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Prolog

12. Oktober 2015

 

„Die einundzwanzigjährige Josephine Ahrens liefert hier einen fantastischen Ritt ab!“, schallte die leicht verzerrte Stimme des Kommentators durch die Lautsprecher über den gesamten Turnierplatz. „Die beiden sind in Topform und lassen sich von den schlechten Bodenverhältnissen nicht aus der Ruhe bringen. Stardust fliegt scheinbar mühelos über die Hindernisse! Es ist einfach eine Freude, den beiden zuzusehen!“ Hörbare Begeisterung schwang in der Stimme des Ansagers mit, während Stardust und ich auf die letzten drei Hindernisse zuritten.

Den Oxer nahm der Warmblutwallach leichtfüßig und konzentriert. Bei der Landung rutschte er allerdings mit dem Hinterhuf kurz aus, denn der Boden war vom Dauerregen der letzten Tage extrem aufgeweicht. Nach einem kurzen Straucheln, gelang es mir aber, den Wallach wieder unter Kontrolle zu bringen.

„Gleich haben wir es geschafft, mein Süßer!“, raunte ich meinem Pferd atemlos zu, als wir den Wassergraben ins Visier nahmen. Stardust schnaubte und flog in einem Riesensatz über das breite Hindernis.

Jetzt trennte uns nur noch die zweifache Kombination von unserem Sieg. Innerlich jubelte ich bereits, als wir auf das letzte Hindernis zugaloppierten.

Gleich bekämen wir die verdiente Belohnung für das harte Training, der letzten Monate! Ich spannte meinen gesamten Körper an, als wir nur noch wenige Galoppsprünge von den weiß-blau gestrichenen Stangen entfernt waren. Stardust reckte den Hals und visierte die Kombination ebenfalls an. Er war in den drei Jahren, die er mich nun schon von einem Sieg zum anderen trug, ein verlässlicher Partner und mein bester Freund geworden.

„Los geht´s, Dusty!“, feuerte ich in leise an.

Stardust sprang kraftvoll ab und ich lehnte mich nach vorn, um den Rücken des Pferdes zu entlasten, während wir über das steile Hindernis flogen. Für ein paar Sekunden schien alles in Zeitlupe vor meinen Augen abzulaufen. Ich spürte den kühlen, feuchten Wind in meinem Gesicht, hörte mein Blut in den Ohren rauschen und blickte zwischen den schwarzen Ohren des Pferdes hindurch, als wir auf der anderen Seite zur Landung ansetzten.

Dann ging alles ganz schnell.

Stardusts Hufe tauchten in den matschigen Boden ein, doch sie fanden trotz der Stollen an den Hufeisen, keinen Halt. Der Untergrund war zu weich und zu glitschig, sodass dem Wallach die Beine wegknickten.

„Nein!“, hörte ich mich schrill aufschreien als Sekundenbruchteile später, der Boden auf mich zuraste.

Ich konnte hören, wie Geräusche des Entsetzens von der Zuschauertribüne zu uns herüberhallten. Wie oft hatte ich mit meinem Trainer geübt, richtig vom Pferd zu fallen. Aber was nützte das, wenn man mitsamt dem Tier umfiel. Instinktiv hob ich die Arme. Geräuschvoll wurde Luft aus meinen Lungen gepresst, als mein Körper auf dem nassen, sandigen Untergrund auftraf. Ich hätte mich sofort abrollen müssen, doch Stardust kippte zur Seite und ehe ich reagieren konnte, begrub er mich unter seinem massigen Körper.

Ein furchtbares Knacken drang an meine Ohren und einen Augenblick später durchfuhr ein brennender Schmerz sämtliche meiner Glieder. Ich schrie auf, als der schwere Pferdekörper meine Knochen zermalmte.

„Dusty … keine Luft … ich krieg keine Luft …!“, röchelte ich verzweifelt, als ich panisch versuchte, mich irgendwie zu befreien.

 

Etliche Zuschauer und Helfer eilten auf den Reitplatz, um uns zu helfen. Stardusts schmerzerfülltes Wiehern zeriss die Luft und vermischte sich mit den panischen Rufen der Leute, die sich um uns scharten.

„Runter mit dem Pferd! Runter mit dem Pferd!“, schrie jemand, während sich ein anderer über mich beugte, die Hand an meine Wange legte und begann, auf mich einzureden. Ich erkannte das Gesicht von Finn, mit dem ich seit zwei Jahren zusammen war und der uns auf jedes Turnier begleitete. „Es wird alles wieder gut, mein Schatz … das kommt schon in Ordnung …“

Ich klammerte mich an seine Stimme, die Wärme seiner Hand und kämpfte dagegen an, das Bewusstsein zu verlieren. In meinem Mund breitete sich der Geschmack von Blut aus, warm und metallisch. Mittlerweile war mein Körper erstarrt und ich fühlte rein gar nichts mehr. Während ich weiter nach oben starrte, verschwammen Finns Gesichtszüge. Vor meinen Augen wurde es dunkel und das letzte, was ich spürte, war eine warme Träne, die über meine Wange lief, bevor ein bebender Atemzug meine Lunge verließ.

Kapitel 1

Ich starre aus dem Fenster und beobachte die drei kleinen Spatzen, die sich auf einem Ast des alten Apfelbaums im Garten niedergelassen haben. Übermütig breitet einer von ihnen die Flügel aus und saust mit gewagten Flugmanövern durch die Luft. Dann schießt er auf seine beiden Artgenossen zu, scheinbar, um sie zu necken. Plötzlich flattern alle drei ziemlich aufgeregt durch das Astgeflecht, ehe sie aus dem Garten verschwinden. Sie scheinen zu spüren, dass nun endlich der Frühling Einzug hält.

Der Frühling. Ich müsste mich freuen, auf die ersten, wärmenden Sonnenstrahlen. Die erste Kugel pinkfarbenes Erdbeereis bei Mario. Ich liebe Erdbeereis. Doch stattdessen ist da nichts. Kein Gefühl der Vorfreude. Denn ich weiß nicht mehr, worauf ich mich freuen soll. Da gibt es einfach nichts mehr.

 

Dieser Winter hat den Anschein erweckt, dass er nie wieder einer anderen Jahreszeit Platz machen wird. Bis vor vier Wochen war das zarte Grün, das gerade die Natur zurückerobert, von Eis und Schnee bedeckt gewesen. Und der stahlgraue, Wolken verhangene Himmel hatte bestens zu meinem Befinden gepasst.

Leise seufzend atme ich aus. Der Gedanke an die vergangenen sieben Monate sorgt dafür, dass sich meine Kehle verengt. Ich spüre, wie Tränen in mir aufsteigen, die ich nur mit Mühe in Schach halten kann. Es bereitet mir immer noch Qualen, an jenen, schicksalhaften Tag im Oktober zurückzudenken. Und auch, wenn ich mich an den Unfall selbst nicht mehr genau erinnern kann, muss ich nun damit leben, dass seither nichts mehr so ist, wie zuvor.

 

Ich lege meine Hände an die Räder des Rollstuhls und drehe ihn herum, um die Bilder an der Wand meines Zimmers zu betrachten. Eines davon zeigt Stardust und mich, nach der Siegerehrung auf einem der unzähligen Turniere. Die junge Frau, die stolz lächelnd vom Rücken des Pferdes in die Kamera blickt, wirkt seltsam fremd auf mich. Ich erkenne mich auf keinem dieser Bilder selbst wieder, obwohl manche der Aufnahmen kaum älter sind, als ein Jahr.

Traurig und wütend zugleich, wende ich mich ab und balle die Hände. Ich werde Mam bitten, diese Bilder abzuhängen, denn ich will sie nicht mehr ansehen müssen. Ich will nicht an die Zeit erinnert werden, in der alles in Ordnung war.

„Oh Dusty!“, wispere ich leise und spüre, wie nun doch eine Träne über die Wange hinab rollt. „Es tut mir so leid!“

 

Der stolze, schwarze Wallach hat sich bei dem Unfall auf dem Turnier beide Vorderbeine gebrochen. Dem herbeigerufenen Tierarzt war nichts anderes übrig geblieben, als das wild um sich tretende Tier, an Ort und Stelle einzuschläfern.

Währenddessen wurde ich mit mehreren Becken- und Wirbelfrakturen umgehend mit einem Hubschrauber in eine Spezialklinik nach Hamburg geflogen, wo die Ärzte noch am selben Abend einen Not-OP Marathon einleiteten. Fast vier Wochen, hatte ich im künstlichen Koma gelegen und zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar gewesen, ob mein Körper es schaffen würde, sich zu erholen.

Die ersten Wochen nach meinem Erwachen waren die Hölle. Mein Rückenmark wurde verletzt und ich bin nun ab dem Bauchnabel gelähmt. Ich konnte rein gar nichts ohne fremde Hilfe machen. Völlig alltägliche Dinge, wie den Gang zur Toilette, gab es nicht mehr. Stattdessen schämte ich mich vor den Schwestern, die mir dabei halfen, meine Blase regelmäßig zu entleeren. Es war furchtbar.

Am allerschlimmsten aber, waren die Nächte. Jeden Abend lag ich hellwach im Bett und hatte die schrecklichen Bilder vor Augen, an die ich mich noch erinnern konnte. Sie sorgten dafür, dass ich kaum mehr schlief. Und wenn ich dann doch einnickte, schreckte ich jedes Mal schweißgebadet hoch.

 

Es klopft zaghaft an die Tür und einen Augenblick später erscheint das Gesicht meiner Mutter. Sie sieht müde aus, dennoch lächelt sie. „Josi-Schatz, wir müssen los“, erinnert sie mich an den Termin bei meinem Physiotherapeuten.

Ein unwilliges Seufzen entschlüpft meiner Kehle, während ich nicke und mich vorwärts schiebe. Vor ein paar Monaten wäre ich an einem Freitagnachmittag im Stall gewesen, hätte beim Ausmisten geholfen und mich um Dusty gekümmert. Doch seit dem Unfall bestimmen Arzttermine und Physiotherapie meinen Alltag.

Ich rolle hinaus in den Flur und greife nach meiner Jacke. Dabei hebe ich den Blick und sehe sehnsüchtig die Treppe nach oben. Früher bewohnte ich das Dachgeschoss meines Elternhauses und eigentlich haben Finn und ich geplant, dieses Frühjahr zusammenzuziehen.

Beim Gedanken an ihn, krampft sich mein Magen schmerzhaft zusammen. Nein, ich will jetzt nicht an Finn denken! Ich will überhaupt nicht mehr daran denken, was alles hätte sein können. Unwillkürlich werde ich wütend, schiebe meine Hände in die Ärmel und ziehe etwas zu heftig den Reißverschluss zu. Er verklemmt sich und lässt sich nun nicht mehr vor oder zurück schieben.

„Warte … ich helfe dir!“ Meine Mutter macht einen Schritt auf mich zu, doch ich wehre sie ab. „Nein, ich schaff das!“, erwidere ich, wohl eine Spur zu mürrisch, denn sie sieht mir mit traurigen, müden Augen dabei zu, wie ich mich aus dem Haus und die Rampe herunterkämpfe.

Ich möchte eigentlich gar nicht so unfair zu ihr sein, immerhin kann sie nichts für meine Situation und tut wirklich ihr Bestes, aber manchmal kann ich nicht anders. Seit dem Unfall stoße ich jeden und alles von mir weg. Und wäre meine Mutter nicht, würde ich wahrscheinlich auch keinen einzigen meiner Nachsorgetermine wahrnehmen.

Am liebsten wäre ich einfach die ganze Zeit in meinem Zimmer - das letztes Jahr noch das Büro meines Vaters gewesen ist, und das meine Eltern extra für mich umbauen ließen – und würde mich dort für den Rest meines kläglichen Lebens verkriechen.

 

Die Fahrt zur Physiotherapiepraxis dauert nur ein paar Minuten. Ich starre die ganze Zeit wortlos aus dem Fenster, während meine Mutter nichts unversucht lässt, um mir ein paar Sätze zu entlocken. Ich habe aber keine Lust auf erzwungenen Smalltalk und so gibt Mam irgendwann auf.

„Na da kommt ja mein Sonnenschein!“, begrüßt Ben mich mit einem breiten Grinsen, als ich in die Praxis rolle. Seine gute Laune würde unter anderen Umständen wohl für zwei reichen, aber ich habe keine Lust so zu tun, als ginge es mir gut.

„Na los“, erwidere ich stattdessen und schiebe mich an ihm vorbei, durch die Tür des Behandlungszimmers. „Bringen wir´s hinter uns.“

Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Ben und meine Mutter einen kurzen Blick austauschen und er dann fast unmerklich mit den Schultern zuckt.

 

„Ich versteh einfach nicht, was das bringen soll!“, knurre ich mit zusammengebissenen Zähnen, während meine Arme zu zittern beginnen.

Ben quält mich fast dreißig Minuten lang mit Stehtraining, dabei werde ich höchstwahrscheinlich nie wieder selbstständig stehen können. Warum also muss er mich auch noch mit einer dermaßen bescheuerten Übung jedes Mal daran erinnern! „Noch ein paar Sekunden!“, feuert mein Therapeut mich unbeeindruckt an, dann darf ich den Griff des Stehbarrens endlich los lassen und Ben hilft mir zurück in den Rollstuhl. Meine Oberarme brennen wie Feuer und ich lasse sie kraftlos hängen.

„Es hilft deinem Kreislauf und der Spastik in den Beinen entgegenzuwirken. Außerdem könnte ich noch eine Menge mehr aufzählen, aber das wäre dir höchstwahrscheinlich ziemlich egal.“ Ben betrachtet mich mit strengem Blick, während ich mein Shirt ausziehe. Es ist mir immer noch unangenehm, dass ich jedes Mal nur im BH vor ihm liege, während er versucht, die Muskeln in meinem Oberkörper zu lockern.

Er hilft mir auf die Liege und ich stöhne auf, als er seine Finger leicht auf eine Verhärtung, direkt neben meiner Wirbelsäule legt.

„Wenn du wieder mehr trainieren, oder irgendeine geeignete Sportart ausüben würdest, wärst du nicht immer so verspannt“, belehrt er mich, mit ruhiger Stimme.

Ich beiße mir auf die Unterlippe und versuche die Tränen, die mir vor Schmerz in die Augen schießen, wegzublinzeln.

„Sport?“, keuche ich. „Du machst wohl Witze! Was soll ich denn bitte für Sport machen?“

„Schwimmen, Handbike fahren, reiten …“, zählt er auf, während seine warmen Hände geübt über meinen Rücken gleiten und jede noch so kleine Verspannung finden und lösen.

Das letzte Wort, das seinen Mund verlässt, sorgt für ein schmerzhaftes Ziehen in meinem Brustkorb. Augenblicklich wird mir ein wenig schwindelig.

Reiten.

Mir kommen erneut die Tränen, diesmal allerdings nicht vom Schmerz. Nein, ich will nie wieder auch nur in die Nähe eines Pferdes. Irgendwann mal wieder zu reiten, ist komplett ausgeschlossen!

 

„Das ist aber nicht der Weg nach Hause“, stelle ich fest, als ich wieder im Auto sitze, und meine Mutter Richtung Innenstadt fährt.

„Ja, das ist richtig“, bestätigt sie, um einen gelassenen Ton bemüht.

„Was wird das?“, frage ich argwöhnisch und beginne unwillkürlich nervös am Riemen meines Rucksacks herum zu fummeln.

Mam zögert kurz, ehe sie antwortet: „Maya möchte dich gerne mal wieder sehen. Ich dachte … ihr zwei könnt zusammen einen Kaffee trinken, während ich schnell ein paar Einkäufe erledige.“ Ihr Unterton hat etwas Entschuldigendes und sie schickt gleich ein nervöses Lachen hinterher.

Anstatt etwas zu erwidern, kneife ich die Augen zusammen und schiebe meinen Unterkiefer von links nach rechts.

„Es wird Zeit, dass du endlich mal wieder unter die Leute kommst!“, erklärt Mam und setzt den Blinker, um die gerade frei gewordene Parklücke für sich zu beanspruchen. „Du und Maya, ihr seid doch ständig zusammengehangen. Ein bisschen Normalität wird dir gut tun.“

Ich schnaube leise, sage aber nichts.

Normalität. Dieses Wort klingt so absurd. In meinem Leben ist nichts mehr normal. Warum will Mam nur nicht begreifen, dass es unglaublich ermüdend für mich ist, dennoch so zu tun, als wäre es das.

Ich schweige weiterhin, lasse es jedoch ohne Widerworte geschehen, dass sie die Autotür öffnet und mir den Rollstuhl hinschiebt. Mit einem tiefen Seufzer wuchte ich meinen Körper vom Beifahrersitz auf den Stuhl. Dann falte ich die Hände und lege sie in den Schoß. Den auffordernden Blick meiner Mutter ignorierend, starre ich auf die Bordsteinkante, als wäre es dass Interessanteste auf der Welt.

„Die Josi, die ich kenne, hätte sich niemals so gehen lassen“, sagt meine Mutter tonlos als sie beginnt, mich vorwärts zu schieben.

„Die Josi, die du kanntest, gibt es nicht mehr“, murmele ich leise in mich hinein, bin mir allerdings gar nicht sicher, ob meine Mutter es hören kann, da in diesem Moment ein Auto an uns vorbei fährt.

 

Maya sitzt bereits in dem kleinen Café, in dem wir uns vor meinem Unfall regelmäßig verabredet haben. Wenn wir nicht im Stall gewesen sind, fand man uns meistens hier. Mam hält mir die Tür auf, sodass ich den Rollstuhl hindurch schieben kann.

Maya steht mit einem leicht scheu wirkenden Lächeln auf, und kommt auf mich zu. Als ich mich zwischen den Stühlen durch kämpfe, sehe ich ihr die Unsicherheit an, mit der sie mir bei meinem unfreiwilligen Slalom zusieht.

„Kann … ich dir helfen?“, fragt sie schließlich zögernd, doch ich schüttele den Kopf und ringe mir ein Lächeln ab. „Nein, schon okay.“

Als ich die Tischkante erreiche, bemerke ich die Erleichterung in Mayas Gesicht. Sie setzt sich mir gegenüber und Mam verabschiedet sich. „Damit ihr mal wieder in Ruhe quatschen könnt!“, schickt sie mit einem Zwinkern hinterher, dann ist sie auch schon weg.

Die Kellnerin kommt, um zu fragen was sie uns bringen kann. Maya bestellt Tee und ein Croissant und ich einen großen Milchkaffee.

Kaum ist die Bedienung verschwunden, beginnt Maya den Zuckerstreuer von links nach rechts zu schieben. Ihr Gesicht spricht Bände. So hat sie sich unser Wiedersehen anscheinend nicht vorgestellt. Als wir uns eine Weile angeschwiegen haben, wird glücklicherweise unsere Bestellung gebracht und wir haben beide auf einmal eine Beschäftigung.

Maya schmiert mit einer ungeheuren Genauigkeit Marmelade auf ihr Hörnchen und ich rühre in meinem Kaffee (in den ich noch nicht einmal Zucker hineingetan habe), als würde mein Leben davon abhängen.

„Ach, das ist doch Mist!“ Mayas unerwarteter Ausbruch lässt mich innehalten und aufsehen. Sie pfeffert ihr Gebäck auf den Teller und sieht mich an. „Wir sind beste Freundinnen und haben alles geteilt, warum fühlt es sich auf einmal so komisch an, dir gegenüber zu sitzen?“ Sie schüttelt ratlos den Kopf und lässt ihren Blick auf mich gerichtet. Ich zucke mit einem leisen Seufzen die Schultern und lächle schwach. „Vielleicht, weil du Angst hat, etwas Falsches zu sagen und ich …“ Ich hole geräuschvoll Luft, „ich ein verbitterter Krüppel bin!“

Wir lachen gleichzeitig laut los und auf einmal ist der Knoten geplatzt. Das vertraute Gefühl, das mich mit Maya verbindet, ist zurück.

 

„Wie geht es dir?“, will Maya wissen und widmet sich wieder ihrer süßen Sünde. Ich überlege kurz, denn ich möchte sie mit meiner Antwort nicht vor den Kopf stoßen. Schlimm genug, dass ich meinen Frust ständig an meiner Mutter auslasse.

„Meine Therapeuten würden sagen: den Umständen entsprechend“, erwidere ich schließlich.

„Und was würdest du sagen?“, hakt meine Freundin nach und trinkt von ihrem Tee.

„Beschissen“, rutscht es mir sofort über die Lippen. Maya hält inne und betrachtet mich einen Moment.

„Glaub mir, es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an dich denke! Du fehlst uns allen im Stall unglaublich!“, sagt sie dann.

Ich spüre, wie sich meine Kehle zuschnürt und beginne, mit aufsteigenden Tränen zu kämpfen.

„Es tut gut, dich zu sehen!“, erwidere ich, ohne auf ihre Worte einzugehen.

Doch Maya lässt nicht locker, das sieht ihr ähnlich. „Wenn du möchtest, nehme ich dich morgen mit. Die anderen werden sich bestimmt freuen, dich zu sehen!“

Ich beiße mir auf die Unterlippe bis es schmerzt und schüttle energisch den Kopf. Ein dicker Tränenschleier versperrt mir auf einmal die Sicht. „Ich … ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist“, presse ich hervor und offenbar wird Maya nun klar, dass sie dieses Thema jetzt besser abhakt. Sie greift über den Tisch und legt ihre warme Hand auf meine. „Tut mir leid, Josi! Ich habe nicht nachgedacht. Aber falls du es eines Tages doch versuchen möchtest, brauchst du nur Bescheid zu sagen.“ Ihr Blick ist eindringlich und ich schaffe es irgendwie, zu nicken.

„Wie geht es Hannes?“, frage ich, um das Thema nun endgültig zu wechseln. Maya beginnt zu lächeln, als ich mich nach ihrem Freund erkundige. „Er macht gerade ein Auslandssemester, mit Praktikum in New York.“

Ich schnalze anerkennend mit der Zunge. „New York – wow! Hoffentlich gefällt es ihm nicht zu gut dort. Sonst müsst ihr am Ende noch über den großen Teich auswandern“, sage ich lächelnd.

Maya schnaubt. „Wenn es nach ihm ginge, wäre dieser Gedanke gar nicht so abwegig. Ich glaube, er hofft insgeheim auf ein Jobangebot, während des Praktikums.“

Ich muss unwillkürlich lächeln. Die beiden können unterschiedlicher nicht sein. Hannes studiert Journalismus und träumt von der großen weiten Welt, während Maya sehr eng mit ihren Wurzeln verbunden ist. Sicher reist auch sie für Turniere nach Österreich, oder vielleicht auch noch in die Schweiz, ist jedoch jedes Mal froh, wenn sie wieder nach Hause zurückkehrt.

„Na, das klingt doch spannend“, erkläre ich, doch Maya rollt nur mit den Augen und pustet sich mit Nachdruck eine braune Strähne aus der Stirn. „Ich bin definitiv nicht gemacht für die Großstadt. Wo bitte, soll ich in New York meine Pferde unterbringen?“

Ich muss plötzlich lachen, weil ich mir vorstelle, wie Maya auf Hades durch den New Yorker Berufsverkehr reitet. Meine Freundin legt mit argwöhnischer Miene den Kopf schief. „Was ist so komisch?“, will sie wissen.

„Ach … nichts“, entgegne ich und leere meine Tasse.

 

Wir quatschen noch eine ganze Weile über Gott und die Welt. Maya vermeidet es, allzu viele Geschichten aus dem Stall zu erzählen und ich spüre, wie ich zum ersten Mal seit langem – zumindest für eine kurze Weile – vergesse, dass ich das Café nicht aufrecht und selbstständig gehend verlassen werde.

Mam kommt, als es draußen schon dämmert. Maya drückt mich zum Abschied und verspricht, dass sie mich ganz bald besuchen kommt.

 

„Du hast gelächelt“, erklärt meine Mutter, als wir uns um den Abendbrottisch versammeln. Paps kommt freitags immer etwas früher von der Arbeit und Mam hat fantastische Hähnchenschenkel mit Zitronensoße gekocht.

„Ich hoffe, du bekommst von dieser ungewohnten Gesichtsregung keinen Muskelkater!“, witzelt Paps.

Ich rollte die Augen, kann jedoch nicht widersprechen. Denn obwohl ich es nur ungern zugebe, hat meine Mutter Recht behalten. Diese zwei Stunden heute Nachmittag, haben sich tatsächlich fast normal angefühlt.

Kapitel 2

Leider bleibt von der guten Stimmung am nächsten Tag nicht mehr sehr viel übrig. Es ist Samstag und meine Eltern haben sich in den Kopf gesetzt, dass ich dringend viel öfter raus aus dem Haus muss. Nachdem ich mein morgendliches, langwieriges Badprogramm absolviert habe, beginnen sie beim Frühstück mit einer solch übertriebenen Unternehmungslust auf mich einzureden, dass mir schlagartig der Appetit vergeht.

„Wir könnten nach Hamburg fahren und ein bisschen Bummeln!“, schlägt meine Mutter vor und sieht mich mit weit aufgerissenen Augen abwartend an.

Ich verziehe das Gesicht. „Ich hab echt keine Lust, mich durch die drängelnde, rempelnde Masse zu schieben und die ganze Zeit aufzupassen, dass niemand über den Rollstuhl fällt.“ Ich lasse meine Hand mit dem angebissenen Brötchen sinken, und begegne Mam´s Blick. „Aber dafür könnten wir dir ein paar neue Klamotten kaufen.“ Sie wackelt mit den Brauen.

Ich sehe kurz an mir herunter. Heute trage ich eine schwarze Leggings und einen grauen Strickpulli, weil es trotz des einsetzenden Frühlings noch nicht allzu warm ist. „Ich brauch nichts Neues. Es ist doch völlig egal, was ich anhabe, solange ich in diesem Ding sitze“, erwidere ich und bemühte mich, die plötzlich aufkeimende Wut zu unterdrücken.

Mam überhört meinen letzten Satz einfach und faltet die Hände unter ihrem Kinn. „Okay, dann kein Shopping.“ Sie hat es aufgegeben, mit mir diskutieren zu wollen und wie immer, wenn ich so ungerecht zu ihr war, fange ich sofort an es zu bedauern.

„Tut mir leid, aber … ich … fühle mich einfach nicht wohl, zwischen all den Menschen und samstags ist immer so viel los …“, versuche ich zu erklären und senke den Blick.

Ich spüre Mam´s warme, weiche Hand auf meiner. „Ist schon okay, Josi. Es war nur ein Vorschlag.“ Sie lächelt sanft, doch ihre Augen sehen glanzlos aus. Wie immer in solchen Momenten hasse ich mich dafür, dass ich meiner Familie so viel Arbeit und Kummer bereite. Ich drücke ihre Hand und ringe mir ebenfalls ein Lächeln ab.

Paps lässt raschelnd die Zeitung sinken und sieht mich über den Rand seiner Lesebrille an. Sein Mundwinkel zuckt leicht nach oben und ich betrachte ihn argwöhnisch. „Was ist?“, frage ich, doch er beginnt nur zu grinsen und schüttelt langsam den Kopf. „Ich denke, ich habe gerade etwas gefunden, das wir unternehmen können.“

Mam und ich heben zeitgleich unsere Köpfe. „Und … was?“, will ich wissen, doch noch immer verrät er mir nichts. „Lass dich doch einfach mal überraschen“, erklärt er geheimnisvoll. Das kann doch wohl nicht sein Ernst sein. Immerhin weiß er doch ganz genau, dass es nicht mehr viele Dinge gibt, die ich machen kann, oder will.

 

Doch Paps bleibt hartnäckig, räumt zusammen mit meiner Mutter den Frühstückstisch ab und weist mich an, meinen Rucksack zu packen. Es gibt nämlich ein paar Dinge, die unerlässlich sind, wenn ich länger unterwegs bin.

Nur sehr zögerlich ergebe ich mich meinem Schicksal. Doch dann beginne ich Desinfektionsmittel und Katheter in den schwarzen Kulturbeutel zu schieben, den ich in einem kleinen, schwarzen Rucksack verstaue. Notfalls kann ich mich ja immer noch weigern, aus dem Auto zu steigen, falls es mir nicht zusagt, was er mit mir vorhat.

 

Natürlich hat Paps meine Mutter eingeweiht, während ich mich für unseren Ausflug fertig gemacht habe. Sie wirkt nervös und aufgeregt und ihre Bewegungen sind fahrig, doch auch sie will mir nicht sagen was unser Ziel ist, als wir im Auto sitzen. Ich blicke angestrengt aus dem Fenster und versuche mittels der Verkehrsschilder herauszufinden, wohin meine Eltern mich entführen. Wir fahren doch Richtung Hamburg, dabei habe ich doch eigentlich klar gemacht, dass sich mein Interesse an einer Shoppingtour in Grenzen hält.

Doch anstatt ins Zentrum, biegen wir Richtung Osten ab und nach ein paar Kilometern verändert sich die Landschaft. Die Häuser werden weniger und die Gegend immer ländlicher. Und plötzlich durchfährt es mich, wie ein Blitzschlag. Wir werden

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Liv Hoffmann
Bildmaterialien: Coverfoto: ©aleshin - beautiful sad girl by the window on a sunny day, fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 01.02.2017
ISBN: 978-3-7396-9641-6

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für einen geliebten Menschen

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