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Leseprobe

Köln, 08. September 1968

*

Mühsam schleppte sie sich Stufe für Stufe hinauf. Am Handlauf zog sie sich zusätzlich hoch. Wie eine glühende Stricknadel durchbohrte sie der Schmerz. Mit jedem Schritt peitschte er wellenförmig durch ihren Körper. Immer wieder musste sie innehalten, weil ihr schwarz vor Augen wurde. Verkrusteter Matsch klebte in dicken Klumpen an ihren Kniestrümpfen. Das hübsch geblümte Kleid, ihr Lieblingskleid, hing in Fetzen an ihrem Körper herunter. Entkräftet hielt sie das, was vom Rock übrig geblieben war, mit Blut verschmierten Händen zusammen. Sie spürte kaum das warme Blut, das an ihren Beinen herabfloss und auf jeder Steinstufe dunkle, kreisrunde Flecken hinterließ.

Wie lange sie in dem kleinen Waldstück gelegen hatte, wusste sie nicht. Erst als kein Laut mehr vom Spielplatz herüberwehte, war sie auf allen Vieren aus dem Unterholz gekrochen. Der Platz neben der Kirche mit Schaukeln, Wippen und dem Klettergerüst war verwaist.

Mit letzter Kraft hatte sie sich zum Glockenturm von St. Laurentius gequält. Nach Hause konnte sie nicht. Was hätte sie ihren Eltern sagen sollen? Wer hätte ihr geglaubt? Nein. Das war ausgeschlossen! Wahrscheinlich würde sie sogar noch bestraft werden, weil sie nicht rechtzeitig zum Abendessen heim gekommen war. Im Geiste sah sie schon, wie ihr Vater den Gürtel von seiner Hose löste und konnte den Schmerz auf dem Po spüren.

Nein. Jetzt blieb ihr nur noch der Glockenturm.

Erschöpft ließ sie sich auf dem obersten Podest des Turms auf den Boden gleiten. Die riesigen Glocken, die jeden Sonntagmorgen ihren Klang über der Stadt ausgossen, blieben stumm und hingen an dicken Seilen wie tote Kaninchen, die ihr Großvater manchmal an Sonntagen zum Ausbluten an Haken befestigte.

Sie schloss die Augen und dachte an ihren Tag. Die neue Schule! Wie stolz war sie heute Morgen noch gewesen. Endlich durfte sie zum Gymnasium gehen. Der erste, neue Schultag war zwar schon um kurz nach Mittag zu Ende, aber in ihrem kleinen Zimmer unter dem Dach hatte sie den Stundenplan immer und immer wieder durchgesehen. Sie konnte sich kaum davon losreißen. Englisch, Mathematik, Biologie – lauter Fächer, auf die sie sich gefreut hatte. Und erst die neue Klassenlehrerin! Frau Peters hatte liebe Augen und jeder der Schüler durfte sich vorstellen. Auch sie selbst. Ja, es war genau der Vormittag, den sie sich erhofft hatte.

Und dann am Nachmittag auf den Spielplatz. Ihre Freundinnen, die auf die Hauptschule gingen, waren ganz neidisch gewesen, als sie von der neuen Schule schwärmte. Selbst Julia hatte zugehört. Julia, die sonst immer an ihr vorbeiging, als wäre sie Luft.

Ja, alles war genauso, wie sie es sich immer erträumt hatte. Alles war gut. Bis er auftauchte. Natürlich war sie ihm gefolgt. Wieso auch nicht? Er hatte ihr zum ersten Tag in der neuen Schule eine ganz besondere Überraschung versprochen. Natürlich war sie aufgeregt und neugierig gewesen und ihm gefolgt.

Langsam zog sie sich an der niedrigen Brüstung des Bogenfensters hoch und schaute über die Stadt, die sich in der Abendsonne an diesem Montag zu ihren Füßen ausbreitete.

Warum hatte er ihr so wehgetan? Sie hatte ihn doch lieb.

Unter Stöhnen kletterte sie auf den schmalen Sims und schaute noch einmal über die Stadt. Als die nächste Schmerzwelle ihren Körper überflutete, schloss sie die Augen und ließ sich einfach fallen.

*

*

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Pattscheid, 31. März 2002

*

Verkrampft und mit gesenktem Kopf saß Amelie auf der vorderen Kante des Sessels. Ihre Beine waren sittsam angewinkelt, die Knie geschlossen. Der dunkelblaue Wollrock reichte ihr fast bis zu den Knöcheln und die blankgeputzten Schnürschuhe standen exakt nebeneinander. Ihre schmalen Hände hielt sie gefaltet auf dem Schoß. Mit ihrer weißen, langarmigen Spitzenbluse, die bis zum Kehlkopf geschlossen war und der zugeknöpften Weste stellte sie das perfekte Bild der tugendhaften, anständigen und ehrbaren Jungfrau dar.

Mein Gott, dachte Lisa, wie aus dem vorletzten Jahrhundert.

Sie konnte immer noch nicht glauben, dass Amelie Griese die Tochter ihres Verlobten Andreas sein sollte. Aber… die grauen Augen hatte sie unzweifelhaft von ihrem Vater geerbt.

Lisa sah Andreas an, der vor lauter Fassungslosigkeit kein Wort hervorbrachte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er das Mädchen an.

Kein Wunder, dachte Lisa. Wenn er es nicht wusste, muss er glauben, ein Gespenst vor sich zu haben.

„Du bist also Amelie“, wandte sich Lisa an das Mädchen. „Möchtest du etwas trinken?“

Amelies Blick verriet Unsicherheit. „Einen Kakao vielleicht?“, setzte Lisa hinzu.

„Das wäre sehr nett“, erwiderte das Mädchen mit den kastanienbraunen, ordentlich geflochtenen Zöpfen, die links und rechts vom Kopf über die Brust fast bis zur Taille reichten.

„Andreas, möchtest du auch etwas trinken? Kaffee oder Tee?“

„Was?“ Er schien aus einer anderen Welt zurückzukehren. „Ach ja, bitte. Kaffee.“

Während Lisa in der Küche mit den Utensilien hantierte, bemühte sie sich, Ruhe in ihr Innenleben zu bekommen.

Andreas eine halbwüchsige Tochter? Was für eine Überraschung. Und er schien tatsächlich keine Ahnung gehabt zu haben. Sie wusste offenbar doch nicht alles von ihm. Dabei war sie sich sicher gewesen, dass es in Andreas‘ Leben kein Geheimnis gab, von dem er ihr nichts erzählt hatte. Und nun das. Ob er noch mehr solcher Überraschungen in Petto hatte? War das der Grund, warum sie bisher gezögert hatte, ihn zu heiraten? War das die Ursache, warum sie dieses diffuse Gefühl hatte, die Zeit sei noch nicht reif?

Mit dem großen Tablett kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Weder Andreas noch Amelie hatten sich gerührt. Das Mädchen saß noch immer mit gesenktem Kopf auf der vorderen Sesselkante und Andreas starrte sie an wie eine Außerirdische, die sich ins Schlösschen verirrt hatte.

„Ja, das ist nun wirklich eine Überraschung“, merkte Lisa an, während sie Kaffee und Kakao verteilte. „Wie kommt es, dass du dich erst jetzt meldest, Amelie? Ist etwas Besonderes passiert?“

Es dauerte eine Weile ehe das Mädchen den Kopf hob. Lisa sah, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. „Ja, meine Mutter ist vor zwei Tagen gestorben.“

„Oh, Amelie“, seufzte Lisa, erhob sich und wollte das Mädchen umarmen. Doch Amelie wich erschrocken zurück und Lisa hielt inne, kehrte auf ihren Platz zurück und nahm einen Schluck aus ihrer Tasse.

„Das tut mir sehr leid, Amelie. Du hast sie sicher sehr geliebt.“

Der Blick des Mädchens traf Lisa wie ein Baseballschläger. In den Augen dieses jungen Menschenkindes standen Hass, Verachtung und Abscheu. Oh mein Gott, dachte Lisa, was ist mit ihr passiert?

„Bist du sicher, dass ich dein Vater bin?“, krächzte Andreas und räusperte sich.

Amelie kramte wortlos in ihrer Tasche und legte ein gefaltetes Stück Papier auf den Tisch. „Hier! Du kannst dich selbst überzeugen, wenn du mir nicht glaubst.“ Ihre Stimme triefte vor Geringschätzung.

Überrascht hob Lisa den Kopf. Nein, das passt nicht zusammen, dachte sie. Hass, Abscheu, Geringschätzung und Verachtung stehen im absoluten Gegensatz zu ihrer Verkrampfung und dieser zur Schau gestellten… Tugendhaftigkeit.

Lisa bemerkte Amelies gehetzten Blick, in dem sie Wachsamkeit, Vorsicht und Alarmbereitschaft zu erkennen glaubte. Sie fühlte den ungeheuerlichen Druck, unter dem das Mädchen stand und spürte seine Erschöpfung. Mein Gott, dachte Lisa, dieses Kind steht kurz vor dem Kollaps.

Andreas griff nach dem Zettel, entfaltete ihn und nickte. „Ja, mit Maria Brandt war ich ein paar Monate zusammen. Aber ich wusste nicht, dass sie schwanger war.“ Andreas war sichtbar verwirrt.

„Und du hast keine Ahnung, warum sie dir nicht gesagt hat, dass sie ein Kind erwartet?“, fragte Lisa.

Es dauerte einen Augenblick, ehe Andreas antwortete. „Nein. Ich kann es nur vermuten. Wahrscheinlich hing es mit ihren Eltern zusammen.“ Er sah Amelie an. „Was ist passiert? Woran ist sie gestorben?“

Amelie hatte sichtbar Schwierigkeiten, die richtigen Worte zu finden. „Sie ist … sie hat … sie hat Selbstmord begangen“, flüsterte sie.

„Selbstmord?“ Andreas konnte es nicht fassen. Das Entsetzen in seinem Gesicht schockierte Lisa und sie ergriff seine Hand. „War sie krank?“, hörte sie ihn fragen.

Lisa erkannte, dass Amelie ihre Beherrschung nicht mehr lange würde aufrecht halten können. Sie fühlte, dass das Mädchen zwischen ungeheurem Hass und unsagbarem Schmerz hin und hergeworfen wurde. „Willst du uns nicht erzählen, Amelie, was passiert ist?“

Das Mädchen brauchte eine Weile, bevor es zu sprechen begann. „Sie hat mir einen Brief unter mein Kopfkissen gelegt, bevor sie… bevor sie die Tabletten geschluckt hat. In dem Brief hat sie gesagt, dass ich einen Dr. Andreas Roemer aufsuchen soll, weil er mein richtiger Vater ist. Nicht Bruno. Bruno hätte mich nur adoptiert. In dem Umschlag war die Geburtsurkunde, die ich dir gerade gezeigt habe.“ Sie verstummte.

Andreas räusperte sich erneut. „Bitte entschuldige, Amelie, dass ich noch nicht so ganz klar komme mit dieser neuen Situation.“

Die Fassungslosigkeit stand dem Mädchen im Gesicht. „Du entschuldigst dich bei mir?“

„Nun ja“, zögerte Andreas, „du hast vielleicht gehofft, dass ich mich freuen würde. Und jetzt bist du vielleicht enttäuscht.“

„Nein, nein“, wehrte sie ab, „ich habe euch ja regelrecht überfallen. Eigentlich müsste ich mich bei euch entschuldigen.“

„So! Jetzt haben sich alle genug entschuldigt“, mischte sich Lisa energisch ein, „und wir können vielleicht ein wenig entspannen. Ich jedenfalls freue mich sehr, dich kennenzulernen, Amelie. Herzlich willkommen hier bei uns im Schlösschen.“

„Ja“, rief Andreas aus und Lisa war froh, dass er seine Gelähmtheit offenbar überwunden hatte. „Ja, Amelie. Herzlich willkommen bei uns.“

Das Mädchen kniff zunächst ihre Augen zusammen und zögerte. „Meint ihr das ernst?“ Mit ungläubig dreinschauenden, großen Augen wanderte ihr Blick von Lisa zu Andreas und wieder zurück. „Meint ihr das wirklich ernst?“

„Aber natürlich“, erwiderte Lisa erstaunt, „was ist daran verwunderlich? Du bist Andreas‘ Tochter und ich freue mich, dass du den Weg hierher gefunden hast.“

„Auch wenn ich nicht sofort meine Freude zeigen konnte“, ergänzte Andreas, der noch immer einen verwirrten Eindruck auf Lisa machte, „so bin ich trotzdem froh, dass du hier bist.“ Nach kurzem Zögern fuhr er fort: „Von einem Moment auf den anderen Vater einer halbwüchsigen Tochter zu sein, passiert halt nicht alle Tage.“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Hast du Hunger?“, fragte Lisa.

„Nein“, entgegnete das Mädchen, „aber… könnte ich noch einen Kakao haben?“

„Selbstverständlich.“

Lisa bereitete rasch eine neue Tasse zu und setzte sie vor Amelie auf den Tisch. Ihr entging nicht der scheue Blick, der die Unsicherheit des Mädchens bezeugte.

„Weiß dein Vater, dass du hier bist?“, fragte Andreas.

„Nein. Papa… ich meine… Bruno ist ja gar nicht mein Vater. Er weiß nichts. Er weiß auch nichts von dem Brief.“

Ach!, dachte Lisa überrascht, fragte jedoch: „Wie bist du hierhergekommen?“

„Mit dem Bus.“

„Und wo wohnst du?“, wollte Andreas wissen.

Amelie zögerte. „In Opladen.“

Das Mädchen wirkte auf Lisa noch immer schrecklich verkrampft und sie überlegte, was sie tun konnte, damit es sich ein wenig entspannte. „Möchtest du bei uns übernachten?“

„Aber Lisa“, wendete Andreas ein, „morgen ist doch Schule.“

„Ach ja, das habe ich ganz vergessen.“

„Ich habe noch die ganze Woche frei“, sagte Amelie hastig. „Könnte ich wirklich hier bleiben?“

„Aber natürlich“, bekräftigte Lisa. „Du bist ganz herzlich eingeladen, Amelie. Wir müssten nur deinen Papa… ich meine, Bruno informieren.“

„Muss das sein?“, rief Amelie aus und Lisa sah die plötzliche Panik in ihren Augen.

„Amelie.“ Andreas beugte sich vor. „Du bist erst fünfzehn und Bruno ist dein Stiefvater. Er hat dich adoptiert und trägt die Verantwortung für dich. Wahrscheinlich macht er sich schon Sorgen.“

Es dauerte eine Weile ehe das Mädchen antwortete. „Ja, ich glaube, ihr habt recht. Ich fahre besser nach Hause.“

Die Worte klangen in Lisas Ohren nicht überzeugend, aber sie wollte behutsam bleiben.

„Warum kommst du nicht in den Osterferien ein paar Tage zu uns?“

Amelie schüttelte den Kopf. „Das geht leider nicht. Papa… ich meine Bruno hat mich für die Osterferien im Kloster zu Besinnungstagen angemeldet. Tut mir leid.“

Der Blick voller Traurigkeit und Qual traf Lisa mitten ins Herz und sie fühlte eine Welle an Mitgefühl in sich aufsteigen, die sie regelrecht überspülte. Oh mein Gott! Was hat dieses Kind bloß? Was ist mit ihm geschehen?

Mit weicher Stimme fragte Andreas: „Wann wird deine Mutter beerdigt?“

„Am Mittwoch.“

„Möchtest du, dass wir mitkommen?“, fragte er weiter.

Erneut sah Lisa den Unglauben in Amelies Blick. „Würdet ihr das wirklich tun?“

„Aber selbstverständlich“, antwortete Andreas.

Täuschte sich Lisa, oder hatte tatsächlich eine Spur freudiger Überraschung Amelies Gesicht gestreift? „Auch wenn es dir vielleicht fremd vorkommt“, ergänzte Lisa, „würden wir dir gern zur Seite stehen. Es wird sicherlich ein schwerer Tag für dich.“

Das Mädchen sagte nichts, sondern senkte wieder seinen Kopf.

Schweigen beherrschte den Raum und Lisa fühlte deutlich die Unsicherheit, die sie alle in ihren Fängen hielt.

„Können wir irgendetwas für dich tun?“, fragte Lisa.

Als sie Amelies Blick begegnete, hatte sie den Eindruck, dass Amelie einen Schleier vor ihre Augen gezogen hatte. Keine Gefühle durchdringen diesen Vorhang, dachte Lisa.

„Nein. Ich glaube nicht“, erwiderte das Mädchen. Die Stimme verrät sie, schoss es Lisa durch den Kopf. Die Traurigkeit, der Kummer und die Schwermut bringen jeden Menschen um. DAS kann niemand simulieren.

Amelie erhob sich. „Ich gehe dann besser. Sonst verpasse ich den Bus.“

Mit einem Satz war Andreas auf den Beinen. „Glaubst du, ich lasse dich mit dem Bus fahren?“ Seine Empörung war unüberhörbar und Amelie zuckte zusammen.

„Entschuldige bitte, Amelie“, lenkte Andreas umgehend ein. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich will dich auch nicht bevormunden. Du sollst nur wissen, dass ich dich selbstverständlich gern nach Hause fahre.“

„Darf ich mitkommen?“, fragte Lisa.

„Wenn Amelie nichts dagegen hat“, erwiderte Andreas und schaute seine Tochter an.

Für einen Moment vergaß Amelie den Vorhang vor ihrem Blick und Lisa erkannte, dass das Mädchen ein unsägliches Leid quälte. Aber, was sollte sie tun? Sie konnte sie nicht einfach in den Arm nehmen. Schließlich war sie für Amelie eine Fremde. Genau wie Andreas – als Vater.

„Ja, natürlich“, flüsterte das Mädchen kaum hörbar. Sie ist völlig überfordert, erfasste Lisa.

Sie half Amelie in den Mantel, schlüpfte in ihren eigenen und die beiden folgten Andreas, der die Autotüren bereits geöffnet hatte.

„Setz du dich ruhig vorne hin“, sagte Lisa. „Dann kannst du dich während der Fahrt noch mit deinem Vater unterhalten.“

„Nein!“, rief Amelie aus und Lisa erschrak über die grenzenlose Panik in diesem Ausruf.

„Gut“, lächelte sie Amelie an. „Dann setz dich nach hinten und ich geh nach vorne.“

Himmel! Was ist diesem Kind bloß passiert?

Unterwegs lotste Amelie ihren Vater durch Opladen. Kurz vor einer Kreuzung sagte sie. „Kann ich hier aussteigen?“

„Ich fahre dich gern bis vor die Tür.“

„Nein, nein“, reagierte Amelie hastig, „dann bekomme ich vielleicht Ärger mit Bruno. Bitte, lass mich hier austeigen.“

Andreas stieg aus, öffnete die hintere Tür und Amelie kletterte aus dem Wagen.

Sie reichte ihm die Hand. „Danke fürs bringen.“

„Wann darf ich dich wiedersehen?“, fragte Andreas. „Ich würde dich sehr gern näher kennenlernen.“

„Ich weiß nicht.“ Amelie zuckte mit den Schultern. „Vielleicht in den Sommerferien.“

Das Mädchen steckte noch einmal den Kopf in den Wagen. „Danke, Lisa. Auch für den Kakao.“

„Tschüss, Amelie. Und wenn was ist, komm einfach vorbei. Ja?“

Das Mädchen nickte, drehte sich um und ging rasch um die Ecke, ohne noch einmal zurückzuschauen.

*

Kaum dass Lisa und Andreas zurück im Schlösschen waren, ließen sie sich im Wohnzimmer auf Couch und Sessel fallen.

„Oh, mein Gott!“, stöhnte Andreas. „Ich kann es immer noch nicht fassen. War das Wirklichkeit, Lisa, oder hab ich das geträumt?“

„Nein, mein Schatz, das hast du nicht geträumt.“ Sie fühlte sich ein wenig erschöpft. Aber sie wusste, dass Andreas jetzt ihre Nähe brauchte; jemanden, der ihm zuhörte.

„Hör zu, Andreas“, sagte sie, „ich mache uns jetzt eine Kleinigkeit zu essen. Mach du in der Zwischenzeit eine Flasche Wein auf und decke den Tisch.“

„Können wir nicht in der Küche essen?“

„Ist dir das lieber?“

„Ja, Lisa. Dann können wir gemeinsam schon mal mit dem Wein anfangen.“

„Okay.“

Lisa entschied, für jeden einen ‚Strammen Max‘ zuzubereiten. Rasch waren die Brotscheiben auf Tellern angerichtet, Schinken platziert und saure Gürkchen danebengelegt. Die Eier in der Pfanne brutzelten, als Andreas ihr ein Glas Weißwein in die Hand drückte.

„Prost, mein Schatz“, sagte er.

„Ja, zum Wohl, Andreas. Auf deine Tochter.“

Wortlos nahm er einen Schluck aus dem Glas.

Er legte das Besteck auf den Tisch und Lisa ließ geschickt die erste Portion Eier auf den Schinken gleiten. „Setz dich und fang an, bevor es kalt wird.“

„Rasch hatte Lisa auch den zweiten Teller bestückt und setzte sich Andreas gegenüber.

Schweigend leerten sie ihre Teller.

„Soll ich dir noch was machen?“, frage Lisa.

„Nein, Danke, Schatz. Ich bin satt.“

„Dann schnapp dir die Gläser und geh schon mal rüber. Ich spüle noch schnell die Teller ab und komme gleich nach.“

Als sie ins Wohnzimmer kam, lag Andreas ausgestreckt auf dem Sofa.

Lisa schob ihn ein wenig zur Seite. „Mach mal ein bisschen Platz. Ich möchte mich neben dich setzen.“

„Gern“, erwiderte er und rutschte ein Stück zur Seite.

„So, mein Lieber. Und jetzt erzählst du mir die Geschichte. Ich meine… die ganze Geschichte.“

„Willst du das wirklich?“

„Wie bitte?“, fragte sie, ohne ihre Empörung zu verbergen.

„Na gut.“ Andreas lächelte nicht. „Ich lernte Maria Brandt vor sechzehn oder siebzehn Jahren kennen. Ich war damals Anfang dreißig und arbeitete als Stationsarzt im Krankenhaus. Sie war fünfundzwanzig und nach einem Unfall auf meiner Station gelandet. Wir haben uns sofort ineinander verliebt. Auf ihr Drängen haben wir die Beziehung erst einmal vor ihren Eltern geheim gehalten. Erst viel später habe ich erfahren warum. Marias Eltern, Martha und Georg Brandt, waren erzkatholisch. Er war Küster und Organist in der Marienkirche, sie Hausfrau und in der katholischen Frauengemeinschaft ehrenamtlich tätig. Maria und ich waren schon ein halbes Jahr zusammen und wir waren uns einig, dass wir heiraten wollten. Aber, immer wenn ich meinen Antrittsbesuch bei ihren Eltern machen wollte, fand Maria Ausflüchte. Nach weiteren drei Monaten wurde es mir zu bunt.“ Er lächelte. „Du kennst mich, Lisa.“

„Und ob“, bestätigte sie, „und dann hast du Nägel mit Köpfen gemacht, stimmt‘s?“

„Stimmt. An einem Sonntagnachmittag kurz vor Weihnachten habe ich darauf bestanden, ihre Eltern kennenzulernen.“

„Und?“

„Die beiden waren sehr höflich und gastfreundlich. Zunächst entspann sich eine nette Konversation, wenn auch nur oberflächlich. Nach Kaffee und Kuchen, bei einem Gläschen Portwein, kam dann die Frage nach der Beziehung zwischen Maria und mir auf. Ich habe kein Hehl daraus gemacht, dass ich Maria heiraten wollte. Tja, und dann ging es um die Hochzeitszeremonie. Für mich war das eher eine Nebensächlichkeit, eine Formalität. Und da haben Martha und Georg mitbekommen, dass ich evangelisch war.“

„Und?“

„Das war das Ende der Beziehung zwischen Maria und mir.“

Mit einem Ruck hatte sich Lisa aufgerichtet. „Wie bitte? Wegen der Religion?“

„Nein, nicht wegen der Religion, sondern der Kirchenzugehörigkeit. Man sollte es nicht glauben, Lisa, aber für Martha und Georg Brandt war ein evangelischer Schwiegersohn absolut ausgeschlossen.“

Lisa war schockiert. „Das glaub ich jetzt nicht. Maria war doch volljährig. Wieso hat sie sich nicht darüber hinweggesetzt?“

Sie sah, dass Andreas, selbst nach all den Jahren, das Geschehene noch immer mit Unglauben verband. „Das hätte sie niemals gewagt, Lisa. Vergiss nicht, sie war streng katholisch erzogen worden. Nach dem Motto… du sollst Vater und Mutter ehren.“ Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, das jedoch gleich wieder erstarb. „Ursprünglich wollte sie Tierärztin werden. Aber ihre Eltern unterstützten sie nicht. Sie vertraten den Standpunkt – vollkommen von der Wahrheit überzeugt, die die katholische Kirche als das Non-plus-Ultra predigte: eine Frau gehört an den Herd und nicht an einen Schreibtisch.“

Lisa verschlug es fast die Sprache. „Du meine Güte. Das hört sich nach den drei Ks an: Küche, Kinder, Kirche.“

„Genauso.“ Andreas nickte bedächtig.

„Und was ist dann passiert?“

„Martha und Georg Brandt haben Maria damals offensichtlich derart unter Druck gesetzt, dass sie die Beziehung zu mir abgebrochen hat.“

„Andreas! Das kann doch nicht wahr sein! Ich habe geglaubt, dass die Macht und der Einfluss der Kirche bei aufgeklärten Menschen nicht mehr gegeben sind. Ich meine… das ist doch erst 16 Jahre her. So etwas passiert doch nicht im 20. Jahrhundert.“

Lisa fühlte ihre Abscheu und schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich fasse es nicht, Andreas.“

„Unterschätze nicht die Macht der Kirche, mein Schatz. In erzkatholischen Gebieten und Städten wie Köln, werden diese Überzeugungen in sehr vielen Familien noch immer von einer Generation zur anderen weitergegeben und… gelebt!“

Lisa schüttelte sich, als wollte sie unsichtbare Staubfäden loswerden oder lästige Fliegen vertreiben. „Okay… und dann stellte Maria fest, dass sie schwanger war.“

Andreas schwieg zunächst, bevor er leise sagte: „So muss es wohl gewesen sein.“ Ein Ruck ging durch seinen Körper und er setzte sich aufrecht. „Ich habe davon nichts gewusst, Lisa. Das schwöre ich dir. Nie hätte ich sie damit allein gelassen.“ Er konnte seine Empörung nicht zügeln.

Lisa umarmte ihn. „Das brauchst du mir nicht zu schwören, Andreas. Dazu kenne ich dich zu gut.“

„Aber selbst dann müssen sie ihr den Kontakt zu mir verboten haben, Lisa.“ Sie beobachtete, wie sich Zornesröte über seinem Gesicht ausbreitete. „Das muss man sich mal vorstellen. Ich finde das ungeheuerlich!“

„Das ist es wirklich. Und damit ist klar, dass Bruno, Amelies Stiefvater, katholisch ist, nicht wahr? Er hat Maria geheiratet und Amelie adoptiert, denn sonst hieße sie nicht Griese, wie ihr Stiefvater.“ Lisa versuchte, das Gespräch wieder auf Amelie zu lenken.

„So muss es gewesen sein. Aber, es berührt mich, dass Maria mich nach der Geburt als Vater angegeben hat. Wenigstens den Mut hat sie gehabt.“

„Was hast du gemacht, nachdem sie die Beziehung abgebrochen hat?“

„Kurze Zeit später habe ich die Praxis hier in Pattscheid übernommen. Dr. Müller, mein Vorgänger, war schon über siebzig und hatte monatelang einen Nachfolger gesucht. Ich konnte also innerhalb von wenigen Wochen umziehen.“

„Und du hast nichts mehr von Maria gehört?“

Andreas schüttelte den Kopf. „Ich habe noch oft versucht, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Aber sie hat jeden Versuch abgeblockt.“

Lisa streichelte ihm über das Haar. „Das war heute ein echter Schock für dich, nicht wahr? Eine fast erwachsene Tochter zu haben ist eine seltene Situation.“

„Ich bin immer noch fassungslos, Lisa.“

Sie lächelte. „Weißt du, dass sie deine Augen geerbt hat?“

Er griff nach ihrer Hand. „Was machen wir denn jetzt?“

„Was sollen wir schon machen?“

„Ja, aber es ist doch kein Zufall, dass sie ausgerechnet jetzt auftaucht. Und… warum hat sich Maria das Leben genommen?“

„Ach, Liebling. Wir hatten heute nun wirklich genug zu verdauen. Lass uns eine Nacht darüber schlafen. Lass uns das Ganze erst einmal verarbeiten. Und am Mittwoch gehen wir zur Beerdigung. Wir lassen Amelie jetzt nicht im Stich.“

„Danke, Lisa.“ Er zögerte. „Ist dir aufgefallen, wie verkrampft sie war?“

„Lass uns das Thema morgen besprechen. Mir ist noch viel mehr aufgefallen, aber wir sollten jetzt erst einmal zur Ruhe kommen.“

„Du hast recht, Lisa. Lass uns schlafen gehen.“

*

Um genau 04:27 Uhr schreckte Lisa hoch. Sie war in Schweiß gebadet und fühlte ihr Herz wie wild pochen. Sie brauchte einen Augenblick, um sich zu orientieren und atmete ein paar Mal tief durch. Ja, das war wieder einer meiner besonderen Träume, dachte sie. Sie bemühte sich, den Begriff Vision zu vermeiden. Besonderer Traum klang weniger dramatisch. Er erschien ihr harmloser. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie sich immer noch nicht damit abgefunden hatte, über die ‚Gabe‘ zu verfügen. Trotz all ihrer bisherigen Erfahrungen. Ob ich wohl jemals Frieden damit schließe?, fragte sie sich.

Leise stand sie auf und schlich ins Wohnzimmer. Sie knipste die kleine Stehlampe an, öffnete ihren Schreibsekretär, entnahm ihm die grüne Kladde und setzte sich in den bequemen Drehstuhl. Ohne zu zögern griff sie nach dem Stift, öffnete das Notizbuch und schrieb:

 

Pattscheid, 01. April 2002

Kaum dass der Fall mit Lucita abgeschlossen ist, scheint es nahtlos in den nächsten überzugehen. Und die Vision ist so verrückt wie die vorherige, diesem seltsamen Wüstengesang.

In meinem jetzigen Traum sah ich einen großen Spiegel. Größer als ich es bin. Er war mit einem kunstvoll geschnitzten, goldenen Barockrahmen versehen und stand mitten in einem großen Raum; von allen Seiten frei zugänglich. Der Raum hatte keine Fenster – dennoch herrschte im Zimmer ein diffuses Licht, dessen Quelle ich aber nicht ausmachen konnte.

Als ich mich vor den Spiegel stellte, sah ich NICHTS! Absolut gar nichts. Der Spiegel war so dunkel wie das Zimmer um mich herum. Ohne Rahmen hätte ich ihn nicht vom Rest des Zimmers unterscheiden können.

Und dann erschien ganz allmählich – als würde jemand einen Film äußerst zögernd einblenden – das Gesicht von Amelie. Sie hatte diesen traurigen, unglücklichen und verzweifelten Gesichtsausdruck. Kein Muskel zuckte in diesem Gesicht – und dennoch rannen dicke Tränen aus ihren Augen. Amelies Gesicht verblasste langsam und wurde durch die Erscheinung von Tante Käthe überblendet.

Sie stützte sich – wie üblich – auf ihren Stockschirm und schaute mich direkt an. “Dieser Fall, liebe Elisabeth“, sagte sie traurig zu mir, „wird einer der Härtesten, die du zu lösen hast. Aber… wenn du offen bleibst und vertraust, wirst du ihn meistern.“

Dann verschwand sie und ich wachte auf – um 04:27 Uhr.

Lisa klappte das Buch zu, legte es zurück in den Sekretär – zusammen mit dem Stift – und lehnte sich zurück. Seit ihrem ersten Erlebnis mit der Tanzschule wusste sie, dass die nächtliche Uhrzeit auf einen ganz besonderen Umstand in ihren jeweiligen Fällen hindeutete. Auch hatte sie begriffen, dass die Uhrzeit eine Verschiebung beinhalten konnte. Das konnte bedeuten, dass 04:27 Uhr in der Realität auch 16:27 Uhr sein würde.

Ja, sie hatte gelernt, dass das Unterbewusstsein über eine eigene Sprache verfügte, die verstanden werden wollte.

Seufzend erhob sie sich, knipste das Licht aus, kehrte auf Zehenspitzen die Treppe hinauf und kletterte zurück ins Bett. Gott sei Dank hat Andreas nichts mitbekommen, dachte sie erleichtert, bevor sie einschlief.

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Köln, 01. April 2002

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Mit verschränkten Armen hinter seinem Rücken ging Volker in seinem kleinen Zimmer im Kloster Heiliger Franziskus auf und ab. Seit Tagen zerbrach er sich den Kopf, wie er das Problem lösen sollte. Schon in drei Monaten sollte er die erste Weihe, das Diakonat, empfangen. So viele Jahre hatte er auf diesen Tag hingearbeitet, sich vorbereitet, sich gefreut. Und nun?

Seine Gedanken kehrten erneut zurück zu dem Tag, an dem sein Lebensgefüge, seine Pläne, seine Ziele – sein ganzes Leben sein Fundament verloren hatte.

Eigentlich wollte er gar nicht zu der Geburtstagsfeier seiner Schwester Claudia gefahren sein. Aber sie hatte ihn so sehr darum gebeten, dass er schließlich nachgegeben hatte. Ein wenig war auch sein schlechtes Gewissen beteiligt, weil er sich in den letzten Jahren viel zu wenig um sie gekümmert hatte. Es war eine riesengroße Party. Alle ihre Freunde waren gekommen, um ihren 25. Geburtstag zu feiern. Claudia, die nach dem Tod der Eltern in das Haus eingezogen war und es vorbildlich in Ordnung hielt, hatte ein großes Zelt im Garten aufgestellt. Volker schätzte die Anzahl der Gäste auf etwa 100 Personen. Claudia war sehr beliebt.

Und auf dieser fröhlichen, unbeschwerten Feier begegnete er Saskia zum ersten Mal. Nie würde er den Tag vergessen, diesen 16. Februar 2002. Schließlich war es der Tag, an dem sein ganzer Lebensplan zum ersten Mal ernsthaft ins Wanken geraten war. Sein über Jahre aufgebautes Lebensmodell bekam an jenem Tag tiefe Risse. Ein angehender Priester durfte Gefühle, wie sie ihn überrollten, schließlich nicht haben.

Noch hatte er mit niemandem darüber gesprochen, aber oft genug den besorgten Blick seines Mentors erhascht. Ja, Pater Stefanus, der Abt, spürte, dass mit ihm, Volker, etwas nicht stimmte. Aber was hätte er ihm sagen sollen?

Viele Tage und Nächte verbrachte er seitdem in tiefer Kontemplation und im Gebet. Er flehte um einen Fingerzeig, einen Hinweis, ein Zeichen. Wenn er nachts nicht schlafen konnte, stahl er sich in die Kapelle, kniete nieder und bat Gott inbrünstig um Hilfe. Im Seminar war er oft unkonzentriert und nicht bei der Sache.

Wie soll das enden?, fragte er sich. Was soll ich bloß tun?

Manchmal glaubte er, dass seine Gefühle ihn auseinanderzureißen drohten.

Einige Male hatte er sich mit Saskia zu einem Kaffee in einer Konditorei verabredet, stets in der Hoffnung, dass er Abstand gewinnen würde. Vielleicht würde er den einen oder anderen Charakterzug an ihr entdecken, der es ihm leichter machte, die Beziehung auf eine platonische Ebene begrenzt halten zu können. Stattdessen fühlte er sich immer mehr zu ihr hingezogen und das stürzte ihn schließlich in einen Konflikt, den Volker als seinen persönlichen Lebenskonflikt bezeichnete.

Eine echte Tragödie, dachte er, denn ganz gleich wie ich mich entscheide, es wird die falsche Entscheidung sein.

Volker wusste, dass er zum Priester berufen war. Tief in seiner Seele wusste er, dass er Menschen zu Gott führen und sich den Unterprivilegierten und Schwachen widmen wollte. Aber… er wusste genauso sicher, dass er Saskia liebte. Die Gefühle, die er für sie empfand, ließen sich nicht länger verdrängen oder verleugnen – und schon gar nicht ignorieren.

Volker haderte mit sich und mit Gott.

Wie konnte Gott ihn vor eine solche Wahl stellen? Was hatte Er mit ihm vor?

Zum ersten Mal in seinem Leben zweifelte er. Er zweifelte an Gott, Wie konnte ein Gott der Liebe, als den ihn Jesus Christus bezeichnet hatte, so grausam sein? Oder war es eine einfache Prüfung? Eine Prüfung seines Glaubens? Seiner Treue?

Warum tust Du mir das an?, schrie es in seinem Inneren.

Doch er bekam keine Antwort.

Voller Reue fiel er vor seinem Bett auf die Knie. Er war im Begriff das Keuschheitsgelübde zu brechen. Er war der Fleischeslust begegnet. Nie zuvor hatte er sein Verlangen, seine Begierde, seine Sinneslust derart intensiv gespürt. Nein, darauf war er nicht vorbereitet gewesen. War sein Wille zu schwach? Hatte er doch nicht die Eignung zum Priesteramt? Sich selbst überschätzt? Oder war es nur die Verführung durch den animalischen Trieb – vom Teufel gelenkt?

Beunruhigt schüttelte er den Kopf. Nein! Das war etwas anderes. Das war viel, viel mehr. Die Gefühle, die er für Saskia hegte, waren mehr als nur ein Ausdruck körperlicher Leidenschaft. Aber was war es dann? Er wollte sein ganzes Leben Gott widmen – sowohl seine Seele als auch seinen Körper. Nichts sollte der irdischen Welt dienen. Gar nichts!

Wieder ließ er seinen Kopf auf die Brust sinken und flehte Gott an, ihm ein Zeichen zu senden. Doch wieder dröhnte ihm die Stille in den Ohren.

Er hatte Pater Stephanus, dem Abt, mitgeteilt, dass er eine ganze Woche im Gebet zubringen wollte. Er würde fasten und beten. Volker hatte den besorgten Blick seines Mentors gesehen. Allerdings war er nicht in der Lage, mit dem Mann, den er für seine Weisheit und seinen unerschütterlichen Glauben bewunderte, über sein Problem zu sprechen. Nein. Er konnte Pater Stephanus nicht einweihen. Noch nicht! Bei dieser Entscheidung konnte ihm kein irdischer Mensch helfen. Das war eine Sache zwischen ihm und dem Herrn.

Leise schlich sich Volker in die Kapelle, zündete eine Kerze an und kniete nieder. Mit gefalteten Händen, geschlossenen Augen und gesenktem Kopf wartete er auf ein Zeichen.

In der Stille der Kapelle, in der viele flackernde Kerzen für eine Atmosphäre der Geborgenheit und Wärme sorgten, hoffte er, dass sein verwirrtes Gemüt, sein Schuldgefühl und seine tiefsitzende Angst zur Ruhe kämen. Er wollte wieder den Frieden in sich spüren, den er so sehr ersehnte.

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Köln, 02. April 2002

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Martha Brandt deckte den Tisch heute besonders sorgfältig. Sie hatte das gute Geschirr aus dem Schrank geholt, es mit einem sauberen Geschirrtuch abgewischt und legte die Servietten neben die beiden Teller. Aus der untersten Schublade holte sie das vergoldete Besteck aus dem Kasten und polierte es, bevor sie es akkurat neben den Tassen und auf den Servietten platzierte.

In der Küche klingelte der Wecker. Ah! Der Kuchen ist fertig.

Sie griff nach den gehäkelten Topflappen und holte die Form aus dem Backofen. Vorsichtig stürzte sie den Kuchen auf das Kühlgitter und ließ sofort heißes Wasser in die Kuchenform laufen.

Ja. Er ist gut geworden. Sie war sehr zufrieden mit dem Ergebnis.

Jetzt nur noch die Sahne. Hoffentlich ist Gertrude pünktlich, dachte sie und griff zum Mixer.

Nach wenigen Minuten war die Sahne steif geschlagen und sie füllte sie in die schöne, kleine Kristallglasschüssel mit dem Goldrand.

Rasch waren Rührschüssel, Kuchenform und das benutzte Besteck abgewaschen und wieder im Schrank verstaut. Martha schaltete die Kaffeemaschine an und hängte ihre Schürze an den Haken hinter der Küchentür.

Prompt klingelte es.

Sie drückte den Türöffner und schaute durch den Türspion.

Als Gertrude auf dem Treppenabsatz erschien, öffnete sie die Tür.

„Schön, dass du da bist, Gertrude. Wie war die Fahrt?“

Während sich die alte Dame aus dem Mantel schälte, stöhnte sie. „Ach, Martha. Es ist immer das gleiche. Die Straßenbahn war so voll, dass ich keinen Sitzplatz bekam. Und du glaubst doch nicht, dass einer von diesen frechen Schnöseln aufgestanden wäre, oder? Die tun so, als lebten sie in einer anderen Welt. Die sehen glatt über unsereins hinweg. Haben diese Stöpsel im Ohr und wippen mit den Füßen.“

„Ja, es ist ein Kreuz mit den jungen Leuten.“

Gertrude trippelte ins Wohnzimmer und ließ sich auf das Sofa fallen. „Oh je. Meine Knochen tun heute wieder arg weh. Mein Rheuma. Na ja, man wird halt nicht jünger, meine Liebe, nicht wahr?“

Martha betrachtete die Frau auf dem Sofa. Ihr schlohweißes Haar trug sie kurz geschnitten, natürlich mit einer perfekten Dauerwelle. Wie oft mag sie wohl zum Friseur gehen?, dachte Martha. Ich könnte mir das nicht leisten.

„Nein, Gertrude. Wir werden alle nicht jünger“, erwiderte sie.

Gertrude lachte. „Du bist ja noch ein junger Hüpfer, meine Liebe. Schließlich bist du zwölf Jahre jünger als ich.“

„Ja, ja. Aber auch mit fünfundsechzig plagen einen die einen oder anderen Zipperlein.“

„Dann warte mal ab, bis du siebenundsiebzig bist. Wie ich.“

„Ich hole schnell den Kaffee, ja?“

Sie stellte die Thermoskanne auf den Tisch. „Ich wasch mir rasch die Hände, Gertrude. Bedien‘ dich schon mal.“

Sie sah noch, wie Gertrude nach dem Tortenheber griff und betrat das Bad.

Während sie sich ordentlich die Hände wusch, schaute sie in den Spiegel.

Ihr graues Haar war zu einem Knoten im Nacken gebunden, aber die Frisur sah trotzdem nachlässig aus. Ihre braunen Augen wirkten müde und ihre Gesichtsfarbe könnte auch ein bisschen rosiger sein, dachte sie. Manchmal, wenn sie in die Stadt fuhr, legte sie ein kleines bisschen Rouge auf. Aber das war die Ausnahme. Schließlich wollte sie ja nicht wie eine… eine Dirne aussehen.

Martha kehrte zurück ins Wohnzimmer.

„Und? Schmeckt es dir?“

„Köstlich“, schwärmte Gertrude. „Du musst mir unbedingt das Rezept geben.“

Nach dem dritten Stück legte Gertrude die Gabel auf den Teller. „Oh je! Jetzt habe ich aber eindeutig zu viel davon gegessen.“

Martha lächelte. Ja, man sieht dir an, dass du viel zu viel Kuchen isst. Du wiegst bestimmt 120 kg bei einer Größe von höchstens 1,65m. Sie selbst brachte gerade einmal 62kg auf die Waage. Und das bei 1,72m Größe.

Rasch war das Geschirr abgeräumt und Martha stellte den Sherry auf den Tisch. Daneben zwei kristallene Gläser. Nachdem sie sich zugeprostet und jeder an dem Glas genippt hatte, fragte Gertrude: „Was wolltest du mit mir besprechen, meine Liebe?

Martha zupfte an ihrer Frisur. „Nun ja… schau, Gertrude… wir verbringen doch eigentlich viel Zeit miteinander. Ich meine… es vergeht kein Tag, an dem wir nicht zusammen sind. Entweder komme ich zu dir oder du zu mir.“ Sie zögerte.

„Ja, Martha, das stimmt. Aber was willst du mir damit sagen?“

Martha gab sich einen Ruck. „Warum ziehen wir nicht zusammen?“ Bevor ihr Gast auf die Frage reagieren konnte, fuhr Martha hastig fort: „Dein Haus ist doch riesig und du hast selbst gesagt, dass du dir oft verloren darin vorkommst. Und du hast auch gesagt, dass du mit dem Putzen und dem in Ordnung halten kaum noch klarkommst. Wäre es dann nicht wirklich sinnvoll, wenn ich bei dir einziehe? Ich könnte alles prima in Ordnung halten, oder?“

Natürlich brauchte Gertrude nicht zu wissen, dass sie, Martha, die Kosten für die steigende Miete kaum noch aufbringen konnte. Köln war nun einmal ein teures Pflaster. „Außerdem“, fuhr Martha fort, „ist dieses Alleinsein nichts mehr für mich. Und wir kommen doch ganz prächtig miteinander aus, findest du nicht?“

War Gertrudes Gesichtsausdruck zunächst von Skepsis geprägt, hellten sich ihre Gesichtszüge auf, je mehr Martha die Vorzüge des Zusammenziehens unterstrich.

„Das ist gar keine so schlechte Idee“, erwiderte Gertrude. „Vielleicht kann ich Karl-Heinz auf diese Weise dazu bewegen, sich endlich eine eigene Wohnung zu suchen.“

Martha wusste, dass Karl-Heinz, Gertrudes jüngerer Sohn, mit seinen 38 Jahren bisher nicht daran dachte, aus dem Haus seiner Mutter auszuziehen – ein Umstand, der Gertrude sehr zu schaffen machte. Karl-Heinz Griese war ein Muttersöhnchen. Das Gegenteil seines älteren Bruders Bruno, Amelies Stiefvater und nun Witwer durch den… Freitod von Marthas Tochter Maria.

Als hätte Gertrude Marthas Gedanken gelesen, seufzte sie: „Warum hat sie das getan? Warum nur? Was soll denn jetzt aus dem Kind werden?“

„Ich dachte…“, stammelte Martha, „ich meine… wollte Amelie nicht ins Kloster gehen?“

Gertrude nickte. „Ja, das sollte sie. Aber Bruno hat mir erzählt, dass Amelie nicht will.“

„Nicht will?“ Martha konnte es kaum glauben. „Aber… das war doch so beschlossen!“

Wieder nickt Gertrude. „Ja, beschlossen schon. Nur… Amelie wird aufmüpfig, meine Liebe. Aber das Schlimmste ist… sie hat ihren leiblichen Vater kennengelernt.“

Martha fühlte, wie ihr das Blut aus dem Kopf strömte. Für einen Augenblick befürchtete sie, in Ohnmacht zu fallen. Es dauerte einen Augenblick, bis sie sich wieder gefangen hatte. „Wie konnte das passieren? Wie hat sie das herausbekommen?“

Gertrude schüttelte den Kopf. „Das weiß ich nicht, aber Bruno vermutet, dass Maria, bevor sie sich so furchtbar versündigte, mit Amelie gesprochen hat. Sie wollte wohl ihre Schande nicht mit ins Grab nehmen.“

Martha spürte, wie ihr das Blut nun in die Wangen schoss. „Musst du immer wieder darauf herumreiten? Ist es noch nicht schlimm genug?“

Gertrude tätschelte Marthas Hand. „Ja, es ist schrecklich, wenn Kinder derart missraten. Aber dich trifft keine Schuld, meine Liebe. Du warst immer eine vorbildliche Mutter. Wir werden weiterhin beten, dass Gott ihrer Seele gnädig sein möge.“

Martha schwieg. Erst ein Verhältnis mit einem Evangelischen, dann ein uneheliches Kind und am Ende der Freitod. Nein, Maria, ihre Tochter, hatte wahrhaftig keine Gnade vor den Augen ihres Schöpfers verdient.

Rasch kehrte sie zum vorherigen Thema zurück. „Könnte Karl-Heinz nicht bei Bruno einziehen? Jetzt hat er doch bald genug Platz, oder?“

„Ja“, bestätigte Gertrude, „aber nur, wenn Amelie ins Kloster geht.“

Soll ich ihr von dem Brief der Bank erzählen?, fragte sich Martha. Sogleich verdrängte sie den Gedanken. Auf keinen Fall!, schalt sie sich im selben Moment. Sie muss glauben, dass ich das Alleinsein nicht mehr aushalte und es besonders für sie von Vorteil wäre, wenn wir zusammenziehen.

„Weißt du, Gertrude, als Georg vor vier Jahren starb, glaubte ich, dass damit ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Das hat es auch, aber… ich habe nicht geahnt, dass dieser Abschnitt so einsam sein würde. Dieses Alleinsein macht mich noch ganz fertig.“

Gertrude schaute sie lange an. „Vielleicht solltest du öfters in die Kirche gehen, meine Liebe. Wenn ich das in meinem Alter noch schaffe, und glaube mir, das ist oft nicht leicht – bei meinem Rheuma – sollte es für dich doch nun wirklich kein Problem sein.“

Martha spürte, wie ihr das Blut erneut in die Wangen schoss. „Aber Gertrude!“, entrüstete sie sich, wenn auch nur verhalten, „ich gehe vier Mal in der Woche in die Kirche.“

Gertrude hob die Augenbrauen. „Ach, wirklich?“

„Ja!“, beteuerte Martha. „Montags, mittwochs, freitags und sonntags.“

„Also… wenn wir zusammenziehen, dann solltest du es auf zweimal die Woche beschränken. Ich finde, mittwochs und sonntags reicht.“

Sofort zeigte Martha ihre Kompromissbereitschaft. „Selbstverständlich, Gertrude. Wenn wir zusammenziehen, brauche ich diese Einsamkeit nicht mehr auszuhalten, nicht wahr?“

Erneut runzelte Gertrude die Stirn und Martha befürchtete schon, dass es doch noch unüberwindbare Hindernisse gab, von denen sie nichts wusste.

„Dann gehen wir aber nur noch in die St. Laurentius Kirche. Das ist dir ja hoffentlich klar.“ Martha sah in Gertrudes Gesicht, dass diese keinen Widerspruch dulden würde.

Erleichtert lächelte sie. „Aber selbstverständlich. Gott ist in jeder katholischen Kirche zu Hause, nicht wahr, meine Liebe?“

Mit einem zufriedenen Lächeln nickte Gertrude.

„Möchtest du noch ein Schlückchen Portwein?“ Martha wollte ihren Gast bei guter Laune halten.

„Ja, Martha, gern. Lass uns auf eine gemeinsame Zukunft anstoßen.“

Nachdem Martha die Gläser zum dritten Mal gefüllt hatte, kam Gertrude auf den folgenden Tag zu sprechen – das Thema, das Martha am meisten gefürchtet hatte.

„Nun ja… meine liebe Martha, ich werde froh sein, wenn der morgige Tag vorüber ist.“

„Mir geht es genauso. Ich bin auch froh, wenn Marias Beerdigung vorbei ist.“

„Es wundert mich, dass sie auf dem katholischen Friedhof begraben wird. Wie hast du das geschafft?“

Martha druckste herum. Ihr war es äußerst unangenehm, Brunos Mutter die Wahrheit zu sagen. Aber, da sie ahnte, dass Gertrude danach fragen würde, hatte sie sich eine Antwort zurechtgelegt. „Ach, weißt du, wir sind uns doch einig, dass Maria umnachtet gewesen sein muss. Sie wusste einfach nicht, was sie tat. Und vielleicht hat sie ja auch aus Versehen zu viele Tabletten geschluckt. Ich glaube immer noch nicht, dass sie sich derart versündigt haben soll.“ Sie holte tief Luft. „Außerdem… ich bin fest davon überzeugt, dass sie einen Abschiedsbrief hinterlassen hätte, wenn sie derart unchristlich in Gottes Plan eingegriffen hätte.“ Rasch fügte sie hinzu: „Wenigstens mir, als ihre Mutter, hätte sie etwas hinterlassen.“

Martha fühlte Gertrudes missbilligenden Blick auf sich ruhen, aber die alte Dame schwieg.

„Soll ich dir ein Taxi rufen oder möchtest du, dass ich dich zur Haltestelle bringe?“ Martha wollte jetzt allein sein. Ihr graute vor dem morgigen Tag.

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Opladen, 03. April 2002

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Es war sehr kalt an diesem Mittwoch und Lisa war froh, dass die Beerdigung vorbei war. Die Einladung zum Kaffee hatte sie freundlich, aber bestimmt abgelehnt und so befanden sich Lisa, Andreas und Amelie auf dem Weg ins Schlösschen. Lisa hatte sich gewundert, dass Amelie mit versteinertem Gesicht am Grab gestanden und keine einzige Träne vergossen hatte. Die Trauergemeinde war ohnehin recht klein gewesen und Bruno Griese hatte alle Anwesenden zum Kaffee eingeladen. Seine Stieftochter hatte er kaum beachtet, ein Umstand, der Lisa befremdete. Als Amelie ihn um Erlaubnis fragte, mit zu Andreas und Lisa zu fahren, hatte er die beiden angesehen und wortlos genickt.

Während der gesamten Fahrt herrschte Schweigen im Auto. Jeder hängt seinen Gedanken nach und versucht, dieses schreckliche Erlebnis zu verarbeiten, dachte Lisa. Erst als sie im Schlösschen eintrafen, fragte sie: „Ist alles in Ordnung, Amelie?“

„Ja. Darf ich mich ausruhen? Ich bin ein bisschen müde.“

„Selbstverständlich. Leg dich hin. Wir sind da, wenn du etwas brauchst.“

Das Mädchen folgte Lisa zögernd die Treppe hinauf und verschwand in dem Zimmer, das Lisa ihr angeboten hatte.

Zurück im Wohnzimmer stöhnte Lisa. „Oh Andreas. Das war scheußlich, findest du nicht?“

„So etwas habe ich noch nicht erlebt“, bestätigte er erschüttert. „Noch nie habe ich einen Pfarrer eine so kurze und so unpersönliche Begräbnispredigt halten gehört.“

„Und dieser Bruno Griese“, ergänzte Lisa. „Was ist das bloß für ein Mensch? Er hat kein einziges, tröstliches Wort für Amelie gehabt. Er hat sie behandelt wie Luft. Als wäre sie gar nicht existent. Verstehst du das?“

„Nein.“ Andreas schüttelte den Kopf. „Das ist mir völlig unverständlich. Unfassbar!“

Nachdenklich kratzte sich Lisa am Kinn. „Andreas… irgendetwas stimmt nicht. Ich habe das Gefühl, dass irgendetwas ganz Fundamentales nicht stimmt.“

„Wie meinst du das?“

„Weder Bruno Griese noch Amelie haben eine einzige Träne vergossen. Gerade so als empfänden sie kein bisschen Trauer. Ich halte das für ausgesprochen bedenklich.“

„Meinst du nicht, dass Menschen ganz unterschiedlich trauern? Muss das unbedingt mit Tränen sein?“

„Nein, so meine ich das nicht, Andreas. Es geht nicht um Tränen an sich, sondern um das Gefühl. Ich habe weder bei Amelie noch bei Bruno Griese Trauer gespürt. Da war kein bisschen Kummer. Bei ihm habe ich Gleichgültigkeit wahrgenommen, aber bei Amelie eine regelrechte Mauer, an der alles Gefühl abprallt. Da kommt nichts raus. Da geht nichts rein.“

„Nun ja, sie ist eben ein verschlossener Mensch, Lisa. Nicht alle sind so offen und frei wie du.“

„Hör zu, Andreas. Es ist ein Gefühl mit Licht-im-Bauch!“

Mit einem Ruck war Andreas auf den Beinen und sah Lisa erstaunt an. „Warum hast du das nicht gleich gesagt? Dann reden wir ja über etwas ganz anderes.“

„So ist es, mein Lieber.“

„Komm, wir setzen uns in die Küche.“

„Gern. Dann kann ich uns einen starken Kaffee kochen.“

Während sie die Kaffeemaschine in Gang setzte, sagte Andreas: „Erzähl mir davon, Lisa. Was sagt dein Licht-im-Bauch Gefühl?“

„Amelie ist am Sonntag gekommen. Ihre Mutter hat sich am Freitag davor das Leben genommen, heute war die Beerdigung und das Kind läuft herum wie eingefroren. Ihr Vater, oder besser Stiefvater, beachtet sie nicht und uns weicht sie aus, wo es nur geht.“

Andreas sah sie an. „Ja, du hast recht. Das ist irgendwie nicht richtig. Vielleicht hat sie doch einen Schock, Lisa. Und? Was sollen wir tun? Wir können ihr nur das Gefühl geben, willkommen zu sein. Also, was ist mit deinem Gefühl, Lisa?“

„Ich habe geträumt, Andreas.“

„Aha. Jetzt kommen wir endlich zur Sache. Und was hat dir der Traum verraten?“

„Das ist es ja, Andreas. Er ist so mysteriös wie immer.“

„Dann leg los.“

„Es war in der Nacht, als Amelie das erste Mal hier war. Da habe ich im Traum einen Spiegel gesehen. Ein bisschen größer als ich. Ein Spiegel in einem goldenen Barockrahmen.“

„Hört sich aber nicht besonders mysteriös an.“

„Das kommt ja auch erst noch. Ich habe mich vor den Spiegel gestellt und sah… nichts. Kannst du dir das vorstellen? Du stellst dich vor einen Spiegel und siehst dich nicht?“

„Nee, Lisa. Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Das ist wieder einmal verrückt.“ Er grinste. „Auch wie immer.“

„In der vergangenen Nacht kehrte der Traum wieder. Wieder stand ich vor dem Spiegel und sah nichts. Und ich meine… wirklich gar nichts. Aber dann tauchte zuerst Amelie im Spiegel auf und kurze Zeit später Tante Käthe.“

Lisa schwieg.

„Und?“, fragte Andreas. „Wie fühlt sich das an? Was hat sie gesagt?“

Lisa holte ihre Kladde und ließ ihn lesen.

Er wiederholte seine Frage. „Wie fühlt sich das an?“

Lisa dachte einen Moment nach. „Sehr seltsam, mein Lieber. Sehr, sehr seltsam. Es ist das Gefühl, dass es sich wieder zu einer großen Vision entwickeln wird. Ja, ich weiß es.“

„Gibt’s auch eine Uhrzeit?“

„Oh ja“, bestätigte Lisa. „Das hätte ich fast vergessen. Die Uhrzeit habe ich allerdings nur beim ersten Mal erlebt. In der Nacht von Sonntag auf Montag, also nach Amelies erstem Besuch, bin ich um 04:27 Uhr aufgewacht.“

„Und letzte Nacht?“

„Nein, Andreas. Da nicht. Es war nur der Spiegel da, aber kein Aufwachen.“

„Und dann?“

„Tja, mehr nicht. Aber ich habe den Eindruck, dass diese Vision mit Amelie zusammenhängt. Ich begreife es zwar nicht, aber es ist wieder einmal das Gefühl mit Licht-im-Bauch.“

„Mit anderen Worten… Wissen.“

„Ja, Andreas.“ Lisa nickte „Genau wie bei der Tanzschule und bei den Marionetten.“

„Dann, mein Schatz, brauchen wir uns nicht zu sorgen. Es wird sich alles aufklären. Meinst du nicht?“

Lisa horchte in sich hinein. „Ja, es wird sich alles aufklären, aber wir werden unseren Teil dazu beitragen müssen.“

„Das ist doch nichts Neues.“ Er lächelte. „Wir könnten uns ja sonst zu Tode langweilen.“

Lisa konnte Andreas‘ Humor nicht teilen. „Bedenke, wie ernst es beim letzten Mal war. Du warst in Gefahr, mein Lieber.“

„Ach was, Lisa. Das war halb so schlimm.“

„Dann denke auch an Thesas Hinweis, dass ich es in Zukunft mit sehr schwierigen Fällen zu tun haben werde. Sie hat ausdrücklich erwähnt, dass es dabei meist um Kapitalverbrechen geht.“

„Na und? Sie hat aber auch gesagt, dass du dazu auserkoren bist und es meistern wirst.“

„Aber siehst du nicht, Andreas? Es geht dann aber um ein Kapitalverbrechen im Zusammenhang mit Amelie.“

Andreas verstummte. Entsetzt sah er Lisa an. „Du meine Güte!“, entfuhr es ihm. „Das habe ich tatsächlich nicht gesehen.“

Schweigend füllte Lisa die Tassen erneut, setzte die Kanne ab und stemmte beide Hände in die Seite. „Davon werden wir uns nicht beeindrucken lassen. Aber, verstehst du jetzt, was ich meinte mit: es stimmt etwas ganz Fundamentales nicht?“

„Ja. Jetzt verstehe ich es besser.“

„Ich habe mir auf der Rückfahrt viele Gedanken gemacht. Ich glaube, wir sollten Amelie ganz zu uns holen.“

„Meinst du, Bruno Griese stimmt dem zu?“

„Das muss er gar nicht wissen“, erwiderte Lisa. „Du wirst ein Attest ausstellen, dass Amelie vorläufig nicht zur Schule gehen kann. Ich werde sehen, dass Carola kommt und sich das Kind mal ansieht. Sie wird dann bestätigen, dass sie an einem Trauma leidet und vorerst dem Unterricht fernbleiben muss. Gegen so viel medizinische Macht kann niemand etwas ausrichten. Auch Bruno Griese nicht.“

Andreas dachte nach. „Was meinst du, wie Amelie dazu steht?“

„Warum fragen wir sie nicht?“ Lisa zögerte. „Mir ist noch etwas aufgefallen, Andreas. Sie ist zu dünn.“

„Meinst du? Bei Heranwachsenden ist das schwierig zu sagen.“

„Ja, mein Lieber. Ich befürchte, sie hat eine Essstörung.“

„Das kann ich ganz leicht feststellen. Ich brauche ihr nur Blut abzunehmen und es auf entsprechende Anzeichen testen zu lassen.“

„Ich sehe zu, dass ich morgen mit ihr in die Praxis komme. Ist das In Ordnung?“

„Ja, aber erst nach 12 Uhr. Dann ist es etwas ruhiger.“

Lisa ging die Treppe hinauf, klopfte an Amelies Zimmertür, aber sie meldete sich nicht. Erneut klopfte sie. Als alles still blieb, öffnete Lisa vorsichtig die Tür.

„Amelie?“

Das Zimmer war leer. Amelie hatte sich davongeschlichen, ohne dass Lisa und Andreas es bemerkt hatten.

Nach einem Anruf bei Bruno Griese kurze Zeit später wussten Lisa und Andreas, dass Amelie bei ihm war.

Lisa schüttelte den Kopf, als sie in die Küche kam. „Verstehst du das?“

„Nein, Lisa. Nicht die Bohne. Aber… ist das nicht normal bei pubertierenden Kindern? Ich meine diese… Sprunghaftigkeit?“

Lisa schaute ihn an. „Vielleicht. Aber ich fühle, dass es Amelie nicht gut geht. Gar nicht gut, Andreas.“

„Was sollen wir tun?“

„Ich weiß es nicht.“

Diese Unwissenheit macht mich ganz verrückt, dachte Lisa. Die Kleine braucht ganz dringend Hilfe und wir sitzen hier und wissen nicht, was wir tun sollen.

In ihrer Ohnmacht bat sie lautlos: hast du eine Idee, Tante Käthe?

Prompt ‚hörte‘ sie den Gedanken: Vertraue, Elisabeth. Vertraue. Du wirst geführt. Wenn die Zeit reif ist, hast du viele Helfer an deiner Seite.

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Burscheid, Ende Juni 2002

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Das rhythmische Ticken der alten Pendeluhr gemahnte bedächtig zur Eile. Volker liebte das Erbstück seines Vaters, doch an diesem Tag verwünschte er das hölzerne Kunstwerk. Das Räderwerk von Pendel und Zeigern mit seinem stoischen „Tick und Tock, Tick und Tock“ geißelte die Stille des behaglich eingerichteten Wohnzimmers von Saskias Wohnung. Als er einige seiner Möbelstücke in ihre Wohnung überstellt hatte, war die Uhr eines der ersten, für das er einen geeigneten Platz gefunden hatte.

Doch heute dröhnte das pochende Uhrwerk wie Paukenschläge in seinen Ohren und hämmerte an der Tür seines Pflichtgefühls. Wurde er auf die Uhr angesprochen, antwortete der junge Mann für gewöhnlich, oh ja, es ist wirklich ein Schmuckstück. Dennoch – mich erinnert es stets unbarmherzig und emotionslos an die Vergänglichkeit allen irdischen Geschehens. Doch die Situation an jenem Tag im Juni verlangte seine gesamte Konzentration. Schließlich hatte er heute einen schweren Gang vor sich.

Volker erhob sich, öffnete die verglaste Tür der Uhr und hielt das Pendel an. Er konnte das gleichmütige >Tick und Tock< nicht länger ertragen. Erleichtert überließ er sich der vollkommenen Stille und kehrte an seinen Platz zurück.

„Bist du dir auch ganz sicher?“, hörte Volker seine Verlobte mit unsicherer Stimme fragen. „Nach so kurzer Zeit? Wir kennen uns doch gerade erst ein paar Wochen.“ Sein Blick ruhte auf der zierlichen Frau, die ihm gegenüber auf dem Sofa saß. Die Zweifel in ihren bernsteinfarbenen Augen waren nicht zu übersehen. Volkers Blick wanderte zu den kastanienbraunen Locken, die ihre Schultern umschmeichelten und er fühlte die Anziehungskraft, die Saskia auf ihn ausübte, in sich aufsteigen.

Schweigend hievte der fast zwei Meter große Mann erneut seine 86kg aus dem samtbezogenen Lehnstuhl, kniete sich vor der Frau im grünen Sommerkleid nieder und zog sie behutsam an sich.

„Ach, Liebste, was hat das mit Zeit zu tun? Wenn das Herz spricht, welche Rolle spielt da die Zeit? Ich habe es mir wirklich gründlich überlegt. Ja, ich bin mir ganz sicher, dass ich dich heiraten will. Weshalb zweifelst du?“

„Aber was wirst du Pater Stefanus sagen?“

Ohne die Umarmung aufzugeben, erwiderte er: „Nun, dass ich für das Priesteramt ungeeignet bin. Was sonst?“

Sie löste sich aus der Liebkosung, schob ihn um Armeslänge sachte von sich und fragte: „Und was machst du mit deinem Gefühl der Berufung, das dich in all den Jahren durch das Priesterseminar getragen hat?“

Das aufsteigende Unbehagen schob Volker rasch an die Seite. „Was soll ich damit machen? Mein Gefühl für dich ist einfach stärker als mein Gefühl für das Priesteramt. Und ich sage es Pater Stefanus lieber jetzt, als nach der Weihe, oder?“

„Vielleicht wirst du eines Tages bereuen, mich geheiratet zu haben“, brachte Saskia erneut ihre Skepsis zum Ausdruck.

Volker runzelte die Stirn und überlegte einen Augenblick, bevor er erwiderte: „Ja, vielleicht. Aber, vielleicht auch nicht.“

Saskia wandte sich ab, als sie aufstöhnte. „Das könnte ich nicht ertragen. Ich will nicht, dass du meinetwegen deine Berufung aufgibst.“

„Und wie willst du das verhindern?“

Ihr Lächeln wirkte verkrampft. „Wie könnte ich das, wenn es doch mein Herzenswunsch ist, mit dir zusammen zu leben und viele Kinder großzuziehen?“

Volker richtete sich auf, straffte seine Schultern und meinte: „Na dann sind wir uns ja einig.“ Zögernd setzt er hinzu: „Ich mache mich jetzt auf den Weg, denn ich möchte Pater Stefanus nicht unnötig warten lassen.“

Zweifel beherrschte noch immer Saskias Stimme. „Bist du dir auch wirklich ganz sicher?“

„Bei der Aussicht auf ein Leben mit Dir? Mit einem Stall voll Kinder? Welcher Mann hätte da noch Bedenken?“ Er umarmte sie erneut, hauchte einen Kuss auf ihre Stirn und verließ das Haus.

Während der Fahrt nach Altenberg überlegte er, wie er die Neuigkeit Pater Stefanus am besten und so schonend wie möglich beibringen sollte. Er befürchtete, dass der Gottesmann kaum Verständnis für ihn aufbringen würde, zumal Volker sich seiner Sache durchaus nicht so sicher war, wie er es Saskia gegenüber demonstriert hatte. Er konnte den Zwiespalt in sich nicht loswerden. Immer wieder meldete sich dieses schreckliche Gefühl, dass weder die eine, noch die andere Entscheidung die richtige war. Doch tief in seinem Inneren wusste er, dass ihn niemand mehr davon abbringen konnte, Saskia so schnell wie möglich zu heiraten.

An diesem strahlenden Sommertag dachte er immer wieder über seinen Entschluss nach, ohne sich auf die Fahrt konzentrieren zu müssen. Den Weg zum Kloster kannte er in- und auswendig und um diese Zeit herrschte so gut wie kein Verkehr.

War sein Entschluss wirklich richtig? Wieder fühlte er seinen inneren Kampf. Wie oft hatte er die Argumente der beiden inneren Kontrahenten hin und her gewälzt?

Und, ebenfalls wie immer, schob sich letztlich das Gefühl für Saskia in den Vordergrund seines Gemüts. Ja. Er würde sie heiraten. Und für den Lebensunterhalt der werdenden Familie würde er auch aufkommen können.

Volker war froh, dass er sein Maschinenbaustudium vor dem Priesterseminar abgeschlossen hatte. Er war sicher, schnell einen gut bezahlten Job zu finden. Noch vor wenigen Tagen hatte er in der Zeitung gelesen, dass engagierte und motivierte Fachkräfte in der Wirtschaft höchst willkommen waren. Ja, er würde seine geplante Großfamilie ernähren können.

Saskias Begeisterung für die gemeinsame Zukunft war ansteckend. Volker erinnerte sich an das letzte Mal und musste unwillkürlich lächeln. Ihre Augen strahlten, als sie sich in bunten Farben ausmalte, wie sie als seine zukünftige Frau das hübsche Einfamilienhaus versorgte, während die Kinder im Garten herumtollten; wie er mit seinem Nachwuchs Fußball spielte oder mit ihnen das Fahrradfahren übte; wie er Vokabeln abhörte und wie er sie bei den Mathematikaufgaben unterstützte. Saskias Lebenstraum sollte sich bald erfüllen – dazu war er nur allzu gern bereit. Ihr Glück war schließlich auch das seine.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel und Volker stellte verstimmt fest, dass er seine Sonnenbrille auf dem Tisch hatte liegen gelassen. Doch der Schatten des Ärgers verflüchtigte sich ebenso rasch wie er gekommen war. Hatte er nicht noch eine Ersatzsonnenbrille im Handschuhfach? Er klappte das Fach auf und kramte in den diversen Gegenständen. Er beugte sich seitwärts, um einen Blick in das Innere des Fachs zu werfen.

Ja, wie vermutet, fand sich die Ersatzbrille tatsächlich in dem Fach. Als er danach griff, fiel sie ihm aus der Hand und landete auf dem Boden vor dem Beifahrersitz.

„Verflixt“, ärgerte er sich und beugte sich tief, um die getönten Gläser zu ergreifen.

Zu spät bemerkte er den Traktor, der hinter der scharfen Rechtskurve gerade auf die Landstraße einbog. Zwar stemmte Volker mit voller Kraft seinen Fuß auf das Bremspedal, doch das Krachen und Knirschen von berstendem Glas und biegendem Blech rauschte in seinen Ohren, bevor alles um ihn herum in tiefe Schwärze versank.

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Köln, Ende Juni 2002

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Wie immer, wenn sich Martha auf den Weg machte, um Gertrude zu besuchen, fand die Ältere einen Grund, dass Martha doch bitte für Kuchen sorgen möge, den sie selbstverständlich bezahlen würde. Und natürlich vergaß die alte Dame stets, ihr das Geld auch zu geben, bevor sie wieder heimfuhr.

An diesem Samstag war Martha äußerst angespannt. Sie hatte sich mit Gertrude darauf geeinigt, dass sie zum 01. August bei ihr einziehen würde. Es blieben somit vier Wochen Zeit, dass Karl-Heinz seine Sachen packte und zu Bruno zog, zumal Amelie am 01. August ins Kloster gehen würde. Alles passte perfekt zusammen.

Dennoch… an diesem Samstag sollte das endgültige Gespräch zwischen ihr, Gertrude, Bruno und Karl-Heinz stattfinden. Es sollten alle Einzelheiten besprochen werden. Martha sorgte sich, ob Bruno und Karl-Heinz ihre Mutter vielleicht doch noch umstimmen könnten. Das wäre eine Katastrophe! Martha hatte kaum noch Geld, um sich mit frischen Lebensmitteln versorgen zu können. Auch hatte sie die Wohnung schon gekündigt. Nein, es durfte jetzt nichts mehr dazwischen kommen. Lieber Gott, flehte sie im Stillen, bitte steh mir bei. Sie wusste – wenn sie nicht zu Gertrude ziehen konnte, würde sie zum Sozialamt gehen müssen. Bei dieser Vorstellung lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter. Sozialamt! Nein, das durfte auf keinen Fall passieren. Was für eine Demütigung!

Seit Georgs Tod bekam sie nur noch etwas mehr als die Hälfte der Rente, mit der sie vorher kalkulieren konnte. Außerdem… mit dieser neuen Währung, diesem komischen Euro, kam sie überhaupt nicht zurecht. Martha war ihr ganzes Leben Hausfrau und Mutter gewesen und bekam keine eigene Rente. Erneut flehte sie in Gedanken: Lieber Gott, lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Es darf nicht soweit kommen, dass ich zum Sozialamt muss. Bitte hilf mir!

*

Pünktlich um 15 Uhr klingelte sie an Gertrudes Haustür.

Bruno öffnete und stellte den von Martha mitgebrachten Kuchen sogleich auf den Tisch.

Nachdem Kaffee und Kuchen vertilgt und das Geschirr in der Spüle gestapelt war, setzten sich Bruno, Martha und Gertrude an den Tisch, denn Gertrude wollte Klarheit schaffen.

 In kurzen Sätzen fasste Gertrude Griese zusammen, was sie mit Martha besprochen hatte.

„Wie bitte?“ Bruno Griese sah abwechselnd von Gertrude, seiner Mutter, zu Martha, seiner Schwiegermutter. „Ihr wollt zusammenziehen?“

„Was ist daran verkehrt?“, fragte Gertrude verwundert. „Du solltest dich freuen, dass sich jemand um deine alte Mutter kümmert. Weder du noch Karl-Heinz habt Zeit genug, um mir beizustehen.“

„Aber“, widersprach Bruno, „das hat doch bisher ganz hervorragend funktioniert.“

„Ja“, bestätigte Gertrude und der ärgerliche Unterton in ihrer Stimme war unüberhörbar. „Bis jetzt! Mein lieber Bruno, du scheinst zu übersehen, dass ich bald 78 Jahre alt werde. Meine Kräfte lassen nach und ich würde mich weitaus wohler fühlen, wenn Martha hier einzieht.“

„Und was ist mit Karl-Heinz?“

„Meinst du nicht es wird Zeit, dass er sich eine eigene Wohnung sucht?“

„Oh, Mutter!“, stöhnte Bruno. „Das kannst du ihm nicht antun.“

„Wie meinst du das? …ihm nicht antun. Es heißt doch eindeutig: ihr sollt Vater und Mutter ehren. Stattdessen muss ich mich um ihn kümmern. Ich finde, er sollte sich langsam mal an seine Sohnespflicht erinnern.“

„Und wovon soll er leben? Er hat doch nicht mal einen Job!“

„Dann soll er sich gefälligst einen suchen.“

Martha hatte schweigend zugehört. Wieder fühlte sie ihre Abneigung gegen Bruno. Sie konnte ihn nicht leiden. Ja, das war schon bei ihrer ersten Begegnung so gewesen – damals. 1986. Georg, ihr Mann, hatte Bruno mit nach Hause gebracht. Sie hatte nie erfahren, wo er ihn kennengelernt hatte. Sie vermutete jedoch, dass es mit irgendeiner kirchlichen Angelegenheit zu tun hatte. Jedenfalls hatte Georg ihr mitgeteilt, dass Bruno Griese seine missratene Tochter heiraten würde. Und damit niemand bemerkte, dass Maria schwanger war, wurde die Hochzeit nur im ganz kleinen Kreis und sehr schnell gefeiert. Obwohl Martha ein schlechtes Gewissen plagte, bestand Georg auf einem schneeweißen Brautkleid. „Dann ist es eben eine Frühgeburt“, erwiderte er, als Martha ihn auf das errechnete Geburtsdatum aufmerksam machte. Als Küster und Organist in St. Laurentius musste er den Gepflogenheiten der Kirche nachkommen. Da gab es keinen Zweifel für ihn.

Ja, dachte Martha, sie musste froh sein, dass Bruno Griese ihre Tochter geheiratet hatte. Sie war ihm zu Dank verpflichtet. Dennoch… ihr Gefühl sagte etwas ganz anderes. Mit Gefühlen kann man sein Leben nicht meistern, dachte Martha. Schon gar kein Gott gefälliges Leben führen. Und eine Ehe zwischen einer Katholischen und einem Evangelischen konnte niemals im Sinne ihres Gottes sein. Oder?

Martha riss sich zusammen. Sie hatte von der Unterhaltung zwischen Gertrude Griese und ihrem Sohn Bruno nichts mehr mitbekommen. Zu sehr war sie mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt gewesen. Jetzt sah sie, wie Bruno die Hand seiner Mutter ergriff. „Hör zu, Mutter“, sagte er. „Ich hatte gehofft, dass ich hierherziehen könnte. Jetzt, wo Maria tot ist und Amelie unbedingt bei ihrem leiblichen Vater wohnen will… was soll ich noch mit dem Haus in Opladen? Es ist doch viel zu groß für mich allein.“

Martha beobachtete, wie Gertrude ihren Sohn anlächelte. „Das tut mir echt leid, Junge. Aber, ich habe mich schon entschieden. Martha zieht hier ein.“ Plötzlich erhellte sich Gertrudes Gesicht. „Aber… Karl-Heinz könnte doch bei dir einziehen!“

Oh, nein“, ächzte Bruno. „Du weißt doch, dass wir uns nicht vertragen. Du weißt, dass wir uns nie vertragen haben. Noch nie!“

„Ja, ich weiß, mein Junge“, bestätigte Gertrude und schüttelte gleichzeitig den Kopf. „Das habe ich nie verstanden. Vielleicht würdet ihr euch näher kommen. Vielleicht ist das für euch die Chance, endlich Frieden miteinander zu schließen und euch brüderlich zu benehmen.“

Bruno verlor die Beherrschung. „Karl-Heinz ist ein Weichei! Der kriegt nichts auf die Reihe. Hängt nur herum und liegt jedem auf der Tasche!“

„Bruno!“ Gertrude Griese stoppte seinen Ausbruch. „Versündige dich nicht an deiner Mutter und deinem Bruder! Was fällt dir ein? Karl-Heinz hat dir nichts getan. Und er ist genauso ein Kind Gottes wie du.“

„Ja. Und darauf hat er sein Leben aufgebaut. Auf alle möglichen Menschen. Auf dich, auf mich, auf den Staat, auf alle, die ihm über den Weg laufen.“

Gertrude war bleich geworden. „Wie redest du mit deiner Mutter? Zügle deinen Groll. Ich verbitte mir ein Drama nach Kain und Abel. Das ist nicht Gott gefällig.“

Sie holte tief Luft. „Ich bin Gott dankbar, dass Martha mir die Beschwernisse des Alltags erleichtern will. Und du, mein Sohn, solltest Gott ebenfalls dankbar sein. Hüte deine Zunge!“

Wortlos drehte sich Bruno Griese um und verließ das Haus.

*

*

*

Pattscheid, Ende Juni 2002

*

Lisa freute sich auf das Wochenende. Endlich würde Carola sie wieder einmal besuchen. Ihren Umzug nach Köln hatte die Freundin grandios gemeistert und sich sowohl bei Frau Wessel, als auch in der Uni gut eingelebt. Auch hatte Carola ein bezauberndes, kleines Häuschen in Weidenpesch gemietet, das zentral und dennoch ruhig gelegen war. Und Lisa freute sich, dass sie mit Carola endlich wieder einmal Zeit verbringen würde. Fast jedes Wochenende war Carola mit Markus zusammen. Markus Schröder, Patricias Anwalt, und Carola verbrachten viel Zeit miteinander. Lisa freute sich auf die Neuigkeiten dieser jungen Zweisamkeit. Ob sich daraus endlich eine dauerhafte Beziehung entwickelte? Lisa würde sich von Herzen für ihre Freundin freuen. Carola hatte wahrhaftig einen liebevollen und warmherzigen Partner verdient.

An diesem Freitag hatte Lisa bereits alle Einkäufe getätigt und Brigitte, ihre gute Fee, half beim Ausladen und Einräumen der vielen Lebensmittel, Haushaltsartikel und Vorräte.

„Ist Carolas Zimmer fertig, Brigitte?“

„Was denken Sie denn? Schon seit heute Mittag.“

„Oh, das ist nett. Danke.“

„Ich hab auch gleich die anderen mitgemacht.“

„Brigitte, Sie sind ein Schatz.“

Wie immer, brummte Brigitte vor sich hin, bevor sie im Hauswirtschaftsraum verschwand.

Lisa seufzte. Was würde ich bloß ohne dieses Goldstück tun? Brigitte war verlässlich, vertrauenswürdig und – Gott sein Dank – keine von diesen Haushaltshilfen, die sich nur allzu rege am Dorfklatsch beteiligten.

Ein Blick auf ihre Uhr überzeugte Lisa, dass ihr noch mehr als zwei Stunden Zeit blieb, bis Andreas nach Hause kommen würde. Carola hatte sich erst für acht Uhr angekündigt.

Verwundert runzelte Lisa die Stirn, als es an der Haustür klingelte.

Für Andreas war es noch viel zu früh. Außerdem hatte er einen Schlüssel.

Brigitte hatte das Läuten nicht gehört. Lisa öffnete selbst.

Sie traute ihren Augen nicht.

„Amelie! Was machst du denn hier?“

Das Mädchen war noch schmaler geworden und trug selbst bei diesem Sommerwetter den dunkelblauen Wollrock und die hochgeschlossene, weiße Bluse. In der Hand trug Amelie einen kleinen Koffer.

„Darf ich reinkommen?“, fragte das Mädchen mit zitternder Stimme.

„Aber natürlich. Komm rein. Am besten gehst du gleich ins Wohnzimmer. Ich hole mir rasch noch etwas zu trinken. Möchtest du auch was?“

„Ein Glas Wasser wäre schön.“

Als sie Amelie gegenüber saß und in das blasse, schmale Gesicht schaute, stieg in Lisa ein Anflug von Ärger auf. Sie haut ab und kreuzt auf, wann es ihr beliebt!

Als hätte das Mädchen Lisas Gedanken gelesen, flüsterte es. „Ich habe beim letzten Mal gehört, was ihr besprochen habt. Dass ich ganz zu euch kommen sollte und dass Andreas mich untersuchen wollte. Ich habe einen furchtbaren Schreck bekommen und bin einfach davongerannt. Bitte entschuldige.“

„Wir haben mit deinem… Stiefvater gesprochen. Er hat uns informiert, als du bei ihm aufgetaucht bist. Wir hätten uns sonst schreckliche Sorgen gemacht.“

Amelie hielt den Kopf gesenkt. „Es tut mir sehr leid. Kannst du mir verzeihen?“

„Ich bin dir nicht böse, Amelie“, sagte Lisa, „aber ich frage mich, was mit dir los ist. Wovor läufst du weg? Und so wie ich das sehe“, Lisa zeigte auf den Koffer, „bist du schon wieder weggelaufen, oder?“

Amelie schlug die Hände vor das Gesicht und begann zu weinen. Lisa setzte sich auf die Sessellehne und zog das Mädchen an sich. „Ja, Amelie. Weine ruhig. Das befreit die Seele und tut immer gut.“ Währenddessen streichelte sie dem Kind über den Rücken.

Endlich ließ sich Amelie in Lisas Arme fallen und schluchzte.

Was ist diesem Kind bloß widerfahren?, fragte sich Lisa erneut.

Nach einer Weile ebbte Amelies Schluchzen ab und sie schnäuzte sich die Nase.

„So, mein liebes Kind“, ermunterte Lisa das Mädchen, „jetzt erzähl mir, was passiert ist.“

„Als mein Papa… ich meine, mein Stiefvater, gestern nach Hause kam, habe ich ihm ganz stolz mein Abschlusszeugnis gezeigt. Ich habe in allen Fächern eine Eins. Ich war die Klassenbeste. Und ich war fest davon überzeugt, dass er… ich meine, dass mein Stiefvater mir jetzt erlauben würde, aufs Gymnasium zu gehen. Ich will doch so gern mein Abitur machen.“ Bei der Erinnerung füllten sich Amelies Augen wieder mit Tränen. „Aber er… aber er hat gesagt… er hat gesagt, dass ich trotzdem ins Kloster gehe.“ Amelie konnte das Schluchzen nicht unterdrücken.

„Oh, Amelie“, seufzte Lisa, „das ist wirklich schlimm. Und? Was willst du jetzt machen?“

„Ich will nicht ins Kloster!“, bäumte sich das Mädchen heftig auf. „Bitte Lisa, hilf mir. Bitte, bitte hilf mir.“

„Ist ja gut, Amelie. Sobald Andreas kommt, machen wir einen Plan, ja?“

„Wirklich? Du willst mir helfen, obwohl ich mich so scheußlich benommen habe?“

Lisa lächelte. „Ach Kleines, als ich so alt war wie du, da habe ich noch ganz andere Sachen gemacht. Meine Mutter hat mir auch nicht den Kopf abgerissen. Warum sollte ich also auf dich böse sein?“

Lisa hörte wie die Haustür geöffnet wurde. „Das ist Andreas. Ich bin sicher er freut sich, dich zu sehen.“ Lisa erhaschte Amelies skeptischen, ja fast ängstlichen Blick.

„Wir sind im Wohnzimmer, Schatz“, rief Lisa.

„Wer ist wir?“, hörte sie ihn fragen.

„Überraschung!“

Er steckte den Kopf durch den Türspalt. „Aber… hallo! Da ist ja unser kleiner Ausreißer“, lächelte er. „Das ist wenigstens eine freudige Überraschung.“

Er ging auf Amelie zu und reichte ihr die Hand. „Eine Umarmung darf ich wohl noch nicht erwarten, oder?“ Er sah sie an.

Ohne ein Wort zu sagen, erhob sich Amelie und umarmte ihn. Wortlos umfasste Andreas sie vorsichtig. „Oh, das freut mich." Er lächelte seine Tochter an.

„Du bist mir auch nicht böse?“, fragte Amelie ungläubig.

„Warum sollte ich?“, fragte Andreas ebenso verwundert.

„Na, weil ich… weil ich einfach abgehauen bin… im März.“

Andreas setzte sich und zog Amelie behutsam neben sich auf die Couch. „Jetzt hör mir mal gut zu, kleines Fräulein. Ich weiß nicht, was du für Erfahrungen mit deinen Eltern gemacht hast. Ich weiß nicht, warum sich deine Mutter das Leben genommen hat. Ich weiß auch nicht, warum dein Stiefvater dich unbedingt ins Kloster stecken will. Ich weiß also ziemlich wenig. Aber eines weiß ich mit absoluter Gewissheit. Du bist meine Tochter und wann immer du mich brauchst, werde ich für dich da sein. Verstehst du das?“

Ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht und sie nickte. „Ja, ich verstehe.“

„Prima. Dann hör mir weiter zu. Wir werden dich nicht festhalten oder überreden, hier zu bleiben. Aber du sollst wissen, dass du gern hier wohnen und bleiben kannst. Nur bitte – bitte – tu mir einen Gefallen, wenn du gehen willst, dann sag mir oder uns Bescheid. Ich will mir keine unnötigen Sorgen machen müssen. Okay?“

Lisa fühlte sich erleichtert. „So, Amelie. Und ich möchte dir auch noch etwas sagen. Auch ich weiß nicht, wie ihr in deiner Familie miteinander umgegangen seid. Aber hier, in diesem Haus, herrschen Ehrlichkeit, Fröhlichkeit und Offenheit. Hier darf jeder sagen, was er denkt, glaubt, fühlt und möchte. Dafür wird niemand gerügt, schief angesehen oder gar bestraft. Wir gehen höflich, wertschätzend und achtungsvoll miteinander um. Und so lange sich alle daran halten, sind auch alle Probleme lösbar. Jedes Problem, ich meine wirklich jede Schwierigkeit kann gelöst werden, wenn wir offen miteinander darüber sprechen. Das heißt nicht, dass hier jeder reden muss. Nein, wir tun das, weil wir uns mögen, weil wir wollen, dass es uns und dem anderen gut geht. Kannst du das verstehen?“

Das Mädchen zögerte. „Nicht wirklich“, flüsterte es, „weil ich das überhaupt nicht kenne. Ich habe euch ja erzählt, dass ich bei uns zu Hause und in der Klosterschule immer nur das zu tun habe, was mir aufgetragen wird.“ Erneut zögerte sie. „Deshalb habe ich ja im März nicht verstanden, was ihr vorhattet. Zu Hause und in der Schule spielt das, was ich will… ich meine wirklich will, überhaupt keine Rolle.“

„Dann warst du überfordert“, stellte Andreas fest, „und hast geglaubt, wir wollten etwas gegen deinen Willen unternehmen?“

Lisa lächelte. „Dann hast du nicht alles gehört, was wir besprochen hatten.“

Amelie zuckte mit den Schultern. „Das kann sein. Ich bin irgendwann aufgestanden und wollte nur noch weg.“

„Und wovor läufst du jetzt weg?“, fragte er.

„Dieselbe Frage habe ich ihr auch gestellt“, antwortete Lisa statt Amelie. Mit wenigen Worten informierte sie Andreas über die Entwicklung.

„Du hast wirklich in allen Fächern eine Eins?“, wollte Andreas wissen.

Amelie zog einen Umschlag aus ihrer Tasche und reichte ihn ihrem Vater.

Andreas studierte das Zeugnis intensiv, legte es auf den Tisch und staunte. „Wenn ich je in meinem Leben ein solches Zeugnis mit nach Hause gebracht hätte, mein Vater wäre an die Decke gesprungen und meine Mutter hätte garantiert Hunderte von Fotokopien gemacht und vor sämtlichen Verwandten damit angegeben. Mit der Nachbarschaft wäre ein Grillabend organisiert worden, den meine Eltern auf Jahre hinaus zu einem unvergesslichen Event gemacht hätten.“

Er grinste. „Bist du sicher, dass ich dein Vater bin? Eine solche Tochter habe ich kaum verdient.“ Er nahm Amelies Hand. „Ich bin mächtig stolz auf dich.“

Auch Lisa sah sich das Zeugnis an. „Also, ich kann nur sagen: Hut ab, Amelie. Das ist eine ganz besondere Leistung, die du hier vollbracht hast. Hätte ich eine Tochter, die ein solches Zeugnis nach Hause gebracht hätte, ich würde vor Stolz aus allen Nähten platzen.“

Amelie sah von Lisa zu Andreas und wieder zurück. „Meint ihr das wirklich ernst?“

„Ach, Kind“, rief Andreas aus. „Begreife, dass wir es tatsächlich ernst meinen. Warum glaubst du uns nicht?“

„Kann es sein“, mischte sich Lisa ein, „dass du bisher von allen Seiten angelogen, getäuscht und überfahren worden bist? Dass du deshalb dein Vertrauen, deine Zuversicht und deinen Glauben verloren hast?“

Amelie spielte mit ihren Händen. „Irgendwie erwarte ich, dass ich wieder nur vertröstet werde, damit ich weiter mitmache. Ich soll keine Fragen stellen, darf meine Meinung nicht sagen und muss gehorchen.“

Andreas und Lisa wechselten einen Blick.

„Wenn ich dich richtig verstanden habe“, fasste Lisa zusammen, „will dein Stiefvater, dass du ins Kloster gehst. Stimmt das so?“

Das Mädchen nickte.

„Und du willst das partout nicht. Auch richtig?“

„Nein! Auf gar keinen Fall.“

„Möchtest du, dass wir einen Weg finden, das zu verhindern?“

Amelie schaute Lisa fast flehend an. „Wenn es einen solchen Weg gibt – auf jeden Fall.“

„Dann bleibt uns nichts anderes übrig“, sagte Andreas und beugte sich vor, „als mit deinem Stiefvater zu sprechen.“

„Der wird nicht nachgeben“, war sich Amelie sicher.

„Dann bleibt uns der Rechtsweg übrig“, meinte Andreas.

„Was bedeutet das?“ Amelie sah ihn fragend an.

„Wir werden uns mit einem Rechtsanwalt in Verbindung setzen, der beim Familiengericht einen entsprechenden Antrag stellt.“

„Aber“, wendete Amelie ein, „wird der Richter nicht das tun, was mein Stiefvater will?“

„Oh nein.“ Andreas schüttelte den Kopf. „Eine fast Sechzehnjährige kann und darf nicht gegen ihren Willen in ein Kloster gesteckt werden. Wenn der Richter dein Zeugnis sieht und du ihm sagst, dass du dein Abitur machen willst, wird er deinem Vater – ich meine Stiefvater – sagen, dass er nicht gegen deinen Willen entscheiden kann.“

Amelie schwieg und Lisa spürte, dass es noch etwas gab, was das Mädchen bedrückte.

„Was ist noch los, Amelie? Da ist noch etwas anderes, nicht wahr?“

„Ja“, nickte das Mädchen, „ich will nicht mehr nach Hause… ich meine… zu ihm. Kann ich bei euch bleiben? Ich meine… bis ich mein Abitur habe?“

Es klingelte an der Haustür.

Lisa sprang hoch. „Das ist Carola!“

Die Freundin war von Lisa schon im März eingeweiht worden, als Amelie das erste Mal aufgekreuzt war. Carola schickt wieder einmal der Himmel, dachte Lisa. Jetzt kann sie sich selbst ein Bild von Amelie machen.

*

Nach ungefähr einer Stunde verabschiedeten sich Andreas und Amelie.

Sofort fragte Lisa: „Was meinst du? Was hältst du von ihr? Wie erlebst du sie?“

„Wenn du mich fragst“, sagte Carola, „dann hat dieses junge Ding ein unbeschreibliches Trauma hinter sich.“

Lisa nickte. „Ich bin ganz deiner Meinung. Das Problem ist, dass ich nicht an sie heran komme. Sie ist total verschlossen. Aber… andererseits… ist das nicht normal, wenn sich die eigene Mutter das Leben nimmt?“

„Nun ja.“ Carola zögerte. „Das ist sicherlich nicht leicht zu verkraften, aber meiner Meinung nach nicht so verstörend wie die Tatsache, dass Amelie entweder an Magersucht oder Bulimie leidet. Ich meine, dass Andreas unbedingt ein großes Blutbild machen sollte. Daran kann man in der Regel ablesen, ob der Verdacht stimmt.“

„Sollen wir mit ihr darüber sprechen?“

„Nein.“ Carola schüttelte den Kopf. „Nicht im Beisein von Amelie. Das wäre zu früh. Aber du solltest sie unbedingt im Auge behalten.“ Carola sah sich um. „Wo ist sie überhaupt?“

„Andreas ist mit ihr zu Bruno Griese gefahren. Er will ein paar Sachen für sie abholen und versuchen, den Stiefvater davon zu überzeugen, dass Amelie vorerst bei uns bleibt.“

„Hoffentlich geht das gut“, zweifelte Carola.

Lisa sammelte sich, bevor sie weitersprach. „Du, Carola. Ich habe wieder Visionen.“

„Seit wann?“

„Es fing an, kurz nachdem Amelie das erste Mal hier war. Im März.“

„Na, dann lass mal hören.“

Lisa erzählte in allen Einzelheiten, was ihr in den besonderen Träumen wiederfahren war.

„Als Amelie zurück zu ihrem Stiefvater ging, hörte die Vision auf. Seit der letzten Woche ist sie wieder da. Sowohl der Spiegel, als auch die Uhrzeit.“

„Welche Uhrzeit?“

„Ach ja, ich vergaß. Ich wache um 04:27 Uhr auf.“

„Nach dem letzten Mal, mit den Marionetten, bedeutet das vielleicht, es wird irgendetwas um 16:27 Uhr passieren, nicht wahr?“

„Schon möglich. Was fällt dir bei diesem Spiegel ein?“

„Ehrlich gesagt – nicht sonderlich viel.“

Lisa nickte. „Das ist genauso viel, wie bei mir.“

„Aber, weißt du was?“, fuhr Carola fort, „Deine Vision wird sich entwickeln. Halte mich auf dem Laufenden und wenn du nicht weiter weißt, ruf mich an.“

Bevor Lisa darauf eingehen konnte, hörte sie die Haustür.

Andreas kam zurück. War Amelie bei ihm? Und was hatte Bruno Griese gesagt? Lisa konnte ihre Neugier kaum zügeln.

„Hallo! Wo seid ihr beiden?“, hörte Lisa ihn rufen.

„In der Küche“, erwiderte sie.

Andreas und Amelie erschienen im Türrahmen.

Während Amelies Gesichtsausdruck keine Regung zeigte, grinste Andreas.

„Und? Wie war‘s?“, wollte Lisa wissen.

„Puh!“, stöhnte Andreas und ließ sich auf den Stuhl fallen.

„Komm, Amelie“, forderte Carola das Mädchen auf, „setz dich hierher zu uns, auf die Bank.“

„Also, dieser Bruno Griese“, ächzte Andreas erneut, „ist ein ganz harter Knochen. Er wollte Amelie doch tatsächlich mit Körpergewalt in ihr Zimmer verbannen. Er griff nach ihrem Arm und zog sie hinter sich her. Allerdings, er hat nicht mit mir gerechnet.“

„Du bist dazwischen gegangen?“, wunderte sich Lisa. „Das kenne ich ja gar nicht von dir.“

Andreas grinste. „Ja, das ist eine Seite von mir, die ich selten zum Ausdruck bringe. Ich bin der Meinung, das weißt du, meine Liebe, dass man alle Schwierigkeiten mit Ruhe, Verstand und gutem Willen überwinden kann. Aber dieser Bruno Griese hat keinen guten Willen. Er will nur, dass alle Welt sich seinem Willen unterordnet. Dem ist es völlig egal, ob sein Gegenüber damit einverstanden ist oder nicht.“

„Was hast du gemacht?“, fragte Carola.

„Ich habe ihm gesagt, dass er auf der Stelle Amelies Arm loslassen soll. Als er das nicht getan hat, habe ich seinen Arm genommen und eine ganz bestimmte Stelle am Ellbogen gedrückt. Er jaulte kurz auf und ließ Amelie los.“

„Kann ich einen Kaffee haben?“, fragte er Lisa.

„Oh, entschuldige bitte“, sagte Lisa und sprang auf. „Ich war derart neugierig, dass ich es glatt vergessen habe. Aber, bitte, erzähl weiter.“

Als der Becher vor ihm stand und Andreas einen großen Schluck genommen hatte, fuhr er fort: „Zuerst sah es aus, als wollte er sich auf mich stürzen. Aber ich habe mich in voller Größe vor ihm aufgebaut und ihm gezeigt, dass ich keinen Millimeter nachgeben würde.“ Andreas grinste bei der Erinnerung. „Und da hat er begriffen, dass er sich besser mit mir nicht anlegt. Außerdem habe ich ihm gesagt, dass er sich eine Anzeige wegen Kindesmisshandlung bei seinem Job wohl nicht leisten könnte.“

„Was macht er denn beruflich?“, meldete sich Carola.

„Er ist Reitlehrer“, erwiderte Andreas. „Aber seine Position im Pfarrgemeinderat würde enormen Schaden nehmen, wenn das Wort ‚Kindesmisshandlung‘ die Runde machte.“

Lisa hatte Amelies Gesicht beobachtet, das bis zu diesem Augenblick verschlossen geblieben war. Bei Andreas‘ letzten Worten sah Lisa, wie das Mädchen zusammenzuckte.

Andreas fuhr fort: „Ich bat Amelie, ein paar Sachen zusammenzusuchen und einzupacken. Griese ließ sich auf die Couch fallen und sah ziemlich grau im Gesicht aus. Ich habe ihm klipp und klar gesagt, dass Amelie nicht ins Kloster gehen würde. Zuerst hat er Zeter und Mordio geschrien. Ich habe ihm dann nur noch gesagt, dass er umgehend von meinem Anwalt hören würde, sollte er auch nur noch einen einzigen Versuch unternehmen. Bei den Worten Kindeswohl und Mitspracherecht einer 16jährigen ist er endgültig zusammengesackt.“

Liebevoll sah Andreas seine Tochter an. „Es tut mir so leid, Amelie, dass du das alles miterleben musstest.“

„Das muss dir nicht leid tun“, erwiderte das Mädchen kopfschüttelnd. „Ich war nur so… fassungslos. Noch nie hat sich jemand gegen ihn gestellt. Und noch nie hat sich jemand um das geschert, was ich will. Ich war so froh, dass du da warst.“ Der Anflug eines Lächelns huschte über ihr Gesicht.

„Das kann ich mir vorstellen“, nickte Andreas. „Ich weiß jetzt, dass du auf keinen Fall zu ihm zurückkehren darfst.“

„Und wie geht es nun weiter?“, meldete sich Carola.

Alle Augen richteten sich auf das Mädchen. „Das hängt von dir ab, Amelie“, erwiderte Lisa. „Du entscheidest, was du willst. Ich würde sagen, du solltest zunächst bei uns bleiben und zur Ruhe kommen. Wenn du willst, können wir dich auf dem Gymnasium anmelden. Du kannst selbstverständlich dein Abitur machen.“

„Wenn es dir lieber ist, kannst du aber auch in eine Mädchen-WG einziehen“, ergänzte Andreas. „Es gibt heute für junge Menschen das so genannte… betreute Wohnen.“

„Davon würde ich abraten“, mischte sich Carola ein.

„Weshalb?“, fragte Andreas verwundert.

„Nun ja…“, Carola zögerte. „In diesen Wohngemeinschaften finden sich meist Jugendliche, die als schwer erziehbar oder auffällig gelten. Schwer erziehbar scheint mir Amelie nun wirklich nicht zu sein. Außerdem“, Carola zögerte erneut, „Amelie braucht jetzt Geborgenheit, Sicherheit und Zeit, um sich zu finden. In den WGs finden häufig diejenigen zusammen, die keine Verwandten haben, die sich um sie kümmern. Ich bezweifle, dass sie in einer WG das bekommt, was sie jetzt braucht.“

„Was meinst du dazu, Amelie?“, fragte Andreas.

„Ich weiß nicht, was das Richtige ist“, flüsterte sie, „aber ich möchte wirklich gern mein Abitur machen.“ Sie zögerte, bevor sie fortfuhr. „Kann ich… zunächst hier bleiben? Ich würde euch nicht stören. Ganz bestimmt nicht!“

„Stören? Amelie. Du störst uns nicht. Wie kommst du bloß auf eine solche Idee. Wir freuen uns, wenn du hier bleibst“, betonte Lisa.

Sie erhob sich. „Wir beide gehen jetzt nach oben. Und dann kannst du dir eins von den Zimmern aussuchen. Du nimmst das, was dir am besten gefällt. Was hältst du davon?“

„Das, in dem ich schlafe, gefällt mir gut.“

„Ja, das glaube ich dir“, entgegnete Lisa, „das ist eines der Gästezimmer. Ich möchte aber, dass du ein Zimmer bekommst, das deinen Vorstellungen entspricht. Es ist ein Unterschied, ob ich in einem Gästezimmer schlafe oder in meinem Zimmer. Ich will die Farben, die Möbel und die Dekorationen haben, die mir gefallen. Und dasselbe möchte ich für dich, Amelie. Du sollst dein Zimmer haben.“

Lisa sah den ungläubigen Blick aus den grauen Augen in dem blassen, schmalen Gesicht. „Komm, Amelie“, ermunterte sie das Mädchen, „wir schauen uns gründlich um.“

Es dauerte mehr als eine Stunde, bis Lisa aus Amelie regelrecht herausgequetscht hatte, welches Zimmer sie bevorzugte, welche Farben sie mochte und welche Möbel sie sich wünschte.

Am Ende begleitete sie sie ins Bad, ließ Wasser in die Wanne laufen und empfahl Amelie ein Bad mit viel Schaum. Sie half ihr beim Auskleiden. Und dann sah sie zum ersten Mal, wie ausgemergelt der junge Körper war. Hüftknochen, Schlüsselbeine und Rippen stachen spitz unter der blassen Haut hervor. Und – sie sah die vielen Narben auf beiden Unterarmen.

*

Nachdem sie Amelie zu Bett gebracht hatte, kehrte sie nachdenklich zurück in die Küche. Sie berichtete von dem, was sie gesehen hatte.

„Sie braucht sofort Hilfe!“, reagierte Carola auf Lisas Beschreibung. „Amelie leidet nicht nur an Bulimie oder Magersucht, sondern auch an einem Borderline-Syndrom.“

„Zu allererst“, sagte Andreas, „muss sie körperlich untersucht werden. Erst dann können wir uns um die Psyche kümmern.“

Lisa hatte schweigend zugehört. Ihre innere Stimme meldete sich laut und deutlich: Fahr mit ihr an die See. Sie braucht jetzt eine Erholungspause. Fahr mit ihr an die Nordsee.

Umgehend berichtete Lisa von ihrer Eingebung.

„Gut“, nickte Andreas, „fahr mit ihr an die See. Aber zuerst wird eine genaue Untersuchung gemacht. Ihr Zustand, ob du es glaubst oder nicht Lisa, kann lebensbedrohlich sein. Und das wird zuerst abgeklärt.“

*

Als die Ergebnisse vorlagen, die den Verdacht auf Magersucht bestätigten, setzte sich Andreas am Abend an Amelies Bett.

Lisa hatte sich ein wenig abseits auf den Stuhl gesetzt. Sie wollte zwar bei dem Gespräch dabei sein, sich aber nicht einmischen. Es sollte ein Gespräch zwischen Tochter und Vater sein.

„Hör mir bitte zu, Amelie“, sagte Andreas, „ich habe heute die Laborergebnisse bekommen. Du bist sehr schwer krank. Wenn du nach den Ferien auf das Gymnasium gehen willst, musst du gesund sein. Und du willst doch auf das Gymnasium, oder?“

„Ja. Das will ich unbedingt.“

„Nun, dann habe ich hier zwei Mittel, die dich bis dahin soweit wieder herstellen können, damit das auch klappt. Das eine hier ist ein Saft, von dem du täglich zwei Esslöffel nehmen musst. Er schmeckt wie ein leckerer Orangensaft. Darin sind alle nötigen Vitamine, Mineralien und Spurenelemente, die dein Körper ganz dringend braucht.“

„Und das zweite?“ Amelies skeptischer Blick war nicht zu übersehen.

„Das zweite Mittel heißt: Urlaub an der See.“

„Urlaub?“, wiederholte Amelie ungläubig, „An der See? Allein? Oder wieder in einem dieser… dieser…  Kinderheime?“

Andreas lächelte. „Nein, Amelie. Noch schlimmer.“

„Noch schlimmer?“, fragte das Mädchen mit entsetztem Blick.

„Ja, Amelie. Noch schlimmer – mit Lisa.“

Amelie begriff und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Oh, hast du mich erschreckt. Mit Lisa? Würde sie das wirklich tun? Für mich?“

„Sie freut sich schon, mit dir an die See zu fahren.“

Andreas strich seiner Tochter liebevoll übers Haar. „Ist das also abgemacht?“

Amelie lächelte. „Oh ja.“

„Nun“, fuhr Andreas zögernd fort, „dann wäre da noch etwas anderes.“

Der gehetzte Blick in Amelies Augen kehrte zurück.

„Nein, Amelie, du brauchst nicht zu erschrecken. Ich möchte dich fragen, ob du damit einverstanden bist, wenn ich das Sorgerecht für dich beantrage.“

„Was heißt das?“

„Nun, das bedeutet, dass ich für dich sorge, bis du volljährig wirst. Dann brauchst du nicht mehr zu deinem Stiefvater zurück. Solange er das Sorgerecht hat, kann er dich jederzeit zwingen, zu ihm zurück zu kehren. Willst du das?“

Amelie hielt beide Hände vor dem Mund und presste hervor: „Bitte, nicht. Bitte, das darf niemals mehr passieren. Niemals!“

Die Panik in ihrer Stimme war unüberhörbar.

„Dann kümmere ich mich darum. Okay?“

„Ja. Bitte!“

„Gut. Dann sind wir uns einig. Lisa wird mit dir vor der Abreise noch einkaufen gehen, damit du genügend Kleidung für den Urlaub hast und ich kümmere mich um das Sorgerecht während ihr euch am Strand amüsiert.“

„Danke“, flüsterte sie.

Andreas hauchte einen Kuss auf ihr Haar. „Schlaf gut.“

Er erhob sich. Auch Lisa stand auf. „Gute Nacht, Amelie.“

„Ja, gute Nacht, Lisa.“

*

In der Küche setzte sich Lisa auf die Bank. Andreas öffnete eine Flasche Wein, füllte zwei Gläser und setze eins vor Lisa auf den Tisch.

„Und? Was meinst du?“, fragte er sie. Er nahm auf dem Stuhl Platz.

„Nun ja.“ Lisa zögerte. „Ich weiß nicht. Obwohl das Gespräch sehr gut verlaufen ist, werde ich das Gefühl nicht los, dass irgendetwas fehlt.“

„Oh. Kannst du das näher beschreiben?“

„Ich kann mich beim besten Willen nicht am Strand mit Amelie allein sehen. Ich habe das dringende Bedürfnis, Carola mitzunehmen. Deine Tochter braucht professionelle Hilfe, Andreas. Und die kann ich ihr nicht geben.“

Er nahm einen Schluck aus seinem Glas, bevor er erwiderte: „Dann frag Carola doch einfach, ob sie mitkommen kann.“

„Ich weiß, dass das nicht geht.“ Lisa schüttelte den Kopf. „Carola steckt mitten im Aufbau ihrer Praxis bei Frau Wessel und die Vorlesungen an der Uni kann sie keinem Kollegen oder einer Kollegin übertragen. Es gibt derzeit niemanden, der Vorlesungen über Emotionale Qualität in der Psychotherapie halten kann.“

„Außerdem…“ Wieder zögerte sie. „Ich sehe Carola nicht an meiner Seite.“

„Sehen? Hast Du neue Visionen?“

„Ja, Andreas.“

„Wieso hast du mir nichts davon erzählt?“ Lisa entging der leise Vorwurf in seiner Stimme nicht.

Sie legte ihre Hand auf seinen Unterarm. „Oh, Schatz. Du hast genug zu tun mit deiner neuen Rolle als Vater. Da muss ich dich nicht auch noch mit Bildern füttern, die undeutlich, unverständlich und ziemlich… verrückt sind.“

Andreas lachte und nahm Lisas Hände in die seinen. „Verrückt? Mein lieber Schatz – das wird allmählich zur Gewohnheit. Und du weißt, dann ist es nicht mehr verrückt, sondern ganz normal.“

„Stimmt.“ Lisa musste ebenfalls lachen.

„Komm, Liebling, erzähl mir von deinen verrückten Bildern.“

„Am Anfang, im März, du erinnerst dich, gab es diesen Spiegel, in dem ich mich nicht sehen kann.“

„Ja, ich erinnere mich.“

„Seit letzter Woche taucht in diesem Spiegel immer wieder… Tante Käthe auf. Und zwar regelmäßig.“

„Käthe?“

„Ja. Sie spricht mit mir.“

„Wie geht das? Ich kann mir das nur schwer vorstellen.“

„Stell dir vor, du sitzt vor dem Fernseher und jemand redet in die Kamera.“

„Was sagt sie denn – um Himmels willen?“

„Na ja…“ Lisa zögerte. „Sie sagt, dass ich jetzt eine besonders schwierige Aufgabe habe.“

„Das ist doch nichts Neues.“ Andreas nickte. „Und?“

Wieder stockte Lisa. Sie brachte es nicht fertig, Andreas zu sagen, dass es tatsächlich direkt mit Amelie zu tun hatte – auch in Bezug auf das zu erwartende Kapitalverbrechen. Stattdessen erzählte sie ihm mit einem Lächeln: „Nun… das Verrückteste ist, dass in der Vision seit einiger Zeit ab und zu eine Glocke läutet und dann wieder schweigt.“

„Läutet die Glocke immer gleich?“

„Nein, Andreas. Manchmal ist das Glockenläuten leise und manchmal laut. Manchmal ist nur ein hohes, einzelnes Glöckchen zu hören und ein anderes Mal dröhnen viele Glocken sehr, sehr laut.“

„Oh Mann“, stöhnte Andreas. „Wie konfus ist das denn?“

„Konfus?“ Lisa grinste. „Heißt das, du hast dich auch noch nicht an die geheimnisvollen Bilder gewöhnt? Trotz all der Erlebnisse mit Tante Käthe?“

„Ich ahnte ja nicht, wie geheimnisvoll deine Bilder sind. Aber wie ging es dann in deiner Vision weiter?“

„Das war alles… wenigstens bis jetzt.“

„Nun“, resümierte Andreas, „deine Vision wird sich weiter entwickeln, wie immer. Wie steht es mit der Uhrzeit? Wiederholt sie sich?“

„Und ob“, bestätigte Lisa. „Wieder war es 04:27 Uhr.“

„Mit anderen Worten“, erwiderte er voller Mitgefühl, „deine Nächte sind wieder zerrissen.“

„Das stimmt, aber noch bin ich von den schlimmen Schweißausbrüchen und dem Zittern verschont geblieben.“ Lisa zögerte. „Aber es ist zu befürchten, dass sich das ändern und steigern wird.“

„Ja, meine Liebe. Davon kannst du ausgehen. Jetzt bin ich aber bei dir und nicht Tausende von Kilometern entfernt wie beim letzten Mal – du in Namibia und ich in Wien.“

„Du, Andreas, ich möchte noch einmal auf Amelie zu sprechen kommen. Ich werde mit Carola reden. Auch wenn sie selbst nicht mitkommen kann, vielleicht hat sie eine Idee.“

„Tu das, mein Schatz.“ Er gähnte.

„Komm, lass uns schlafen gehen“, meinte Lisa und räumte die leeren Gläser in die Spüle.

*

*

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Klinik in Köln, Ende Juni 2002

*

Als Volker erwachte, blinzelte er mit den Augenlidern und wusste weder wo er sich befand, noch wie er hierhergekommen war.

Als er sich zur Seite drehen wollte, durchpeitschte ihn der Schmerz im Unterleib wie ein glühendes Geschoss. Er stöhnte leise und fühlte, wie der Schmerz sich in Wellen über den ganzen Körper ausbreitete und ihm fast die Sinne raubte.

Eine Hand legte sich auf die seine und er konnte verschwommen Saskias Gesicht ausmachen. Aus dem beabsichtigen Hallo wurde ein heiseres Krächzen, denn seine Stimme versagte den Dienst.

„Pst“, raunte Saskia, „sei ganz still, mein Liebster.“ Behutsam und sanft streichelte sie ihm über den Haarschopf. „Bleib ganz ruhig liegen.“

Wie durch eine Nebelwand sah Volker, wie sie einen roten Knopf drückte und wenige Augenblicke später eilten ein Arzt und eine Schwester in das Zimmer. „Ist er aufgewacht? Junger Mann“, wendete sich der Arzt Volker zu, „Sie haben unbeschreibliches Glück gehabt. Ein weniger robuster Mann hätte diesen Unfall wohl kaum überlebt.“ Volker fühlte die Hand des Mediziners an seinem Handgelenk.

Er erinnerte sich. Ja – der Traktor. Volker hatte unzählige Fragen, doch außer einem Krächzen kam nichts aus seiner Kehle. Als hätte der Mediziner seine Gedanken gelesen, meinte er: „Ganz ruhig Herr Lehmann. Sie sollten noch nicht sprechen. Kommen Sie erst einmal zu Kräften.“ Mit einem Kopfnicken verließ er den Raum und die Krankenschwester half Volker, sich ein wenig aufzurichten, um sich mit einem Schluck Wasser aus der Schnabeltasse zu erfrischen. Wieder durchpeitschte ihn der Schmerz und er konnte das Stöhnen nicht unterdrücken. Doch allmählich lichtete sich sein Blick und die Konturen der Umgebung wurden klarer. Saskia hatte sich in den Hintergrund zurückgezogen Als auch die Schwester den Raum verlassen hatte, zog sie den Besucherstuhl an sein Bett und erzählte ihm, was passiert war.

„Die Feuerwehr hat dich aus dem Wagen regelrecht herausschneiden müssen. Du warst eingeklemmt und bewusstlos.“ Sie bemühte sich eindeutig um eine Prise Humor, als sie fortfuhr: „Der Notarzt hat kleine Brötchen geschwitzt, als er die Wunde an deinem Bauch sah. Aber Gott sei Dank wartete der Rettungshubschrauber nur darauf, dich in die Klinik zu befördern.“

Saskia legte eine Pause ein und Volker sah ihren prüfenden und ängstlichen Blick. Doch er konnte keinen vernünftigen Ton herausbringen. Wie gern hätte er sie beruhigt und ihr Mut gemacht. Doch immer wieder glitt er in einen Dämmerzustand, der ihn vorübergehend vor den Schmerzen bewahrte. Volker wusste nicht, wie lange er zwischen Wachen und Schlafen hin und her wanderte. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Immer, wenn er kurz erwachte, sah er in Saskias liebevolle Augen. Er spürte die Behutsamkeit, mit der sie seine Stirn mit einem feuchten Tuch betupfte, wie vorsichtig sie ihm die Tasse entgegen hielt und er war unendlich dankbar, wenn sein ausgetrockneter Hals mit dem Nass in Berührung kam.

Irgendwann erwachte er erneut, fühlte sich jedoch ein wenig klarer. Als er sich räusperte, stand Saskia umgehend an seinem Bett: „Möchtest du etwas trinken?“

Auf sein angedeutetes Kopfnicken hielt sie ihm das Gefäß entgegen. Nach neuerlichem Räuspern versuchte er zu sprechen. Mit rauer Stimme krächzte er: „Was ist passiert?“

„Mein Liebster, du hattest einen schweren Unfall.“ Wieder erzählte sie ihm die ganze Geschichte und Volker hörte aufmerksam zu. Und diesmal erfasste er das Geschehene, ohne in den Dämmerzustand zurückzugleiten. „Wie lange bin ich schon hier?“, ächzte er.

„Seit vier Tagen.“

„Und Pater Stefanus?“

„Er war hier, aber du hast geschlafen. Die Ärzte haben dir bis gestern Abend sehr starke Schmerz- und Schlafmittel gegeben, damit du dich besser erholen kannst.“

Sie streichelte ununterbrochen seine Hand. „Wie fühlst du dich?“

Er versuchte ein Lächeln. „Wie jemand, der unter den Mähdrescher geraten ist.“

Die Schmerzen in seinem Körper waren zwar immer noch stark, aber einigermaßen erträglich, als er sich bewegte. „Was ist denn alles in mir kaputt gegangen?“

„Du hattest unbeschreibliches Glück. Ein paar gebrochene Rippen, einige Blutergüsse und eine Gehirnerschütterung.“

„Ist das alles?“

Er bemerkte wie sie seinem Blick auswich. „Einige Untersuchungsergebnisse stehen noch aus. Am besten du fragst den Arzt. Soll ich ihn rufen?“

Wieder drückte sie den Knopf und es dauerte nicht lange, bis Arzt und Schwester erschienen. Der Mann in Weiß baute sich am Bettende auf und hielt eine Akte in der Hand.

„Hallo, Herr Lehmann. Ich bin Dr. Berger, Klaus Berger, Ihr behandelnder Arzt. Sind Sie jetzt etwas klarer im Kopf? Wie fühlen Sie sich?“

„Das hat mich Saskia eben auch gefragt Als ob ich unter einen Mähdrescher geraten wäre.“

„Das ist gar nicht so daneben. Zwar sind Sie nicht darunter geraten, aber hinein gefahren, was im Ergebnis fast auf dasselbe hinausläuft. Was kann ich für Sie tun?“

„Ich möchte wissen, was mit mir passiert ist. Ich will wissen, welche Ergebnisse bei den Untersuchungen bisher heraus gekommen sind?“

Der Arzt öffnete die Akte und fasste zusammen: „Die Hämatome, mit denen Ihr Körper übersät ist, sind zwar schmerzhaft, aber nicht bedrohlich. Die vier Rippenbrüche sind ebenso schmerzhaft, werden aber verheilen, wenn Sie ihnen die Chance geben. Der Verdacht auf einen Schädelbasisbruch hat sich Gottlob nicht bestätigt, wenn auch die Gehirnerschütterung Ihnen noch einige Zeit heftige Kopfschmerzen bereiten wird. Nur die Wunde im Unterbauch machte uns ein wenig Sorge. Wir mussten Notoperieren, weil eine Arterie betroffen war und Sie uns fast verblutet wären. Aber... bis jetzt läuft alles ganz gut. Wenn Sie morgen immer noch so gut drauf sind wie jetzt, können wir Sie auf die normale Station verlegen.“

Der Mediziner legte die Akte beiseite, trat an die Bettseite, ertastete Volkers Puls und nickte zufrieden. „Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

„Ja, wann darf ich aufstehen?“

„Langsam, langsam, junger Mann. Bevor Sie auf die Normalstation verlegt werden, entfernen wir erst einmal den Blasenkatheter und alle anderen Schläuche. Dann werden Sie mit der Unterstützung unseres Pflegers ein paar Schritte gehen. Allerdings ganz vorsichtig.“

„Wann darf ich duschen?“

Der Mediziner lächelte. „Mir scheint, dass Sie ein wenig ungeduldig werden. Aber, das ist ein gutes Zeichen. Lassen Sie es ruhig angehen, Herr Lehmann. Denken Sie daran, Sie sind dem Tod gerade erst von der Schaufel gehüpft.“ Mit diesen Worten verabschiedete er sich und verließ die Intensivstation.

Volker war mit Saskia wieder allein. Erst jetzt bemerkte er die dunklen Ringe unter ihren Augen. „Wann hast du das letzte Mal richtig geschlafen?“

Sie zögerte mit ihrer Antwort: „Ich habe nebenan auf einer Liege gedöst, so dass ich jederzeit für dich da sein konnte. Aber richtig geschlafen habe ich nicht. Dazu war ich viel zu besorgt um dich. Es waren immer nur ein paar wenige Stunden. Aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist allein, dass du wieder in Ordnung kommst und gesund wirst.“

Als Volker spürte, wie die Müdigkeit ihn wieder einzuholen drohte, zwang er sich, wach zu bleiben. „Bitte Saskia. Tu mir einen Gefallen. Du weißt jetzt, dass ich auf dem Weg bin, wieder ganz gesund zu werden. Bitte fahr nach Hause und schlaf dich richtig aus. Was haben wir davon, wenn du vor Erschöpfung zusammenbrichst?“

„Nein. Ich bleibe hier!“

„Du kleiner Dickkopf“, versuchte er zu lächeln, „hoffentlich vererbst du das nicht unserem Nachwuchs. Aber ich meine es ernst. Bitte kümmere dich jetzt um dich. Ich brauche dich viel mehr, wenn ich wieder nach Hause komme. Bedenke, ich bin auf deine tatkräftige Unterstützung angewiesen, bis ich wieder topfit bin. Also? Abmarsch.“

„Na gut. Du hast ja recht. Ich sollte mich jetzt wirklich einmal richtig ausschlafen. Jetzt, wo du über dem Berg bist.“

Sie verabschiedete sich und Volker spürte ihre weichen Lippen auf seinen spröden und sie verließ – noch einmal winkend – die Station. Volker war froh und dankbar, dass sie seinem Rat gefolgt war. Erschöpft fiel er zurück in einen traumlosen, tiefen Schlaf, aus dem er am nächsten Morgen sehr früh erwachte.

Wie der Arzt versprochen hatte, wurde Volker gegen Mittag auf die Normalstation verlegt. Endlich war er von allen Schläuchen und Kabeln befreit. Die ersten, vorsichtigen Schritte mit dem Pfleger führten ihm jedoch leidvoll vor Augen, wie schlapp und zittrig sein Körper auf die Anstrengung reagierte. Doch Volker war zuversichtlich, dass jeder Tag ein wenig mehr Besserung bringen würde.

Täglich besuchte ihn Saskia. Stundenlang saß sie an seinem Bett und er hörte ihr geduldig zu, wenn sie von der gemeinsamen Zukunft sprach.

*

Auch Pater Stefanus besuchte ihn alsbald und Volker erklärte ihm, wie alles gekommen war und warum er um das Gespräch mit ihm gebeten hatte.

„Mein lieber junger Freund“, fragte ihn der Diener Gottes, während er die Hand seines Schützlings tätschelte, „was kann ich für dich tun?“

„Verehrter Pater“, begann Volker, „ich vermute, Sie waren ein wenig überrascht, dass ich auf eine persönliche Unterredung mit Ihnen drängte. Doch mein Anliegen duldet keinen Aufschub.“

Der Besucher schien von der Direktheit seines Gegenübers überrascht zu sein. „Was ist denn so dringend?“

„Nun“, erwiderte Volker, „ich ersuche Sie, mich von meiner Verpflichtung zu entbinden.“

„Von welcher Verpflichtung sprichst du, Volker?“

„Lieber Pater, ich kann mein Gelübde nicht ablegen und das Priesteramt ausüben.“

Der Mann in Schwarz löste jäh die Hand von der seines Schülers, als wäre sie eine giftige Natter. „Aber – in Gottes Namen – warum nicht?“

„Ich werde heiraten.“

„Du wirst waaas?“

„Ich werde heiraten.“

Der Pater war aufgesprungen und lief in heller Aufregung durch den Raum. Abrupt blieb er stehen, drehte sich zu Volker um und fragte – noch immer bebte seine Stimme vor Erregung: „Wie konnte das passieren? Wenn einer meiner Schüler für das Priesteramt prädestiniert war, dann du!

Volker spürte die Enttäuschung und Betroffenheit des Priesters und fühlte sich unbehaglich. „Bitte verzeihen Sie mir. Ich bedaure sehr, verehrter Pater, und ich weiß, wie betrübt Sie sein müssen. Ich bitte um Vergebung, aber ich habe die Frau meines Lebens kennengelernt. Ich muss meinem Herzen folgen. Ich kann nicht anders und bitte um Ihr Verständnis.“

Mit gerunzelter Stirn bohrte Pater Stefanus weiter. „Und wenn das erste Strohfeuer der irdischen Liebe verglüht ist und du dich wieder besinnst? Was dann?“

„Kann ich dann nicht zurückkehren?“

„Natürlich. Gewiss kannst du zurückkehren.“ Nach kurzer Überlegung fuhr er fort: „Und warum gibst du dir nicht ein wenig mehr Zeit, bevor du eine endgültige Entscheidung triffst?“

„Lieber, geschätzter Pater, ich liebe diese Frau. Wie soll ich das mit dem Zölibatsgebot und dem Enthaltsamkeitsgelübde vereinbaren?“

„Dann“, resignierte der Diener Gottes, „soll es wohl so sein“, und fügte traurig hinzu, „hoffentlich bereust du das eines Tages nicht.“

Volker sah den alten Mann mit großer Bewunderung an. Der Weißhaarige schien keinerlei Zweifel zu kennen. „Ich hoffte, dass Sie Verständnis für einen ungestümen, jungen Burschen wie mich haben. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen.“

„Du willst also tatsächlich deine Berufung aufgeben?“

„Ja, Pater. Ich habe mir alles sehr, sehr gründlich überlegt. Ich werde Saskia heiraten. Und zwar so schnell es geht. Sobald ich wieder völlig gesund bin möchte ich, dass Sie uns in der Klosterkapelle trauen.“

Der Pater schritt im Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Schließlich blieb er an Volkers Bett stehen und fragte ihn mit durchdringendem Blick: „Kann es sein, dass dein Unfall ein Wink des Himmels war, dass du nicht heiraten, sondern Priester werden sollst?“

„Nein, Pater. Das war kein Wink des Himmels, sondern eine ausgemachte Dummheit von mir. Ich war einfach abgelenkt, als ich in den Traktor krachte. Hätte ich mich auf die Straße konzentriert, wäre das nicht passiert.“

Doch Pater Stefanus‘ Skepsis blieb in seinem Gesicht erkennbar. „Du weißt, dass solche Geschehnisse keine Zufälle sind, oder?“

Volker stöhnte. „Ich wusste, dass Sie versuchen würden, mich umzustimmen. Aber, bitte glauben Sie mir Pater, meine Liebe zu Saskia ist stärker als mein Wunsch, das Priesteramt auszuüben.“

„Die weltliche Liebe ist vergänglich, mein Sohn. Die Liebe zu Gott sollte an erster Stelle stehen. Was ist, wenn du es eines Tages bereust, dass du kein Priester geworden bist? Was ist, wenn deine Ehe mit Saskia dir kein Glück bringt?“

Volker lächelte. „Wie kann es mir kein Glück bringen, wenn ich Kinder habe? Sind Kinder nicht das, was Christus gut geheißen hat? Lasset die Kinder zu mir kommen, sagte er, denn ihrer ist das Himmelreich. Also kann es nicht falsch sein, Kinder zu bekommen.“

„Nein, falsch ist es nicht, Kinder zu haben. Doch du bist zu Höherem berufen, Volker. Das Priesteramt verlangt mehr von einem Mann, als Kinder aufzuziehen. Das kann jeder Mann. Von dir wird verlangt, dass du deine Liebe ausschließlich Gott schenkst und den Mitgliedern deiner Gemeinde als gutes Beispiel vorangehst in deiner uneingeschränkten Treue zu Gott. Keine weltlichen Ziele dürfen deinen Geist trüben. Und das ist eine Lebensaufgabe, der nur sehr wenige gewachsen sind. Du aber bist berufen.“

Volker ließ die Worte auf sich wirken und spürte im äußersten Winkel seines Gemüts, dass Pater Stefanus die Wahrheit sprach. Das nagende Gefühl des Zweifels tauchte erneut für einen winzigen Moment – wie eine bösartige Krake – aus dem Dunkel seines Innenlebens auf. Rasch verdrängte er das Unbehagen. „Ja, Pater. Ich habe mich berufen gefühlt, doch nun weiß ich, dass meine Liebe zu Saskia stärker ist als mein Wunsch, diszipliniert und stets korrekt als Priester einer Gemeinde vorzustehen.“

Wieder wanderte Pater Stefanus im Zimmer auf und ab und Volker störte ihn nicht in seinen Gedankengängen. Der Gottesmann blieb am Fenster stehen, mit dem Rücken zu Volker. „Wann wollt ihr heiraten?“

„Nun“, dachte Volker einen Augenblick nach, „wir haben jetzt Ende Juni. Der Arzt meinte, dass ich etwa sechs Wochen benötige, um wieder ganz gesund zu sein. Ich denke also, dass Anfang oder Mitte September ein guter Zeitpunkt für die Trauung ist.“

Volker hörte den Pater leise seufzen. „Also gut. Ich werde euch trauen, aber nur unter einer Bedingung.“

„Und die wäre?“

„Dass du mir verbindlich zusicherst zurück ins Priesterseminar zu kommen, wenn deine Ehe mit Saskia scheitert.“

Volker schluckte. Daran hatte er auch schon gedacht, die Vorstellung jedoch schnell aus seinem Denken verbannt. Er wollte keine einzige Sekunde an eine solche Möglichkeit denken und seine Zeit damit verschwenden. Er wusste, dass Saskia die Frau seines Lebens war. Er wusste, dass er mit ihr alt werden wollte. „Pater Stefanus, ich kann Ihnen versichern, dass ich zurück zu Ihnen ins Priesterseminar komme, wenn meine Ehe mit Saskia in die Brüche geht. Das kann ich Ihnen ganz fest versprechen.“

Der Pater verabschiedete sich alsbald und versprach, sich um den Trauungstermin zu kümmern.

Volker fühlte sich erleichtert, dass das Gespräch mit Pater Stefanus vorbei war. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr ihn die Aussicht auf das Gespräch belastet hatte. Wieso eigentlich?, kreuzte der Gedanke sein Gemüt. Wieso hat mich das belastet?

Schnell verdrängte Volker die Frage. Nein, damit wollte er sich jetzt nicht beschäftigen. Vielleicht später, wenn er wieder gesund war. Nicht jetzt!

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Franziskus-Kloster, Ende Juni 2002

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Als Pater Stephanus nach dem Krankenhausbesuch im Kloster eintraf, fand er Bruder Nikolaus, Karl-Heinz und Bruno Griese in der Empfangshalle vor. Die Ungeduld der drei war deutlich zu spüren.

„Entschuldigt bitte meine Verspätung“, sagte der Pater. „Ich wurde aufgehalten. Kommt, lasst uns gleich in mein Büro gehen. Die Gruppeneinteilung der Kommunionkinder liegt mir sehr am Herzen. Danke, dass ihr so lange gewartet habt. Eine erneute Vertagung wäre mir sehr peinlich. Ihr wisst, dass morgen die Kinder mit ihren Eltern kommen und wissen wollen, wer wann zum Kommunionunterricht eingeteilt ist.“ Er lächelte. „Und die Kinder wollen natürlich wissen, wo der Freizeitausflug hingeht.“ Er ließ sich in den Sessel fallen. „Nehmt bitte Platz.“

Der Abt schaute von einem Besucher zum anderen und lächelte. „Ich bin so froh, dass ihr auch in diesem Jahr unsere Kommunionkinder betreuen wollt. Was würde ich ohne euch anfangen? Es gibt kaum noch Mitglieder in unserer Kirche, die diese verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen wollen… oder können.“

„Ach, Pater Stefanus“, merkte Bruno Griese an, „auch bei uns, im Pfarrgemeinderat, beklagen wir mehr und mehr die schwindende Zahl derer, die sich ehrenamtlich engagieren wollen.“

„Ja“, fügte Karl-Heinz Griese hinzu, „die Leute beschäftigen sich immer mehr mit sich selbst.“

„Ehrwürdiger Bruder Stefanus“, pflichtete Bruder Nikolaus bei, „danken wir Gott, dass er uns diese beiden treuen Gefährten zugeführt hat, die keine Mühen scheuen, ihre Pflicht der Nächstenliebe zu praktizieren.“

„Weise gesprochen“, erwiderte der Abt. „Nun… dann kann ich also den Eltern morgen sagen, dass die Ferienfreizeit der Kommunionkinder nach Hellenthal gesichert ist.“

„Nun ja…“, warf Bruder Nikolaus ein, „das schon… nur haben wir keine Frau, die die Mädchengruppe mitbetreut.“

Der Prior lächelte. „Darüber mache ich mir keine Sorgen. Die Äbtissin vom Marienkloster hat mir versichert, dass eine der Novizinnen diese Lücke mit Freude ausfüllen wird.“

„Dann bleibt also die Tradition des Klosters gewahrt“, erwiderte Bruder Nikolaus. „Ich danke dem Herrn.“

Die drei Besucher erhoben sich. „Ehrwürdiger Bruder Stefanus“, sagte Bruno und reichte dem Abt die Hand „ich danke Ihnen, dass Sie mir das Wohl der Kinder anvertrauen.“

„Ich ebenfalls“, schloss sich Karl-Heinz Griese den Worten seines Bruders an und schüttelte Pater Stefanus ebenfalls die Hand.

„Ich begleite unsere Brüder im Herrn hinaus“, erbot sich Bruder Nikolaus und folgte den Grieses.

Als sich die drei Männer weit genug vom Kloster entfernt hatten, blieb Bruno stehen. „Na, das hat ja wieder einmal gut funktioniert. Wir werden die Kinder vier Tage lang unter unsere Fittiche nehmen.“

Karl-Heinz grinste. „Rund um Hellenthal gibt es viele, viele Wälder.“

„Oh ja…“, fügte Bruder Nikolaus hinzu, „da hört kein Mensch, wenn Kinder heulen.“

„Nur die Novizin macht mir Sorgen“, ließ sich Bruno vernehmen. „Da müssen wir uns was Besonderes einfallen lassen. Die darf nichts mitkriegen.“

„Lass das mal meine Sorge sein“, erwiderte Karl-Heinz. „K.O. Tropfen wirken bei Kindern genauso gut wie bei Novizinnen.“

„Mensch, Kalle, bist du verrückt geworden?“ Bruder Nikolaus war entsetzt. „Das haben wir bisher nicht gebraucht. Davon sollten wir die Finger lassen.“

„Ach, Blödsinn!“ Bruno stieß Bruder Nikolaus ungehalten in die Seite. „Stell dich nicht so an, Klaus. Nur ganz wenige Tröpfchen und die können sich an nichts erinnern. Das ist doch perfekt!“

„Das heißt also“, fuhr Karl-Heinz fort, „Klaus und ich haben die Jungs und Du, Bruno, und die Novizin kümmert euch um die Mädels. Richtig?“

„Wie immer“, erwiderte Bruno.

„Nun ja…“ Klaus zögerte. „Zum ersten Mal habe ich ein ungutes Gefühl bei der Sache.“

„Warum denn?“ Die steile Falte zwischen Brunos Augenbrauen verhieß nichts Gutes. „Das hat bisher immer geklappt. Was sollte denn schief gehen?“

„Ich weiß nicht.“ Klaus zuckte mit den Schultern. „Es ist ein Gefühl. Außerdem… erinnerst du dich an den Vorfall von vor sechs Jahren?“

„Du meinst… die kleine, süße Eva?“, hakte Bruno nach.

„Ja.“ Klaus nickte heftig. „Das war haarscharf.“

„Na und?“ Bruno reagierte unwillig. „Es ist doch alles gut gegangen. Die Polizei hat es als Unfall bestätigt.“

„Ja, da bist du mit einem blauen Auge davongekommen. Aber das Risiko ist verdammt hoch, wenn es wieder einen 'Unfall' geben sollte.“ Klaus blieb skeptisch. „Das kannst du dir nicht noch einmal erlauben. Und nochmal einen Meineid leisten? Nein, ich nicht! Nicht noch ein einziges Mal!“

„Klaus hat recht, Bruno.“ Karl-Heinz stimmte dem Priester zu. „Wir können uns keinen Schnitzer mehr erlauben. Diesmal hältst du dich unter Kontrolle.“

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Anfang Juli 2002 – Köln

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In Martha Brandts großer Diele stapelten sich die Umzugskartons. Alles, von dem sie glaubte, es in den nächsten vier Wochen nicht dringend zu benötigen, packte sie in die Kisten. Von ihren Nachbarinnen hatte sie sich Unmengen an Zeitungspapier besorgt. Gerade als sie einen Teil des guten Geschirrs sorgfältig in Papier eingeschlagen in einen der Kartons verstaut hatte, klingelte das Telefon.

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Impressum

Texte: © Karin Welters / LitArt-World-Press
Bildmaterialien: © 123RF Bruce Rolf
Cover: © Karin Welters
Tag der Veröffentlichung: 18.05.2017

Alle Rechte vorbehalten

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