Alle Personen, Unternehmen und Handlungen sind von der Autorin frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Unternehmen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Eigentlich bin ich nicht abergläubisch. Nein, bis zum heutigen Tag war ich definitiv nicht abergläubisch – ehrlich! Ich habe heute Morgen gar nicht richtig hingehört, als mir meine Mitbewohnerin Chloe prophezeite, dass dieser Tag ein schlechtes Omen für meine Zukunft darstellen würde. Doch jetzt, da ich mich mit einem Schuhkarton voll mit Sachen von meinem Schreibtisch auf der Straße vor dem Gebäude des YES-Magazins wiederfinde, ist mir zum Heulen zumute. Zum Teufel mit dir, Freitag der Dreizehnte!, schießt es mir spontan durch den Kopf. Meine Finger schließen sich fester um den Karton und ich fange an, auf meiner Unterlippe zu kauen, bis sich der Geschmack von Blut in meinem Mund ausbreitet.
2 Stunden zuvor
Mit zitternden Fingern raffte ich meine Unterlagen - eigentlich handelte es sich dabei nur um einen Haufen loser Blätter - zusammen und stopfte sie in meine Umhängetasche. Ich war viel zu spät dran. Das war eigentlich nichts Neues, aber heute wäre es von enormer Wichtigkeit gewesen, pünktlich zu sein. Immerhin ging es um meine Zukunft. Heute hatte ich die einmalige Chance, einen unbefristeten Arbeitsvertrag beim YES-Magazin zu bekommen. Da ich aber nicht die Einzige war, die sich die letzten Wochen für eine unbefristete Anstellung ein Bein ausgerissen hatte, war ich mir sicher, dass die wichtigen Herausgeberköpfe jedes noch so kleine Detail in ihre Bewertungen einfließen lassen würden.
Die letzten sechs Wochen hatte ich nahezu jeden Abend bis spät in die Nacht hinein am Computer verbracht, um für meinen Artikel zu recherchieren.
Alles neben meiner regulären Arbeit, versteht sich. Es hatte sich gelohnt, denn die Story – da war ich mir sicher – würde alle vom Stuhl fegen.
Ursprünglich wollte ich mich einem völlig anderen Thema widmen, doch dann hatte ich während meiner Mittagspause ungewollt ein Gespräch zwischen zwei Frauen mitgehört. Es hatte sich dabei um Angestellte von Candice Pharma gehandelt, die wohl gerade ein neues Diätmittel auf den Markt bringen wollten. Da ich bei einem Frauenmagazin angestellt war, kam mir diese Story gelegen.
Noch war wohl alles streng geheim, was die beiden Plaudertaschen auf der Parkbank aber nicht davon abgehalten hatte, sich dennoch in aller Öffentlichkeit darüber zu unterhalten.
Das neue Mittel sollte eine Variante ohne Nebenwirkungen sein; völlig verträglich und nur aus natürlichen Inhaltsstoffen – also der Traum für uns Frauen. Zumindest für die, die sich so etwas einwarfen. Ich hatte automatisch an meine Mitbewohnerin denken müssen. Sie war groß, schlank und wohlproportioniert. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, sich nur von Light-Produkten und Diätpillen zu ernähren, denn sie hatte panische Angst davor, zuzunehmen.
Als ich endlich den Parkplatz vor dem Gebäude des YES-Magazins erreichte, ratterte mein Herz wie eine Dampflok. Ich war völlig durchgeschwitzt und mit den Nerven am Ende. Mit wackeligen Knien betrat ich den Aufzug und drückte den Knopf für die vierte Etage.
Als sich die Fahrstuhltüren öffneten, war das monotone Gebrumme der vielen Rechner die einzige Begrüßung. Alle waren wahnsinnig vertieft in ihre Arbeit; hackten auf der Tastatur herum oder hingen am Telefon. Ich eilte auf meinen Platz zu, warf meine Jacke im Vorbeigehen über den Stuhl und marschierte direkt weiter in Richtung Geschäftsleitung.
Julia, die Chefsekretärin, begrüßte mich mit einem halbherzigen Lächeln, das ziemlich aufgesetzt wirkte. „Ah, Hannah! Gerade hat Megan nach dir gefragt.“ Sie kam um ihren Schreibtisch herumgestöckelt und ich folgte ihr zur Bürotür der Chefredakteurin, Megan O´Leary.
Julia klopfte zweimal an und öffnete die Tür. „Hannah ist jetzt da.“
Megan blickte auf und sofort sah ich die tiefe Falte zwischen ihren Brauen, die mich augenblicklich wissen ließ, wie sehr sie meine Verspätung missbilligte.
„Danke, Julia. Hannah – bitte, nehmen Sie Platz.“ Mit einem Nicken deutete sie Julia, den Raum zu verlassen. Während ich auf den mir angebotenen Stuhl zutrat, ließ mich Megan keine Sekunde aus den Augen. Sie legte ihren Stift beiseite und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. „Hatten Sie Probleme mit dem morgendlichen Verkehr, oder wie erklären Sie mir“, Megan ließ ihren Blick flüchtig über ihre teure Armbanduhr streifen, „Ihre Verspätung von dreißig Minuten?“
„Ich … äh … musste noch meine Unterlagen …“, stammelte ich drauf los, wurde aber sofort unterbrochen.
„Mit Ihren dreiundzwanzig Jahren muss ich Ihnen wohl nicht mehr erklären, wie wichtig es ist, pünktlich zu sein!“ Ihr forscher Ton ließ mich zusammenzucken und wie ein kleines Mädchen nickte ich beschämt.
Meine Chefin streckte mir ihre manikürten Finger entgegen. „Nun lassen Sie mal sehen.“ Ich reichte ihr meine Mappe mit den Rechercheergebnissen. Ich hatte es sogar geschafft, einen Entwurf des Verpackungslayouts in die Finger zu bekommen. Zwar auf nicht ganz legale Weise, doch die Cousine der Kioskbetreiberin, bei der ich jeden Morgen meinen Kaffee kaufte, arbeitete zufällig bei der Reinigungsfirma, die auch Candice Pharma betreute. Und diese Cousine hatte mich vor vier Wochen mitgenommen. Offiziell hatte ich mich bei der Reinigungsfirma zu einem Probearbeitstag vorgestellt.
Zugegeben, ich war schon ein bisschen stolz auf das, was ich in den letzten Wochen zusammengetragen hatte. Hoffentlich würde Megan das genauso sehen. Ich beobachtete sie, während sie in der Mappe blätterte und die von mir geschriebenen Zeilen überflog. Doch zu meiner Verwunderung brach sie nicht in laute Lobeshymnen aus, vielmehr lag ein ungläubiger Schatten auf ihrem Gesicht. Ich fummelte mit meinen schweißnassen Fingern an einem Faden herum, der vom Zipfel meiner Bluse hing, und drehte ihn so fest um meinen Zeigefinger, dass sich meine Fingerkuppe bereits dunkelrot verfärbte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit blickte meine Chefin endlich auf. „Ich … bin sprachlos“, murmelte sie und schüttelte leicht den Kopf. Noch immer war die Falte zwischen ihren Brauen mehr als präsent. Okay, sie war sprachlos – war das nun gut oder schlecht für mich?
„Ich bin sprachlos über so eine Dreistigkeit! Was haben Sie sich dabei gedacht?!“ Plötzlich erhob Megan O´Leary ihre Stimme und knallte die Mappe so fest zu, dass einige lose Blätter herausgeschleudert wurden und nun Richtung Boden segelten. Fassungslos sah ich dem schwebenden Papier hinterher, ehe ich meinen Blick auf Megan richtete. „Wie können Sie mir in die Augen sehen, während Sie versuchen, mir eine von vorne bis hinten geklaute Story als die Ihrige zu verkaufen?“ Die Mappe flatterte mir energisch entgegen. „W-wie bitte? Ich … verstehe nicht …“ Ich bekam kaum die Worte über meine Lippen. Was lief denn jetzt für ein Film ab? Ihr erbostes Verhalten irritierte mich zutiefst. „Megan, ich glaube, ich kann Ihnen nicht ganz folgen …“, setzte ich erneut an und hatte Mühe, die herumfliegenden Blätter wieder einzusammeln.
„Das ist ja wohl eine bodenlose Frechheit! Sie brauchen es gar nicht zu leugnen!“, fuhr sie mich weiter an.
„Was denn?!“, brach es laut aus mir heraus, denn langsam begann ich die Beherrschung zu verlieren und meine Unsicherheit verwandelte sich in Wut.
„Das Sie die Story von A bis Z von Alison geklaut haben! Und Sie haben sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, irgendetwas daran zu ändern!“ Ich konnte schwören, in diesem Augenblick schienen grelle Blitze aus Megans Augen zu schießen – direkt in meine Richtung.
In meinem Magen begann es zu rumoren, mir wurde heiß und kalt. Was hatte sie mir da gerade unterstellt? Ich hätte Alison Steele, der falschesten, faulsten Flitzpiepe unter den Journalisten ihre Story gestohlen? Augenblicklich ballten sich meine Hände zu Fäusten.
„Sie haben überhaupt nicht das Recht, mir solche absurden Anschuldigungen an den Kopf zu werfen! Und das ohne irgendeinen Beweis!“, fauchte ich.
Megan hob überrascht ihre Brauen. „Ach ja? Und was ist das hier?“ Sie zog einen Hefter von dem Stapel Papiere, der auf ihrem Schreibtisch lag, und hielt ihn mir mit überlegener Miene entgegen.
Eilig blätterte ich in den Unterlagen und musste feststellen, dass diese eins zu eins mit meinen übereinstimmten. „Wie … wie kann das sein?“ Immer und immer wieder sah ich mir die Seiten an. Sogar die Kopie des Verpackungslayouts war beigefügt.
Mir wurde schlecht. „Megan, bitte – Sie müssen mir glauben, das sind meine Recherchen.“ Ich sah hilfesuchend auf, doch die Miene meiner Chefin war eisig.
„Diese Unterlagen habe ich heute Morgen von Alison überreicht bekommen. Sie hat die letzten Wochen neben ihrer Tätigkeit für unser Magazin ihre Freizeit für diese Recherche geopfert und nun sitzen Sie vor mir und besitzen auch noch die Unverfrorenheit, mir ins Gesicht zu lügen. Ihr Verhalten ist in unserer Branche absolut indiskutabel – Hannah, ich bitte Sie, mit sofortiger Wirkung Ihren Schreibtisch zu räumen.“
„Was? Aber …“, rief ich erbost aus, doch Megan hob ihre Hand, um mir zu bedeuten, dass der Fall für sie erledigt war. Ich presste meine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. „Leben Sie wohl, Hannah!“
Ich öffnete meinen Mund, doch die Worte blieben mir im Hals stecken, also klappte ich ihn wieder zu und verließ ohne ein weiteres Wort das Büro. Wie in Trance bewegte ich mich auf meinen Schreibtisch zu. Ich nahm keine Notiz von Julia oder den anderen Kolleginnen, bis mein Blick auf Alison fiel, die gerade mit ihrer Kaffeetasse in der Hand bei Josh aus der Fotoredaktion stand. Sie unterhielten sich und Alison warf mit einem lauten Lachen ihren Kopf in den Nacken. In diesem Moment brach all der Hass an die Oberfläche, den ich schon immer für diese dämliche Kuh empfunden hatte. Vor meinen Augen flackerte es und wäre dies eine Comicverfilmung, wäre wahrscheinlich Dampf aus meinen Nasenlöchern geschossen.
Ich marschierte auf die beiden zu, den Blick fest auf Alison gerichtet. Als ich vor ihr stand, wandte sie den Kopf und sah mich mit ihrem dümmlichen Grinsen fragend an. „Hannah, was ist denn los? Geht es dir nicht gut?“
Ab diesem Zeitpunkt erinnerte ich mich nur noch schemenhaft an das, was dann geschah. Alisons Schmerzenschreie hallten noch in meinen Ohren nach, als ich mich mit einem Büschel ihrer roten Haare zwischen meinen Fingern auf der Straße wiederfand. Gerade knallte einer der Gorillas vom Empfang einen Karton neben meinen Füßen auf die Straße. „Miss O´Leary lässt ausrichten, dass Sie keinen Fuß mehr über diese Schwelle setzen werden. Andernfalls werden Sie von Miss Steele wegen Körperverletzung angezeigt!“
In diesem Moment fiel mir der Satz ein, den Chloe heute Morgen beim Frühstück - bei ihr waren es zwei Diätpillen und ein schwarzer Kaffee - gesagt hatte, „Dass du diesen Termin ausgerechnet an einem Freitag den Dreizehnten hast – das ist kein gutes Zeichen.“
Ich hatte mit den Schultern gezuckt und von meinem Marmeladenbrötchen abgebissen. Was kümmerte es mich, was für ein Tag heute war?
Jetzt, als ich so unsanft auf die Straße gesetzt worden war, begann ich meine Meinung zu ändern. Zum Teufel mit dir, Freitag der Dreizehnte!
Die Fahrertür meines Chrysler Cirrus ächzte protestierend, als ich sie mit dem Fuß zukickte und gleichzeitig mit meinem Karton und dem Autoschlüssel jonglierte. Wahrscheinlich würde ich mir bald noch nicht mal mehr ein Auto leisten können, immerhin war ich jetzt arbeitslos. Allein das Wort frustrierte mich. Ja, ich war in der Tat meine Arbeit los. Und das nur wegen dieser falschen Schlange! Ich versuchte erst gar nicht, die erneut aufkeimende Wut hinunterzuschlucken, während ich zu meiner Wohnung stampfte.
Ich begann laut zu fluchen, als mein Schlüssel mal wieder klemmte und die Tür nicht gleich aufsperrte. „Mistmistmist! Verdammter Mist!“, schimpfte ich laut vor mich hin, als sich gegenüber die Tür öffnete.
„Geht das vielleicht auch ein wenig leiser?!“ Vor mir stand der neue Nachbar, der vor einer Woche die Wohnung neben uns bezogen hatte. Offenbar hatte er geschlafen, denn seine Haare standen in sämtliche Himmelsrichtungen ab und seine Augen waren nicht mehr als schmale Schlitze.
„Wieso?“, entfuhr es mir. „Habe ich Sie etwa geweckt – am helllichten Tag? Das tut mir aber leid! Gibt eben auch Leute, die tagsüber arbeiten müssen!“ Meine Stimme klang eine Spur zu schrill, aber es war ja nicht mein Problem, dass dieser faule, vermutlich langzeitarbeitslose Stoffel sich gerade jetzt mit mir anzulegen versuchte. Wer hatte schon Zeit, bis mittags zu pennen?
Die Brauen meines Gegenübers zogen sich zusammen. Er rieb sich das mit Drei-Tage-Bartstoppeln versehene Kinn und sog geräuschvoll die Luft ein. „Es gibt Leute, die müssen nachts arbeiten und hin und wieder auch ein wenig schlafen!“ Seine Antwort klang frostig. Ich blickte an ihm herunter und stellte fest, dass sein trainierter Körper in einem blütenweißen T-Shirt und einer grauen, locker sitzenden Schlafanzughose steckte. Na gut, wie ein Arbeitsloser sah er wirklich nicht aus. Eher wie jemand, den man tatsächlich zu früh aus dem Bett geholt hatte. Fast tat es mir ein wenig leid, dass ich ihn so angegangen hatte. Immerhin konnte er ja nichts dafür, dass Alison Steele mir den Job vor der Nase weggeschnappt hatte – und das auch noch mit meiner Story! Unwillkürlich ballte ich meine Hände zu Fäusten und mein Herz begann wütend in meinem Brustkorb herumzutoben.
Energisch drehte ich meinen Schlüssel mit einem Ruck herum und endlich sprang die Haustür auf. „`tschuldigung … dass ich Sie geweckt hab … ich muss dann auch jetzt…“ Ohne eine Antwort abzuwarten, huschte ich in die Wohnung und warf die Tür ins Schloss.
Im Flur der Dreizimmerwohnung, die ich mir seit dem Ende des Studiums mit Chloe teilte, ließ ich den Schuhkarton achtlos zu Boden knallen.
Ich schlurfte planlos in die Küche und presste eine Kaffeekapsel in die dazugehörige Maschine. Während das schwarze Gebräu zischend ausgespuckt wurde, öffnete ich die Kühlschranktür. Was ich darin fand, war wirklich armselig. Eine halbe Gurke, zwei Eier, ein bisschen Butter und fünf Joghurts mit einem Fettgehalt von immerhin 0,3 Prozent.
Mahlzeit!
Chloe hatte also mal wieder vergessen einzukaufen. Mit einem lauten Seufzer schloss ich den leeren Kühlschrank und griff nach meiner Kaffeetasse. Mein Blick fiel auf die Schachteln mit den Vitamin- und Diätpillen meiner Mitbewohnerin, die fein säuberlich neben der Mikrowelle aufgestellt waren. Ich konnte nicht anders, als innerlich den Kopf zu schütteln. Sich so zu ernähren, konnte auf Dauer doch nicht gesund sein. Ich hatte mir die Liste der Nebenwirkungen durchgelesen – allein davon wurde einem schon übel. Na ja, vielleicht war Candice Pharma mit ihrem neuen Diät-Wundermittel ja tatsächlich der Durchbruch gelungen. Ich riss mich von dem Anblick der Medikamentenschachteln los, während mein Magen ein lautes Rumoren von sich gab. Jetzt musste ich mir erstmal etwas zu Essen beschaffen.
Im nahegelegenen Supermarkt kaufte ich gleich für die restliche Woche ein, denn so, wie ich Chloe kannte, würde sie während einer ihrer Heißhungerattacken, die sie oft abends bekam, wieder jammernd vor der geöffneten Kühlschranktür stehen. „Oh Hannah – wir haben gar nichts mehr zu essen, in meinem Magen klafft ein riesiges Loch!“ Wenn ich ihr dann entgegnete, dass das nicht verwunderlich war, wenn man sich den ganzen Tag nur von stillem Wasser und fettfreien Joghurts ernährte, rollte sie nur die Augen und stemmte die Hände in die Hüften. „Lass uns einfach eine Pizza bestellen, ja?“, war meistens ihre Antwort darauf. Ich mochte Chloe sehr, sie war wie eine Schwester für mich und das brachte mit sich, dass ich mir wegen ihres ungesunden Essverhaltens natürlich Sorgen machte. Doch noch hoffte ich einfach, dass sie eines Tages selbst keine Lust mehr auf diese Art von Selbstgeißelung haben würde.
Ich hatte zum Glück die guten Gene meiner stets gertenschlanken Mutter geerbt. Selbst wenn ich drei Tage hintereinander ein saftiges Steak verdrückte – ja, das hatte ich schon ausprobiert –nahm ich nicht ein Gramm zu. Das hatte ich Chloe bis jetzt aber verheimlicht, um den Druck, den sie sich selbst auferlegt hatte, nicht noch mehr zu erhöhen.
Während ich den leeren Einkaufswagen zurück zu den anderen brachte, riss ich eine Packung Schokokekse auf und schob mir gleich zwei auf einmal in den Mund. Ich angelte meinen Autoschlüssel aus der Jackentasche und öffnete die Fahrertür, als mein Blick auf eine Frau fiel, die gerade zu Fuß am Parkplatz des Supermarktes vorbeilief - oder vielmehr vorbeitorkelte.
Sie war blass und ihr Atem ging schwer. Fast stürzte sie und klammerte sich gerade noch an den Pfosten der Absperrung. Schnaufend hielt sie sich daran fest. Im ersten Moment hatte sie noch den Anschein erweckt, als wäre sie betrunken, doch jetzt sah ich Schweißperlen auf ihrer Stirn glänzen. Achtlos warf ich die Kekspackung auf den Fahrersitz und knallte die Tür zu. Eilig trat ich auf die Frau zu, die noch immer heftig atmend an dem Pfosten hing.
„Geht es Ihnen nicht gut?“ Was für eine dämliche Frage, denn das war ja offensichtlich. Nur fiel mir in diesem Moment einfach nichts anderes ein.
Die blonde Frau schüttelte den Kopf und fasste sich an die Stirn. „Ich … ich glaube, ich werde krank – Fieber oder so …“ Ihr Atem ging weiterhin schwer und jetzt, da ich sie von näherem betrachten konnte, machte mir auch ihre Gesichtsfarbe echte Sorgen. „Soll ich einen Krankenwagen rufen?“, wollte ich wissen. Sie schüttelte schnell den Kopf. „Nein, nein, nicht nötig. Ich muss es nur bis in mein Hotel schaffen, dort lege ich mich ein wenig hin.“
„Wenn Sie möchten, fahre ich Sie gerne dorthin“, bot ich ihr an. Ich hatte das dringende Bedürfnis, ihr irgendwie zu helfen. Sie sah mit glasigen Augen zu mir auf. „Das wäre wirklich sehr nett von Ihnen.“
Ich stützte sie, während wir zu meinem Auto liefen. „Und Sie sind sich sicher, dass ich Sie nicht lieber doch in ein Krankenhaus bringen soll?“ Fragend blickte ich zu ihr rüber, als sie sich mit zittrigen Fingern angeschnallt hatte.
„Nein, ist schon gut – ich bekomme wohl nur eine Grippe.“ Sie lehnte sich im Sitz zurück und schenkte mir ein erzwungenes Lächeln.
„Na gut, in welchem Hotel wohnen Sie denn?“, wollte ich wissen, als wir den Parkplatz verließen.
„Grand Royal Hotel“, erwiderte sie knapp und ich stutzte. Das war eines der teuersten in Manhattan.
Fünfzehn Minuten später bog ich in die Einfahrt des Hotels ein. Der Wagenmeister, der mit seiner schicken Uniform am Eingang des Hotels stand, riss ungläubig die Augen auf. Das hier jemand mit einem schrottigen Mittelklassewagen vorfuhr, geschah sicher nicht allzu häufig. Ich ließ mich von seinen Blicken allerdings nicht beirren und parkte direkt vor der großen Drehtür. Meine Beifahrerin schnallte sich ab und warf mir einen dankbaren Blick zu. „Haben Sie vielen Dank! Es wäre schön, wenn es mehr solcher Menschen gäbe wie Sie.“
Ihr Kompliment ließ mir die Röte ins Gesicht steigen. Ich konnte mit Lobhudelei nicht besonders gut umgehen. „Keine Ursache, das ist doch selbstverständlich – und gute Besserung!“, rief ich ihr noch nach, als sie bereits auf der Straße stand und vom Personal des Hotels in Empfang genommen wurde. Ein Page knallte eiligst meine Beifahrertür zu und bedeutete mir mit einem hektischen Winken, dass ich nun schleunigst die Einfahrt freimachen sollte.
Konnte mir auch Recht sein, ich fühlte mich hier sowieso wie ein Alien auf dem Seziertisch.
Die Sache mit der Frau wollte mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Ich ertappte mich dabei, wie ich mich immer wieder fragte, ob es ihr wohl gutging – ob das Hotelpersonal einen Arzt gerufen hatte, oder ob …. na ja, das Schlimmste wollte ich mir dann lieber doch nicht ausmalen!
Ich hatte es mir in meiner Jogginghose auf der Couch gemütlich gemacht und schob mir gerade einen weiteren Löffel Schokoeiscreme in den Mund, als ich hörte, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde.
Ich hörte das Klacken und dann Chloes freudiges „Halllooohooo!“ Komisch, warum funktionierte bei ihr der Schlüssel immer auf Anhieb?!
Weil ich nicht gleich antwortete, erschien im Türspalt ihr rotblonder Schopf. „Hey, Hannah – schon Zuhause heute? Wie ist es gelaufen? Müsstest du nicht im Büro sein und deine unbefristete Anstellung feiern?“ Ihre Fragen prasselten erbarmungslos auf mich nieder, während sie mich eingehend musterte. Ihre Augen wurden von Sekunde zu Sekunde schmaler. Als ich nur einen tiefen Seufzer ausstieß, ließ sie ihre Handtasche zu Boden fallen und stürmte auf mich zu. Das Sofa gab ein ächzendes Geräusch von sich, als sie neben mich plumpste, die Arme verschränkte und eine Braue nach oben zog. „Hannah“, kam mein Name gedehnt aus ihrem Mund „nun sag schon – was ist los?!“
Ich starrte einen Moment lang auf meinen fast leeren Eisbecher, ehe ich zu ihr aufsah. „Alison Steele hat den Job“, gab ich kraftlos von mir.
„Waaaas?!“ Chloes Stimme wurde so schrill, dass ich zusammenzuckte und es in meinem rechten Ohr zu rauschen begann. „Wie … wie ist das möglich – ich meine, du hast doch … eine so fantastische Story geliefert.“ Sie sank neben mir auf dem Polster zusammen und schüttelte langsam den Kopf.
„Tja“ Ich zuckte mit den Schultern. „Das Problem ist, dass Alison Megan dieselbe Story auf den Tisch gelegt hat. Nur eine Stunde früher als ich.“ Wir sahen uns an und ich konnte in Chloes Augen sehen, wie sie allmählich begriff.
„Das ist nicht dein Ernst!“ Sie klang entrüstet.
„Leider doch.“
„Aber … aber das lässt du dir doch nicht gefallen, oder?“ Chloe hatte ihre Hand auf mein Knie gelegt und kniff so energisch zu, als sich ihre Finger zu einer Faust ballten, dass ich kurz aufjaulte. „Au!“
Erschrocken hob sie ihre Hand und ich rieb mein schmerzendes Knie. „Es ist schon zu spät, Megan hat mich rausgeschmissen.“
„Wie bitte?“
„Sie glaubt, dass ich die Story von Alison geklaut habe. Na ja, und … es könnte vielleicht sein, dass ich nach dem Gespräch mit Megan ein wenig die Kontrolle verloren habe und auf Alison losgegangen bin.“ Ich blickte zu Boden und war selbst beschämt, dass ich heute Morgen so ausgerastet war. Normalerweise war ich ein wirklich friedfertiger Mensch, aber in diesem Moment war ich so wütend gewesen…
Ich wurde jäh aus meinen Gedanken gerissen, weil Chloe neben mir laut anfing zu lachen. Sie prustete so unvermittelt los, dass ich irritiert aufblickte. „Was ist so komisch?“
„Na ja“, presste sie mühsam hervor, weil sie noch immer lachte. „Ich muss mir gerade vorstellen, wie du… wie du dich auf diese dämliche Kuh stürzt. Tut mir leid, Hannah, aber ausgerechnet du!“ Sie kicherte wie ein pubertierendes Gör, aber irgendwie steckte mich ihr Lachen an.
„Ich hatte sogar noch ein Büschel Haare von ihr zwischen den Fingern, als sie mich auf die Straße gesetzt haben!“ Wieder sahen wir uns an und wurden erneut von einem Lachkrampf durchgeschüttelt.
Als wir uns einigermaßen beruhigt hatten, wischte Chloe sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel. „Jetzt aber mal ehrlich, Hannah, du willst nichts dagegen unternehmen?“
Ich zuckte die Achseln. „Dank meines Kontrollverlustes hat Alison mich jetzt in der Hand. Sie haben mir gedroht, mich anzuzeigen, sollte ich das Gebäude des YES-Magazins je wieder betreten. Ich fürchte, die Nummer ist durch.“
„Das tut mir wirklich extrem leid für dich!“ Chloe nahm mich in die Arme und legte ihren Kopf an meiner Schulter ab.
„Was hast du jetzt vor?“, wollte sie wissen, nachdem wir einige Minuten lang schweigend dagesessen und ins Nichts gestarrt hatten.
„Fürs Erste habe ich mir kleine Ziele gesteckt. Zuerst werde ich mich mit Eis vollstopfen, bis mir schlecht ist, nachher in mein Kissen heulen und morgen mache ich mir eventuell darüber Gedanken, wie es weitergeht.“
Chloe boxte mich in die Seite. „Du bist unmöglich, Hannah!“ Sie schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln, ehe sie aufstand und Richtung Küche lief. „Ich hole mir auch einen Löffel.“
Als ich mich am nächsten Morgen aus dem Bett quälte, hantierte Chloe schon lautstark in der Küche. Sie war gerade damit beschäftigt, die Spülmaschine auszuräumen, und gab sich erst gar keine Mühe, es leise zu tun.
„Morgen“, brummte ich und rieb mir den letzten Rest Schlaf aus den Augen. „Konntest du nicht mehr schlafen oder warum fuhrwerkst du Samstagmorgen hier so laut herum?“
Chloe wandte sich erschrocken um. „Mensch Hannah, schleich dich doch nicht so an mich ran! Ich hätte fast den Teller fallengelassen! Es gibt eben Leute, die am Wochenende in die Arbeit müssen, wenn der Big Boss ruft.“
Sie sah irgendwie nicht gut aus. Ihre Bewegungen schienen fahrig und auch um die Nase war sie seltsam blass. „Ist alles in Ordnung?“, wollte ich wissen und musterte sie prüfend, während ich die Kaffeemaschine einschaltete.
„Jaja!“, entgegnete sie schnell und stellte die Tassen in den Schrank, dabei bemerkte ich, dass ihre Hände zitterten.
„Hast du schon was gegessen heute?“, bohrte ich nach. Das hätte ich lieber nicht gefragt, denn Chloe stemmte die Hände in die Hüften und zog eine Braue nach oben. „Sag mal, bist du meine Mutter oder was ist heute los mit dir?“ Sie klang fast ein wenig verärgert.
„Sei nicht gleich so schnippisch – ich mache mir nur Sorgen. Du siehst echt schlecht aus!“, erwiderte ich geradeaus. „Hast du heute schon mal in den Spiegel geschaut?“
Chloe kaute einen Moment lang auf ihrer Unterlippe. „Mir ist ein bisschen schwindelig, seit ich aufgestanden bin, aber ich bekomme bald meine Tage, wahrscheinlich liegt´s daran“, tat sie meine Bedenken ab.
„Ich muss jetzt los.“ Sie warf einen flüchtigen Blick auf ihre Armbanduhr. „Wir haben um neun ein Meeting. Was wirst du heute tun?“ Fragend sah sie zu mir auf.
„Mir schnellstmöglich einen neuen Job besorgen – ich war auf das Geld, das ich bei YES verdient habe, angewiesen.“ Ich schnaubte, denn ich wusste, von dem bisschen, das ich auf der hohen Kante hatte, würde ich gerademal die nächsten drei Monatsmieten aufbringen. In New York zu leben bedeutete auch, für horrende Mieten aufzukommen. Selbst wenn man in Woodside Queens und nicht in Manhattan wohnte.
„Na dann, viel Glück!“ Chloe hauchte mir einen Kuss auf die Wange und rauschte ab. Als die Tür ins Schloss gefallen war, schnappte ich mir meine Kaffeetasse und fuhr den Laptop hoch.
Zwei Stunden später gab ich frustriert auf. Ich saß neben dem Computer, stützte meinen Kopf auf meine Hände und starrte resignierend vor mich hin. So wie es im Moment aussah, musste ich wohl wieder als Freiberuflerin arbeiten. Ich hasste das. Man hatte nie das Gefühl von Sicherheit und musste mit den großen Verlagen um jeden Dollar pro Wort feilschen.
Verdammt! Wütend donnerte ich die Klappe des Laptops zu und stapfte in mein Zimmer. Mein Wäschekorb quoll mit schmutzigen Klamotten über und ich beschloss, dass es an der Zeit war, mir mal wieder saubere Wäsche zu gönnen.
Ich quetschte die Box mit dem Waschmittel seitlich in den Korb und machte mich auf den Weg in den Keller. Bei jedem Schritt geriet ich ins Schwanken, weil mir der schwere, übervolle Korb die komplette Sicht versperrte. Unten angekommen, war ich einfach nur froh, dass ich es heil die Treppe heruntergeschafft hatte.
Als ich die Tür zur Waschküche aufdrückte, stieg mir der Geruch von Weichspüler in die Nase. Das laute Brummen eines Wäschetrockners erfüllte den Raum.
Ich wuchtete meine Sachen auf eine der Maschinen und stopfte alles wahllos in die Trommel. Wäsche nach Farben zu sortieren, empfand ich definitiv als Zeitverschwendung. Gut, das eine Mal war mein pinker Slip mit hineingeraten und hatte meine Bluse schweinchenrosa gefärbt, aber eigentlich mochte ich diese Bluse sowieso nicht und so hatte ich endlich einen Grund, sie aus meinem Kleiderschrank zu verbannen.
Ich hing gerade selbst halb in der Trommel der Waschmaschine, die bereits ächzte, weil ich zum dritten Mal mit aller Gewalt Wäsche nachschob, als mir von hinten jemand auf die Schulter tippte.
Erschrocken fuhr ich zusammen und stieß mit dem Kopf gegen das Gehäuse der Maschine. „Au! Verflucht!“, schimpfte ich und wandte mich ruckartig um.
Ich rieb mir meinen schmerzenden Hinterkopf und starrte in das betretende Gesicht des neuen Nachbarn. Heute trug er keine Schlafanzughose, sondern unverschämt gutsitzende Jeans und ein Holzfällerhemd, bei dem die Ärmel halb hochgekrempelt waren. Auch die Drei-Tage-Bartstoppeln waren aus seinem Gesicht verschwunden und er verströmte den Geruch von Aftershave.
Ich hatte schimpfen und fluchen wollen, doch aus irgendeinem Grund blieben mir die Worte im Hals stecken.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken, aber du hast mich wohl nicht gehört. Könnte ich … ein bisschen Waschmittel von dir haben?“ Er schenkte mir ein entschuldigendes Lächeln, bei dem es in meiner Magengegend zu kribbeln anfing. Was war denn jetzt los? War ich bereits so ausgehungert, dass ein einziger Blick unseres – zugegeben – nicht gerade hässlichen Nachbarn reichte, um mich dazu zu bringen, wie ein Idiot zu stottern?!
„K-klar, hier.“ Ich reichte ihm die Box mit dem Pulver und wandte mich schnell wieder meiner Wäsche zu, weil meine Wangen angefangen hatten zu brennen.
„Ich bin übrigens Taylor“, ließ er mich wissen, als er mir das Waschmittel zurückgab.
„Hannah.“ Ich versuchte es mit einem abgeklärten Lächeln, war mir aber ziemlich sicher, dass ich in diesem Moment alles andere als entspannt wirkte.
„Danke für das Waschmittel, Hannah – ich werde mich revanchieren.“ Er zwinkerte mir kurz zu, entblößte seine weißen Zähne mit einem breiten Lachen und wandte sich zum Gehen.
Ich blieb stumm und regungslos zurück und versuchte, das erneut aufkeimende Kribbeln in meiner Körpermitte zu ignorieren.
Na prima, mein super Gespür für Männer, die mir nicht guttaten, hatte es also mal wieder geschafft – ich fand den neuen Nachbarn heiß.
Seit der Trennung von Dave vor einem halben Jahr hatte ich mich in die Arbeit gestürzt, um alle Gefühle zu betäuben, doch langsam schien sich mein Körper daran zu erinnern, dass es noch andere Dinge außer arbeiten, schlafen und essen gab.
Unwillkürlich fragte ich mich, wie sich Taylors Hände wohl auf meiner Haut anfühlen würden. Ich biss mir auf die Lippen. Okay, bei mir herrschte wohl tatsächlich ein gewisser Notstand. Schnell packte ich meinen Wäschekorb und das Waschmittel und flüchtete aus der Waschküche, in der noch immer der Geruch seines Aftershaves hing.
Als ich im dritten Stock ankam, war mein Verstand glücklicherweise wieder klarer. Dennoch konnte ich mir einen kurzen Seitenblick auf Taylors Wohnungstür nicht verkneifen. Schnell sperrte ich meine Wohnung auf und war froh, dass mein Schlüssel heute ausnahmsweise einen guten Tag hatte.
Kaum hatte ich den Flur betreten, hörte ich gerade noch die Melodie meines Klingeltons verstummen und hechtete in die Küche.
Mist! Ich hatte den Anruf knapp verpasst. Bei genauerem Hinsehen stellte ich fest, dass ich die Nummer, die auf dem Display angezeigt wurde, nicht kannte.
Vielleicht war das ja der Rückruf von Women's World. Ich hatte vorhin dort angerufen, um mich nach einem Job zu erkundigen. Hastig tippte ich auf meinem Smartphone herum und rief zurück.
„St. Timothy Hospital – was kann ich für Sie tun?“, meldete sich eine freundliche Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.
Vor Verwirrung bekam ich zuerst keinen Ton heraus. Wieso hatte mich das Krankenhaus angerufen? Das musste eine Verwechslung sein!
„Hallo? Sind Sie noch dran?“, hakte die Stimme nach, diesmal nicht mehr ganz so freundlich.
Es dauerte noch ein paar Sekunden, bis ich meine Sprache wiedergefunden hatte. „Äh ja … Hannah Reilly hier – Sie … hatten bei mir angerufen?“, stotterte ich voller Unglauben in das Telefon.
„Da muss ich nachsehen – Moment.“ Ich konnte hören, wie sie auf ihrem Computer herumtippte. Dann erklang erneut ihre Stimme. „Ja. Es geht um Miss Chloe Hart. Sie wurde vor zwei Stunden bei uns eingeliefert. Da sie keine Verwandten in der Nähe hat, bestand sie darauf, dass wir Sie informieren, Miss Reilly.“
Ich vergaß einen Moment zu atmen und alles Blut sackte aus meinem Kopf. „W-was ist denn passiert?!“, krächzte ich, als mein Gehirn endlich wieder Sauerstoff bekam.
„Miss Hart hatte einen Zusammenbruch und steht nun unter Beobachtung. Vielleicht können Sie ihr ein paar Sachen vorbeibringen, denn wir werden sie auf jeden Fall noch ein paar Tage hierbehalten, um einige Tests durchzuführen.“ Die Worte drangen wie durch Watte an mein Ohr.
„Ja – ja natürlich. Ich mache mich gleich auf den Weg.“ Ohne mich zu verabschieden, legte ich auf und ließ das Telefon sinken.
Okay, Chloe hatte wirklich ungesund ausgesehen heute Morgen, doch dass sie zusammengebrochen war und nun im Krankenhaus lag, löste bei mir Entsetzen aus.
Ich gab mir einen Ruck und lief wie ferngesteuert in ihr Zimmer, um ein paar Sachen für sie zusammenzupacken.
Dreißig Minuten später fand ich mich auf dem Parkplatz des St. Timothy Hospitals wieder. Als ich die Eingangshalle betrat, fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, mir Chloes Zimmernummer geben zu lassen.
Ich zog den kleinen Rollkoffer zu dem großen, sichelförmigen Empfangstresen und reihte mich in die Schlange ein. Die Zeit, die ich warten musste, kam mir wie eine Ewigkeit vor. Unruhig trat ich von einem Bein aufs andere, bis ich endlich an der Reihe war.
„Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?“ Schwester O´Neal, stand auf dem Namensschild der Dame, die mich begrüßte. Sie sah mit einem freundlichen Lächeln zu mir auf.
„Ich möchte zu Miss Hart – sie wurde heute Vormittag eingeliefert“, erwiderte ich und begann vor Nervosität auf meiner Lippe zu kauen, während Schwester O´Neal die Daten auf ihrem Computer abglich.
„Miss Chloe Hart – Station drei, innere Medizin. Sie liegt in Zimmer dreihundertvierzehn. Der Aufzug befindet sich auf der linken Seite.“ Sie wies mit ihrer Hand in Richtung der vier Fahrstühle und ich nickte. „Vielen Dank.“ Ich verlor keine weitere Zeit und eilte zu den Aufzügen.
Dicht gedrängt stand ich inmitten einer Menschentraube, als endlich das erlösende Ping erklang und ich mich im dritten Stock wiederfand. Schnell quetschte ich mich zwischen meinen Mitfahrern hindurch und atmete seufzend aus.
Es roch nach Desinfektionsmittel und gebleichten Laken. Fast wurde mir übel, als ich hastig den langen Flur entlangschritt.
Zimmer dreihundertvierzehn lag gleich hinter den Aufzügen und als ich meine Hand auf die Klinke legte, begann mein Herz plötzlich viel zu schnell zu pochen.
„Hannah!“ Auf Chloes blassen Lippen breitete sich ein mattes Lächeln aus. Ich musste den Kloß in meinem Hals energisch herunterschlucken, denn sie sah noch schlimmer aus als heute Morgen in der Küche. Unter ihren Augen lag ein bläulicher Schatten und als ich ihre Hand zur Begrüßung kurz drückte, spürte ich die Kälte, die ihre weißen Finger ausstrahlten.
„Mensch Chloe, du hast mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt.“ Ich hatte eigentlich vorwurfsvoll klingen wollen, doch als ich sie so vor mir liegen sah, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Sie wirkte so blass und zerbrechlich, dass ich mich nicht traute, sie in den Arm zu nehmen. Stattdessen stellte ich den Koffer auf den kleinen Tisch am Fenster und zog einen Stuhl neben ihr Bett.
„Ich hab dir ein paar Klamotten und Waschzeug mitgebracht.“
Sie nickte und schenkte mir ein schiefes Lächeln. „Danke.“ Auf einmal füllten sich ihre Augen mit Tränen und sie biss sich auf die spröde Unterlippe.
Sofort griff ich nach ihrem eiskalten Arm und nahm ihn zwischen meine warmen Hände. „Chloe – was … was ist denn los?“
Sie atmete geräuschvoll ein und versuchte die Tränen wegzublinzeln. „Ich … es ist nur … es ist mir gerade einfach alles zu viel.“ Sie wischte sich mit einer Hand über die Augen. „Tut mir leid … ich weiß grade selbst nicht genau, warum ich heule!“
„Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen – was sagen denn die Ärzte? Weiß man schon, was mit dir los ist?“ Ich tätschelte ihren Arm und sah fragend zu ihr auf.
„Sie sagen, meine Blutwerte sind grauenvoll – mir ist während des Meetings plötzlich schlecht geworden und in meinen Ohren hat es angefangen zu summen. Dann bin ich umgekippt und erst im Krankenwagen wieder zu mir gekommen.“ Sie schürzte die Lippen. „Jetzt hänge ich hier fest und sie jagen mir eine Infusion nach der anderen in die Venen.“ Ich blickte auf den Infusionsständer neben ihrem Bett, an dem eine Flasche mit durchsichtiger Flüssigkeit hing, die langsam aber stetig in den Schlauch tropfte.
„Ich weiß, du wirst das jetzt nicht hören wollen, aber ich bin schon länger der Meinung, dass deine Mischung aus Diätpillen und fettfreien Lebensmitteln nicht gerade förderlich für deine Gesundheit ist.“
Chloe schnaubte bei meinen Worten. „Du hörst dich an wie der Assistenzarzt, der mir meine Blutwerte vorgelesen hat. Er denkt, das könnte vielleicht von dem neuen Mittel kommen, das ich seit drei Wochen nehme – dabei soll das doch gar keine Nebenwirkungen haben!“ Sie schüttelte energisch den Kopf und ich horchte auf.
„Was für ein neues Mittel?“ Unwillkürlich zogen sich meine Brauen zusammen.
Offenbar wollte Chloe nicht so gerne damit herausrücken, denn sie wand sich kurz unter meinem Blick. „NoFat von … Candice Pharma“, erwiderte sie zögernd, ohne mich direkt anzusehen. Wie bitte?!
„Was … ich verstehe nicht?! Wie kommst du denn an das Zeug? Das ist doch noch gar nicht auf dem Markt verfügbar!“ Meine Finger krallten sich in ihren Arm. Offenbar ein wenig zu fest, denn sie zog hektisch ihre Hand zurück und strich sich verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr.
„Na ja … als du mir erzählt hast, um was es sich bei deiner Recherche für den Artikel handelt, bin ich neugierig geworden. Ich meine – keinerlei Nebenwirkungen, das klingt doch toll! Dann hab´ ich auf der Website von Candice Pharma gelesen, dass sie Testpersonen suchen und …“ Sie verstummte, doch ich konnte den Satz für sie beenden.
„… und du hast dich dafür beworben.“ Ich schüttelte den Kopf. „In unserer Küche bei deinem anderen Zeug habe ich die Schachtel aber nie stehen sehen.“ Argwöhnisch zog ich eine Braue nach oben.
Chloe schluckte und wies mit dem Kinn auf ihre Handtasche. „Weil ich sie vor dir versteckt habe.“ Betroffen senkte sie die Lider und starrte auf die Bettdecke.
Ich kam mir vor wie in einem schlechten Film. Sofort sprang ich auf und begann in Chloes Tasche zu wühlen. Schnell wurde ich fündig, denn das Layout der Verpackung war mir nur zu gut bekannt.
Kopfschüttelnd stand ich vor Chloe, die mich ansah wie ein verängstigtes Reh. „Oh Chloe – warum tust du dir und deinem Körper das nur an?!“ Meine Stimme bebte. Ich war wütend, dass sie es vor mir verheimlicht hatte, und ich war auch wütend auf mich, weil ich nicht aufmerksamer gewesen war. „Nur weil sie sagen, es hätte keine Nebenwirkungen, heißt das doch nicht, dass sie es gänzlich ausschließen können. Darum suchen sie ja Testpersonen – stell dir vor, was alles hätte passieren können!“ Ich wedelte mit der rosa Packung vor Chloes Nase herum. „Du könntest jetzt ebenso gut tot sein!“
„Hast du eigentlich die Spur einer Ahnung, wie es in mir aussieht?!“, platzte es auf einmal aus ihr heraus. Ihre Stimme wurde schrill. „Glaubst du, dass ich nicht weiß, wie dumm das ist, was ich mache? Aber ich kann nicht damit aufhören – überall sehe ich nur andere Frauen mit noch dünneren Körpern. Ständig habe ich den Zwang, mich mit ihnen zu vergleichen. Und dann bist da auch noch du!“ Überrascht sah ich sie an. Was hatte ich damit zu tun? „Du bist den lieben langen Tag am essen – ein Steak hier, eine Tafel Schokolade da, Pommes und so weiter – und dabei nimmst du kein einziges beschissenes Gramm zu!“ Chloe war nun wirklich in Rage, ihre bleichen Lippen zitterten und sie hatte ihre Hände so fest zu Fäusten geballt, dass ihre Fingerknöchel weiß unter der Haut hervortraten. Sie keuchte und Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. „Ich kann das nicht länger, ich kann nicht länger so tun, als ob mich das nicht belastet“, murmelte sie und schlug die Hände vor ihr Gesicht.
„Oh Chloe!“ Auf einmal kam ich mir total schlecht vor. Ich maßte mir tatsächlich an, ihr einen Vortrag zu halten. Stattdessen hätte sie einfach meine Hilfe gebraucht, doch ich hatte ihr Verhalten die ganze Zeit über so hingenommen. Was war ich denn für eine miese Freundin?!
Ich ließ die Arme sinken, weil ich sah, dass meine beste Freundin wie ein Häufchen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Liv Hoffmann
Bildmaterialien: Coverfoto: high heels and handbeg © Coka - Fotolia.com
Lektorat: Sandra Nyklasz
Tag der Veröffentlichung: 30.07.2015
ISBN: 978-3-7396-0756-6
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