengelernt, da war er noch auf der Schule. Eine Traumvilla inmitten eines herrlichen Parks, eine der schönsten in der Stadt. Leider hatte er damals im November 38, zuviel Gefühlsduselei an den Tag gelegt. Eigentlich war es ja Helene gewesen, die ständig Bedenken äußerte, nachdem er seinen Plan – wegen der gemeinsamen Schulzeit mit Wiesinger und vor allem wegen der Jahre an der Westfront – immer wieder zurückgestellt hatte. Das war verdammt nicht leicht gewesen! Mit der Arisierung der Wiesingerschen Firma hätte man damals bequem und ohne viel Firlefanz auch an die Villa kommen können. Es gab eine Reihe von Parteigenossen, die waren clever gewesen und jetzt stolze Hausbesitzer. An die Wiesingersche Villa hatte sich aber niemand herangewagt, schon gar nicht, als er im Juli 39 Gauleiter geworden war. Als ob sie ihm den Vortritt lassen wollten. Jeder hätte es verstanden, wenn er zugelangt hätte. Doch dann war es zu spät, als Göring, ausgerechnet der, dieser wandelnde Christbaum, der jüdischen Besitz in ganz Europa zusammen­raffte, die Arisierung dem Innenminister übertrug und die Finanzämter Immobilien nur noch öffentlich versteigern durften. Gut, er hätte Mitbieter zur freiwilligen Aufgabe überreden können – trotzdem. Er wusste doch, was im Volk über die Parteibonzen und SS-Führer gedacht und gelästert wurde.

So hatte er sich dann eine feinere Methode ausgedacht, eine diskrete. Wiesinger hätte unterschreiben sollen bei der Zusicherung, bald wieder mit seiner Familie vom Arbeits­lager freizukommen und auswandern zu dürfen. Der Gauleiter war sich gewiss, dass die Juden, also auch die Wiesingers, immer noch keine Ahnung von dem hätten, was sie erwartete. Keiner wüsste, dass niemand je wieder zurückkehren würde, der einmal in einem solchen Zug gesessen hatte. Und einem Juden das Fell über die Ohren zu ziehen – was war schon dabei? Eine zulässige, sogar moralisch gerechtfertigte Handlung, die auch noch im nationalen Interesse lag. Persönliche Beziehungen durften da keine Rolle spielen. Das hatten die doch mit den Deutschen jahrhundertelang getan. Das war Wiedergutmachung, die der nationalsozialistischen Bewegung entsprach.

*

Doch der Obergruppenführer konnte ein ungutes Gefühl, das er als sentimentale Skrupel identifizierte, nicht loswer­den. Erinnerungen erzeugten eben auch Gefühle. Es fiel ihm schwer, sich jetzt, inmitten dieser verängstigten, übel riechenden, stummen Menschen – und vor allem in Gegen­wart Wiesingers – vorzustellen, dass er zu so einer Gemein­heit fähig gewesen sein sollte. Jude hin oder her, es war und blieb eine Gemeinheit.

Aber jetzt war der Wisch ohnehin wertlos. Der Gauleiter zog ihn aus seiner Brusttasche und begann ihn vorsichtig zu zerreißen, nachdem er eine Ritze ertastet hatte, die breit genug war, damit er die Papierschnipsel hindurchschieben konnte. Sollte der Jude Wiesinger es wagen, ihn, den Ober­gruppenführer und Gauleiter, zu bezichtigen, dass er ihn zur Unterzeichnung eines Übereignungsvertrages habe zwingen wollen – lächerlich!

Sie waren jetzt fast vier Stunden unterwegs, als der Zug seine Geschwindigkeit zu drosseln begann, weil er offenbar in einen größeren Bahnhof einfuhr. Sofort war Bruder wieder hellwach. Es war nicht auszuschließen, jedenfalls erhoffte er es sehnlichst, dass jetzt die Stunde seiner Befreiung schlüge. Sein Verschwinden müsste schon längst aufgefallen sein. Man würde ihn doch bereits überall suchen, mit dem ganzen bewährten Apparat, der jede Maus im Reich aufzuspüren in der Lage war, wenn es sein musste. Tatsächlich hielt der Zug, die Bremsen quietschten auf und die Waggons schoben sich polternd und ruckelnd aufeinander. Fahles Licht kroch durch die Fensterschlitze und Ritzen. Der Gauleiter war aufgesprungen und horchte angestrengt in die Nacht. Gleich würde er den entschlossenen Tritt einer Gruppe von SS-Kameraden vernehmen, dann harte Kommandos. Soldaten und Polizisten würden ausschwärmen und Posten vor den Waggons beziehen. Zumindest die Begleitmannschaften müssten doch jetzt Kontrollen machen und nach dem Rechten sehen. Er versuchte, durch einen der Sehschlitze zu spähen, konnte aber nichts erkennen. Keine Bewegung. Es gab aber die Hoffnung nicht auf. Die müssten jetzt die Waggontüren öffnen, damit sich die Leute die Beine vertreten konnten. Oder wenigstens eine Pinkelpause. Aber nichts. Zwar waren einige Rufe zu vernehmen, aber weit entfernt und unaufgeregt routiniert. Offenbar unterhielten sich einigen Soldaten aus der Begleitmannschaft mit den hiesigen Bahnhofsbediensteten. Keine SS-Männer, die einen Gauleiter und Obergruppenführer suchten. Aber suchten sie ihn überhaupt jetzt schon? Eigentlich konnte ihn ja niemand vermissen.

Der Obergruppenführer gab seine Überlegungen – und damit seine Hoffnungen – resignierend auf. Da war nichts zu machen, er musste Geduld haben. Ihm war es jetzt, als begegnete man ihm persönlich, ja diesem Judentransport insgesamt, offiziellerseits mit einer unangemessenen Gering­schätzung. Sein Eifer für die nationalsozialistische Bewe­gung wurde offenbar nicht ausreichend gewürdigt. Das irritierte ihn stärker, als er sich eingestehen wollte.

*

Das Keuchen der Lokomotive war schon von weit her zu hören, als wollte sie sich ausruhen. In den Waggons blieb es still. Ja, jetzt würde man ihn wahrscheinlich hören, wenn er laut riefe. Aber er hörte ein Rascheln in seinem Rücken, und als er den Kopf wandte, sah er zwei Schatten. Die beiden Wiesingers-Buben, offenbar die Aufpasser.

Enttäuscht verschränkte der Gauleiter die Arme hinter dem Rücken und versuchte, wenigstens gleichmütig und gelassen zu wirken. Haltung bewahren, keine Anzeichen von Schwäche zeigen. Darauf warteten die doch nur. Er wippte mit den Fußballen, was ihm als Ausdruck von drahtiger Souveränität erschien. Dennoch zuckte er zusammen, als er wieder diese flüsternde, aber eindringliche  Stimme, an seinem Ohr hörte: „Die machen die Waggontüren nicht auf, Herr Gauleiter. Machen Sie sich da keine Hoffnung! Denen ist es egal, ob wir hier drinnen krepieren oder an unserer Scheiße ersticken. Und Ihnen war es bis vor wenigen Stunden auch egal. Erst wenn wir das Ziel erreicht haben, werden die Hebel umgelegt. Für Sie könnte es dann eventuell die Freiheit sein, für uns nicht. Wir sind nämlich Untermen­schen, wie Sie zu sagen pflegen. Deshalb lassen Sie uns ja wie Vieh transportieren.“

Es war Wiesinger. Nur er nahm sich heraus, so mit ihm, den man im Gau ehrfürchtig den „Chef“ nannte, zu reden. Im schwachen Schein eines unruhigen Teelichts, das in einem Gurkenglas steckte konnte der Obergruppenführer das Gesicht nicht identifizieren. Eine bleiche Maske, von schwarzen Falten durchzogen. Die Augen, hinter kreisenden Schatten verborgen, erschienen wie Höhlen. Der Ober­gruppenführer erkannte Wiesinger aber an der Stimme. Der Großvater war in den 90-er Jahren des letzen Jahrhunderts aus München zugewandert und die Enkel hatten sich noch einen leichten bajuwarischen Akzent bewahrt. Früher war ihm gerade dieser feine Akzent als Erbe echten Deutschtums erschienen, sinnierte der Obergruppenführer, und diese Erinnerung irritierte ihn. Was er zu erkennen vermochte, war, das Wiesinger in einem dicken Mantel steckte, einen langen Schal mehrfach um den Hals gewunden.

Der Gauleiter war von Wiesingers Bemerkung unange­nehm berührt, weil er abermals nicht wusste, wie er reagieren sollte. Einerseits reizte ihn diese Unverschämtheit, diese mit Frechheit gepaarte Insubordination, zur Weißglut, anderer­seits verwirrte ihn dieser sarkastische Ton – ein Galgenhu­mor, der jene grundlose Gelassenheit an sich hatte, die er selber zu demonstrieren bestrebt war. Und was sollte das heißen, die Ankunft in Auschwitz „könnte eventuell“ seine Freiheit bedeuten? Das Judenpack müsste doch zittern bei dem Gedanken, lebend mit ihm am Ziel anzukommen.

„Sie werden doch nicht erwartet haben, hier Erster Klasse zu reisen, oder?“, blaffte er schließlich zurück, ohne den Kopf zu wenden, „Ich hatte im Übrigen mit der Zusammen­stellung der Transporte nichts zu tun. Das macht die Reichsbahn.“ Er log, denn natürlich war auch dafür die SS zuständig. Also er für seinen Gau. „Außerdem muss ich betonen, dass ich bisher noch keine Unkorrektheiten fest­stellen konnte.“

Da stockte ihm der Atem: Jawohl das war sie, die rettenden Idee! Er hätte über diesen spontanen Einfall jubeln können. Genau das war die Erklärung, die er brauchte: Er habe überprüfen wollen, ob die Judentransporte ordnungsge­mäß abgewickelt würden oder ob die hetzerischen Verleumdungen der Feinde des Reiches, allen voran des internationalen Judentums, etwas dran sei, die Deportierten würden bereits während des Transports schlimmer als Vieh behandelt. Kein Körnchen Wahrheit an dieser Behauptung, würde er festgestellt haben, alles blanke Hetze. Zwar reisten die Juden nicht auf Rosen gebettet ihrem Ziel entgegen, zugegeben, würden aber doch korrekt behandelt, dies habe seine höchstpersönliche Prüfung bewiesen.

Diese Variante würde er vortragen, wenn er diese Reise bis Auschwitz mitmachen müsste. Wenn sie ihn aber früher herauspauken sollten, dann hatte er den letzten Waggon zum Zwecke der abschließenden Inspektion betreten, als die Rangierer unglücklicherweise die Türen zugeschlagen hätten, ohne zu ahnen, dass er sich noch darin aufhielte. Das abgefeimte Judengesindel sei dann über ihn hergefallen und habe ihn daran gehindert, sich bemerkbar zu machen.

Genau so war es gewesen! Die richtige Idee zur rechten Zeit. Auf sich selber konnte er sich eben verlassen. Er hatte sich jetzt wieder voll unter Kontrolle und glaubte, jene Kraft zurückgewonnen zu haben, die ihn schon als Offizier an der Westfront, später als Oberstudienrat und Parteigenossen ausgezeichnete hatte: die Überlegenheit der Führernatur.

„Warten Sie’s ab, Herr Obergruppenführer!“ Wiesinger flüsterte es, als fürchtete er, seine Mithäftlinge könnten ihn hören und ihre letzen Hoffnungen verlieren. „Wir haben unsere Reise in die Sommerfrische, die Sie uns zugedacht haben, ja erst begonnen.“

Den Gauleiter ärgerte es, dass dieser Jude so tat, als wisse er Bescheid, als habe er einen solchen Transport schon mitgemacht. Aber er lernte allmählich, sich zu beherrschen, denn hier hatte er nun einmal nicht viel zu sagen, das musste er sich realistischerweise immer wieder eingestehen. Er war ein Gefangener – wenn auch paradoxerweise von Gefange­nen. Er wollte vorerst nicht weiter über seine Lage nach­denken, um sich nicht vorwerfen zu müssen, dass er sich wie ein Anfänger hat übertölpeln lassen. Wenn man ihm die quasi offizielle Erklärung, an der er immer noch bastelte, wider Erwarten nicht abnehmen sollte, hätte er sich zum Gespött im ganzen Reich gemacht. Dann wäre er erledigt, und die Partei, seine Partei, würde ihn in der Versenkung verschwinden lassen. Rasch und gnadenlos. Darüber gab er sich keinen Illusionen hin. Er kannte einstige Kameraden, über die man den Stab gebrochen hatte – kein Hahn krähte mehr nach ihnen.

Er verspürte das – ihn gleichzeitig befremdende – Bedürfnis, das Zwiegespräch mit Wiesinger fortzusetzen. Er hörte dessen Atem dicht hinter sich. Wenigstens einer, mit dem man trotz seiner Frechheiten reden konnte, zumal sie sich beide von Kindesbeinen an kannten. Allerdings störte ihn, dass er in der Dunkelheit Wiesingers Gesicht nicht sehen konnte, weil der das Teelicht ausgeblasen hatte. Er wollte ihm ins Gesicht und in die Augen blicken können, um zu wissen, woran er mit ihnen war. Waren es immer noch diese feingliedrigen Züge, die er in Erinnerung hatte, mit der etwas großen, geraden und schmalen Nase, den dunklen, nach­denklichen Augen unter einer vollen, schwarzen Haartolle? Ein bestimmter Typ Frauen, der auch ihn stets interessiert hatte, mochte diese durchaus männlich wirkende Feinglied­rigkeit, der die Nonchalance eines jungen, fahrenden Sängers eigen war. Zwar hatte auch er nie Probleme mit Frauen gehabt, auch wenn er tief im Inneren zweifelte, ob es gut gewesen war, sich so früh von Helene einfangen zu lassen, aber er liebte sie und vermisste sie gerade jetzt schmerzlich.

„Die Juden werden jetzt endlich ehrlicher Arbeit zugeführt“, sagte er in strengem Ton, gab sich aber ebenfalls Mühe, seine Stimme gedämpft zu halten. „Außerdem ist Krieg, den nicht zuletzt das internationale Judentum gegen das Deutsche Reich und seinen Führer vom Zaun gebrochen hat. Da können wir es uns nicht leisten, Hunderttausende von möglichen Reichsfeinden an der Heimatfront zu dulden. Wir haben schließlich unsere Lehren aus 14/18 gezogen. Das wissen wir doch beide noch, wie das damals gewesen ist. Einen zweiten Dolchstoß wird es nicht geben, verlassen Sie sich darauf.“

Wiesinger schwieg, und der Gauleiter wartete auf eine Antwort.

„Darauf wissen Sie wohl nichts zu erwidern, was?“, zischte er. „Hab ich’s mir doch gleich gedacht“.

„14/18 sind zwölftausend jüdische Offiziere für ihr deutsches Vaterland gefallen, die meisten als Freiwillige – und es haben im Verhältnis mehr Juden das Eiserne Kreuz und den Pour le Merite bekommen als arisch-deutsche Soldaten. Sie haben ja selber neben Deutschen jüdischen Glaubens oder auch nur jüdischer Herkunft gekämpft. Erinnern Sie sich nicht mehr? Einer steht doch neben Ihnen, Mann. Und zwar ein Träger des Eisernen Kreuzes Erster Klasse.“

Der Gauleiter wollte aufbrausen, aber er beherrschte sich mühsam. Tatsächlich waren er und Wiesinger Kriegskamera­den gewesen, Beide waren sie im Frühjahr 1916 eingezogen worden, Robert Wiesinger als 17-jähriger Freiwilliger. Sie hatten Seite an Seite in Flandern im Schützengraben gelegen und sich nach einem dreitägigen Trommelfeuer bei Ypern mehrmals gegenseitig aus dem Dreck gebuddelt, den die explodierenden Granaten über sie geworfen hatten. Später hatten sie die Frühjahresoffensive der Engländer und Franzosen am Chemin des Dames zurückgeschlagen. Ihr MG hatte geglüht, und vor ihnen purzelten die Feinde in die Stacheldrahtverhaue. Robert hatte anschließenden gekotzt und war tagelang krank gewesen. Er hatte ihm das EK-1 gegönnt, denn niemand konnte trotz seiner Jugendlichkeit Stoßtrupps mit so routinierter, instinktiver Sicherheit und mit solchem Erfolg führen wie er, sogar noch als Oberleutnant und Kompanieführer, weit und breit einer der jüngsten der Truppe. Er war dabei, eine militärische Karriere wie ein Adliger zu machen, auch ohne Dienstzeit in einer Eliteeinheit.

Doch dann traute der Obergruppenführer seinen Ohren nicht, denn Wiesinger fügte hinzu: „Sie widerlicher Denunziant!“ Er sprach es, jeden Buchstaben betonend, als müsste er sich übergeben.

Der Obergruppenführer zuckte zusammen, als hätte ihn eine Keule getroffen. „Was erlauben Sie sich!“, rief er, eher fassungslos als wütend, so dass die Dösenden und Schlafen­den ringsum erschrocken auffuhren, Niemand konnte freilich in diesem Dunkel sehen, dass er die Hand gehoben hatte, als wollte er zuschlagen. Er beließ es bei der drohenden Geste, die keiner wahrnahm. Im Übrigen war das Gespräch beendet, denn Wiesinger hatte sich auf seinen Platz zurückgetastet. Da stieg auch er in seine Ecke zurück und hockte sich, immer noch zitternd vor Erregung, nieder. Er spürte aber, dass seine Wut nur seine Ohnmacht verstärkte. Noch wollte er sich aber seine Ohnmacht nicht eingestehen, er war doch schließlich wer – und wer waren die hier?

Der Wiesinger sollte sich nicht so aufspielen. Gewiss haben die Juden für Deutschland gekämpft, aber das war ja wohl das Mindeste, was man erwarten konnte. Ihre materiellen Opfer, sofern sie denn wirklich welche erbracht hatten, haben sie sich während der demokratischen Schwatz­budenzeit zehn– und zwanzigfach vom ausgeplünderten Vaterland vergelten lassen. Schade, dass in der Kaiserzeit der Rassegedanke so unterentwickelt war, sonst hätte man die feisten jüdischen Kriegsgewinnler gleich unschädlich machen können. Die saßen jetzt in der Schweiz oder in Amerika. Sauerei! Wenn er wenigstens rauchen könnte, verflucht! Aber für den Rest des Abends würde er nichts mehr an seiner Lage ändern können. Er musste bis morgen abwarten. Geduld war schließlich eine strategische Tugend, sie stand daher zu recht bei den römischen Feldherren in höchsten Ehren. Das hatte er seinen Schülern immer wieder beizubringen versucht.

Als er wieder Stroh hinter seine Rücken stopfte, um sich für etwas Schlaf einzurichten, spürte er plötzlich – und ein freudiger Schreck durchfuhr ihn – dass seine Pistole wieder in seiner Tasche steckte. Er hatte gar nicht bemerkt, dass man sie ihm wieder zurückgeschoben hatte. Vorsichtig zog er sie hervor, wagte aber nicht, das Patronenmagazin zu überprü­fen, denn das hätte sich anhören können, als entsichere er die Waffe. Und die Reaktion dieses Judenpacks war nicht vorherzusehen. Möglicherweise würden einige in Panik geraten. Andererseits wäre das unter Umständen gar nicht so schlecht, sinnierte er weiter und eine kaum zu zügelnde Erregung bemächtigte sich seiner. Vielleicht entstünde ein Tumult, der die Leute da draußen aufmerksam machen würde. Zumal wenn er gegen das Wagendach oder aus einem Fensterschlitz schösse. Den Knall müsste man meilenweit hören. Dann hätte er es geschafft.

Aber vielleicht wollten sie auch nur ihr abgefeimtes Spiel mit ihm treiben, ihn provozieren, dass er seine Pistole zieht, durchlädt und schießt, dann ein klickendes Geräusch und – ätsch – nichts wäre passiert. Der ganze Waggon würde in schallendes Lachen ausbrechen und er als Tölpel dastehen. Er fragte sich ohnehin, was die von ihm dachten.

Er hielt die Pistole krampfhaft in seinen Fingern und unterließ es, das Magazin zu überprüfen. Er wog die Waffe in seiner Hand, doch sie gab ihm jetzt keine Sicherheit mehr, vielmehr ließ sie ihn immer misstrauischer werden. Nur einer der beiden Wiesinger-Kerle, die vorhin wieder hinter ihm standen, hatte die Pistole in die Tasche zurückschieben können. Aber warum hatte er nichts gemerkt? War er so erregt, dass er nicht mehr wahrnahm, was um ihn herum vorging? Die waren ja geschickter als die Taschendiebe der Zigeuner. Vor allem verdross ihn die zunehmende Gewiss­heit zutiefst, dass sie ihm seine Waffe bestimmt nicht geladen zurückgegeben hatten. Spielten sie Katz und Maus mit ihm? Mehr als alles andere fürchtete er, sich lächerlich zu machen und auf billige Tricks hereinzufallen. Demütigen wollte er sich nicht lassen. Schließlich tröstete er sich halbwegs mit der Gewissheit, dass ihm hier auch eine geladene Waffe nicht nutzen konnte.

Er sehnte den Morgen herbei und das Licht des Tages. Diese Finsternis, wie sie in der Hölle nicht schwärzer sein konnte, würde ihn auf Dauer noch verrückt machen. Je müder er wurde, desto stärker spürte er, dass er mit den Nerven am Ende war. Es war ein ihm längst fremd geworde­nes Gefühl. Die Kälte kroch durch die Fensterschlitze und Ritzen herein. Trotz seines dicken Mantels und seiner Stiefel fror er. Nur gut, dass er trotz erheblicher Bedenken die Uniform angezogen hatte.  Die Juden hatten sich eng aneinander geschmiegt. So wärmten sie einander – mit dem eigenen Mief. Er versuchte zum wiederholten Male und ebenso oft vergeblich, die größten Ritzen mit Stroh zuzustop­fen, der Fahrtwind blies seine Bemühungen sogleich wieder davon. Das sei eben ein echter Härtetest, sagte er sich, gelobt sei, was hart macht. Wieder tröstete er sich damit, dass ihn die meisten Soldaten an der Ostfront immer noch um seine komfortable Lage beneidet hätten. Also musste auch er da durch. Wer konnte schon wissen, wozu das alles gut sein mochte.

Nach anderthalb oder zwei Stunden, die kein Ende zu nehmend schienen, setzte sich der Zug wieder in Bewegung, schwerfällig diesmal und wie unwillig. Die bald wieder einsetzende Monotonie der ratternden Räder und quietschen­den Achsen ließ ihn in einen Halbschlaf fallen, der ihn zwar zäh festhielt, aber doch wahrnehmen ließ, dass er fror, dass es von überall her zog, dass irgendwelches Gesindel über seine Beine stolperte, dass in der schräg gegenüberliegenden linken Ecke sich immer wieder jemand zu schaffen machte, ohne dass er dem Geräusch eine entsprechende Tätigkeit hätte zuordnen oder sich gar gegen diese Belästigung hätte wehren können. Im Dämmerschlaf merkte er auch, dass der Zug wiederholt anhielt, offenbar auf freier Strecke. Und wieder nur einige auf Schotter knirschende Schritte, einige Flüche des Begleitpersonals, unverständliche Rufe. Dann setzte sich das monotone Rattern fort – bambam, bambam, bambam – unterbrochen hin und wieder von einem willkürlich scheinenden Pfiff der Lokomotive.

*

Der Gauleiter und Obergruppenführer erwachte wegen eines heftigen, unangenehmen Drucks auf seiner Blase. Er musste Wasser lassen, und zwar dringend, zum ersten Male, seit er in diesem verdammten Transportzug saß. Er richtete sich mühsam auf und streckte seine steifen, durchgefrorenen Beine. Er war seit jeher ein Morgenmuffel und hasste frühes Aufstehen. Auch das hatte er mit dem Führer gemeinsam. Die Uhr zeigte kurz vor sechs. Ein graudämmriges Morgen­licht tröpfelte durch die Fensterschlitze und Spalten. Nur allmählich kam die Erinnerung zurück. Er blickte befremdet und leicht benommen auf die liegenden, hockenden, stehenden, zwischen Handtaschen, Rucksäcken und kleinen Koffern eingezwängten Menschenleiber.

Dann wurde ihm seine eigene Lage jäh bewusst. Er sprang auf, weil der Druck auf die Blase rasch unerträglich wurde und höchste Eile geboten war. Er blickte um sich, um eine Möglichkeit zum Pinkeln ausfindig zu machen, die musste es ja wohl geben. Er fluchte in sich hinein. Überall Menschen! Verdammt, man konnte ja keinen Schritt tun, ohne auf Fleisch zu treten und damit Flüche und Schmerzensschreie auszulösen. Einige verrichteten im Sitzen eine Art Morgen­gymnastik, um die Kälte aus den Gliedmaßen zu treiben, andere schienen in Agonie versunken.

Doch viele Augen waren auf ihn gerichtet, wie er mit einer Mischung aus Genugtuung und Unbehagen wahrnahm. Viele starrten ihn sogar voller Schrecken an – als ob ich ein Monster wäre, dachte er. Dabei kennen sie mich doch alle, sie sehen mich nicht zum ersten Mal. Einige Juden hatten, so schien es ihm, eine Abwehrhaltung eingenommen, einige blickten hilfeheischend zu Wiesinger hinüber.

Aber was war das? Der Obergruppenführer traute seinen Augen nicht: vor der gegenüberliegenden Ecke standen zwei Männer, die Mäntel ausgebreitet hochhielten und so vor einem offenbar dort befindlichen Abtritt einen Vorhang bildeten. Auf diese Weise verdeckten sie die Urinierenden und sich Entleerenden, was wohl vor allem als eine Geste gegenüber den Frauen gedacht war. Gleichzeitig wandten sie dem Abort, wie alle anderen Mitreisenden auch, den Rücken zu. Er war der Einzige, der jetzt in diese Ecke starrte.

Mehrere Juden – Männer, Frauen und Kinder – standen vor dem Abtritt Schlange. Der bestand aus einer großen, schwarzen Tonne, vor der eine offenbar rasch zusammengezimmerte Stellage stand, die man hinaufklettern musste. Die Urinierenden thronten gleichsam über den anderen, auf einem quer über die Tonne gelegten schalen Brett hockend. Zu komisch, ein Bild für Götter! Wäre er nicht in dieser misslichen Lage gewesen, hätte er jetzt sicher herzhaft gelacht. So aber schien ihm der Gedanke, dort hinaufzuklettern, absurd. Womöglich bräche die Stellage unter seinem Gewicht zusammen. In dem Raum hatte sich mittlerweile ein kaum erträglicher Gestank verbreitet, was dem Obergruppenführer Ekel und gleichzeitig ein Gefühl der Erniedrigung verursachte. Wieder spürte er eine grenzenlose Wut in sich hochsteigen. Und doch, er musste sich mit diesem Gesindel gemein machen. Widerwärtig! Auf jeder… Soldatenlatrine ging es zivilisierter zu. Er stellte sich aber hinten an und bemerkte jetzt –immer noch der einzige, der dorthin starrte – dass auch die Männer die Hosen herunterlie­ßen und sich auf den Abtritt setzten, auch wenn sie nur urinieren mussten. Sie taten das ohne erkennbare Scham – nun ja, das Pack war unter sich – und, erstaunlich, offenkundig der Hygiene wegen, denn man hätte in diesem rumpelnden und schwankenden Viehwaggon keinen festen Stand zum Pissen gefunden. Aber dieser Comment konnte ja wohl nicht für ihn gelten, den Obergruppenführer und Gauleiter.

Als er an der Reihe war und bereits seinen Hosenschlitz öffnen wollte, auf das äußerste peinlich berührt und zitternd vor Scham, weil er alle Augen auf sich gerichtet wähnte, merkte er, dass er von der Stellage aus gar nicht in die Tonne würde urinieren können. Außerdem ließen doch die beiden Judenkerle tatsächlich die Arme sinken und rollten gewisser­maßen den Vorhang auf. Dann hielt ihn der eine sogar am Mantel fest und bedeutete ihm wortlos, aber unmissverständ­lich, dass er, wie alle anderen auch, die Hosen herunter zu lassen habe, wenn er den Abtritt benutzen wollte. „Wir Männer machen das wie die Frauen“, bemerkte er lakonisch. „Wir pinkeln alle im Sitzen.“

Der Gauleiter geriet außer sich über die Zumutung, sich vor diesem Pack entblößen zu sollen, und bemerkte mit sadistischer Genugtuung, wie er die Beherrschung verlor und durchzudrehen begann. Er packte den wesentlich schwäche­ren Kerl und stieß ihn mit aller Kraft fort, so dass er über mehrere auf dem Boden Kauernde hinwegstolperte und gegen die Waggonwand krachte. Er blieb für einen Moment benommen liegen. Einige der Männer sprangen sofort auf und nahmen eine drohende Haltung ein, sie machten Anstalten, den Obergruppenführer anzugreifen. Der stutzte, seine Wut wich einem Überraschtsein, denn er war für Augenblicke überzeugt, die Kerle erlaubten sich einen schlechten Scherz.

Judenlümmel wollten einen SS-Mann angreifen, gar einen seines Ranges? Und das mitten in Deutschland? Auf dem Transport der Mischpoke ins Gas? Das war ja lachhaft! Und abermals bemerkte er, dass sich seine Wut mit ungläubiger Verwunderung mischte, so als wohnte er wie schon gestern Abend einem absurden Theaterstück bei, in dem er freilich einen unangenehmen Part spielen musste, nämlich sich selbst. Er war vollkommen verunsichert, weil er nicht wusste, wie er sich angemessen verhalten sollte. Was immer er auch tat, es war entweder mit seiner Würde nicht vereinbar oder entsprang einer falschen Einschätzung seiner realen Möglichkeiten.

Während er noch angestrengt überlegte, wie er seine Autorität als Gauleiter und seine Würde als Obergruppenführer wahren könnte, sprang ihm die allmählich vertraut gewordenen Stimme bei: „Es ist gut, Brüder. Lasst ihn!“ Es war Wiesinger. Seine Aufforderung klang in den Ohren des Gauleiters unerträglich herablassend und provozierend. Er machte einen gewaltigen Satz auf ihn zu, über mehrere Körper hinweg, und packte ihn am Mantelkragen, halb in Wut, halb in beschwörender Verzweif­lung.

„Wiesinger, hören Sie, Wiesinger!“, keuchte er und schüttelte ihn, ohne dass der sich gewehrt hätte. „Ich verlange ein anständiges Benehmen mir gegenüber! Wen glaubt Ihr eigentlich vor Euch zu haben, was? Ich bin der Gauleiter und Obergruppenführer Bruder und ich...“

„...a-a-be-er da-a-s wis-sen wi-ir do-och al-le hie-ir”, unterbrach ihn mit komischem Stakkato der gebeutelte und willenlos in den Fäusten des Obergruppenführers hängende Wiesinger. „Wir wissen doch, dass man einen Obergruppen­führer anständig behandeln muss, Zumal wenn er so kräftig ist. Und wir behandeln Sie doch anständig, oder?“

„Na dann, umso besser, umso besser“, stieß der Ober­gruppenführer hervor und ließ ihn los. „dann wissen Sie ja wohl auch, was Sie erwartet, wenn Sie hier nicht parieren, wenn Sie sich mir gegenüber nicht so verhalten, wie es mir zukommt, verdammt noch mal.“

Einige Männer standen jetzt in einem Halbkreis um die beiden herum, regungslos und schweigend. Die Kinder drückten sich mit großen Augen an ihre Mütter und starrten zu dem Obergruppenführer hinauf, verängstigt und doch neugierig, wie es wohl weiterginge.

„Sie haben verständlicherweise Schwierigkeiten, sich hier einzuleben, obwohl Sie diese Bedingungen selbst geschaffen habe, Herr Gauleiter“, bemerkte Wiesinger kühl und für alle hörbar. Jetzt war er es, der ihn, wenngleich vorsichtig, am breiten, hellgrauen Kragen seines SS-Mantels fasste, etwas zu sich heranzog und ihm ins Ohr zischte, so dass es die Um­stehenden nicht hören könnten. „Ich weiß auch sehr wohl, was uns erwartet, Herr Obergruppenführer. Und weil ich das weiß, schrecken uns Ihre Drohungen nicht. Merken Sie sich das! Dem Allmächtigen sei Dank, dass Sie uns nur einmal umbringen können!“

Dann verstärkte Wiesinger seine Stimme wieder, deren verbindlicher, ja weicher Befehlston den Gauleiter nicht unbeeindruckt ließ, zumal er sich dieses Tones durchaus noch aus ihrer gemeinsamen Zeit beim Barras entsinnen konnte: „Aber hier, in diesem Raum, in diesem Viehwaggon, hier gilt gleiches Recht für alle. Also auch für Sie, Herr Obergruppenführer! Richten Sie sich bitte danach!“

„Es gibt nicht viele Plätze in Deutschland, wo das noch gilt“, rief ein älterer Mann dazwischen.

Verhaltenes, dankbares Lachen quittierte die Bemerkung.

*

Der Gauleiter, immer noch wütend und nun auch gekränkt, musterte den einstigen Freund, der jetzt ein Feind war, sein Feind sein musste. Er bemerkte tiefe Falten um die Mundwinkel und ausgeprägte Tränensäcke unter den Augen. Das Haar begann grau zu werden. Und stand in den Augen nicht auch die Angst? Dennoch hatte er sich vorbildlich in der Gewalt und zeigte Haltung. Das nötigte dem Gauleiter Respekt ab. Wiesingers Gesten hatten sich eine gewisse Eleganz bewahrt, trotz des dicken dunkelblauen Mantels und des langen grünen Schals, den er mehrmals um den Hals geschlungen hatte.

*

Auch Wiesinger hatte seinen Exfreund für einige Augenblicke angestarrt. Er war immer noch Jung-Siegfried, blond und großgewachsen, ein schreckliches Klischee, dem Werner Bruder aber nun einmal entsprach, ein Schwarm der Frauen, seit er ihn kannte. Im Übrigen war Wiesinger davon überzeugt, dass Bruder auch und vor allem deshalb National­sozialist geworden war, weil er in die Klischeevorstellung passte: groß, blond, blauäugig, gleichsam der germanische Prototyp, dem man dann in noch jungen Jahren eingeblasen hatte, er habe das wertvollste Blut aller menschlichen Rassen, der Herrenrasse schlechthin, in seinen Adern fließen. Mochten das Klischees sein – sie waren karrierefördernd, und der Obergruppenführer pflegte sie sehr sorgfältig.

*

Die beiden standen sich wie Kampfhähne gegenüber, und die Juden waren in diesem Augenblick stolz auf ihren Wiesinger, der keinen Millimeter vor dem ansonsten allmächtigen Gauleiter zurückwich. Der aber blickte finster auf den Kontrahenten herab, weil er abermals seine Machtlosigkeit in dem engen Geviert dieses Viehwaggons hatte akzeptieren und zur Kenntnis nehmen müssen, dass mit den Drohungen nichts auszurichten war, mit Gewalt erst recht nicht. Also sich fügen – zumal der Druck auf seine Blase unerträglich zu werden begann. Er konnte das Wasser kaum noch halten und drohte, in Panik zu geraten.

„Also gut, Sie verdammter Kerl!“, stieß er hervor, mit widerwilliger, aber jetzt fast schon kumpelhafter Anerken­nung. „Also gut! Dann sagen Sie doch den beiden hier, dass sie die Mäntel wieder hochheben. Oder sollen mir etwa die Frauen und Kinder beim Pinkeln zusehen?“

„Nu machen Sie schon und halten Sie hier nicht den ganzen Betrieb auf!“, verwies ihn Wiesinger mit trockenem Tonfall, der aber keinen Widerspruch duldete. Und während sich der Gauleiter in höchster Eile die Hosen herunterzu­reißen begann, was wegen des dicken Mantels und der Hosenträger zu einer umständlichen Prozedur geriet, so dass er erst in allerletzter Sekunde auf dem Abtritt zu hocken kam, wandten alle Juden auch ihm den Rücken zu. Dennoch glaubte er alle Blicke auf sich gerichtet. Er schwitze unter seiner schwarzen Uniform und biss vor Scham so stark auf die Zähne, dass die Kiefer schmerzten. Hätte man ihm ein Bein abgeschossen, er hätte es erträglicher gefunden. Und mit gleichmütiger Miene standen die beiden jungen Kerle vor ihm und hoben den Mantel hoch. Sie taten so. als hätten sie nichts gesehen, als wäre nichts geschehen. Die Juden wussten also doch ganz genau, wie man sich einem Obergruppenfüh­rer gegenüber zu verhalten hatte, wobei er in der Dämmerung freilich nicht sehen konnte, dass einige der Männer, unter ihnen auch Wiesinger, lautlos lachten und einige Frauen sich verschämt-amüsiert anblickten.

Nachdem der Gauleiter die als demütigend empfundene Prozedur mit großer Anstrengung in wenigen Sekunden hinter sich gebracht hatte und mit gesenktem, vor Zorn und Scham immer noch gerötetem Kopf in seine Ecke zurückgestiegen war, kam ihm doch der Verdacht, dass in der verflossenen Szene dieses absurden Theaterstücks ziemlich viel Verachtung ihm gegenüber sichtbar geworden war. Doch da der Spuk vorbei war und er sich erleichtert fühlte, so unterließ er es, intensiver darüber nachzudenken, ob er vorhin nicht doch eine ziemlich lächerliche Figur abgegeben haben könnte.

Was ihn aber ratlos machte war die Vorstellung, dass dieses demütigende, seiner Person hohnsprechende Schau­spiel sich bis Auschwitz mehrmals wiederholen sollte. Er kam sich vor, als sei er ein Tier unter Tieren.

In der Enge dieses verdammten Waggons war der Verlust der Intimität total, räsonierte er hilflos vor sich hin, man konnte ja nicht einmal unbeobachtet in der Nase bohren. Jeder, ob Mann oder Frau… man saß, lag oder stand da wie auf dem Präsentierteller. Völlig ungeschützt, sogar vor sich selbst. Deshalb wäre es wohl nur eine Frage der Zeit, bis sich die Menschen gegenseitig als widerlich empfänden. Sofern sie nicht eine übermenschliche, fast schon tierische Nachsicht übten und bedingungslose Disziplin zeigten. Dem Gauleiter erschien es jetzt schon als degoutant und schwer erträglich, dass alle längst ungehemmt furzten wie Frontschweine im Schützengraben, sogar die Frauen. Aber was blieb ihnen andererseits übrig? Wie konnte man hier ein Minimum an Privatsphäre und Kultur wahren?

*

Der Gauleiter beglückwünschte sich jetzt, dass er Standartenführer Kronbauer im letzten Moment, einer seltsamen Eingebung folgend, befohlen hatte, die Zahl der Deportierten in diesem Waggon auf 45 zu begrenzen. Die anderen Waggons waren mit 70, vielleicht gar mit 100 Personen belegt. Großer Gott – unvorstellbar! Es schüttelte ihn nachträglich. Und doch hatte Wiesinger ihn für die Zustände in diesem Waggon verantwortlich gemacht. Das empfand er als äußerst ungerechten Tadel. Aber er musste so reden, klar. Offenbar war er der Sprecher in diesem Waggon. Das erwarteten die anderen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: © Karin Welters
Bildmaterialien: © 123 RF, rangizzz
Cover: © Karin Welters
Tag der Veröffentlichung: 01.03.2017
ISBN: 978-3-7438-0020-5

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /