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Vorwort

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

Dies ist der erste Omnibus von Jette Berger und Anne Weller (Sammelband auf Englisch = Omnibus).

Die beiden Freundinnen, die in ihren Charakteren gegensätzlicher nicht sein können, halten, wenn es um Verbrechen in Mönchengladbach geht, zusammen. Anne Weller, Oberkommissarin beim KK11, an strenge, gesetzliche Vorgaben gebunden, und Jette Berger, pensionierte Hauptkommissarin, mit ihrem 6. Sinn und ihrer eigenwilligen Vorgehensweise, ergänzen sich am Ende jedes Falls, so dass der Übeltäter stets überführt und hinter Gitter gebracht werden kann.

Das gelänge den beiden jedoch nicht so ohne weiteres, gäbe es da nicht auch die fröhliche Iris Stelzmann, die Jungkommissarin, die gutaussehenden, uniformierten Kollegen nicht abgeneigt ist.

 

In diesem Band finden Sie die ersten drei Fälle der drei Ladies:

 

  1. Fall: Jette Berger und… die Tote am Geroweiher
  2. Fall: Jette Berger und… das Skelett aus Garzweiler II
  3. Fall: Jette Berger und… der Schwebebahn-Mörder

 

Ich wünsche Ihnen ganz viel Lesevergnügen.

 

Herzliche Grüße

Karin Welters

 

Jette Berger und... die Tote am Geroweiher

Anne Weller, Oberkommissarin des KK11 in Mönchengladbach und ihre Kollegin Iris Stelzmann kommen in einem mysteriösen Mordfall nicht weiter. Wer hat die 25jährige Studentin Laura Winter ermordet? War es der drogensüchtige Freund? Welche Rolle spielt der Ausgrabungsleiter Zeller? Wie passt Professor Lintmar ins Bild? Und weshalb machen der Polizeipräsident und der Staatsanwalt der Ermittlerin das Leben schwer?

Kann Jette Berger, pensionierte Hauptkommissarin, Anne Weller helfen? Jettes Devise: „Suche nach dem emotionalen Problem, das durch den Mord nicht gelöst ist“ geht Anne jedenfalls schon lange auf die Nerven.

Kann das Trio - Jette Berger, Anne Weller und Iris Stelzmann - den Fall lösen? Behält Jette mit ihrer Devise Recht?

 

 

„Haben Sie mich verstanden, Frau Weller?“, blaffte der Polizeipräsident mit hochrotem Kopf die Oberkommissarin Anne Weller an.

Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie fassungslos. Und das nicht wegen des Verbrechens. Oh nein! Selbst am Niederrhein hielten sich die Verbrecher nicht an irgendwelche Geschäftszeiten. Auch in ihrer Stadt gab es keine Verbrecher-Gewerkschaft, die sich für geregelte Arbeitszeiten für Gauner einsetzte. Auch Kripobeamte konnten keine geordneten Dienstzeiten genießen. Als Oberkommissarin des KK11 war sie deshalb einiges gewöhnt. Verblüffung, Ärger, Überraschung oder Betroffenheit waren ihr vertraut. Auch Entsetzen und Bestürzung waren ihr nicht fremd. Doch in jenem Augenblick fühlte sie zum ersten Mal völlige Fassungslosigkeit. Aber sie hielt ihre Gefühle im Zaum, obwohl sie am liebsten explodiert wäre. Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Wie immer in solchen Situationen warf sie ihre roten Locken in den Nacken. Kerzengerade und wortlos verließ sie das Büro des Polizeipräsidenten. Doch kaum hatte sich die gepolsterte Tür hinter ihr geschlossen, lehnte sie sich für einen Augenblick gegen die kalte Wand im Flur und atmete aus. Das darf nicht wahr sein, dachte sie und ging fast mechanisch den langen Gang und die Treppe herunter, öffnete ihre Bürotür und ließ sich in ihren Sessel fallen.

Das Präsidium war verwaist. Kurz vor Mitternacht waren die Kollegen alle entweder im Bett oder an einem Tatort. Allmählich wich ihre Fassungslosigkeit einer unglaublichen Wut. Wieder stieg ihr das Blut in die Wangen. Aber jetzt konnte sie ihrem Ärger endlich Raum geben. Laut fluchte sie vor sich hin und tigerte im Raum auf und ab, nur um immer wieder abrupt stehenzubleiben, wenn die Wut es verlangte.

Sie beschloss, nach Hause zu fahren und sich ausnahmsweise einen doppelten Cognac zu genehmigen. Also schlüpfte sie in ihren Mantel, knotete den Schal fest, griff nach ihrer Handtasche und verließ das Büro. Laut hallten ihre Schritte in den leeren, neonbeleuchteten Gängen des Gebäudes. In der Tiefgarage stieg sie in ihren dunklen Dienstwagen und fuhr in Richtung Rheydt. Die Theodor-Heuss-Straße war genauso verwaist wie der Rote Kasten, das Präsidium. Wer verlässt an einem solchen Tag, einem dieser nasskalten Novembertage, die am Niederrhein noch trister sind als in anderen Gegenden Deutschlands, freiwillig die warme Wohnung?, dachte sie und spürte ihren Frust.

In ihrer geräumigen Dachwohnung in der Nähe des Wasserturms war es bestimmt mollig warm. Auf dem Weg quer durch die Stadt fiel ihr plötzlich Henriette ein. „Genau!“, rief sie spontan, ließ den Wasserturm links liegen, fuhr den Reststrauch hinauf, nahm die Autobahnauffahrt Wickrath und war in wenigen Minuten auf der Stadtwaldstraße in Richtung Rheindahlen.

Das kleine Backsteinhaus lag im Dunkeln. Sie konnte nur die Umrisse ausmachen, doch sie hätte den Weg auch in absoluter Finsternis gefunden. Hoffentlich ist sie da, dachte sie, sonst weiß ich nicht, was ich mit diesem Kerl anstelle.

Sie war sauer. Stinksauer.

Es nieselte noch immer und sie zog den Mantel enger, als sie den beheizten Wagen verließ. Sie hasste den nasskalten November.

Es war spät, als sie bei Jette klingelte. Sehr spät. Hätte sie nicht gewusst, dass Jette eine Nachteule war, sie wäre nach Hause gefahren. Aber so? Sie brauchte unbedingt den Rat ihrer mütterlichen Freundin. Wie immer, wenn sie nicht weiter wusste. Und ihre Situation war verzwickt. Erneut drückte sie den blank polierten Messingknopf. Wo blieb Jette nur? Durch die getönte Glasscheibe der Haustür sah sie schwaches Licht. Also war die Freundin noch wach. Konnte sie sich nicht ein wenig beeilen? Es war kalt und, wie auf ein Stichwort hin, ging der Regen in Schneeregen über. Endlich vernahm Anne Schritte.

„Wer ist da?“

„Anne.“

„Ach du liebes bisschen“, hörte sie Jette murmeln, als diese den Schlüssel von innen drehte. Mit einem erstaunten „Was machst du denn um die Zeit in dieser Kälte?“ zog sie die Kommissarin in ihre Diele. Mollige Wärme umfing Anne und sie war heilfroh, dass Jette rasch die Tür schloss.

„Ach, Jette, was könnte ich wohl um diese Zeit bei dir suchen?“

Statt einer Antwort bekam sie nur das Übliche: „Zieh den Mantel aus und komm in die gute Stube.“

Kopfschüttelnd stapfte Jette vor ihr ins Wohnzimmer, das alles andere als eine ‚gute Stube’ war. Äußerlich entsprach Jette zwar einer älteren Dame, bei der jeder mit dem Begriff ‚gute Stube’ reichlich Häkeldeckchen, weiche Sofakissen und Wärmebeutel auf dem Plüschsofa vermutete. Doch der Schnitt ihres grau-weißen Haares hätte jeden sorgfältigen Betrachter stutzig gemacht, denn statt einer Dauerwelle, die altersgemäße Locken an ihren Plätzen gehalten hätte, zierte Jettes Haupt ein flotter Bubikopf. Trotz Annes Frustration amüsierte sie die Bemerkung. „Du und deine gute Stube.

„Kommst du um halb eins in der Nacht, um mich damit aufzuziehen?“

Während Jette sich in ihren pinkfarbenen Rattansessel fallen ließ, blitzte sie Anne mit ihren klugen, grauen Augen an, die ihren vorwurfsvollen Unterton Lügen straften. Mit gespielter Empörung baute Anne sich vor ihr auf. „Henriette Berger! Hiermit verhafte ich Sie wegen des Verdachts auf Vortäuschen einer nicht vorhandenen Emotion.“

Doch schon verließ sie der Humor und die leeren Augen der toten Schönheit am Geroweiher kehrten unbarmherzig zurück in ihr Gedächtnis. Und dann überrollte sie unvermittelt der Ärger des Abends. Sie spürte, wie sie wieder puterrot im Gesicht wurde.

„Was ist denn mit dir los?“ Sie hörte Jettes Überraschung.

„Mit mir? Stell dir vor, der hat mich einfach gefeuert!“

Jettes Gesicht zeigte Verblüffung: „Wie… einfach gefeuert? Du bist Beamtin. Die kann man nicht feuern. Und wer ist der?“

Anne kannte die hochgezogene, linke Augenbraue nur zu gut. Ein untrügliches Zeichen, dass Jette erstaunt war. Doch nie hätte sie sich über das späte Erscheinen der Freundin oder deren Gefühlsausbrüche beschwert. Nie hätte sie sie mit einem vorwurfsvollen Blick bedacht. Manchmal fragte sich Anne, ob es überhaupt etwas gab, das Jette aus ihrer Gelassenheit und Ruhe bringen konnte. Nein, sie kannte ihre mütterliche Freundin weder ungeduldig noch hektisch, weder nervös noch aggressiv. Manchmal etwas ungehalten oder überrascht und verblüfft. Aber nie aufgeregt. Ohne auf Annes Antwort zu warten, verschwand Jette mit einem übergangslosen „Tee?“ in der Küche. Anne hörte Geschirr klappern, das Pfeifen des Wasserkessels aus blankpoliertem Kupfer und das leise Singen. Jette summte meistens eine Melodie vor sich hin.

Kurze Zeit später erschien sie mit dem voll bepackten Tablett.

„Dann erzähl mal“, forderte sie Anne auf, während sie die Utensilien verteilte und die hauchdünnen Tassen füllte. Sie tat, als wäre es das Normalste der Welt, kurz nach Mitternacht mit einer Freundin Tee zu trinken. Mit genüsslichem Ahh ließ sie sich im Sessel nieder und beobachtete Anne. Über dem Rand der Tasse funkelten ihre Augen, die die Freundin aufmerksam musterten.

„Stell dir vor!“, platzte Anne schließlich heraus, „dieser... dieser aufgeblasene, arrogante Typ hat mich von meinem Fall einfach abgezogen. Von meinem Fall. Einfach so. Als wäre ich eine blutige Anfängerin. Eine, mit der man das einfach mal eben so machen könnte. Eine, die noch nie gezeigt hätte, was sie kann. Einfach so!“

„Na, na, na… einfach so doch wohl nicht, oder?“

„Du glaubst, dass er das nicht einfach so gemacht hat? Du meinst… mit Absicht?“

„Schon gut, schon gut. Also. Er hat dich einfach so abgezogen. Von deinem Fall.“

Anne fühlte sich nicht ernst genommen. „Sag mal, red ich chinesisch? Oder warum äffst du mich laufend nach?“

Heiliger Bimbam. Nun hör aber auf! Deine Augen sprühen ja noch giftgrüner als sonst. Beruhige dich und erzähl von vorne.“

„Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Dieser Schnösel! Nur weil er seine erste Woche auf dem bequemen Sessel des Polizeipräsidenten verbracht und einigermaßen heil überstanden hat, glaubt der tatsächlich, er wäre schon klüger als sein Vorgänger. Dieser aalglatte, unverschämte Grünschnabel meint, er könnte mit uns umgehen wie mit... mit... ja eben… wie mit Anfängern!“

„Reichst du mir bitte den Zucker?“, bat Jette und rührte ihren Tee. Das leise Klirren des Löffels erfüllte für einen Augenblick den Raum, bevor sie bemerkte: „Er ist ganz offensichtlich der Anfänger, meine Liebe. Weshalb regst du dich derart auf?“

„Das fragst du noch? Der hat mich einfach so von meinem Fall abgezogen.“

„Ja, das sagtest du bereits und zwar mehrfach, aber das ist doch kein Grund, sich derart aufzuregen. Ich glaubte immer, dass du eine gestandene Oberkommissarin von 38 Jahren bist, die über reichlich Berufserfahrung verfügt. Passiert es dir zum ersten Mal, dass du von einem Fall abgezogen wirst?“

Unwillkürlich musste Anne grinsen. „Nee, das ist nicht das erste Mal.“

„Na also. Wozu dann die Aufregung?“

„Weil er Peters den Fall übertragen hat. Und der wartet nur darauf, mir eins auszuwischen.“

„Ach, daher weht der Wind.“

„Ja, genau. Daher weht der Wind. Und genau deshalb bin ich angepi... ich meine… tierisch sauer.“

Jette grinste. „Als ich noch im aktiven Dienst war, meine Liebe, ist mir das auch passiert. Sogar mehrfach.“

Sie beugte sich vor. „Peters heißt also das Problem, nicht der neue Polizeipräsident. Dann wollen wir uns das eigentliche Problem mal genauer ansehen.“

Anne begriff. „Kommt jetzt wieder eine deiner Psychostunden? Nach dem Motto...“

„Jawohl! Nach meinem Motto: löse zuerst die emotionalen Verstrickungen. Dann kannst du klar denken.“

„Mann, oh Mann. Geht mir das auf die Nerven.“

Doch Jette blieb hartnäckig. „Und? Hat sich meine Devise bewährt oder nicht?“

Anne musste ihr, verdammt nochmal, recht geben. „Geht mir zwar verflixt gegen den Strich, aber ich muss zugeben… bisher immer.“

„Und in wie vielen Fällen kamst du dadurch der Lösung näher?“

„Eigentlich in allen.“

„Und uneigentlich?“

Jette hatte es wieder einmal geschafft. Anne musste lachen, denn diese Art des Wortspiels beherrschte niemand so virtuos wie Jette. „Weißt du, Jette, du bringst mich immer wieder auf den Teppich.“

Jetzt erst konnte sie entspannen und ihren Tee genießen. Nach einer Weile des Plauderns über Gott und die Welt kehrte Jette zum Thema zurück. „Also, meine Liebe, worum geht’s? Du kommst ja nicht zur Geisterstunde nach Rheindahlen, um mir das Neueste von vorgestern zu erzählen, oder?“

Anne atmete tief durch. „Ich hab dir doch von meinem Fall in Wuppertal erzählt, nicht wahr?“

„Ja, das hast du. Und?“

„Da war dieser Mord in der Schwebebahn und die Spur, die nach Mönchengladbach führte. Und weil ich keine vorzeigbaren Ergebnisse vorweisen konnte, hat dieser Lackaffe den Fall jetzt diesem Ekelpaket Peters übertragen. Ist das nicht unglaublich?“

Jette schwieg und Anne bemerkte, wie ihr das Blut wieder in die Wangen stieg. Gereizt fuhr sie fort. „Ja, ja! Ich weiß. Du hast mir geraten, allen Fährten nachzugehen. Aber bevor ich das konnte, hat mir dieser Heckersbach, dieser selbstgefällige Emporkömmling, einen Strich durch die Rechnung gemacht.“ Anne zögerte, bevor sie fortfuhr: „Eigentlich darf ich darüber nicht reden, aber du bist nicht nur meine beste Freundin, sondern auch meine Beraterin. Außerdem warst du selbst lange genug bei der Kripo und kennst das Kompetenzgerangel zur Genüge. Wenn ich nicht darüber rede, platze ich.“

„Nun beruhige dich. Das Kind ist im Brunnen. Also lass es diesen Herrn Peters da rausholen.“

„Pah! Das ist ein Katzenbuckel. Der hat nix drauf. Und weil hier die Stadtverwaltung drin zu hängen scheint, wird der auf Samtpfötchen herumschleichen. Nee, nee. Der kommt garantiert keinen Schritt weiter.“

Jette beugte sich vor. „Sag mal, willst du oder kannst du nicht mehr klar denken?“ Die senkrechte Stirnfalte war unübersehbar. Oh ja, Jette konnte sehr wohl ungehalten reagieren. Noch bevor Anne auf ihre Frage eingehen konnte, fuhr Jette fort: „Jetzt lass diesen Peters und den neuen Polizeipräsidenten, diesen Heckersbach, mal sein, was sie sind oder wofür du sie hältst. Sag mir lieber, warum du wirklich hier bist.“

Unbarmherzig kehrten die leeren Augen der toten Schönheit am Geroweiher zurück in Annes Gedanken. Und offensichtlich hatte Jette wieder einmal Annes Gefühle und Gedanken mitbekommen.

„Nun, Frau Kommissarin, dann schießen Sie mal los“, forderte sie die Besucherin in ihrer ungeschminkten Art auf zu erzählen. Sie zwang sie damit jedes einzelne Mal, auf den Punkt zu kommen.

„Wir haben vor etwa einer Woche eine bildhübsche Tote am Geroweiher gefunden und kommen mit unseren Ermittlungen einfach nicht weiter.“

„Ja. Ich habe davon in der Zeitung gelesen. Eine junge Frau im Abendkleid. Wo hakt es denn?“

„Du legst den Finger auf einen von zahlreichen Widersprüchen: das Abendkleid. Aber es gibt so viele Ungereimtheiten in diesem Fall, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll.“

„Warum nicht einfach von vorn?“

„Also. Zuerst fiel mir auf, dass sie wie platziert, wie hindrapiert, ja fast wie aufgebahrt im nassen Gras lag. Pechschwarzes, langes Haar, ausgebreitet wie ein Fächer, wie ein Halbkranz. Die Hände über dem Körper waren zusammengefaltet, als ob sie beten würde. Sie trug ein sündhaft teures, zweiteiliges Abendkleid aus weinroter Seide mit einem Oberteil wie eine Korsage. Dickes Abend-Make-up, knallroter Lippenstift und blassrosa Nagellack. Keine Schuhe. Dafür aber Ohrringe mit einem fetten Saphir in der Mitte, umringt von lupenreinen Diamanten. Die müssen ein Vermögen gekostet haben. Keine Handtasche, keine Papiere, keine brauchbaren Spuren.“

Jettes wacher Blick verriet, dass sie hochkonzentriert und aufmerksam zuhörte. Deshalb fuhr Anne fort: „Und wir wissen nicht, wer sie ist. Wir haben auch keine Vermisstenmeldung, auf die ihre Beschreibung passt.“

Eine steile Falte trat zwischen Jettes Brauen. „Woran ist sie gestorben? Kann es ein Unfall gewesen sein?“

„Nein.“ Anne spürte Missmut in sich aufsteigen. „Nein. Definitiv nicht. Der Pathologe hat mir versichert, dass niemand einen solchen Gift- und Drogencocktail, wie er ihn vermutet, freiwillig zu sich nimmt.“

„Woran ist sie denn nun gestorben?“ Anne hörte die leise Ungeduld in Jettes Stimme.

„An einer Mischung aus Valium, Novaminsulfad, Kokain und ein paar weitere, ekelhafte Zutaten, die jedoch noch nicht konkret identifiziert sind.“

Jette schüttelte heftig Ihren Kopf. „Du hast recht. Das tut sich niemand freiwillig an. Nein. Das war eindeutig Mord.“

„Sag ich doch. Aber das Größte kommt erst noch. In ihrem Magen fand der Pathologe Hummer, Austern, geräucherten Lachs und Shrimps. Und das ganze schwamm auch noch in Sekt.“

„Ach du liebes bisschen!“

„Ja, meine Liebe, ach du liebes bisschen. Weißt du jetzt, was ich meine?“

Anne wartete nicht auf eine Reaktion. „Aber da ist noch etwas. Wir haben ziemlich viel Dreck unter ihren Fingernägeln gefunden.“

Sie beobachtete ihre Freundin, die mit gesenkten Augen auf ihre übereinandergelegten Hände schaute. Anne überließ die Freundin ihren Gedanken, denn meist endeten ausgiebige Schweigepausen mit einer klugen Bemerkung oder einer überaus gescheiten Frage. Doch diesmal blieb Jette stumm.

Anne seufzte. „Keine Identität. Kein Motiv. Kein Mörder.“

Jettes vorwurfsvoller Blick traf die Kommissarin. „Meine liebe Anne. Sei in deinen Aussagen bitte absolut präzise. Keine bekannte Identität. Kein erkennbares Motiv. Kein überführter Mörder.“

„Ja, ja, ja“, stimmte Anne zu, wenn auch genervt. „Du hast ja recht.“

„Du kennst mein Motto: Sprache schafft Realitäten. Du kannst mit der Sprache als kleinstem Kommunikationsinstrument nicht pedantisch und präzise genug umgehen.“

„Okay, okay. Ich weiß. Aber… was sagst du dazu?“

„Wozu?“

„Na, zu all den Details, die ich dir gegeben habe.“

„Details? Das sind keine Details. Das sind wohl eher Fragmente. Nun… “, antwortete sie gedehnt, „ich entdecke tatsächlich einige Ungereimtheiten.“ Nach einer kurzen Pause fuhr Jette fort: „Ist sonst nichts gefunden worden?“

„Nein. Was soll denn da noch sein?“

„Irgendetwas. Etwas, das nicht in das Bild passt.“

„Passt denn überhaupt irgendetwas zusammen? Ich kann nicht sehen, dass alle diese Fragmente, wie du sie nennst, irgendeinen Sinn ergeben. Also, was meinst du genau?“

„Hat die Spurensicherung oder der Pathologe etwas gefunden, das irgendwie gänzlich aus dem Rahmen fällt?“

Darüber musste Anne erst nachdenken.

„Ja“, fiel ihr plötzlich ein, „da war tatsächlich noch etwas, aber das halte ich für vollkommen unwichtig.“

„Nun sag schon. Was war ungewöhnlich?“ Jette hatte sich weit vorgebeugt und ihre Augen zusammengekniffen. Ihre Erwartung war fast spürbar.

„Ich muss dich leider enttäuschen, Jette, denn der Fund ist wirklich ohne Bedeutung. Der Pathologe hat Unmengen von Katzenhaaren gefunden. Sogar unter ihrem Kleid und in ihren Achselhöhlen.“ Anne fröstelte, als sie sich vorstellte, wie die Katzen um die Leiche herumgeschlichen sein mussten. Wie sie sogar unter ihren Rock gekrochen und unter den Armen geschnuppert haben mussten.

„Ach ja?“, bemerkte Jette mit hochgezogenen Brauen und lehnte sich mit einem kaum sichtbaren Lächeln zurück.

„Na, hör mal. Was glaubst du, wie viele Katzen sich nachts am Geroweiher tummeln?“

„Vielleicht hast du recht, meine Liebe. Ja, wahrscheinlich stimmt das, was du sagst.“

Doch aufgrund ihrer Erfahrungen mit Jette hörte Anne an deren Stimme, dass sie zweifelte. Aber das war Jette, wie sie sie kannte. Immer auf der Hut. Immer auf der Suche nach ausgefallenen Hinweisen. Sicher, sie saßen in einem Boot, aber Jettes Methoden? Ihre Gedankengänge? Die waren aus Annes Sicht von übervorgestern. Jette war ja auch schon lange pensioniert.

Anne gestand sich ein, Jette hatte bisher meist richtig gelegen mit ihren Vermutungen, aber das hatte wohl mehr mit Glück zu tun als mit anständiger und gewissenhafter Polizeiarbeit. Sie hielt es eher für zufällige Volltreffer.

Anne spürte ihre Müdigkeit und sprang erschrocken auf, als sie auf die Uhr sah. Es war bereits nach zwei Uhr in der Frühe. Ihr schlechtes Gewissen meldete sich. „Es tut mir leid, Jette, dass ich dich so lange wachgehalten habe mit meinen ungelösten Problemen. Aber ich wusste einfach nicht weiter. Ich war mit meinem Latein schlicht und ergreifend am Ende. Und der Polizeichef rückt mir heftig auf die Pelle. Sei mir nicht böse.“

„Ach wo. Du weißt, dass ich immer für dich da bin, wenn du Unterstützung brauchst, auch wenn ich dir diesmal keine große Hilfe war.“

„Danke!“ Anne umarmte sie und verabschiedete sich rasch. Der Schneeregen war wieder in Nieselregen übergegangen. Es war eine dieser unbehaglichen Nächte, in denen sich jeder auf sein warmes Bett freute. Genau wie Anne. Als sie sich in ihre Decke einrollte, dachte sie wieder an die toten Augen der unbekannten Schönheit am Geroweiher. Und obwohl sie wirklich hundemüde war, schob sich auch Jettes Bubikopf vor ihre inneren Augen, als wollte sie ihr etwas sagen.

Ja, Jette war ein echtes Original. Anne erinnerte sich, wie sie Jette vor einigen Jahren kennenlernte. Unwillkürlich musste sie grinsen bei der Erinnerung, als Jette sie zum ersten Mal zu sich nach Hause einlud. Jeder, auch Anne, hielt Jette für eine der älteren Damen, die sich mit Chippendale und Barockmöbeln umgaben. Welche Überraschung, als Anne feststellte, dass Jette in ihrem Geschmack das genaue Gegenteil repräsentierte. Sie war weitaus moderner eingerichtet als sie selbst. Niemand vermutete hinter der kleinbürgerlichen Backsteinfassade von Jettes unauffälligem Haus mit dem blank polierten Messingknopf ein Ambiente im kühlen, italienischen Stil. Weiße Möbel, weiße Bodenfliesen, duftige Stoffe und ausgefallene Einzelstücke in leuchtendem Pink oder tiefem Dunkelbraun. Oder ihr antiquierter Kupferkessel. Alles verriet eine exzentrische Bewohnerin, die sich mit nichts weniger als dem Edelsten und Ausgefallensten umgab. Wie sie wohl als aktive Ermittlerin gewesen war?

Ja, Jette war ein echtes Original. Eine Querdenkerin, die genau wusste, was sie wollte. Dagegen fühlte sich Anne reichlich angepasst, dem Geschmack der Masse unterworfen und wenig kreativ in der Gestaltung ihrer vier Wände. Wozu auch? Bei den wenigen Stunden, die sie in ihrer Wohnung verbrachte. Die Einrichtung sollte ihren Bedürfnissen gerecht werden. Zweckmäßigkeit war ihr Ding. Ein bequemes Bett, eine kleine Küche und ein alter Ohrenbackensessel, falls sie einmal den Luxus von überzähliger Zeit hatte, den Fernseher einzuschalten.

Jette war stolze Besitzerin einer Bibliothek mit hunderten von Büchern, während Anne die wenigen, die sie besaß, in einem kleinen Bord untergebracht hatte.

Irgendwann musste Anne eingeschlafen sein, denn der Wecker zerrte sie unbarmherzig aus ihrem Tiefschlaf.

* * * * *

Auch wenn Anne sonntags offiziell keinen Dienst hatte, stellte sie sich immer den Wecker, denn ansonsten bestand die Gefahr, dass sie aus ihrem Schlafrhythmus für den Berufsalltag geriet. Sonntags war immer ihr Wasch- und Bügeltag. Wann hätte sie das sonst erledigen sollen? Sie wünschte sich nur sehnlichst, dass keiner ihrer Kollegen krank wurde, sodass sie von einem unerwarteten Sondereinsatz verschont blieb. An diesem Sonntag hatte sie Glück und konnte deshalb auch die Zeit nutzen, um über ihren aktuellen Fall nachzudenken.

Wer mochte die junge Frau sein? Jemand musste sie doch vermissen. Gott sei Dank würde in der Montagsausgabe ein Bild von der Frau in der überregionalen Presse erscheinen. Hoffentlich meldete sich jemand.

* * * * *

Als Anne am nächsten Morgen ihr Büro betrat, entdeckte sie die rotblonde Haarmähne ihrer jungen Kollegin Iris Stelzmann, die auf dem Boden kniete und in einem großen Stapel Papier wühlte. Iris’ Haarfarbe und Naturkrause erinnerten tatsächlich an eine Löwenmähne, die ihr den passenden Spitznamen einbrachte.

„Guten Morgen, Löwin. Was machst du da?“

„Hallo, Anne. Ich gehe die Akten durch mit Fällen, die mögliche Parallelen zu unserem jetzigen aufweisen.“

„Und? Bist du fündig geworden?“

Seufzend ließ sich Iris auf ihren Drehstuhl fallen. „Leider nicht.“

„Wissen wir wenigstens mittlerweile, wer die Tote ist?“

Iris schüttelte den Kopf. „Auch nicht. Ich bin alle Vermisstenmeldungen noch einmal komplett durchgegangen.“

„Hast du das Bild wirklich an alle Polizeidienststellen geleitet?“

„Ja. Habe ich doch schon am letzten Dienstag. Nur, es kam bisher weder eine Rückmeldung noch ein Hinweis.“

„Dann scheint es ein recht mühsamer Fall zu sein, den wir hier zu lösen haben. Was haben wir denn überhaupt?“

Iris zuckte die Schultern: „Eigentlich, wenn ich es mir genau ansehe, absolut gar nichts.“

„Na, na, na. Wir haben eine junge Tote mit kostbaren Ohrringen, einem exquisiten Designerkleid, dezent lackierten Fingernägeln, knallrotem Lippenstift und dick aufgetragenem Make-up. Wir haben also mehr als einen auffälligen Hinweis. Und das wirft einige Fragen auf, oder?“

Iris nickte. „Stimmt. Außerdem haben wir ein Schlüsselbund, zwei Lippenstifte und Zigaretten, Feuerzeug, Taschentücher, Taschenspiegel und Kamm. Die Spurensicherung hat keine Hinweise gefunden. Alle Gegenstände tragen ausschließlich die Fingerabdrücke der Toten. Am Schlüsselbund sind mehrere Schlüssel, die auf Haus- und Wohnungstüren hinweisen. Ein Schlüssel allerdings ist für einen Ford.“

Anne kannte ihre junge Kollegin. „Und du weißt auch schon, für welchen Ford, nicht wahr?“

Iris lachte ihr schelmisches Lachen, das Anne so sympathisch fand. „Jawoll.“ Iris griff nach einem Blatt Papier und reichte es Anne fast schon triumphierend. „Einen Fiesta.“

„Bravo. Jetzt brauchen wir nur noch das Vehikel, zu dem dieser Schlüssel passt.“

Nach kurzer Überlegung fragte Anne: „Hast du schon etwas von Dr. Walther gehört?“

Im selben Augenblick klingelte das Telefon und sie meldete sich. Aufmerksam lauschte sie dem Sprecher am anderen Ende und nach wenigen Augenblicken konnte sie berichten: „Wenn man vom Teufel spricht. Das war Dr. Walther. Er ist fertig mit der Autopsie und meint, dass der Bericht in etwa einer Stunde auf unserem Tisch liegt. Der Tod soll zwischen 23:00 Uhr und 00:30 Uhr eingetreten sein. Er hat wiederholt, dass die Todesursache ein Cocktail aus verschiedenen Rauschmitteln war. Keine äußeren Verletzungen, keine Abwehrkratzer, dafür aber Erde unter den Fingernägeln. Außerdem hat die Spurensicherung Katzenhaare gefunden, die noch analysiert werden.“

„Aber die Fingernägel sahen doch sehr gepflegt aus.“

„Vordergründig. Wie der Arzt meinte, waren die aufgeklebten Nägel sehr gepflegt, aber unter ihren echten Nägeln fand er Erde. Aufgrund der Probe vom Fundort konnte er sagen, dass die Erde unter den Nägeln mit der Probe übereinstimmt. Das heißt, die Erde ist vom Fundort.“

„Na, dann hat sie sicherlich noch versucht, davonzukriechen oder sich in den Boden gekrallt.“

Anne hörte kaum noch hin. Sie bewegte der Mageninhalt. „Ihre letzte Mahlzeit nahm sie etwa eine Stunde vor ihrem Tod ein. Meeresfrüchte und Salat. Außerdem hatte sie einen Blutalkoholwert von 1,2 Promille. Dr. Walther meint, das sei vom Sekt.“ Sie sinnierte noch einmal über das Gespräch mit dem Arzt. „Und dann hat er bestätigt, dass die Tote unmittelbar vor ihrem Tod noch Geschlechtsverkehr mit zwei verschiedenen Männern hatte. Die jeweilige DNS ist gesichert. Er fand aber keine Spuren oder Hinweise für eine Vergewaltigung. Keine Blutergüsse, keine Kratzspuren, keine Abwehrverletzungen.“

Der Bericht war frustrierend. Wie sehr hatte Anne gehofft, Hinweise zu bekommen. Und als sie an den Staatsanwalt und den Polizeichef dachte, wurde sie reichlich nervös. „Wir müssen unbedingt herausfinden, wer sie ist, sonst drehen wir uns im Kreis und bleiben in Vermutungen stecken.“ Wieder dachte sie nach.

„Hast du nach der Handtasche gefragt? Ist sie im Labor?“, fiel ihr plötzlich ein.

„Gut, dass du fragst. Ja. Ihre Handtasche wurde gefunden. Sie schicken sie uns rüber. Die waren letzte Nacht mit der Tasche noch nicht fertig.“

Anne wusste, sie steckte in einer Sackgasse. Offensichtlich vermisste niemand die Tote. Also blieb nur die Polizeiroutine übrig. „Hast du schon gehört, ob sich jemand auf die Presseveröffentlichung gemeldet hat? Irgendjemand muss sie doch vermissen.“

Es dauerte einige Stunden, bis entsprechende Hinweise eintrudelten. Anne war froh, dass endlich Bewegung in den Fall zu kommen schien. Gemeinsam mit Iris bestellte sie die Anrufer ins Präsidium, um die Aussagen aufzunehmen und überprüfen zu können.

Am Nachmittag hatte Anne eine Studentin an der Strippe, die ihr den entscheidenden Hinweis gab. Sie bat die Frau, so schnell wie möglich ins Präsidium zu kommen. Endlich hatte die Tote einen Namen: Laura Winter, 25 Jahre alt. Ein kurzer Anruf bei der Zulassungsstelle ergab, dass tatsächlich ein roter Ford Fiesta auf ihren Namen registriert war und vom Einwohnermeldeamt bekam Anne die Adresse der Toten im Mönchengladbacher Stadtteil Odenkirchen.

Iris begleitete sie. Das kleine Appartement, zu dem einer der Schlüssel am Schlüsselbund der Toten passte, war ordentlich aufgeräumt. Für Anne zu aufgeräumt. „Es sieht aus, als würde niemand wirklich hier wohnen. Kein schmutziges Geschirr. Keine Pflanzen. Keine Zeitschriften. Der Kühlschrank ist so gut wie leer.“ Sie öffnete den Kleiderschrank. „Sehr wenig Kleidung. Nur zwei blonde Perücken. Ich finde das sehr, sehr merkwürdig.“ Auch Iris war verdutzt. „Eine 25jährige, bildhübsche Frau im Abendkleid und einem leeren Kleiderschrank. Dafür aber zwei Perücken? Das ist wirklich ungewöhnlich. Sehr ungewöhnlich.“

Die Durchsuchung war in kürzester Zeit beendet. Anne war tief enttäuscht, dass sie keinerlei verwertbare Hinweise fand, die sie dem Mörder oder der Mörderin näherbrachten. Hätte Dr. Walther einen möglichen Selbstmord nicht ausgeschlossen, sie hätte in diese Richtung ermittelt. Aber so? Nein, so verschwendete sie keinen weiteren Gedanken daran. Telefonisch informierte sie die Spurensicherung, nur für den Fall, dass irgendwelche Fingerabdrücke aufgestöbert werden konnten.

Zurück im Büro, fand sie eine junge, brünette Frau vor, die sich als Julia Wendel aus Aachen vorstellte. „Wir leben in einer Mädchen-WG.“

Sogleich hakte Anne nach. „Wer ist wir? Wie viele sind Sie in der WG?“

„Wir sind zu viert. Rebecca, Sonja, Laura und ich.“

„Wenn Laura in Aachen studierte und in Ihrer WG wohnte, warum hatte sie dann in Mönchengladbach ein Appartement?“

„Laura hat mir erzählt, dass sie ihren Bekannten- und Freundeskreis in Mönchengladbach hat und deshalb auch eine Möglichkeit haben will, da zu übernachten, ohne irgendjemandem auf die Nerven zu gehen.“

„Konnte sie sich das leisten?“

Julia Wendel lächelte. „Ja, sie war ein Glückspilz. Sie hat erzählt, dass sie was von ihren Eltern geerbt hatte. Deshalb konnte sie sich den zweiten Wohnsitz leisten. Außerdem hat sie ja auch hin und wieder gearbeitet, um ihr Finanzpolster nicht allzu sehr anzugreifen.“

Aufgrund weiterer, konkreter Fragen zeigte das Bild der Toten mehr und mehr Konturen.

Anne erfuhr, dass Laura zwar einen Freund namens Patrick hatte, diesen jedoch, aus Julias Sicht, nicht besonders gut behandelte. „Ich mochte nicht, wie Laura mit ihm umging. Er liebte sie abgöttisch, aber sie ließ ihn immer öfter kalt abblitzen. Ich gebe zu, mir ging er mit seinem Hundeblick manchmal auch auf die Nerven. Ständig rief er sie an und wollte etwas von ihr. Wenn sie nicht da war, nahm ich meist das Gespräch entgegen. Seine weinerliche Art war nervig. Aber so, wie sie ihn abblitzen ließ, das fand ich dann doch übertrieben.“

Weiter erfuhr Anne, dass Patrick Baumann in Mönchengladbach wohnte, konnte aber über Julia nicht in Erfahrung bringen, wo genau. Sie schob Iris einen kleinen Zettel herüber und diese begann umgehend mit der Recherche. Derweil befragte Anne die Studentin weiter. „Seit wann und wie oft war Laura Winter in der WG und wann in Mönchengladbach?“

Endlich bekam Anne die Hinweise, auf die sie gehofft und so lange gewartet hatte, nämlich dass die Tote seit etwas mehr als einem Jahr in Aachen wohnte und gleichzeitig an einer Ausgrabung am Fuße des Abteibergs teilnahm. Seit einigen Wochen hatte Laura mehr Zeit in der Vitusstadt verbrachte als im Hörsaal. Sicher, Anne wusste, dass in Mönchengladbach oft Überreste aus der Römerzeit gefunden und deshalb immer wieder Ausgrabungsplätze über der Stadt verteilt eingerichtet wurden. Sie hatte auch die Ausgrabungsstätte am Fuße der Abtei gesehen, sie jedoch nicht in Zusammenhang mit der Toten gebracht. War das der Grund für die Erde unter den Fingernägeln?

„Wissen Sie von Verwandten hier in der Stadt?“

Julia Wendel schüttelte den Kopf. „So eng waren wir nicht befreundet.“

Nach kurzem Zögern fragte Anne: „Können Sie mir sagen, warum Laura Winter in Abendkleidung gefunden wurde?“

Die Studentin schüttelte erneut den Kopf. „Nein, das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber vielleicht kann Ihnen da Irene Sauter weiterhelfen. Ich kannte Laura nur in Jeans.“

Blitzschnell notierte Anne sich den Namen. Irene Sauter, erzählte die junge Frau, sei die Inhaberin einer Jobvermittlung für Studenten. Julia ergänzte: „Die Studibörse, so heißt die Vermittlung, hat ihren Hauptsitz in Mönchengladbach, eine Zweigstelle in Aachen, eine in Köln und eine in Krefeld, soviel ich weiß. Frau Sauter ist die Chefin von allen und lebt in Mönchengladbach. Einmal habe ich ein Telefonat von ihr für Laura entgegengenommen. Deshalb wusste ich überhaupt erst, dass Laura mit der Studibörse zu tun hat.“

„Nutzen Sie denn nicht das Angebot dieser Einrichtung?“

Julia druckste herum, bevor sie antwortete: „Nein. Ich bin bei der Stujo registriert, eine andere Agentur, die Jobs für Studenten vermittelt.“

Anne entschied, nicht weiter in das Innenleben der jungen Frau einzudringen, denn sie beabsichtigte, die Mädchen-WG in Aachen aufzusuchen. Sie wollte auch die anderen Mitglieder kennenlernen und befragen. Dabei würde sie schon erfahren, warum sich Julia Wendel nicht bei der Studibörse registrierte.

Nachdem die Studentin Annes Karte eingesteckt hatte, für den Fall, dass sie sich noch an etwas Wesentliches erinnerte, verließ Julia Wendel das Büro und Anne machte es sich in ihrem Drehstuhl bequem, um über das nachzudenken, was sie von der Studentin erfahren hatte.

Als Iris ihr einen Zettel herüberschob, auf dem Name, Anschrift und Telefonnummer von Patrick Baumann notiert waren, murmelte sie: „So langsam kriege ich ein Bild, wenn es auch noch ziemlich unscharf ist.“

Sie sah hoch. Iris hielt ihr eine Akte entgegen und meinte grinsend: „Dann schau einmal hier rein.“ Neugierig öffnete Anne die Akte. Patrick Baumann war bereits mehrfach wegen Drogenbesitzes vorbestraft. „Ah! Was haben wir denn da?“

Nachdem sie die Einträge überflogen hatte, hob sich ihre Stimmung. „Komm, Löwin, wir haben zu tun. Vielleicht weiß der junge Mann über Drogencocktails mehr, als wir ahnen.“

„Einen Moment. Ich habe hier noch eine Information, die ich für sehr, sehr wichtig halte.“

Unwillig schüttelte Anne den Kopf. „Was könnte wichtiger sein, als zwei Verdächtige zu befragen?“

„Ganz einfach“, grinste Iris, „das Geburtsdatum der Toten.“

„Was könnte daran wichtig sein?“

„Auch nicht, wenn es mit dem Todestag zusammenfällt?“

„Wie bitte?“

„Ja. Sie wurde in der Nacht ermordet, als sie 25 werden sollte. Am Samstag hätte sie das Vierteljahrhundert vollendet.“

Das ist kein Zufall.“

„Das sehe ich genauso.“

Gemeinsam mit ihrer jungen Kollegin suchte Anne Patrick Baumann auf.

Als sie ihm gegenüber saß, erkannte sie sehr schnell, dass dieser nervös auf den Besuch reagierte. Immer wieder sah er zur Tür, als ob er jeden Moment weiteren Besuch erwartete. Als Anne ihm mitteilte, dass Laura Winter tot war, versteinerte er mitten in der Bewegung und starrte sie völlig entgeistert an. „Was sagen Sie da? Aber das kann doch nicht sein!“

Anne hatte den Eindruck, dass der Schock echt war, aber sie ließ ihn nicht aus den Augen. Vielleicht war er auch nur ein guter Schauspieler. Nach ein paar gezielten Fragen wusste sie, dass er nicht flunkerte. „Sie müssen sich erst von diesem Schreck erholen. Kommen Sie morgen um 11 Uhr ins Präsidium, damit Sie uns ein paar Fragen beantworten können.“ Auf dem Weg zum Auto bemerkte sie: „Der wäre nicht zu einer vernünftigen Aussage fähig gewesen. Oder siehst du das anders?“ Iris schüttelte stumm den Kopf.

Der Besuch bei Irene Sauter am nächsten Tag war weitaus ergiebiger. Die Inhaberin der Studibörse wirkte auf Anne gelassen und ruhig. Doch die Nachricht vom Tod einer ihrer Studentinnen brachte sie sichtlich aus der Fassung. Mit bleichem Gesicht stammelte sie: „Laura? Laura Winter? Wann ist das passiert?“

Als sie hörte, dass der vorletzte Freitag oder Samstag als Tattag festgestellt worden war, sprang sie erschrocken auf und rief: „Aber da war sie doch bei Junkers!“

Hellhörig geworden bat Anne um Einzelheiten. Irene Sauter berichtete, dass Laura öfter einen Job annahm, der von ihr als Chefin persönlich vermittelt wurde. Anne notierte, dass immer wieder Partys veranstaltet wurden, zu denen Studentinnen als Serviererinnen angefordert wurden. In Studentenkreisen galten solche Jobs als sogenannte Sahnetörtchen, weil in kurzer Zeit, meist drei Stunden, 100 Euro verdient werden konnten, zuzüglich der meist großzügigen Trinkgelder.

Irene Sauter versicherte: „Solche Jobs sind mit bestimmten Themen verbunden, das heißt, es handelt sich um Partys, die unter einem Motto stehen. Am letzten Samstag wollte Dieter Junker seinen Junggesellenabschied feiern und wünschte Studentinnen, die sich sexy kleiden und alles Weibliche betonen. Er sagte wörtlich: die sollen wie Animierdamen aussehen.“

„Heißt das“, vergewisserte Iris sich, „solche Jobs waren auch mit… na ja, sagen wir mal… Zweideutigkeiten verbunden?“

„Oh nein“, wies Irene Sauter diese Vermutung strikt und empört zurück. „Als Mutter eines Freudenclubs bin ich völlig ungeeignet. Das sage ich allen meinen Kunden ausdrücklich.“

Doch Anne ließ nicht locker. „Haben sich auch alle Ihre Kunden an Ihre ausdrücklichen Grenzen gehalten?“

Sie registrierte, dass die Unternehmenschefin verunsichert reagierte. „Nun… mir ist nichts Gegenteiliges bekannt. Meine Mädels, so nenne ich meine Stammstudentinnen, hätten mir ansonsten bestimmt davon berichtet.“

„Das bedeutet“, fasste Iris zusammen, „Sie können nicht ausschließen, dass es zu persönlicheren und engeren Kontakten zwischen Ihren Mädels und Ihren Kunden gekommen sein könnte. Ist das richtig?“

Irene Sauters Hände zitterten ein wenig, als sie steif und sehr betont antwortete: „Was die Mädels in ihrer Freizeit machen, kann ich nicht sagen. Wenn sie sich mit Kunden außerhalb oder nach der Arbeit privat treffen, kann ich das natürlich nicht verhindern.“

Auf dem Weg zum Auto fragte Iris: „Meinst du, dass wir hier auf der richtigen Spur sind? Ob die tatsächlich mehr eine Puffmutter als eine Jobvermittlerin ist?“

Anne amüsierte die Frage. „Vorsicht, Löwchen. Das könnte Verleumdung sein. Wir wissen es nicht. Aber wir werden Herrn Junker befragen.“

Kaum dass Iris den Motor gestartet hatte, entschied Anne spontan, zuerst zum Geroweiher zu fahren. Iris wechselte umgehend die Fahrtrichtung. Am Abteiberg angekommen, suchten sie die Ausgrabungsstätte auf, auf der Laura Winter angeblich gearbeitet hatte. Sie gingen schnurstracks auf den Platz zu und hörten, wie zwei Männer, geschützt durch große Zelte, sich über die Funde austauschten. Anne hielt Iris zurück, die das Zelt betreten wollte, und zeigte an, dass sie die Unterhaltung unbemerkt belauschen wollte. Doch mehr als Wortfetzen wie „uralt... 80 nach Christus...“ und „... vorsichtig“ konnte sie nicht hören. Die Öffnung des Zeltes wurde zur Seite geschlagen und ein großer, sehr schlanker Mann im weißen Arbeitskittel erschien. Verdutzt reagierte er auf den Anblick der beiden Frauen. „Was machen Sie hier? Was wollen Sie?“ Anne zeigte ihren Ausweis und stellte sich und ihre Kollegin vor. Der mindestens 1,90 m große Mann fragte verdattert: „Polizei?“ Auf Befragen stellte er sich als Rüdiger Zeller vor, als derjenige, der für die Ausgrabungen die Verantwortung trug. Die Nachricht vom Tod Laura Winters brachte ihn vollkommen aus der Fassung. Zitternd und leichenblass ließ er die Beamtinnen einfach stehen, sprang in ein Auto und fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit davon. Anne fühlte sich überrumpelt und Iris sah sie achselzuckend an.

Perplex und nachdenklich schüttelte Anne den Kopf. „Komm. Jetzt wollen wir den Gesprächspartner im Zelt kennenlernen. Um Herrn Zeller kümmern wir uns später.“

Iris hielt die Plane beiseite, sodass Anne durchschreiten konnte. Im Inneren des Zeltes fanden sie einen jungen, dunkelblonden Mann vor, der sich als Peter Grobel vorstellte. Nachdem sie sich ausgewiesen hatten, fragte Anne ihn: „Ist Herr Zeller immer so überstürzt und spontan in seinen Entscheidungen?“

Mit verständnislosem Blick sah der junge Mann von Anne zu Iris. „Ich verstehe Ihre Frage nicht.“

Iris fasste das soeben Erlebte zusammen und berichtete vom Tod Laura Winters. Auch Peter Grobel wurde blass, als er hörte, was der Schwarzhaarigen widerfahren war. „Laura? Laura Winter? Tot?“ stammelte er ungläubig und fuhr fort: „Jetzt verstehe ich. Herr Zeller und Laura standen sich sehr nahe. Jetzt kann ich seine Reaktion nachvollziehen. Wissen Sie, Frau Kommissarin, Herr Zeller ist normalerweise ein sehr ruhiger und besonnener Mensch, der auf unerwartete Funde bei unseren Ausgrabungen stets mit Vorsicht und Argwohn reagiert. Er gehört nicht zu den spontanen und aufbrausenden Menschen, die sich von ihren Gefühlen leiten, geschweige denn überrollen lassen.“

Anne hatte aufmerksam zugehört und hakte sofort nach. „Wie nahe standen sich denn Frau Winter und Herr Zeller?“

Peter Grobel errötete bis in seine dunkelblonden Stoppelhaare und stotterte: „Nun ja… ganz sicher kann ich Ihnen das nicht sagen. Das sollten Sie Herrn Zeller lieber selbst fragen.“

„Ich frage aber Sie, Herr Grobel. Was glauben Sie denn?“

Betreten sah der junge Mann zu Boden und schwieg eine ganze Weile, bevor er mit unsicherer Stimme antwortete: „Ich glaube, die beiden hatten eine Affäre.“

Sichtlich erschrocken über seine eigenen Worte, fügte er hastig hinzu: „Bitte! Das ist nur eine Vermutung. Sagen Sie Herrn Zeller bloß nicht, dass Sie das von mir haben.“

„Keine Sorge“, erwiderte Anne. „Seit wann arbeitete Frau Winter hier?“

Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Ich bin selbst erst seit vier Wochen hier.“ Nach kurzem Zögern fuhr er fort: „Aber, soweit ich das verstanden habe, arbeitete Herr Zeller schon längere Zeit mit Frau Winter zusammen. Ich hörte, wie sie von einer Ausgrabung in Giesenkirchen sprachen. Vor etwas mehr als einem Jahr.“

„Waren Sie auch am vorletzten Freitag und Samstag hier an der Stätte?“

„Nein. Wir arbeiten samstags nie. Und am Freitag quälten mich heftige Zahnschmerzen. Deshalb blieb ich zu Hause.“

Anne erfuhr, dass die Ausgrabungsstätte vor etwa sechs Wochen eingerichtet worden war und Peter Grobel, als Münzexperte für vorchristliche Artefakte, erst später hinzugezogen wurde. Nein, er kannte Laura Winter vor Beginn seiner Arbeit nicht. Nein, er hatte keinen näheren Kontakt zu ihr. Nein, er kannte keine Freunde oder Bekannte von Frau Winter.

Auch Peter Grobel erhielt eine Karte von Anne mit dem Hinweis, er möge sich melden, falls ihm noch etwas Bedeutsames einfiel.

„Und?“, fragte Iris, nachdem sie das Zelt verlassen hatten. „Was machen wir jetzt?“

„Was hältst du von einem Besuch bei Herrn Junker?“

Doch auch die Befragung des Veranstalters der Junggesellenparty erwies sich als wenig ergiebig. Er war mit der Besetzung seiner Bedienung sehr zufrieden gewesen und konnte sich recht gut an Laura Winter erinnern. Nein, die Party war nicht ausgeufert. Nein, die Gäste hatten sich nicht an Laura Winter vergriffen. Ja, alle seine Freunde waren nach dem Rückzug Lauras anwesend. Nein, keiner hatte sich an sie herangemacht. Ja, das könnte er beschwören.

Die obligatorische Karte mit dem verpflichtenden Hinweis gelangte ebenso in die Hände von Dieter Junker wie zuvor schon bei den anderen beiden.

Zurück im Roten Kasten war Anne überrascht, Rüdiger Zeller im Büro vorzufinden. Bei ihrem Eintreten sprang er auf. Wie ertappt, dachte sie. Er stammelte sein Bedauern über sein Verhalten am Ausgrabungsplatz.

„Wissen Sie, ich kannte Laura schon mehr als ein Jahr und hatte ein sehr freundschaftliches Verhältnis zu ihr.“ Anne sah, wie er seine Handflächen nervös aneinanderpresste.

Iris und sie tauschten einen kurzen Blick und Anne reagierte betont verständnisvoll. „Nun beruhigen Sie sich, Herr Zeller. Ich verstehe Ihre Aufregung. Ein Mord ist ja nicht gerade alltäglich, nicht wahr?“

Sie ließ den Archäologen nicht aus den Augen, als er antwortete: „Mord? Aber warum, Frau Kommissarin? Warum Laura?“

„Nun, wir hatten gehofft, Sie könnten uns bei der Suche nach dieser Antwort behilflich sein.“

Als der gepflegte Mann schweigend den Kopf schüttelte, fragte sie weiter: „Wo waren Sie am Freitag und Samstag vorletzter Woche?“

Rüdiger Zeller hob mit einem Ruck den Kopf, wurde leichenblass und fragte gepresst: „Sie verdächtigen mich, etwas mit Lauras Tod zu tun zu haben?“

Anne bemühte sich erneut, den Mann zu beschwichtigten, der ihr schon fast ein wenig leid tat. „Erschrecken Sie nicht. Wir tun nur unsere Arbeit und das sind reine Routinefragen.“

Als der Mann nicht reagierte, wiederholte Anne: „Wo waren Sie am Freitag und Samstag, dem 20. und 21. November?“

Statt zu antworten, fragte Zeller stotternd: „Ist sie… ist sie am Samstag… gestorben?“

Langsam wurde Anne ungeduldig und forderte energischer: „Ja, Herr Zeller. Aber sie ist nicht gestorben, sondern sie wurde ermordet. Und jetzt beantworten Sie bitte meine Frage. Wo waren Sie in der Nacht von Freitag auf Samstagabend? Am 20. und 21.11.?“

„Ich war zu Hause. Mit meiner Frau zusammen“, antwortete er kaum hörbar, während er nervös seine Handknöchel knetete. Stockend berichtete Zeller, wie er Laura kennengelernt hatte, wann und wie sie auf den Ausgrabungsstätten eingesetzt wurde und welche Begeisterung die junge Frau für ihre Arbeit zeigte.

Nein, er kannte keinen ihrer Freunde oder Bekannten. Nein, er hatte sie Samstag nicht gesehen. Nein, er wusste nichts von einer Junggesellenparty. Nein, er hatte ihre Familie nie kennengelernt. Ja, sie hatte wenige Sätze über Patrick Baumann fallenlassen, aber er konnte sich an Details nicht erinnern.

Als Anne Rüdiger Zeller ermahnte, erreichbar zu bleiben, wurde er noch nervöser, als er ohnehin schon war. Seine Gesichtsmuskeln zuckten, als er fast flehentlich bat: „Bitte, verschonen Sie meine Frau und meine Kinder mit dieser Geschichte. Wenn Sie noch Fragen haben, dann können Sie mich am Geroweiher erreichen.“

Mit einer fahrigen Handbewegung händigte er Anne seine Karte aus und tippte darauf. „Da steht auch meine Handynummer. Sie können mich darunter jederzeit erreichen. Wenn es ausgeschaltet ist, können Sie mir ja auf die Mailbox sprechen. Ich nehme dann, so schnell es geht, mit Ihnen Kontakt auf.“

Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete Iris hörbar aus. „Puh! Hat der eine Angst. Der war ja schon fast am Rande eines Zusammenbruchs. Und das soll nur eine freundschaftliche Beziehung gewesen sein? Ich fresse einen Besen, wenn der nicht ein Verhältnis mit ihr gehabt hat. Genau wie dieser Peter Grobel sagte.“

Anne konnte ihr nur zustimmen. „Ja, das glaube ich auch. Aber ist das wirklich relevant? Wäre ein solcher Mensch fähig, einen kaltblütigen Mord zu begehen?“ Das konnte sie sich nicht vorstellen. „Rüdiger Zeller ist fertig mit den Nerven. Aber wir werden ihn so lange auf der Liste der Verdächtigen behalten, bis wir den Täter haben.“

Anne war zufrieden. Endlich konnte sie richtig ermitteln. Auf der gegenüberliegenden Wand befand sich die Weißwandtafel und sie griff nach den Filzstiften. „Lass uns einmal zusammenfassen, was wir bis jetzt herausgefunden haben.“

Nachdem alle Namen der bekannten Personen vermerkt waren, listete Anne auf der linken Seite Fakten auf, die noch im Nebel der Vermutungen steckten. Rechts von der Namensrunde listete sie Fragen auf, zu denen noch jegliche Anhaltspunkte fehlten, wie z.B. die Frage, warum sich keine ihrer Bekannten aus Mönchengladbach meldeten. Auch Zeller hatte sich nicht gemeldet. Las der keine Zeitung?

Ohne sich umzudrehen, holte sie sich Iris’ Bestätigung. „Habe ich noch etwas vergessen?“

„Nein, Anne. Du bist perfekt. Wie immer.“

Überrascht von der Antwort, drehte sie sich um und sah Iris’ Grinsen.

„Nun, dann können wir uns dem Autopsiebericht widmen“, meinte Anne. Sie griff nach der roten Mappe und vertiefte sich in die Einzelheiten, während Iris für das leise Klicken der Tastatur ihres Computers verantwortlich war. Als Anne leise durch die Lippen pfiff, verstummte das Klappern und Iris hörte ihrer Kollegin zu. „Na, das ist aber interessant. Hör mal Iris. Laura Winter war nicht nur vollgestopft mit Chemikalien, auch ihre letzte Mahlzeit schwamm nicht in einfachem Sekt, sondern in echtem Champagner der Marke Veuve Clicquot.“ Sie konnte ein leises „Nobel, nobel“ nicht unterdrücken und vertiefte sich wieder in den Bericht. Das Klappern der Tastatur begann erneut.

Nachdem sie alle medizinischen Fakten aufgenommen hatte, ließ Anne die Heftmappe auf den Schreibtisch sinken und grübelte über das Gelesene nach. Iris ließ sich davon nicht beeindrucken und bearbeitete weiter ihre Tastatur. Nach einer Weile des Nachdenkens sagte Anne eher zu sich selbst: „Vielleicht sollten wir uns diesen Patrick Baumann einmal genauer ansehen. Mir scheint, als hätte er seine Finger im Spiel.“

Iris ließ sich vernehmen: „Der und Veuve Clicquot? Nie! Wo soll der das Geld herhaben?“

„Du hast recht. Das lässt eher auf Zeller oder Junker schließen.“

„Oder einer seiner Partygäste“, ergänzte Iris. Kichernd setzte sie hinzu: „Aber die Studenten-WG und die Sauter sind auch noch nicht aus dem Rennen. Was wissen wir denn schon, was heute in Studentenkreisen los ist, wenn es um Party machen geht? Und weißt du, ob die Sauter nicht ihre Mädels volldröhnt, damit sie mehr als einen guten Job machen?“

„Langsam, langsam“, bremste Anne ihre junge Kollegin, „du kannst doch nicht wahllos Verdächtigungen äußern.“

„Nein. Ich versuche nur herauszufinden, wer ein Motiv für den Mord hat.“

Anne schüttelte den Kopf. „Nein, so geht das nicht. Wir sollten uns nicht mit Ratespielen beschäftigen, sondern mit Fakten. Nein, Iris, uns fehlen noch zu viele Puzzleteile.“

Wieder dachte Anne nach und fuhr nach einer Weile fort: „Wo ist ihr Auto? Weshalb ist ihre Wohnung fast unbenutzt, obwohl sie schon seit Wochen hier ist und nicht in der WG? Und wozu braucht sie Perücken?“ Sie war höchst unzufrieden mit der Auswertung der bisherigen Informationen. „Wir haben außerdem weder Familienmitglieder oder Freunde gefunden, noch haben wir ihr Umfeld in Aachen durchforstet. Hat sie wirklich keine Eltern mehr? Wer waren ihre Freunde? Mit wem hing sie in ihrer Freizeit zusammen? Hatte sie tatsächlich eine Affäre mit Zeller? Wie weit ging diese Beziehung wirklich? Hat sie ihn vielleicht unter Druck gesetzt und ihm sind die Nerven durchgegangen?“

Iris bestätigte: „Ja, du hast recht. Wir haben noch einiges an Routinearbeit zu leisten.“

Anne hatte genug vom Tag. „Das hat bis morgen Zeit. Für heute machen wir Feierabend. Einverstanden?“

„Geh du nur“, antwortete Iris, „ich bleibe noch ein bisschen hier und recherchiere online.“

Doch Anne fuhr nicht nach Hause, sondern nach Rheindahlen, um Jette aufzusuchen. Sie brauchte jetzt unbedingt jemanden, der ihr zuhörte Sie fühlte sich ausgelaugt und verwirrt. Da schien ihr Jette, wie immer, die richtige Ansprechpartnerin zu sein.

Auch wie immer, wurde sie von ihrer Freundin herzlich empfangen und folgte ihr in deren helles Wohnzimmer. Am Ende ihres Berichts schwieg Jette lange Zeit mit geschlossenen Augen. Anne wusste, dass sie sie in solchen Momenten besser nicht störte, deshalb wartete sie geduldig auf Jettes Reaktion.

Die alte Uhr am Kamin tickte laut und Anne lauschte dem rhythmischen Klang des Zeitanzeigers. Sie schreckte hoch, als Jette fragte: „Wie war die Zusammensetzung der Drogen genau?“

Anne blätterte im Bericht, den sie vorsorglich mitgenommen hatte. „Mal sehen. Hier steht es: an einer Mischung aus Valium, Novaminsulfad, Kokain, Kaliumchlorid, Lepinal, Thalidomid und Bromsalz.“

Jettes Gesicht verzog sich, als hätte sie eine Kröte verschluckt. „Also Drogen, Schmerzmittel, Beruhigungsmittel und Unkrautvernichtungsmittel? Was für eine Mischung!“ Gedankenverloren schaute sie auf ihre Hände und fügte hinzu: „Hoffentlich hat sie den Unkrautvernichter erst nach dem anderen Zeug eingenommen.“

„Weshalb?“

„Weil Unkrautvernichter höllische Schmerzen verursacht. Und wenn sie zuerst die anderen Mittel einnahm, hat sie von den Schmerzen nichts mehr mitbekommen.“

Ohne Übergang fragte sie: „Welche Katzenart hat ihre Haare auf Lauras Kleidung hinterlassen?“

Die Frage überraschte Anne. „Keine Ahnung. Warum fragst du? Meinst du nicht, dass sich nachts zig Katzen am Geroweiher tummeln? Hier verrennst du dich in unwichtige Banalitäten, meine Liebe.“

Ohne auf Annes Bemerkung einzugehen, fuhr sie fort: „Was ist mit ihrem Bankkonto?“

„Die Anfrage läuft noch.“

Wieder schwieg Jette und verharrte fast regungslos in ihrem Sessel. Nach einem lauten Seufzer sagte sie: „Ich glaube, meine Liebe, du hast es hier mit einem ganz raffinierten, perfiden Mord zu tun, bei dem es um Hass geht.“ Nach kurzem Zögern betonte sie mit traurigem Gesicht: „Um abgrundtiefen, seelenzerfressenden Hass.“

Das erstaunte Anne. „Wie kommst du darauf? Könnte es nicht genauso gut eine Affekttat gewesen sein? Oder vielleicht hat sie einfach aus Versehen zuviel Pillen, Alkohol und Putschmittel genommen!“

Energisch schüttelte Jette den Kopf. „Das glaubst du doch selber nicht, oder?“

„Du hast recht, Jette. Das glaube ich nicht wirklich, dazu liegen viel zu viele Widersprüche auf dem Tisch. Selbst wenn ihr ein Teil des Cocktails ohne ihr Wissen verabreicht worden wäre, erklärt das nicht die Beimischung vom ekelhaften Rest und dem Champagner.“

„Um nur einen Widerspruch zu nennen“, bestätigte Jette trocken und fuhr fort: „Nein. Ich bleibe dabei. Es handelt sich hier um einen ganz perfiden Mord aus bodenlosem, abgrundtiefem, maßlosem und unbezähmbarem Hass.“ Nach kurzem Zögern setzte sie hinzu: „Finde heraus, um welche Katzenhaare es sich handelt.“ Anne bemerkte das Zaudern, bevor Jette weitersprach: „Mir bereitet noch ein weiterer Aspekt Sorge. Doch ich möchte ihn noch nicht ansprechen, bis du weitere Ergebnisse vorliegen hast, vor allem aus Aachen.“

Nun war Annes Neugier geweckt, doch trotz eindringlicher Nachfrage weigerte sich Jette beharrlich, den Punkt offenzulegen, der sie beschäftige. Müde und abgespannt erhob sich Anne und verabschiedete sich von ihrer Freundin. Sie dankte ihr für ihr Zuhören und ihre Zeit und fuhr nach Hause.

Kurz bevor sie das Licht löschte, rief Jette noch einmal an. „Habe ich dich gestört?“

„Nein.“ Anne wunderte sich über den Anruf. „Was gibt es?“

Jettes Zaudern war unüberhörbar. „Ich sorge mich um Patrick Baumann.“

„Wieso das?“

„Ich kann es dir nicht erklären. Aber bitte versprich mir, dass du dich morgen als Erstes um ihn kümmerst.“

Anne verstand Jettes Sorge zwar nicht, sicherte ihr jedoch zu, am nächsten Morgen sogleich mit dem jungen Mann Kontakt aufzunehmen. Vielleicht beruhigte es sie.

Sie hörte sich in der Tat sehr besorgt an, dachte Anne, bevor sie einschlief.

* * * * *

Nach dem Gespräch mit Anne war an Schlaf nicht zu denken. Jette ließ sich in den Sessel fallen und hing ihren Gedanken nach. Es gelang ihr nicht, dem aufsteigenden, intensiven Gefühl der Bedrohung einen Namen oder ein Gesicht zu geben. Sie legte ihre Lieblings-CD ein, um sich zu entspannen. Vergeblich. Das nagende Gefühl in ihrem Inneren drang weder an die Oberfläche ihres Bewusstseins, noch verschwand es in den Tiefen ihres Unterbewusstseins.

Sie kannte diesen Zustand nur zu gut. Es war das untrügliche Zeichen, dass ihre Ahnungen dringend intensiv bearbeitet werden wollten.

Sie griff zu ihrem Füllfederhalter und ihrer Kladde aus dem Sekretär und notierte:

 

  1. Patrick Baumann!!!
  2. Erde unter den Fingernägeln?
  3. Katzenhaare?
  4. Stammbaum?
  5. Internet?

 

Danach legt sie Heft und Stift beiseite und beschloss, bei der nächsten Gelegenheit mit Anne über die aufgelisteten Punkte zu sprechen.

Trotz ihrer Müdigkeit wälzte sie sich in ihrem Bett unablässig von einer Seite zur anderen, bevor sie in einen unruhigen Schlaf fiel.

* * * *

Als Anne um kurz vor 10 Uhr im Büro erschien, fand sie Iris bereits am Computer vor, wie sie wieder einmal mit einer Affengeschwindigkeit die Tasten ihres Gerätes malträtierte. Anne war gut drauf und warf ihren Mantel über den Haken der Standgarderobe.

„Na, Löwchen“, fragte sie, „wie steht’s?“

„Ganz gut“, erwiderte Iris fröhlich. „Ich war echt erfolgreich.“ Sie erzählte vom Ergebnis ihrer Online-Recherchen. Aufmerksam hörte Anne ihr zu, was sie von Rüdiger Zeller zu berichten wusste. „Der ist eine ganz große Nummer bei den Archäologen und genießt einen ausgezeichneten Expertenruf. Die Kommentare über seine Arbeit sind erste Sahne. Sein einziger Fleck auf weißer Weste ist die Tatsache, dass er wohl die Finger nicht von Weiberröcken fern halten kann.“

„Wie das?“

„Na ja“, antwortete Iris grinsend, „es ist wohl nicht die erste Assistentin, mit der er ein Techtelmechtel hatte.“

„Und das alles steht im Internet?“

„Oh ja. Aber nur, wenn du in die entsprechenden Chatrooms gehst und vorgibst, Studentin auf Assistentenstellensuche zu sein. Dann kannst du alles erfahren, was du wissen willst.“

Weil Iris nicht aufhörte zu grinsen, fragte Anne pflichtschuldig: „Wie ich sehe, hast du noch mehr erfahren. Stimmt’s?“

„Stimmt“, nickte diese. „Ich habe erfahren, zumindest als Gerücht, dass auch Lauras Professor in Aachen einer ist, der nicht in die Suppe spuckt, wenn es um attraktive Studentinnen geht.“

„Ach, das ist aber sehr interessant.“

Nach kurzer Denkpause schlug Anne vor: „Um 11 Uhr kommt Patrick Baumann. Sobald wir mit seiner Vernehmung fertig sind, besuchen wir diesen Professor mal in Aachen persönlich. Was meinst du?“

„Einverstanden“, stimmte Iris munter zu.

Sie vertieften sich in ihren Papierkram, um die Zeit bis zu Baumanns Eintreffen sinnvoll zu nutzen. Als Anne nach einer Weile auf die Uhr schaute, erschrak sie. „Iris! Es ist schon halb zwölf. Und dieser Baumann ist noch nicht da. Ob der es wagt, uns zu versetzen?“

Siedendheiß fiel ihr Jettes abendlicher Anruf ein. „Komm, Löwin. Wir schauen mal bei ihm vorbei und setzen ihn unter Druck. Und wenn wir mit ihm fertig sind, fahren wir gleich weiter zur Uni und dem Professor. Wie hieß der noch?“

„Professor Dr. Volker Lintmar“, antwortete Iris wie aus der Pistole geschossen und hastete hinter Anne her.

Als sie bei Patrick Baumann in Neuwerk klingelten, rührte sich nichts. Auch das Sturmklingeln führte nicht zum gewünschten Ergebnis. Schließlich öffnete eine Nachbarin das Fenster und rief ärgerlich: „Was soll das? Kriegen Sie nicht mit, dass der Bengel nicht da ist?“

Anne tauschte mit Iris einen vielsagenden Blick und Iris klingelte erneut, diesmal direkt bei der Nachbarin, während Anne im Präsidium nachfragte, ob Patrick Baumann sich dort gemeldet hatte. Doch der junge Mann war nicht erschienen. Iris hatte die verärgerte Nachbarin offensichtlich beschwichtigt, denn als Anne hinzukam, wirkte sie hilfsbereit und freundlich.

Sie hatte ihren Nachbarn Patrick Baumann zuletzt am Abend zuvor gehört, als er um etwa 18 Uhr seine Wohnung verließ. Ihre Tiraden, wie oft sie ihm schon gesagt hatte, dass er nicht immer seine Wohnungstür so heftig zuknallen sollte, waren natürlich, wie das bei den jungen Leuten so üblich ist, schamlos ignoriert worden. Iris und Anne unterbrachen die Schimpfkanonade gleichzeitig und stellten gezielte Fragen zu den Gewohnheiten des jungen Mannes. Martina Lutten, die verärgerte Hausfrau, stand plötzlich im Mittelpunkt des Interesses der Kripo und das schmeichelte ihr offensichtlich ungemein. Gern erzählte sie deshalb langatmig von ihren unangenehmen Begegnungen mit diesem, diesem… Nichtsnutz. Während Anne konzentriert zuhörte, machte sich Iris Notizen. Weil die redselige Nachbarin ununterbrochen plauderte, brauchten sie keine weiteren Fragen mehr zu stellen.

Nur widerwillig ließ Martina Lutten sie gehen, denn sie hätte ja noch „sooo viel zu erzählen über diesen Taugenichts“. Doch Iris und Anne hatten genug gehört. Zurück im Wagen rief Anne erneut im Präsidium an und bat darum, eine Fahndung nach Patrick Baumann einzuleiten. Ihrer Empörung machte sie ungebremst Luft. „Der kann uns doch nicht an der Nase herumführen. Ist dem Bürschchen nicht klar, dass er damit automatisch zum Hauptverdächtigen aufrückt?“ Nachdem sie sich angeschnallt hatte, forderte sie Iris auf: „So. Und nun auf nach Aachen. Ich werde während der Fahrt mit den Kollegen telefonieren. Fahr du nur anständig, wie es sich für die Polizei gehört.“

Iris grinste nur und fuhr mit quietschenden Reifen über die Krefelder Straße in Richtung A52 und dann auf die A61 in Richtung Koblenz. Bereits im Bereich des Autobahnkreuzes Jackerath, als sie in Richtung Aachen abbogen, hatte Anne das Einverständnis ihrer Kollegen, den Professor in deren Einzugsbereich zu befragen.

Obwohl Anne alles, was mit Computern zu tun hatte, viel lieber in Iris’ Hände legte, konnte sie nicht umhin zu bemerken: „Diese Navigationssysteme sind eine der segensreichsten Erfindungen, seit es Satelliten gibt.“

Ohne ein Wort zu verlieren, grinste Iris nur und schaute betont geradeaus. Nach etwa zwanzig Minuten hatten sie die Stadtgrenze von Aachen erreicht und wälzten sich durch den Stadtverkehr. Bald erreichten sie das Universitätsgelände.

Anne schaute an den typischen, hellgrauen Betonbauten empor, wie sie für Universitätsgebäude üblich sind. Nach wenigen Minuten hielten sie vor einem dieser viereckigen Kästen. Das Büro des Professors lag im ersten Stock und sie erfuhren, dass der Herr Professor sich derzeit im Hörsaal befände, aber in etwa einer halben Stunde von seiner Sekretärin erwartet würde. Gern nahmen sie den angebotenen Kaffee an, dessen Qualität den im Präsidium bei weitem übertraf. Als der Leiter der Fakultät sein Büro betrat und seine Sekretärin ihn über die Besucher aufgeklärt hatte, bat er die beiden in sein Büro, einen eleganten, sehr kostbar möblierten Raum.

„Ist es üblich, dass Professoren an einer öffentlichen Universität derart edel eingerichtet sind?“, fragte Anne direkt. Lintmar lachte und erwiderte jovial: „Oh, nein. Das ist mein Privatvergnügen. Ich brauche nun einmal, um gute Arbeit leisten zu können, ein mir gemäßes Umfeld.“ Er umrundete seinen Mahagonischreibtisch, setzte sich in seinen bequemen, braunen Ledersessel, bat die Besucherinnen mit einer Handbewegung auf, ebenfalls Platz zu nehmen und fragte gönnerhaft: „Nun, meine Damen, was kann ich für Sie tun?“

Anne wollte sehen, ob er auf harte Fakten ebenso jovial und souverän reagierte und antwortete deshalb trocken: „Nun, Sie können uns sagen, wo Sie am Freitag, dem 20.11., abends zwischen 22:00 Uhr und 00:30 Uhr waren, als Laura Winter ermordet wurde.“

Der Mann mit dem gepflegten Schnauzbart und dem exakt gekämmten Scheitel seines angegrauten Haarschopfes zog hörbar die Luft ein, während jegliche Farbe aus seinem Gesicht wich. Leichenblass und mit hervorquellenden Augäpfeln starrte er Anne an und brachte kein Wort aus seinem offenstehenden Mund hervor. Sie konnte förmlich sehen, wie es in seinem Inneren tobte und ließ ihn nicht aus dem Blick. Das Entsetzen in seinen Augen schien ebenso echt wie das Weiß seiner Handknöchel. Seine Hände krallten sich in die Armlehnen seines Stuhls. Es dauerte sehr lange, bis er heiser flüsterte: „Laura? Laura… tot?“ Als wäre er aus einer tiefen Trance erwacht, sprang er plötzlich auf und rief erregt und empört: „Trauen Sie mir etwa zu, etwas damit zu tun zu haben?“

„Nun beruhigen Sie sich, Herr Professor“, beschwichtigte Iris den Mann. „Wir tun nur unsere Pflicht und überprüfen routinemäßig das gesamte Umfeld der Toten.“

Lintmar schien tatsächlich besänftigt und entschuldigte sich. „Bitte verzeihen Sie meine Emotionen. Es passiert nicht alle Tage, dass eine meiner Studentinnen ermordet wird.“ Mit seinem reinweißen Taschentuch wischte er sich die feinen Schweißperlen von der Stirn

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: © Karin Welters / LitArt-World
Bildmaterialien: © 123 RF, Cathy Yeulet, Tasskorn Sriramat
Cover: © Karin Welters
Tag der Veröffentlichung: 13.10.2016
ISBN: 978-3-7396-7846-7

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