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Titel

 

 

Twinflames

~Zwillingsflammen~

 

 

 

 

 

 

Stefania B. 

Vorwort

Vorwort

 

 

Die  Personen in diesem Roman sind frei erfunden und die Geschichte beruht auf reiner Fiktion. 

 

Widmung

Widmung

 

 

 

 

Ich sehe dich vor mir, wie du mich ansiehst aus deinen schönen dunklen Augen. Du schaust schüchtern zur Seite, weil du dein Herz verbergen willst. Und dann lächelst du und diese wunderschönen kleinen Fältchen um die Augen kommen zum Vorschein. Wie ich sie liebe diese Fältchen, diese Schüchternheit, die ich dir so gerne nehmen würde. Dieses freche, verschmitzte Lächeln, das mein Herz so sehr erwärmt.

Ich glaube, du weißt gar nicht, wie wunderschön du für mich bist. Du bist perfekt. 

Dann siehst du mich wieder an und nun bin ich es, die zur Seite sieht, weil sie ihr Herz verbergen will, weil sie weiß, dass unsere Herzen im gleichen Takt schlagen, weil es schmerzt und weil sie weiß, dass es niemals sein wird.

Niemals? 

 

Für einen geliebten Menschen.

Danke, dass ich dich traf. 

 

Kapitel 1

 

1. Kapitel

 

 

1. August 2014

Bukarest, Rumänien

Flughafen Otopeni

 

Romy

 

 

Der Urlaub war eigentlich schon gelaufen. Mein Gepäck war nicht angekommen! Über eine Stunde hatte ich zusammen mit meiner besten Freundin Adriana am Ausgabeband gestanden und verzweifelt gehofft, dass mein Koffer endlich angerollt kam. Doch es war vergeblich. Warum nur hatte ich mich zu diesem Urlaub in Rumänien überreden lassen? Wer bitte entschied sich denn freiwillig dafür, hierher zu kommen? Adriana war gebürtige Rumänin und sie lag mir schon seit Jahren in den Ohren, doch endlich einmal mit in ihr Heimatland zu kommen. Transsylvanien war das Ziel unserer Reise - genaugenommen die Stadt Kronstadt. Adriana hatte dort Verwandte, bei denen wir wohnen würden.

Nun ja, es hatte für mich interessant geklungen. Transsylvanien, die Karpaten, Schloss Dracula besichtigen... Warum eigentlich nicht? Zumal ich alles liebte, was mit Vampiren zu tun hatte. Und ein Urlaub in Transsylvanien hatte sich für mich sehr aufregend angehört. Und es war immerhin der erste gemeinsame Urlaub, den ich zusammen mit Adriana verbrachte. Ich liebte meine beste Freundin über alles - auch wenn sie oftmals ein wenig anstrengend und überdreht war. Das lag eben an ihrem rumänischen Temperament. Ich freute mich auf die gemeinsame Zeit mit ihr, zumal ich vor einigen Jahren weggezogen war und wir uns nicht mehr sehr oft sahen. Aber dass ausgerechnet jetzt mein Koffer nicht angekommen war, wurmte mich ungemein!

"Verdammt nochmal! Da ist alles drin, was ich brauche! Was mache ich denn jetzt?", fragte ich an Adriana gewandt. "Wir müssen den Mietwagen abholen. Immerhin liegen noch rund dreihundert Kilometer Fahrtweg vor uns bis Bras.....wie hieß es nochmal?"

"Brasov", erwiderte Adriana ein wenig abwesend und blickte sich suchend in der Flughafenhalle um. Zum Glück war der Flughafen von Otopeni nicht ganz so überfüllt wie der in Frankfurt am Main. Vor gut drei Stunden waren wir noch durch Selbigen geirrt, auf der Suche nach dem Schalter, um unser Gepäck aufzugeben.

"Da!", rief Adriana und deutete auf eine Bürotür. Ich konnte nicht verstehen, was darauf stand. Es war rumänisch.

"Was ist da?", wollte ich wissen.

"Dort kann man verlorenes Gepäck melden. Steht außerdem auch in Englisch darunter. Komm, Romy!" "

Ich folgte Adriana, die ihren Koffer hinter sich herzog.

Die Sache mit meinem Gepäck hatte sich schnell geklärt. Die Dame am Schalter konnte mit Hilfe der Flugnummer herausfinden, dass mein Koffer in Frankfurt stehen geblieben war, als der Frachtraum nochmals geleert werden musste, da zwei Passagiere den Flug nicht geschafft hatten. Meine Sachen würden dann mit dem nächsten Flug nach Bukarest und bis nach Brasov vor die Haustür gebracht werden. Es könne allerdings bis zu drei Tage dauern. Welch ein Glück, dass ich der englischen Sprache mächtig war - so musste Adriana nicht dauernd den Dolmetscher für mich spielen. Nun, das bedeutete, dass ich morgen dann wohl erst einmal Shoppen gehen musste. Aber zumindest würde ich meinen Koffer bis vor die Haustür geliefert bekommen. Und Shoppen war ja auch nicht unbedingt das Schlechteste - zumal Adriana mir erzählt hatte, dass man hier in Rumänien Klamotten zu Spottpreisen bekam. Da hob sich meine Laune doch schon wieder etwas.

Adriana und ich verabschiedeten uns von der netten Dame am Schalter und machten uns auf den Weg, um unseren Mietwagen abzuholen. Eine halbe Stunde später saßen wir dann endlich in unserem gemieteten Kleinwagen, der erfreulicherweise über ein Navigationssystem verfügte.

"Wie heißt die Straße nochmal??", fragte ich, als ich mich auf dem Fahrersitz niedergelassen hatte und dabei war, das Navi einzustellen.

"Strada Castelului", erwiderte Adi - wie ich sie ab und an gerne nannte. Sie selbst hatte keinen Führerschein, daher musste ich fahren. Und das auch noch in einem fremden Land. Das Witzige war eigentlich, dass Adriana früher einmal meine Schwägerin gewesen war. Ja, genau. Sie war vor zig Jahren mit meinem Bruder verheiratet gewesen, der - genau wie Adi – drei Jahre älter als ich war. Nun, mit den beiden funktionierte es nicht so gut und drei Jahre später standen sie vor dem Scheidungsrichter. Dafür klappte es zwischen ihr und mir umso besser. Wir waren quasi ein Herz und eine Seele gewesen, seitdem mein Bruder mir Adriana zum ersten Mal vorgestellt hatte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Leider war ich vor sieben Jahren mit meinem damaligen Freund nach Duisburg gezogen, der nun seit zwei Jahren passé war, weil er mich mit einer meiner engsten Freundinnen betrogen hatte. Wobei "betrogen" noch die Untertreibung des Jahrtausends war. Er hatte sie flachgelegt, geschwängert und nach einem Jahr in etwa geheiratet. Nun lebten die beiden - ganz die glückliche Kleinfamilie mimend - in ihrem eigenen Haus. Zum Kotzen.Was ich davon gehalten hatte, darauf brauche ich wohl nicht einzugehen. Egal - mir ging es sowieso viel besser als Single. Obwohl mein Bruder da immer anderer Meinung war, was mich betraf. Mit achtundzwanzig Jahren sollte ich mir doch nun endlich wieder einen Mann suchen, Kinder bekommen und all das. Schließlich wurde ich bald dreißig. Ich sah das allerdings anders. Ich genoss seit zwei Jahren meine Freiheit, die ich davor sechs Jahre lang an eine Beziehung verschwendet hatte, die mir nicht gut getan hatte.

 

 

Ich startete den Motor und wir fuhren vom Parkplatz des Mietwagenhändlers. Auf die Stimme des Navigationssystems hörend, schlug ich die Richtung ein, die es vorgab. Ich folgte den Schildern in Richtung Ploiesti. Ich musste zugeben, dass Bukarest nun vielleicht nicht die schönste Stadt der Welt war - zumindest nicht das Gebiet um den Flughafen herum. Doch Adriana zufolge, sollte Siebenbürgen und die Gegend um Brasov ganz wunderbar sein. Ich war ziemlich gespannt.

Adriana sollte Recht behalten. Mir blieb der Mund offen stehen, als wir die Orte Breaza, Sinaia, Busteni und Azuga passierten. Die zuvor flache Landschaft wurde mit einem Mal bergig und die Vor-Karpaten erhoben sich majestätisch in den Himmel. Als ich diese Berge sah, überkam mich plötzlich ein Gefühl der Sehnsucht und der Vertrautheit. Es kam mir beinahe so vor, als sei ich bereits einmal hier gewesen. Doch das konnte unmöglich sein, denn ich war zum allerersten Mal in meinem Leben in Rumänien.

"Von hier sind es in etwa noch sechsundzwanzig Kilometer", sagte Adi, als wir den Ort Predeal erreichten.

"Aha...", erwiderte ich, aufs Fahren konzentriert. Die Straßen hier waren wirklich kurvig, jedoch sehr gut ausgebaut, wie ich fand. Wieso hatte ich eigentlich immer ein Bild von huckeligen Straßen mit kutschenfahrenden Menschen im Kopf gehabt? Vielleicht war es doch an der Zeit, einige meiner Vorurteile über den Haufen zu werfen.

"Freust du dich nicht, Romy?", fragte Adriana besorgt.

"Doch, ich freue mich. Ich bin nur ein wenig genervt wegen des Koffers"

"Ach, mach dir keine Sorgen. Spätestens am Montag hast du deine Sachen wieder"

Ich nickte.

"Bei wem genau werden wir nun nochmal hausen während des Urlaubs?", wollte ich wissen.

"Sie ist eine entfernte Verwandte von mir. So etwas wie meine Großtante. Sie wohnt dort zusammen mit ihren beiden Söhnen", erwiderte Adriana. "Und ich war lange nicht hier" Sie seufzte. "Ich freue mich so sehr, sie wieder zu sehen"

 

 

Die Straße, in der wir wohnen sollten, lag nicht weit vom Zentrum der Stadt entfernt.

"Du meine Güte! Wo soll ich denn hier parken?", meinte ich und sah mich nach einem freien Parkplatz um. In dieser Straße parkte Auto an Auto - genau wie die Häuser, die Reihe an Reihe gebaut waren. Schließlich fand ich doch eine freie Parklücke und stellte das Auto dort ab. Nachdem wir unser Gepäck - naja, eher mehr Adriana´s Gepäck - aus dem Kofferraum geholt hatten, folgte ich ihr die Straße entlang zu unserem Domizil für diesen Urlaub.

Die frische Bergluft stieg mir in die Nase – und damit wieder jenes Gefühl der Vertrautheit, das Gefühl der Sehnsucht, das sich mein Herz seltsamerweise zusammenziehen ließ. Bilder flackerten vor meinem inneren Auge auf, die ich nicht wirklich zuordnen konnte. Sie waren so verworren und durcheinander, dass mein Verstand sie nicht erfassen konnte. Es fühlte sich beinahe an wie ein Dejá-Vu....Dieses Gefühl, das einen manchmal überkommt und man sich in diesem einen Moment sicher ist, dass man diese Situation schon einmal erlebt hat – und dann überlegt man im nächsten Augenblick krampfhaft, ob das Erlebte wirklich schon einmal passiert ist....

Ich war schon einmal hier.....Nein, das kann nicht sein. Ich bin zum ersten Mal hier. Das weiß ich genau!

"Mmmmmhh...", entfuhr es mir unwillkürlich und ich schloss dabei die Augen.

"Was ist los?", fragte Adi und warf mir einen Blick über ihre Schulter zu.

"Die Luft hier ist einzigartig..." Ich nahm einen tiefen Atemzug.

"Das ist die gute Bergluft der Karpaten", meinte sie zwinkernd. Kurze Zeit später waren wir vor einem großen hölzernen Tor angekommen – und wieder traf mich dieses Dejá-Vu-Gefühl mit voller Wucht. Unvorbereitet und wie ein heftiger Schlag gegen meinen Kopf.

"Wir sind da", sagte Adriana und drückte die Klinke hinunter.

Dieses Gefühl intensivierte sich nur noch mehr, als wir durch das Tor traten.

Dahinter lag ein großer Hof aus Kopfsteinpflaster, in dem sich mehrere kleinere Wohnhäuser befanden. Ich blickte mich um. Vor einem der Häuser stand eine grüne, überdachte hölzerne Bank – und plötzlich stiegen wieder eigenartige Bilder vor meinem inneren Auge auf. Diesmal waren sie klar und deutlich zu erkennen – und sie zogen mich in sich hinein wie ein mächtiger, tosender Sturm....

 

 

 

Seine tiefbraunen, fast schwarzen Augen sahen mich an, als er die Hand auf meine Wange legte.

Te iubesc...“, flüsterte er mit sanfter Stimme und seine Lippen senken sich auf meine. Ich schloss die Augen und sog seinen süßlich, herben Duft ein. Er hatte mir gesagt, dass er mich liebte. Und ich liebte ihn. Nur ihn...Niemanden sonst. Mein Herz schlug wie wild, als sich meine Finger in seinen dichten, schwarzen Haaren vergruben....

 

 

„Hey, Romina! Wieso starrst du die ganze Zeit die Bank an, als wäre sie etwas Besonderes?“, riss mich plötzlich Adi´s belustigte Stimme aus meinen Gedanken. Ich erschrak innerlich und sah meine beste Freundin vor mir, die mich amüsiert musterte.

„W-Was sagst du?“, fragte ich sie verwirrt. Ich brauchte eine Weile, um mich zurecht zu finden. Was hatte ich da gerade gesehen? Hatte ich einen Tagtraum gehabt? Meine Wangen glühten. Ich war mit Sicherheit rot wie eine Tomate im Gesicht. Adriana grinste und machte eine nickende Kopfbewegung in Richtung einer langen Steintreppe, die zu einer weißen hölzernen Doppeltür hinaufführte.

„Egal – komm schon. Wir werden erwartet“, erwiderte sie freudig. Ich nickte und folgte ihr. Während ich hinter ihr die Stufen hinauf trottete, warf ich nochmal einen Blick über meine Schulter auf die grüne Holzbank im Hof. Das Ganze hier war irgendwie unheimlich.

Das unsägliche Gefühl, dass mir hier alles bekannt vorkam, verstärkte sich nur noch mehr als wir die Treppe hinauf zu der weißen Doppeltür stiegen. Dieses Haus.....ich hatte es schon einmal gesehen. Genauso wie es hier stand und mit allen Details:

Die Treppe, die sich oben zu einem Balkon verbreiterte, das Fenster neben der Haustür, die Blumenkästen darauf. Wie konnte so etwas möglich sein?

Adriana betätigte die kleine Klingel und kurze Zeit später erschien eine kleine Frau, die etwa um die Fünfzig Jahre alt war, und begrüßte meine beste Freundin in aller Überschwänglichkeit.

„Adriana!“

Mătușă Flori!“

Ich erfuhr später von Adi, dass Mătușă das rumänische Wort für Tante war. Die beiden fielen sich um den Hals, drückten sich lange und gaben sich Küsschen links und rechts auf beide Wangen. Ich stand daneben und beobachte die beiden belustigt. Gleich drauf drehte sich Adi´s Tante Flori in Richtung Hausflur und rief etwas auf rumänisch. Kurz darauf erschien ein junger Mann, ungefähr Anfang Zwanzig, hinter der Tante und begrüßte meine beste Freundin ebenso ausgelassen. Nach einer Weile wandten sie sich mir zu und begrüßten auch mich. Adriana und ihre Verwandten sprachen die ganze Zeit über rumänisch und ich verstand zu meinem Leidwesen leider gar kein Wort. Ich stand leicht grinsend da, nickte hier und da. Hin und wieder übersetzte mir Adi, was sie gesagt hatten.

„Ich hab dich ihnen vorgestellt und gesagt, dass du meine beste Freundin bist. Das sind meine Großtante Flori und einer meiner beiden Großcousins: Alexandru, aber wir nennen ihn alle Alex. Er hat noch einen Zwillingsbruder: Corvin. Aber er ist heute Abend nicht hier. Er ist beim Militär. Er hat ab morgen frei und kommt nach Hause“, sagte Adi, als wir das Haus betreten, im Wohnzimmer Platz genommen und den von ihrer Tante Flori selbst aufgesetzten Pflaumenschnaps – in Rumänien Palinca genannt – probierten. Auf dem Wohnzimmertisch befanden sich auch allerhand Leckereien, die Flori, die eigentlich Floriana hieß, selbst zubereitet hatte:

Selbstgemachter Auberginenaufstrich mit Weißbrot und die in Rumänien sehr beliebten Krautwickel, die Sarmale genannt wurden. Diese aß man mit Brot und Schmand. Es war wirklich sehr lecker und ich aß mit großem Appetit. Obwohl ich noch immer ein wenig erschlagen von den ganzen Eindrücken des heutigen Tages war. Als wir das Haus betreten und durch den Hausflur in die angrenzende kleine Küche und das dahinterliegende Wohnzimmer getreten waren, hatte mich wieder dieses nagende Gefühl überfallen, dass mir hier alles so vertraut war. Es war beinahe, als kannte ich jedes Detail dieses Hauses und wusste bereits, was sich in jedem der einzelnen Zimmer befand, ohne zuvor schon einmal hier gewesen zu sein.

„Das hier ist Corvin, Alex´ Zwillingsbruder“, sagte Adriana und hielt mir ein eingerahmtes Foto unter die Nase. Ich nahm es und erkannte darauf einen dunkelhaarigen jungen Mann, der eine dunkelblaue Militäruniform trug. Ich stellte fest, dass Alex und Corvin zweieiige Zwillinge waren. Zwar waren beide Jungs dunkelhaarig, doch ihre Gesichtszüge waren vollkommen unterschiedlich. Corvin´s Augen waren sanft und dunkelbraun – fast schwarz. Ich konnte meinen Blick nicht von diesen Augen auf dem Bild abwenden. Es war wie ein Zwang hinzusehen. Diese Augen.....woher kannte ich diese Augen? Diese Gesichtszüge.....das schwarze dichte Haar....die etwas dunklere Haut. Die grüne Holzbank......ein junges verliebtes Paar....

Te iubesc....

Die Worte des jungen Mannes aus meinem „Tagtraum“ zuvor stiegen mir ins Bewusstsein – und mit einem Mal wusste ich, dass er dieser Mann war. Aber wie...??

„Hmmm....ich weiß, dass er hübsch ist, Romy. Aber es wäre lieb, wenn du das Bild mal wieder loslassen könntest“, feixte Adi neben mir und zupfte an dem Bilderrahmen. Ich schrak aus meinen Gedanken auf.

„Ja, entschuldige bitte...“, meinte ich und rieb mir die Stirn. Irgendwie bekam ich Kopfschmerzen. Ich war mit einem Mal so erschlagen und müde von der Reise. Oder es lag an dem Palinca, der mir durch die Adern strömte. Adriana stupste mich leicht an.

„Alles ok mit dir, Herzchen?“

Ich sah sie an und nickte. Was hätte ich ihr auch sagen sollen? Ich verstand ja selbst nicht, was hier mit mir passierte.

„Ja, alles klar. Ich bin nur furchtbar müde von der Reise“

Alexandru gesellte sich in diesem Moment zu uns ins Wohnzimmer und ließ sich auf dem Sofa nieder. Er sprach glücklicherweise Englisch, sodass ich mich wunderbar mit ihm verständigen konnte. Alex war sehr höflich und zuvorkommend. Etwas, wovon sich einige deutsche junge Männer in seinem Alter getrost eine Scheibe abschneiden konnten!

„Alles in Ordnung? Braucht ihr noch irgendetwas?“, fragte er. „Möchtet ihr noch etwas essen?“

„Nein, vielen Dank“, erwiderte ich grinsend und rieb mir meinen Bauch. Adi verneinte ebenfalls.

Alex und Floriana begannen damit, den Tisch abzuräumen, als ich Alex fragte, ob wir ihnen helfen sollten.

„Um Himmels willen, Nein! Ihr seid unsere Gäste und nicht zum Arbeiten hierher gekommen!“, meinte er zwinkernd und verschwand in die Küche, gefolgt von Tante Flori.

 

 

„Wie gefällt´s dir hier bis jetzt, Romy?“, fragte Adi, als wir nach draußen zu der grünen Bank gegangen waren, um eine Zigarette zu rauchen. Zu meiner Erleichterung stellten sich dieses Mal keine verworrenen Bilder ein, die mich aus der Fassung brachten und ich konnte die Zigarette in vollen Zügen genießen.

Kurze Zeit später erschien auch Alexandru.

„Ja, es ist wirlich nett hier“, gab ich zu. Trotzdem brannte es mir auf der Seele, Adi von meinen seltsamen Gefühlen zu erzählen. „Und ich.....Adriana....Ich weiß auch nicht. Ich hab so ein Gefühl, als wäre ich schon mal hier gewesen“

„Ah!“, meinte sie lachend. „Du fühlst dich gleich wie Zuhause, was?“

„So ungefähr...“, erwiderte ich und runzelte die Stirn.

„Tante Flori und die Jungs sind wirklich nett. Warte ab bis du Corvin kennenlernst. Und morgen Abend gehen wir am Besten aus in die Stadt. Du wirst sehen: Das Brasover Nachtleben wird dir gefallen“

Da fiel mir wieder ein, dass ich morgen unbedingt einkaufen gehen musste. Und verdammt!

Ich hatte nicht einmal eine Zahnbürste dabei, geschweige denn irgendwelche Schlafklamotten. Ich fühlte mich in meinen durchgeschwitzten Kleidern, die ich den ganzen Tag schon getragen hatte, langsam schäbig.

„Wir sollten morgen am Besten erstmal einkaufen gehen. Ich werde bekloppt, wenn ich noch einen oder zwei Tage länger in diesen Klamotten verbringen muss“, meinte ich augenrollend. „Ich habe noch nicht mal ein T-Shirt, in dem ich schlafen kann“

Adriana winkte ab.

„Ach, das kriegen wir hin. Zur Not ziehst du etwas von mir an – oder vielleicht hat Tante Flori noch ein Nachthemd über“, erwiderte sie zwinkernd und grinste spitzbübisch. Glücklicherweise hatte Adriana ein T-shirt dabei, das mir passte und eine zweite Zahnbürste gleich dazu. Auf sie war eben Verlass.

Später am Abend saßen wir noch gemütlich mit Alexandru im Wohnzimmer und tranken ein Bier miteinander. Er erzählte uns, dass er eine Freundin namens Milena hatte und sie waren quasi schon von Sandkastenzeiten an befreundet und zusammen zur Schule gegangen. Erst vor zwei Jahren hatten sie als Paar zusammengefunden. Alex war angehender Medizinstudent und Milena wollte Kunst studieren. Wir sollten seine Freundin morgen Abend beim Ausgehen kennenlernen.

Ich war schon sehr neugierig auf sie, denn auch ich war ein sehr kunstinteressierter Mensch. Schon von klein auf an, hatte ich es geliebt zu zeichnen, zu malen, mir Geschichten auszudenken und diese niederzuschreiben. Auch das Tanzen zählte zu meinen größten Hobbys – allerdings kein langweiliger Standardtanz. Ich hatte mich dem Orientalischen Tanz verschrieben und es wurde zu einer meiner größten Leidenschaften. Öfter hatte ich scherzhaft zu anderen Leuten gesagt, dass das wohl an meinen Zigeunergenen läge – welche ich mit Sicherheit nicht hatte, obwohl ich rein vom Äußeren her schon in das Schema gepasst hätte. Meine dichten, schwarzen, langen Haare hatte ich von meiner Mutter geerbt, allerdings die helle Haut meines Vaters. Woher die grünen Augen gekommen waren, vermochte ich nicht zu sagen, denn beide meiner Elternteile hatte braune Augen. Nur mein Bruder und ich waren mit den seltenen grünen Augen gesegnet worden. Alexandru hatte vorhin verlauten lassen, dass er mich zunächst für eine Rumänin gehalten hatte, als er mich zum ersten Mal sah. Doch ich versicherte ihm, dass ich eine Deutsche war. Obwohl ich schon immer das Gefühl gehabt hatte, dass sich eventuell in dem Stammbaum meiner Familie etwas Südländisches befand. Denn alle Verwandten mütterlicherseits wiesen schwarze Haare und etwas dunklere Haut auf. Natürlich wusste ich von Adriana, dass die Zigeuner hier in Rumänien sehr schlecht angesehene Leute waren. Trotzdem liebte ich diese romantisierte Vorstellung eines tanzenden und singenden Volkes, die frei wie Vögel waren und einfach da hin gingen, wo es ihnen gefiel.

 

 

 

Adriana und ihr Großcousin waren nach einer Weile wieder in einen rumänischen Redeschwall verfallen, von dem sie wohl so schnell nichts abbringen würde. Meine Gedanken schweiften zu Corvins Foto ab und ich spürte, wie mir innerlich heiß wurde. Er war wirklich ein junger hübscher Mann – und er kam mir so vertraut vor. Doch woher nur? Das war einfach unmöglich, dass ich ihn schon einmal getroffen hatte. Morgen würde ich ihn dann wohl treffen – und ich musste zugeben, dass ich sehr gespannt auf ihn war. Wieso wusste ich auch nicht genau. Doch das sollte sich mir noch offenbaren....

„Ach du liebe Güte!“, bemerkte Adriana gähnend. „Fast drei Uhr morgens! Leute, ich gehe ins Bett....“

„Ich komme mit“, erwiderte ich, stimmte mit in ihr Gähnen ein und erhob mich vom Sofa.

„Schlaft gut. Somn usor!“, meinte Alexandru.

Ich blickte Adi verwirrt an.

„Was hat er zuletzt gesagt??“

„Somn usor – das bedeutet: Sanften Schlaf oder Leichten Schlaf“, antwortete meine beste Freundin zwinkernd. Dann nahm sie mich an der Hand. „Und jetzt komm!“

Adi und ich betraten das Gästeschlafzimmer, in dem sich ein großes Doppelbett befand. Es war zwar alt, sah aber sehr gemütlich aus und ich spürte förmlich, wie jede Faser meines Körpers danach verlangte, sich dort nieder zu lassen. Ich schlüpfte aus meinen Klamotten und zog mir das weite, schwarze T-Shirt über, das Adi mir gegeben hatte. Sie hatte sich mittlerweile schon unter die Decken gekuschelt und zur Seite gerollt. Ich legte mich ebenfalls unter die Bettdecke und drehte ihr den Rücken zu. Ich spürte, wie sie sich an mich kuschelte.

„Es ist so schön, dass du mit mir hier bist, Romy“ Dann drückte sie mir einen Kuss auf die Wange. „Schlaf gut, mein Schatz“

Ich schmunzelte.

„Schlaf gut, Adi“

Kapitel 2

 

2. Kapitel

 

Romy

 

Meine Finger vergruben sich in seine Haare und er zog mich sanft an sich. Seine zarten Lippen liebkosten meine. Um uns herum der süße Duft des Sommers und die leichte Brise strich über unsere Körper. Ich liebte diesen Mann, ich wusste es ganz genau. Wir gehörten zusammen und nichts würde uns je trennen.

Du kannst nicht mit ihr zusammen sein! Du bringst Schande über uns!“

Die energische Stimme einer Frau erklang und ich spürte zwei Hände, die mich an den Schultern packten und von ihm wegrissen....

 

 

„Aufwachen, Romy!“

Jemand rüttelte mich an den Schultern und ich realisierte, dass es Adriana war. Ich schlug die Augen auf und mein Herz pochte wie wild. Für einen Moment wusste ich nicht, wo ich war. Doch dann erinnerte ich mich, dass ich zusammen mit meiner besten Freundin in Rumänien im Urlaub war. Ich stieß die Luft aus. Was für ein Traum!

„Hey, Schlafmütze!“, erklang erneut Adis Stimme. Grummelnd drehte ich mich zu ihr um.

„Ja, ich bin ja schon wach...“

„Komm. Wir wollen doch Shoppen gehen!“

Ja, richtig. Ich musste mir Klamotten kaufen gehen, weil mein Koffer noch nicht angekommen war. Und wir würden heute Abend in die Stadt ausgehen. Und Corvin würde nach Hause kommen... Ich hatte von ihm geträumt, das war mir bewusst. Mir war noch immer nicht klar, was all das zu bedeuten hatte. Vermutlich hatte sich mein Unterbewusstsein etwas zusammengereimt und all das hatte sich in dem Traum entladen. Aber warum hatte ich gestern eine Art Vision gehabt, als wir vor der grünen Bank standen? Ich konnte es mir nicht erklären. Es war mir alles noch immer suspekt.

Ich kroch unter der Bettdecke hervor und griff nach der schwarzen Jeans, die ich gestern über einen Stuhl gehängt hatte. Gott, ich würde so froh sein, wenn ich endlich frische Kleidung hatte!

Wenig später betrat ich mit Adi die kleine Küche, in der Alexandru bereits dabei war, Kaffee zu kochen. In einer Pfanne brutzelten Spiegeleier.

„Guten Morgen, ihr Zwei“, begrüßte er uns freudig. „Setzt euch doch schon mal ins Wohnzimmer an den Tisch. Es gibt gleich Frühstück“

Ich sog den Duft von Kaffee und Spiegeleiern tief ein. Ein Grummeln machte sich in meiner Magengegend breit. Ich starb fast vor Hunger.

„Wann kommt Corvin?“, fragte Adriana, als wir am Tisch saßen und frühstückten.

„Heute Nachmittag“, erwiderte Alex und nahm einen Schluck Kaffee. Mir fiel auf, dass ich Flori heute Morgen noch gar nicht gesehen hatte.

„Wo ist Tante Flori?“, fragte ich.

„Sie ist auf der Arbeit“, sagte Alex. „Sie ist Tierärztin und hat eine eigene Praxis“

Ich fragte mich, ob die beiden denn auch einen Vater hatten. Es schien, dass nur Flori und die beiden Jungs hier wohnten.

„Wo ist euer Vater?“

Alex verzog das Gesicht und ich schrak unwillkürlich zusammen. Hoffentlich hatte ich kein sensibles Thema angesprochen!

Oh Mann, Romy! Du Künstlerin des ins-Fettnäpfchen-Tretens!

„Corvin und ich sind ohne Vater aufgewachsen. Wir kennen ihn nicht“

„Oh..“, machte ich nur.

„Aber wir hatten nie das Gefühl, dass uns etwas fehlt“, fügte er schmunzelnd hinzu. „Mama, Corvin und ich – das ist unsere Familie. Und unsere Großmutter. Leider ist sie vor einem Jahr gestorben...“

Da klingelte es an der Tür.

„Oh, das muss Milena sein“, meinte Alex und erhob sich von seinem Platz, um kurz darauf aus dem Wohnzimmer zu verschwinden. Ich wandte mich an Adriana.

„Wollte Milena nicht erst heute Abend kommen?“

Adi zuckte die Achseln.

Kurze Zeit später erschien Alex mit einem zierlichen Mädchen, das ebenfalls um die Zwanzig Jahre alt war, im Wohnzimmer. Sie hatte wunderschöne, dichte, hellbraune Locken, die ihr locker über die Schultern fielen und ihr bis zum Hintern reichten. Besonders fielen mir ihre großen, dunklen Augen und die langen, fein geschwungenen Wimpern auf. Ihre kleine Stupsnase verlieh ihrem Gesicht etwas Puppenhaftes.

„Hi, ich bin Milena“, sagte sie lächelnd. Irgendwie mochte ich sie sofort und erwiderte ihr Lächeln.

„Ich bin Romina. Aber alle nennen mich Romy“

„Und ich bin Adriana“, meldete sich meine beste Freundin zu Wort. Milena setzte sich zu uns an den Tisch. Adriana verfiel sogleich in einen rumänischen Redeschwall mit ihr. Die beiden redeten miteinander, als kannten sie sich schon seit Ewigkeiten. Ich sah belustigt zwischen den beiden hin und her. Alex fiel mein amüsiertes Grinsen auf und zuckte die Schultern. Dann wandte er sich an die beiden.

„Hey, wie wärs, wenn ihr Englisch redet, damit Romy euch auch verstehen kann?“

„Oh Sorry!“, meinte Milena. „Ja, natürlich!“

„Milena sagt, sie kommt mit uns in die Stadt, wenn wir einkaufen gehen“, sagte Adriana an mich gewandt. „Sie kennt sich Bestens aus und weiß, wo wir die schönsten Klamotten finden können“

 

 

 

Nach dem Frühstück, zwei weiteren Kaffees und drei Zigaretten später, machten wir uns dann auf den Weg in die Stadt. Mir war bereits aufgefallen, dass Rumänen unendlich viel Zeit hatten, wenn es darum ging, einen Tag zu gestalten. Eigentlich war unser Plan, gegen zwölf Uhr in die Stadt zu gehen. Jetzt war es bereits vierzehn Uhr. Ja, meine deutsche Überkorrektheit meldete sich zu Wort. Einfach so in den Tag hineinzuleben war mit meiner deutschen Erziehung nicht ganz vereinbar. Wir brauchten für alles einen Plan – und der musste eingehalten werden. Aber ich kannte Adi immerhin schon einige Jahre und wusste, wie die Rumänen tickten. Wenn sie sagten, dass sie in zehn Minuten fertig waren, konnte man sich getrost darauf gefasst machen, dass sie noch mindestens eine Stunde brauchten. Aber gut, ich war im Urlaub und ich sollte mich verdammt nochmal entspannen!

Nachdem wir durch die Läden getingelt und das ein oder andere schöne Teil abgesahnt hatten, entschieden wir uns für einen Spaziergang durch die Stadt. Wir erreichten gerade den Piata Sfatului, den großen Marktplatz im Zentrum von Brasov. Dort befand sich ein großer Springbrunnen und dahinter ein Gebäude, das einer Kirche ähnelte. Doch Adriana erklärte mir, dass es das „Casa Sfatului“ war und es mehr als fünfhundert Jahre lang der Sitz des städtischen Magistrats gewesen war.

Wir setzten uns auf die Stufen des Springbrunnens, die nach unten zu den Fontänen führten. Als ich mich niederließ und beobachtete, wie das kühle Wasser auf die Steine prasselte, fühlte ich, wie sich erneut ein Gefühl der Vertrautheit in mir breit machte. Ich war schon einmal hier gewesen, ganz oft. Doch Nein! Das konnte einfach nicht sein. Mein Verstand sagte mir, dass ich zum ersten Mal in diesem Land und in dieser Stadt war. Es war einfach nicht möglich. Doch andererseits war da diese Gewissheit, die mir sagte, dass ich schon oft hier war. Und zwar mit ihm...

Adriana schnippte vor meinem Gesicht.

„Hey, Traumtänzerin!“

Ich schrak aus meinen Gedanken auf und sah sie an.

„Was ist?“

Adi grinste mich an.

„Na! Schau doch mal, wer hier ist!“

Als ich nach vorne blickte, schaute ich direkt in zwei dunkle Augen.

Corvin.

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Er stand vor uns, seine Reisetasche lässig über die Schultern gehängt. Er war groß und von schmaler Statur. Seine langen Beine steckten in schwarzen Jeans und er trug ein schwarzes T-Shirt und darüber ein rot-schwarz-kariertes Hemd. Seine schwarzen Haare waren an den Seiten kurzrasiert, doch das Haupthaar fiel ihm seitlich ins Gesicht und gab ihm etwas Verwegenes. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und die wohl schönsten Grübchen, die ich je gesehen hatte, kamen zum Vorschein. Grübchen, die ich schon einmal gesehen hatte, die mir so vertraut waren....Immer schon hatte ich sie am meisten an ihm geliebt....

Halt! Moment!

„Hi. Ich bin Corvin“

Seine sanfte, und doch zugleich tiefe Stimme, ließ mein Herz ein wenig schneller schlagen. Nein, nicht nur ein wenig. Es schlug so heftig, dass ich glaubte, es war kurz davor, aus meinem Brustkorb herauszuspringen. Und dann schlich sich etwas in seinen Blick, als sei er plötzlich....verwirrt? Spürte auch er, dass etwas Seltsames vor sich ging?

Ich sagte noch immer nichts, sondern starrte ihn nur weiter an. Adi stieß mir leicht in die Seite und ich löste mich aus meiner Erstarrung. Ich rang mich zu einem Lächeln durch, stand auf und hielt ihm die Hand hin.

„Hi, ich bin Romy“

Als er meine Hand ergriff, durchfuhr es mich wie ein Blitz. Wieder stiegen die Bilder von der grünen Holzbank in mir auf. Seine sanften Lippen, die meine berührten. Sein dichtes, schwarzes Haar zwischen meinen Fingern. Ich widerstand dem Drang, sie zu berühren, sein Gesicht, seine Lippen auf meinen zu fühlen....

Corvin zog seine Hand zurück und in mir machte sich sofort das Gefühl eines tiefen Verlustes breit. Ich wusste nicht, warum. Doch innerlich wünschte ich mir, er hätte mich nicht losgelassen...

Corvin wandte sich an Adriana, die ebenfalls aufgesprungen war und ihm in aller Überschwänglichkeit um den Hals fiel.

„Corvin! Meine Güte, du bist so groß geworden!“, feixte sie und er grinste verlegen. Als sie sich von ihm löste, boxte sie ihm spielerisch auf den Oberarm. „Und ein richtiger Kerl bist du auch. Du bist ja immerhin beim Militär!“

Corvin kratzte sich am Hinterkopf, kniff ein Auge zusammen und schmunzelte beschämt. Innerlich musste ich grinsen. Adi konnte manchmal ein wenig überrumpelnd sein, das wusste ich. Sie nahm nie ein Blatt vor den Mund und plapperte wild drauf los, wie ihr der Schnabel gewachsen war. Doch das machte sie auch zu dem sympathischen Menschen, den ich über alles liebte.

„Ja, ich bin jetzt seit zwei Jahren dabei“, erwiderte er und seufzte. „Aber jetzt habe ich frei und ich freue mich, den Urlaub mit euch allen zu verbringen“

Sein Blick streifte mich. Die Tiefe seiner unergründlichen dunklen Augen, in die ich mich sinken lassen wollte....und ich konnte mir kaum vorstellen, dass mein Herz noch heftiger schlagen konnte, als in diesem Augenblick. Ich versuchte, meine Nervosität zu verbergen.

„Also, was machen wir jetzt?“, fragte Adi.

Corvin schulterte seine Reisetasche.

„Ich muss erst einmal nach Hause und mich dem Gepäck hier entledigen. Danach brauche ich eine Dusche und dann bin ich zu allen Schandtaten bereit“, grinste er.

 

 

Corvin und Milena liefen vor uns her, während Adriana und ich ein Stück hinter ihnen blieben. Ich konnte meine Augen nicht von ihm abwenden, als er mit Milena sprach und wild mit den Händen gestikulierte. Ich fragte mich, was er ihr wohl erzählte. Denn ich verstand ja kein einziges Wort. Adi wollte ich allerdings auch nicht fragen, denn das wäre zu auffällig gewesen und ich wollte nun keinesfalls zugeben, dass ich Gefühle für Corvin hegte, obwohl ich ihn noch niemals zuvor getroffen hatte. Ich glaubte, sie würde mich für komplett verrückt halten!

„Hey, wo bist du schon wieder mit deinen Gedanken, Romy?“, meinte Adi grinsend und ich sah sie an.

„Was? Wieso fragst du?“

In ihren Augen lag ein schelmischer Ausdruck und sie machte eine nickende Kopfbewegung in Corvins Richtung.

„Du magst ihn, oder?“, sagte sie zwinkernd und ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht schoss. Oh Mann! Wie dumm von mir, zu glauben, dass ich so etwas vor ihr, meiner besten Freundin, verbergen könnte!

„Nein, Adi. Wie kommst du darauf?“

„Ach. Komm schon, Romy. Du kannst es doch ruhig zugeben. Und Corvin ist doch niedlich“

Ich schmunzelte. Ja, das war er...Aber er war nich einfach nur niedlich. Er war sehr viel mehr....Es war nicht nur sein äußeres Erscheinungsbild. Es war alles an ihm. Es war seine Seele, die mich förmlich zu ihm hinzog. Und ich hatte das Gefühl, als sei meine Seele ganz nah bei seiner. Als wären er und ich....eine Seele. Aber war das überhaupt möglich?

Dann fiel mir ein, dass er ja mindestens acht Jahre jünger als ich war.

„Adi....findest du nicht, dass er etwas zu jung für mich ist? Außerdem ist das hier nur ein Urlaub. Solche Romanzen gehen nie gut aus“, meinte ich.

„Das Alter spielt doch überhaupt keine Rolle. Und außerdem weißt du nie, wie das Leben spielt“, meinte sie zwinkernd. Dann klopfte sie mir auf die Schultern. „Gönn dir mal ein bisschen Spaß!“

Kapitel 3

 

3. Kapitel

 

Romy

 

 

Adi hatte Recht. Ich sollte mir wohl wirklich ein wenig Spaß gönnen, mich im Urlaub einfach nur entspannen und den Moment leben. Doch war das so einfach? Ich konnte mich Corvin doch nicht einfach so an den Hals werfen, ohne zu wissen, ob er sich denn auch für mich interessierte? Nein, so Jemand war ich einfach nicht. Ich war stets kontrolliert und zurückhaltend, was Männer betraf. One-Night-Stands kamen für mich niemals in Frage, denn ich brauchte schon ein gewisses Maß an Vertrauen und Geborgenheit, um mich zu öffnen. Speziell nach der Geschichte mit meinem Ex-Freund.

Wilde Gegenmusik riss mich aus meinen Gedanken, als wir eine Straßenecke passierten. Ich erblickte sogleich die bunten, weiten Röcke, das gelockte schwarze, lange Haar. Breite Hüften, die sich im Takt wiegten. Die Zigeunerin wirbelte mit ihren Röcken und drehte sich im Kreis. Nicht weit von ihr saßen zwei Männer mit jeweils einer Geige. Ich blieb wie gebannt stehen und schaute der Tänzerin zu. Unwillkürlich begannen meine Hüften zu zucken und ich musste mich beherrschen, nicht in ihren Tanz mit einzustimmen....Und dann begann mein Kopf zu schwirren. Die Realität vor meinen Augen verzog sich in unscharfe Bilder und mich überkam wieder jenes Dejá-Vu-Gefühl, das ich gestern bereits einmal so intensiv erlebt hatte....

 

 

 

Rada! Komm tanzen!“

Mutter nahm mich an den Händen und zog mich sanft in die Runde tanzender Roma-Frauen, die sich auf dem Marktplatz versammelt hatten. Die Frauen um mich herum wirbelten mit ihren bunten Röcken und ihren pechschwarzen Haaren. Sie warfen sich auf die Knie und ließen ihre Schultern abwechselnd vor und zurück vibrieren. Ich sah zu meiner Mutter hoch, die mich noch immer an den Händen hielt. Sie war die schönste Frau unter uns, mit ihren dunklen Haaren, der braunen Haut und ihren grünen Augen. Ich lächelte sie an und dann begannen wir beide uns im Takt der Geigenmusik, die von den Männern unserer Gruppe gespielt wurde, zu bewegen. Wir lachten, tanzten, sangen und drehten uns im Kreis.....

 

 

„Romy!“

Ein Schnippen vor meinem Gesicht, riss mich aus meinen Gedanken und ich sah mich zu allen Seiten um, um schließlich in Adi´s verwirrtes Gesicht zu blicken. Hinter ihr standen Milena und Corvin, die mich mit gehobenen Augenbrauen musterten. Sofort schoss mir die Röte ins Gesicht. Ich war mal wieder einfach so in eine andere Welt abgetaucht, ohne es zu bemerken. Was hatte sich da soeben wieder vor meinem geistigen Auge abgespielt? Waren das Erinnerungen? Sie hatten sich so real angefühlt. Doch ich konnte darüber nun nicht weiter nachdenken, denn die drei Anderen standen vor mir und beäugten mich noch immer fragend.

„Was? Entschuldigt bitte!“, sagte ich und versuchte, entschuldigend zu lächeln. Ein Schmunzeln umspielte Adriana´s Lippen.

„Du warst gerade in deinem Element, stimmt´s?“ Sie wandte sich zwinkernd an Corvin und Milena. „Ihr müsst wissen, Romy ist Tänzerin und sie interessiert sich sehr für die Kultur der Zigeuner“

„Was? Echt? Du bist Tänzerin?“, fragte Milena mit großen Augen. „Wie aufregend!“

„Nun ja, es ist ein Hobby von mir“, meinte ich und grinste verlegen.

„Welche Art von Tanz?“

Corvin´s Stimme erklang wie Musik in meinen Ohren.

„Orientalischer Tanz“, erwiderte ich und sah ihm scheu in die Augen. Ob er sich wohl dafür interessierte? Ich kannte nicht viele Männer, die sich fürs Tanzen begeistern konnten.

„Wow! Das klingt ja interessant“, meinte Corvin. „Das würde ich gerne mal sehen“

Ein Schmunzeln zuckte um meine Lippen. Er schien wirklich offen dafür zu sein. Überhaupt empfand ich alle Rumänen, die ich bisher kennengelernt hatte, als ziemlich weltoffen und tolerant. Alexandru, Milena und Corvin bildeten da keine Ausnahme. Sie schienen stets sehr interessiert zu sein und gaben einem das Gefühl, dass sie einen so akzeptierten, wie man war. Diese drei jungen Menschen waren einfach unvoreingenommen und das machte den Umgang mit ihnen so spielend leicht. Irgendwie hatte ich innerhalb kürzester Zeit das Gefühl, sie schon ewig zu kennen.

Als wir später beim Abendessen saßen, überlegten wir, wohin wir später ausgehen würden. Ich spürte Corvin´s Blick auf mir, der mir gegenüber am Tisch saß. Er schien mein Outfit zu mustern. Ich trug schwarze Röhrenjeans und ein schwarzes T-Shirt, das ich mir heute gekauft hatte.

„Ich nehme mal an, du magst Rock- und Metalmusik?“, fragte er. Damit hatte er ausnahmslos Recht. Ich fühlte mich in der Gothic- und Metalszene Zuhause, seit ich denken konnte.

„Ja, das stimmt“

„Dann wäre das Rockstadt doch sicherlich interessant“, meinte Corvin.

Rockstadt?“

„Es wird dir dort gefallen“, meldete sich Milena zu Wort.

„Dann lasst uns hingehen!“, sagte Adriana grinsend.

 

 

 

Rockstadt

 

Corvin

 

Ich beobachtete Romina, die sie sich zusammen mit Adriana an der Bar ein Bier bestellte. Dieses Mädchen kam mir irgendwie sehr vertraut vor. Aber ich wusste nicht, woher. Ich war mir sicher, dass ich sie noch nie zuvor getroffen hatte. Und doch war da ein Gefühl in mir, das mir sagte, dass wir uns seit Ewigkeiten kannten. Obwohl ich Romina gerade erst kennengelernt hatte, musste ich mir eingestehen, dass ich mich zu ihr hingezogen fühlte. Sie stand neben Adriana am Tresen und beide hatten Alexandru, Milena und mir den Rücken zu gedreht. Mein Blick streifte Romina´s lange, schwarze Haare entlang, die ihr in weichen Wellen fast bis zum Hintern reichten. Sie hatte wunderschön geformte Proportionen, nicht zu kräftig und auch nicht zu zierlich. Ihr Oberkörper war eher von schmaler Statur, ihre Hüften hingegen breiter und die Beine gut trainiert. Man sah ihr an, dass sie Tänzerin war. Und sie war eine gute Tänzerin.

Ich stockte. Woher konnte ich das wissen? Ich hatte sie noch niemals zuvor tanzen sehen. Ich hatte lediglich mit ihr darüber gesprochen. Aber etwas sagte mir einfach, dass sie gut sein musste. Doch ich wusste noch immer nicht, woher mir Romina nur so verdammt bekannt vor kam? Dieses Gefühl ließ sich einfach nicht mehr abschütteln. Und wieso sich mein Herz mit Schmerz zu füllen begann, wenn ich sie nur ansah? Und warum es sich gleichzeitig wohlig warm dabei anfühlte? Ich sie am Liebsten berühren, meine Finger durch ihre samtigen Haare gleiten lassen und ihre Lippen spüren wollte?

Meine Emotionen waren ein Widerspruch in sich. Doch so war ich schon von klein auf gewesen. Ich war nie besonders offen mit meinen Gefühlen umgegangen, aus Angst, verletzt oder verlassen zu werden. Es musste damit zu tun haben, dass unser Vater die Familie verlassen hatte, als Alexandru und ich noch klein waren. Ich konnte mich kaum an meinen Vater erinnern. Alles, was in meinen Erinnerungen zurückgeblieben war, war der Moment, in dem er durch die Tür gegangen und nie mehr zurückgekommen war. Damals waren Alexandru und ich drei Jahre alt gewesen. Und seit diesem Tag verspürte ich einen derartigen Verlust und Enttäuschung tief in mir selbst. Und die Angst, wieder von Menschen, die ich liebte, verlassen zu werden. Das war auch ein Grund, weshalb ich mich in der Vergangenheit eher nur oberflächlich mit Mädchen eingelassen hatte.

In diesem Moment drehte sich Romy zu mir um und unsere Blicke kreuzten sich. Ich konnte meine Augen in diesem Augenblick nicht von ihr abwenden. Diese grünen Augen. Ich hatte schon einmal in sie geblickt, da war ich mir ganz sicher. Sie waren mir so vertraut wie der Schlag meines eigenen Herzens....Nur wusste ich nicht, wieso ich mir da so sicher war. Wieder begann sich ein Stechen in meiner Herzgegend auszubreiten und ich entschied mich, den Blick von ihr zu lösen, bevor dieser Schmerz von mir Besitz ergreifen konnte. Auch, wenn ich mir eingestehen musste, dass in mir eine Flamme entfach worden war, just in dem Moment, als ich sie heute Nachmittag beim Brunnen am Piata Sfatului gesehen hatte, spürte ich, dass ich innerlich hin und her gerissen war.

Konnte es sein, dass....? Warsie es? Sie, die mich seit einigen Nächten in meinen Träumen besuchte, deren Gesicht ich aber niemals erkennen konnte?

Ein Teil von mir war neugierig und wollte sie unbedingt besser kennenlernen. Der andere Teil in mir, warnte mich jedoch vor zu viel emotionaler Nähe. Zumal Adriana und Romy nur vierzehn Tage in Brasov bleiben würden. Das Letzte, was ich nun brauchen konnte, war ein gebrochenes Herz und Liebeskummer. Doch ich wollte Romy zumindest auf einer freundschaftlichen Ebene begegnen. Ich wandte mich an Milena und Alex, um die beiden in ein belangloses Gespräch zu verwickeln.

 

 

 

Romy

 

Die Bar war wirklich ein Traum. Klein, aber fein mit einer Bühne ausgestattet und mehreren Sitzgelegenheiten innen und der Club verfügte über einen separaten, überdachten Außenbereich mit kleinen Sitznischen und Hängematten. An dem Wänden waren unterschiedliche Rockband-Logos aufgezeichnet.

Während ich mit Adi am Bartresen stand und sie für Milena, die Jungs und uns beide Bier bestellte, spürte ich, wie mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. Und ich wusste, dass Corvin mich beobachtete. Dass seine braunen, sanften Augen auf mir ruhten, sich in meinen Rücken bohrten. Mein Herz klopfte wie wild und Nervosität begann sich in meinem ganzen Körper auszubreiten. Zaghaft drehte ich mich um und sah zu den drei jungen Rumänen, die sich an einem Tisch im Rockstadt niedergelassen hatten. Unsere Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde. Etwas flackerte in Corvin´s dunklen Augen auf, das ich nicht deuten konnte. Der Ausdruck darin war intensiv. Ich spürte, wie er mich förmlich zu ihm zog. Es fühlte sich an, als verblasste alles um uns herum – und nur wir beide waren die Einzigen hier im Club. Als seien wir für eine Ewigkeit eins - und doch nur für den Bruchteil einer Sekunde.

Im nächsten Moment wandte sich Corvin Milena und Alex zu und begann sich mit ihnen zu unterhalten. In meinem Inneren fühlte es sich an, als sei dieses intensive Band zwischen uns mit einem Mal durchschnitten worden und in meiner Herzgegend breitete sich ein bittersüßes Ziehen aus.

„Was ist los?“, meldete sich prompt Adriana neben mir zu Wort, die mittlerweile die Getränke in Empfang genommen und mir ebenfalls zwei Bierflaschen in die Hände gedrückt hatte. Ich erschrak innerlich, denn ich schien gar nicht mitbekommen zu haben, dass ich laut geseufzt hatte.

„Nichts. Alles in Ordnung, Adi“, erwiderte ich und lächelte gequält. Ihre braunen Augen warfen mir einen ungläubigen Ausdruck zu.

„Bist du dir sicher?“

Ich wusste, dass ich ihr nichts verheimlichen konnte. Doch wie sollte ich ihr das alles erklären? Dieses unglaublich vertraute Gefühl, das mich immer wieder überkam, seitdem wir gestern hier angekommen waren? Die Bilder, die immer wieder vor meinem inneren Auge auftauchten? Den Traum, den ich letzte Nacht gehabt hatte? Dieses unsägliche Gefühl, Corvin bereits mein Leben lang zu kennen? Diese Liebe, die ich für ihn empfand seit ich sein Foto zum ersten Mal gesehen hatte? Und was war das heute Nachmittag gewesen, als ich die Zigeuner gesehen hatte?

Rada! Rada, komm tanzen!, hallte es in meiner Erinnerung wieder. Und in diesem Moment hatte ich gespürt, dass meine Mutter mit mir gesprochen hatte. Doch meine Mutter war keine Zigeunerin und mein Name war auch nicht Rada. Allmählich hatte ich das Gefühl, in diesem Land, in dieser Stadt, dem Wahnsinn zu verfallen. Und ich war erst zwei Tage hier. Ich fühlte noch immer Adi´s fragenden Blick auf mir, den ich mit gehobenen Augenbrauen erwiderte.

„Adi.....Können wir später darüber reden?“, fragte ich sie und schmunzelte sie entschuldigend an.

„Klar“, erwiderte sie zwinkernd. Erleichtert begab ich mich dann schließlich zurück zu Corvin, Milena und Alexandru an den Tisch.

Der Abend verlief lustig und ausgelassen. Nach zwei, drei Bieren mehr, kamen Corvin und ich wieder ins Gespräch. Wir begannen uns über Musik zu unterhalten.

„Was sind deine Lieblingsbands?“, wollte er wissen und musterte mich aus seinen sanften, braunen Augen.

Ich hob die Schultern.

„Ich habe sehr viele“, erwiderte ich lächelnd. „Nightwish zum Beispiel, finde ich seit meiner Teenie-Zeit super“

Begeisterung machte sich auf seinen wunderschönen Gesichtszügen breit.

„Nightwish! Wow! Das ist auch eine meiner Lieblingsbands!“

„Bist du schon mal auf einem ihrer Konzerte gewesen?“, wollte ich wissen. Corvin verneinte.

„Nein. Dafür fehlt mir leider das nötige Kleingeld“

Ich hatte vergessen, dass er Student an einer Militärakademie war und sicherlich nicht sonderlich viel Geld zur Verfügung hatte.

„Oh, das ist Schade“, meinte ich betrübt.

Corvin winkte ab.

„Ach, das ist schon in Ordnung“

„Nächstes Wochenende findet das Artmania Festival in Sibiu statt“, meldete sich Milena zu Wort.

„Artmania-Festival?“, wiederholte ich.

„Ja“, erwiderte Corvin. „Das ist eines der größten Kunstfestivals hier. Dort gibt es mehrere Bühnen und es treten auch Metalbands auf. Und meine absolute Lieblingsband....“

Als er den letzten Satz aussprach, verriet Etwas in seinem Tonfall mir, dass er wahnsinnig gerne dorthin gehen wollte, es sich aber aus finanziellen Gründen nicht leisten können würde. Irgendwie stimmte mich das traurig und fand es Schade, dass er nicht gehen konnte. Doch dann kam mir eine Idee in den Sinn. Ich tauschte einen Blick mit Adi, die sofort erriet, was ich dachte.

„Leute, was haltet ihr denn davon, wenn wir alle zusammen dorthin fahren? Ich habe ein Auto gemietet“, unterbreitete ich meinen Vorschlag.

Corvin´s Augen weiteten sich überrascht, dann machte sich ein Ausdruck von Bedauern darin breit.

„Das ist super lieb gemeint, Romy. Aber wir drei werden uns das auf keinen Fall leisten können......“

Ich grinste Adi schelmisch zu, die darauf mit einem neckischen Zwinkern antwortete.

„Wir laden Euch ein“, erwiderte Adriana. Nun sahen uns alle drei total entgeistert an, als zweifelten sie an unseren geistigen Fähigkeiten.

„Uns einladen? Aber das ist doch viel zu teuer!“, widersprach Alexandru.

„Keine Widerrede!“, ermahnte Adi. „Romy und ich werden euch einladen und dann werden wir einen supertollen Tag in Sibiu verbringen. Basta“

Corvin, Alexandru und Milena gaben sich schließlich geschlagen. Denn, wenn Adi auf eine Sache bestand, dann brachte sie nichts und niemand davon ab. Die drei jungen Rumänen wirkten eine Weile beschämt. Sicherlich wollten sie nicht, dass jemand sie aushalten musste. Doch darum ging es hier nicht. Es ging darum, dass ich Corvin gerne seinen Wunsch erfüllen wollte, seine Lieblingsband zu sehen.

„Wie heißt die Gruppe, die du unbedingt sehen möchtest?“

„Alternosfera“, erwiderte Corvin schmunzelnd. „Warte...ich zeige dir einen Song von ihnen. Mein absolutes Lieblingslied...“ Er griff in seine Hosentasche und zog sein Handy hervor. In Sekundenschnelle hatte er das Video auf You-Tube gefunden und hielt es mir unter die Nase. Zuvor hatte er noch Ohrenstöpsel in sein Handy gesteckt und hielt sie mir hin. Die ersten Klänge des Liedes „Femeia Nordului“ ertönten und ich war vom ersten Augenblick wie gebannt von der Stimme des Sängers. Es handelte sich dabei um Alternative-Rock und obwohl ich kein einziges Wort der rumänischen Band verstand, berührte ihre Musik doch mein Herz.

„Wie findest du es?“, fragte Corvin, als er mich schmunzelnd musterte, seine braunen Augen auf mir lagen und es sich anfühlte, als könnten sie in den entferntesten Winkel meiner Seele blicken.....

„Es ist wunderschön“, gab ich lächelnd zurück. „Worum geht es in dem Lied?“

„Um eine Frau, die den Norden des Mannes gestohlen hat“

„Den Norden des Mannes?“, wiederholte ich augenbrauenhebend.

Ein Schmunzeln zuckte um Corvin´s wunderschön geschwungene Lippen und seine Grübchen ließen mein Herz erneut schneller schlagen.

„Alternosfera ist eine poetische Band. Sie benutzen sehr viele Metaphern und umschreiben viele Dinge. In diesem Fall bedeutet es, dass die Frau dem Mann den Kopf verdreht hat. Der Norden des Mannes ist also in dem Lied der Kopf oder der Verstand“

Da ging ein Licht in mir auf. Die Art, wie die Texte verfasst wurden, gefiel mir. Ich liebte Metaphern und poetische Umschreibungen. In dieser Hinsicht schienen Corvin und ich ebenfalls auf einer Wellenlänge zu sein...

 

 

 

„Ich freue mich schon auf das Festival“, sagte ich später zu Adi, als wir uns fertig fürs Bett machten und in unserem Zimmer waren.

„Ich mich auch“, erwiderte sie und schlüpfte in ihre Schlafklamotten, die aus einem schwarzen, kurzen Tanktop und grauen Shorts bestand. Dann schlüpften wir beide unter die Decke und lagen nebeneinander in dem großen Bett.

„Du wolltest mir doch etwas erzählen, Romy....“

Ich schluckte. Ja, richtig. Ein Teil von mir hatte gehofft, dass Adriana es vergessen würde... Aber nun gut. Nur, wo sollte ich beginnen?

Ich sah Adi an und schmunzelte gequält.

„Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, Adi.....Aber ich habe dir ja bereits gestern gesagt, dass mir hier alles so vertraut vorkommt. So, als sei ich bereits einmal hier gewesen. Doch die Wahrheit ist, dass es nicht nur das ist“

Ich schwieg für einen Moment und Adriana musterte mich mit gerunzelter Stirn.

„Was ist es?“

Ich seufzte und starrte zur Decke.

„Corvin....“

Ein neckisches Grinsen machte sich auf ihrem Gesicht breit.

„Ja, ich weiß doch, dass du ihn magst“

„Es ist mehr als das.....Auch bei ihm habe ich das Gefühl, dass ich ihn bereits seit einer Ewigkeit kenne. Dass wir uns bereits einmal begegnet sind. Vielleicht in einem anderen Leben. Wenn es so etwas überhaupt gibt...“

„Au weia! Dich hat´s anscheinend erwischt, Romy!“, witzelte meine beste Freundin neben mir und sie erntete daraufhin einen missbilligenden Blick von mir. Ich hatte ja geahnt, dass sie es nicht verstehen würde. Aber wie sollte sie es verstehen, wenn nicht einmal ich es annähernd begriff, was hier vor sich ging?

„Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, Adi....In mir steigen ständig irgendwelche Erinnerungen auf, bei denen ich mir sicher bin, dass ich das so nie erlebt habe....Aber gleichzeitig weiß ich ganz genau, dass es so war. Es ist, als sähe ich Bilder aus einer anderen Zeit, die genau an diesem Ort hier passiert sind. Ich sehe Corvin und mich an diesem Ort...in der Vergangenheit...“

Ich sah Adi an und wir beide schwiegen einen Moment. Sie schien zu überlegen. Hielt sie mich jetzt für vollkommen durchgedreht?

„Du hältst mich für verrückt, oder?“

Adriana schüttelte den Kopf.

„Nein, das tue ich nicht, Süße....Was passiert in den Erinnerungen zwischen Corvin und dir?“

Die Röte schoss mir unwillkürlich ins Gesicht, als ich mich an den Traum mit dem Kuss auf der grünen Bank draußen vor dem Haus erinnerte.

„Wir lieben uns....“, sagte ich leise. „Und ich kann diese Liebe spüren...Jedes Mal, wenn wir uns ansehen...Ich konnte sie schon spüren, als ich das Foto von ihm zum ersten Mal sah. Und ich habe ihn noch nie vorher getroffen, Adi. Wie ist das möglich?“

„Hast du schon einmal von Reinkarnation gehört?“

Selbstverständlich. Immerhin interessierte ich mich für dieses Thema. Durch meine Liebe zum Orient, dem Tanz und der Kultur, fühlte ich mich auch besonders zu Indien und die Religion der Hindus hingezogen, die ja nun mal auf dem Gedanken der Wiedergeburt basierte. Aber, dass Adi sich offenbar auch dafür interessierte, war mir vollkommen neu.

„Klar, hab ich das. Du weißt, dass ich mich für den Hinduismus interessiere. Aber glaubst du wirklich, dass es so etwas tatsächlich gibt?“, gab ich zurück.

„Es könnte möglich sein“, erwiderte Adi. „Es gibt Menschen, denen Ähnliches passiert ist und sie haben eine Rückführung in ihr vergangenes Leben gemacht. Dort haben sie dann alles sehen können, was ihnen in ihren vergangenen Existenzen auf Erden widerfahren ist“

Ich nickte.

„Ja, davon habe ich schon gehört“

„Und weißt du auch, dass es bestimmte Seelenverbindungen auf dieser Erde gibt? Seelen, die sich im Laufe ihres Lebens immer und immer wieder finden? Über Lebenszyklen hinweg? So etwas nennt man Seelenverwandtschaft. Vielleicht haben Corvin und du eine dieser besonderen Verbindungen“

Ich überlegte eine Weile. War das möglich? Existierte so etwas wirklich? Ich konnte mir so etwas gut vorstellen, denn immerhin betrachtete ich Adi ebenfalls als meine Seelenverwandte. Denn wir beide verstanden uns ohne Worte. Es war manchmal wirklich unheimlich. Oftmals sprachen wir dieselben Gedanken aus oder wussten ganz genau, was die Andere empfand.

„Ich kann mir gut vorstellen, dass es so etwas gibt“, sagte ich schließlich. „Aber denkst du wirklich, dass Corvin und mich eine solche....Liebe verbindet?“

Als ich den letzten Satz aussprach, musste ich unwillkürlich mit dem Kopf schütteln. Nein, das war einfach zu absurd. Wahrscheinlich war ich einfach mal wieder in meine romantischen Tagträume abgedriftet. Doch das erklärte nicht all die Dinge, die mir passierten, seitdem ich in Brasov angekommen war. Es war geradezu unheimlich. Und falls dem so war, musste Corvin nicht dann genauso empfinden?

„Wieso schüttelst du den Kopf, Romy?“

„Ich kann mir das nicht vorstellen, Adi. Das ist einfach zu verrückt.....Lass uns schlafen, ok?“

Kapitel 4

4. Kapitel

 

Romy

 

 

Ssssch...“, sagte der kleine Junge mit den dunklen Haaren und den braunen Augen. Das Mondlicht erhellte nur spärlich sein Gesicht.

Warte hier draußen. Ich bringe dir etwas zu Essen, ja?“

Mit diesen Worten rannte er blitzschnell die Stufen zum Haus hinauf und verschwand oben in der Tür. Ich blieb unten in meinem Versteck bei den Treppen sitzen und spähte hinaus in die Dunkelheit. Ich zog die Decke, die der Junge mir zuvor gebracht hatte, ein klein wenig enger um mich. Die Nacht war bitterkalt. Ich wusste nicht, wie lange ich mich schon hier unten hinter den Treppenstufen versteckte. Ich war alleine, und das schon seit Tagen und Nächten. Ich wusste nicht, wo Mutter,Vater und die anderen meines Clans waren. Ich hatte sie einfach verloren und nun wusste ich nicht, wo ich hingehen sollte. Deshalb hatte ich mich einfach hier in diesen Hinterhof geflüchtet und war dort geblieben. Bis der kleine schwarzhaarige Junge mich heute Abend entdeckte, mir eine Decke und heißen Kräuter-Tee brachte. Und nun war er ins Haus gegangen, um etwas zu Essen zu holen. Ich vernahm seine schnellen, tapsigen Schritte auf der Treppe und kurze Zeit später stand er wieder vor mir mit einem Körbchen voller Weißbrotscheiben.

Hier. Nimm“, sagte er freundlich und hielt mir das Körbchen hin.

Danke....“, erwiderte ich zaghaft und griff nach einer Scheibe Brot. Meiner Stimme nach zu urteilen, musste ich ebenfalls noch ein kleines Mädchen sein. Etwa in dem gleichen Alter wie der schwarzhaarige Junge.

Arian? Was machst du um diese Zeit hier draußen?“, ertönte plötzlich die Stimme einer Frau von oben. Der kleine Junge sah mich an und legte sich den Finger auf die Lippen, um zu signalisieren, dass ich keinen Laut von mir geben sollte.

Nichts, Mama!“

Im nächsten Moment hörte ich erneut Schritte auf den Stufen und sie stand kurze Zeit später vor meinem Versteck: Eine dunkelhaarige, zierliche Frau, etwa Mitte dreißig, die uns beide aus großen Augen ansah.

Arian, wer ist das?“, fragte sie in meine Richtung.

Arian zuckte mit den Schultern.

Ich habe sie hier gefunden, Mama. Und ihr eine Decke und etwas zu Essen gebracht“

Ich vernahm ein leises Schnauben, welches von der Frau kam.

Um Gottes Willen, Arian. Du kannst sie doch nicht hier draußen in der Kälte lassen. Sie holt sich ja den Tod!“

Dann beugte sie sich zu mir herab, sah mich mit einem liebevollen Ausdruck in den Augen an und streckte mir ihre Hand hin.

Komm mit ins Haus, Kind“

Zögerlich ergriff ich diese und ließ mich dann von ihr, zusammen mit Arian, die Stufen hinauf ins Haus führen. Sofort kroch die angenehme Wärme im Inneren des Hauses in meine vor Kälte fast erstarrten Glieder. Als ich zusammen mit der Frau und dem kleinen Jungen die wohlig warme Küche betrat, erblickte ich eine alte Frau, die zunächst Arian und seine Mutter musterte - und dann mich. In ihrem Blick lag Argwohn, soweit ich das deuten konnte. Ich konnte deutlich spüren, dass sie mir gegenüber Ablehnung empfand.

Wen bringt ihr da in unser Haus?! Zigeuner-Abschaum!!“

 

 

Mitten in der Nacht schrak ich auf. Grummelnd griff ich nach meinem Handy auf dem Nachttisch und sah blinzelnd auf das Display. Vier Uhr morgens. Seufzend legte ich das Telefon wieder zurück und starrte an die Decke. Mit einem Mal war ich hellwach. Neben mir vernahm ich Adi´s gleichmäßige Atemzüge. Sie schlief tief und fest, während ich einmal wieder einen nur allzu lebhaften Traum gehabt hatte. Ein Traum von einem kleinen Mädchen, das sich unten hinter den Treppen dieses Hauses versteckt hatte und von einem kleinen, schwarzhaarigen Jungen, der eine kindliche Version von Corvin gewesen war. Und von einer alten Frau, die dem kleinen Mädchen mit Argwohn begegnet war. War ich dieses kleine Mädchen?

Zigeuner-Abschaum!!, hallte es in meiner Erinnerung wider.

Eine staubige Trockenheit machte sich in meiner Kehle breit und ich verspürte einen unglaublichen Durst. Um Adi nicht aufzuwecken, erhob ich mich langsam aus dem knarrenden Doppelbett und ließ meine Füße auf den kühlen Boden gleiten. Leise öffnete ich die Tür und schritt hinaus in den Flur, um in die Küche zu tapsen. Im Haus war es mucksmäuschenstill. Es war ja mitten in der Nacht. Als ich im Türrahmen zur Küche stand, tasteten meine Finger nach dem Lichtschalter. Blinzelnd sah ich mich nach einer Flasche Wasser um, fand jedoch keine vor. Daher entschied ich mich, Wasser aus dem Hahn zu trinken. Adriana hatte mir erzählt, dass das Wasser hier in den Karpaten sehr klar und rein war, und man es deshalb auch bedenkenlos trinken konnte. Als ich im Küchenschrank ein Glas gefunden hatte, füllte ich es am Wasserhahn auf. Das kühle Nass befeuchtete meine trockene Kehle, als ich in gierigen Schlucken davon trank. Sogleich spülte ich das Glas aus, trocknete es ab und stellte es in den Schrank zurück. Als ich mich zurück ins Schlafzimmer begeben wollte, fiel mir draußen vor dem Fenster das Aufleuchten eines Feuerzeugs auf. Wer war da draußen? Langsam trat ich ans Fenster und spähte vorsichtig hinaus. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich ihn dort auf den Treppenstufen sitzen sah, den Rücken zu mir gedreht und den Rauch der Zigarette in den Nachthimmel blies. Es war Corvin.

Für eine Weile stand ich einfach nur da und beobachtete ihn. Was machte er so spät Nachts dort draußen? Konnte er etwa nicht schlafen? Ob ich wohl nach draußen gehen und mich zu ihm gesellen sollte? Denn mir war ehrlich gesagt auch nach einer Zigarette Zumute.

Ich löschte das Licht in der Küche und trat auf die Haustüre zu, die nur angelehnt war, wie ich feststellte. Ich wollte die Türe langsam und leise öffnen, um Corvin nicht zu erschrecken, doch diese gab einen knarrenden Laut von sich. Erschrocken blickte er mich aus seinen dunklen Augen an.

„Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte ich leise und schmunzelte entschuldigend. Corvin´s Gesichtszüge entspannten sich.

„Kein Problem“, erwiderte er und zog wieder an seiner Zigarette.

„Hast du etwas dagegen, wenn ich mich auf eine Zigarette zu dir setze?“

Ein Schmunzeln huschte über sein Gesicht.

„Nein, natürlich nicht“

Ich trat nach draußen und meine Füße berührten den Steinboden. Die Nacht war angenehm kühl, im Gegensatz zu den heißen Temperaturen, die tagsüber in Brasov herrschten. Ich ließ mich neben Corvin auf den Stufen nieder und er bot mir eine seiner Zigaretten an.

„Danke....Was machst du hier draußen um diese Uhrzeit?“, fragte ich und schob mir die Zigarette zwischen die Lippen.

„Ach, ich konnte nicht schlafen“, erwiderte Corvin, während er mir die Zigarette anzündete. „Und du?“

Ich hob die Schultern. Ich war von meinem äußerst lebhaften Traum aufgeschreckt und spürte, wie sich die Nervosität in mir breit machte. Mir kam das Gespräch mit Adi vor ein paar Stunden wieder in den Sinn. Waren Corvin und ich wirklich Seelenverwandte? Hatten wir eine gemeinsame Vergangenheit in einem anderen Leben gehabt?

„Ich bin wach geworden, weil ich fürchterlichen Durst hatte“, sagte ich schließlich. „Und dann hab ich dich hier draußen sitzen sehen und dachte, ich leiste dir für einen Augenblick Gesellschaft“

Um Corvin´s Mundwinkel zuckte ein Schmunzeln. Dann schwiegen wir beide für eine Weile und rauchten unsere Zigaretten. Ich beobachtete ihn unauffällig von der Seite, wie er hinauf zum Nachthimmel sah. Ich nahm jedes Detail seines Profils in mich auf: Die langen Wimpern, die gerade Nase, die schmalen Lippen. Und plötzlich überkam mich wieder das Gefühl, das hier schon einmal erlebt zu haben.....

 

 

Arian, was machst du denn um diese Uhrzeit hier draußen?“

Er saß auf der Treppe, drehte sich zu mir um und seine dunklen Augen blitzten mich schelmisch an.

Rauchen. Oder wonach sieht es denn deiner Meinung nach aus, Rada?“

Ich stemmte die Hände in die Hüften.

Wenn Großmutter das sieht, dann jagt sie dich zum Teufel!“

Es ist mitten in der Nacht! Sie schläft bereits tief und fest. Sie hat gar keine Zeit, mich zum Teufel zu jagen!“, gab Arian spitzbübisch zurück. Seufzend ließ ich mich neben ihm auf den Stufen nieder und schob meinen langen Rock zurecht.

Na, wenn du das sagst! Du weißt, dass sie ihre Augen und Ohren überall hat....“

Arian zuckte nur mit den Schultern und zog genüsslich an seiner Zigarette. Mit einem Hauch von Belustigung und Missbilligung musterte ich ihn von der Seite, wie er den Rauch in den Nachthimmel blies. Er sah dabei sehr lässig und gleichzeitig elegant aus. Und unglaublich attraktiv. Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss.

Was ist, Rada? Warum siehst du mich so an??“, fragte Arian neckisch. Ich verzog das Gesicht und ehe er sich versah, hatte ich ihm die Zigarette abgenommen.

Nun sei mal nicht so geizig, ja?“

Arian sah mich aus großen Augen an, als er beobachtete, wie ich einen kräftigen Zug von der Zigarette nahm. Noch mehr verwundert schien er darüber zu sein, dass ich keinen Hustenanfall bekam.

Rada! Seit wann rauchst du denn??“

Ich lachte leise auf.

Tja, du weißt eben gar nichts von mir, Arian. Immerhin warst du viel zu lange weg und hast Einiges verpasst“

Für einen Moment sahen wir uns in die Augen und ich spürte, wie mein Herz schneller schlug. Arian´s Blick war ganz sanft und voller Wärme.

Ja, und du glaubst nicht, wie sehr du mir in all der Zeit gefehlt hast, Rada“

Mein Blick hing an seinen wunderschön geformten, schmalen Lippen, die sich langsam auf mich zu bewegten, sich sanft auf meine legten....

 

 

„Romy? Alles in Ordnung?“

Corvin´s Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Für einen Moment sah ich mich erschrocken zu allen Seiten um und stellte fest, dass ich noch immer mit ihm draußen auf der Treppe saß. Mich hatte soeben wieder eine Vision oder eine Erinnerung – ich wusste ja noch immer noch nicht so Recht, was es mit all dem auf sich hatte – ereilt. Ich erlangte nach kurzer Zeit die Fassung zurück und erwiderte:

„Ja, alles in Ordnung. Wieso fragst du?“

Belustigung blitzte in seinen dunklen Augen auf.

„Weil du mich die ganze Zeit anstarrst“

Die Röte schoss mir ins Gesicht und ich riss erschrocken die Augen auf.

„Tut mir echt Leid! Ich war wohl irgendwie in Gedanken versunken....Bitte entschuldige!“

Corvin lachte.

„Ist schon in Ordnung. Woran hast du denn gedacht?“

Nervosität machte sich in mir breit. Wie sollte ich ihm das alles erklären? Er würde mich doch sicher für vollkommen verrückt halten!

„Ach, an nichts Wichtiges....“, redete ich mich heraus und musste plötzlich gähnen. Die Müdigkeit schien mich wieder zu übermannen. „Danke für die Zigarette, Corvin. Ich denke, ich werde wieder ins Bett gehen“

Ich erhob mich und wollte gerade die Stufen nach oben zurück gehen. Doch dann hielt ich für einen Moment inne.

„Romy?“

Erwartungsvoll sah ich Corvin an.

„Ja?“

„Danke für die Einladung zum Festival. Das bedeutet mir sehr viel....“, sagte er lächelnd und mein Herz begann vor Freude zu hüpfen, als ich diese wunderschönen Grübchen und die kleinen Fältchen um seine dunklen Augen wieder erblickte. Ein Lächeln machte sich auf meinem Gesicht breit.

„Sehr gerne, Corvin“, erwiderte ich. „Gute Nacht. Schlaf gut“

„Somn usor, Romy....“

 

 

Corvin

 

Ich sah Romina nach, wie sie oben in der Haustüre verschwand. Dann zündete ich mir eine weitere Zigarette an. Der Traum, den ich zuvor gehabt hatte, ließ mich noch immer nicht los. Ich war mir nicht sicher, ob es nur ein Traum oder eine Erinnerung war. Es war nicht das erste Mal, dass ich so lebhaft träumte. Von ihr, dem Mädchen, das seit zwei Tagen Gast in meinem Haus war. Mein Blick fiel auf die grüne Holzbank unten vor dem Haus. Genau dort hatte ich mit ihr in meinem Traum gesessen, sie geküsst, ihre schwarzen, weichen Locken durch meine Finger gleiten lassen, ihren süßlichen Duft in mich aufgesogen. Rada hatte ich sie zärtlich genannt. Hatte ihr gesagt, dass ich sie liebte. Der Szenerie spielte in einer anderen Zeit, etwa im 18. Jahrhundert. Doch ihr Name war nicht Rada, sondern Romina. Ich konnte mir nicht erklären, was all das zu bedeuten hatte. Doch nun wusste ich, woher mir Romina so unglaublich bekannt vor kam: Sie war mir schon oft in meinen Träumen erschienen, doch ihr Gesicht war jedes Mal nicht klar zu sehen gewesen. Erst seitdem sie hier war, wurden die Träume klarer und heute Nacht hatte ich zum ersten Mal ihr Gesicht gesehen. Und als ich aufwachte, war es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Dabei hatte ich es schon geahnt, dass sie es war, als ich sie am Brunnen sitzen sah....Und doch wusste ich nicht, ob ich diesen Träumen Glauben schenken konnte und was sie zu bedeuten hatten. Ob ich mit diesen Gefühlen umgehen konnte, die die Träume in mir auslösten. Mit den Gefühlen, die Romy in mir auslöste. Ich mochte sie, das konnte ich nicht leugnen und ich fühlte vom ersten Moment an eine Vertrautheit zu ihr. Und das, obwohl ich sie erst einen Tag lang kannte. Und doch war da doch auch diese Angst in mir. Die Angst, Gefühle zu zulassen. Die Angst verlassen, zurückgestoßen zu werden. Und alles, was mir danach bleiben würde, war eine unendliche Leere und Traurigkeit.

Seufzend drückte ich die Zigarette auf der Steintreppe aus, erhob mich schließlich und machte mich auf den Weg zurück ins Haus.

 

 

 

Romy

 

Ich lag im Bett und versuchte verzweifelt wieder in den Schlaf zurückzufinden. Doch es gelang mir einfach nicht. Meine Gedanken kreisten um Corvin und darum, was sich zuvor erneut in einer Erinnerung - oder Vision - vor meinem geistigen Auge abgespielt hatte. Arian. Genauso hieß der kleine, schwarzhaarige Junge aus meinem Traum. Und nun war mir dieser Name wieder begegnet. Und Arian hatte in meiner Vision genau wie Corvin ausgesehen. Doch diese Szene hatte sich erneut in einer anderen Zeit abgespielt, aber ich konnte nicht genau deuten, in welcher Epoche. Es war einfach zu verrückt und unbegreiflich, was ich in den letzten zwei Tagen erlebte. Diese Visionen fühlten sich so verdammt real an, als hatte ich sie wahrhaftig am eigenen Leib erlebt. Als sei mir all das wirklich passiert. Wieder kam mir die Unterhaltung mit Adriana in den Sinn:

Es gibt Menschen, denen Ähnliches passiert ist und sie haben eine Rückführung in ihr vergangenes Leben gemacht. Dort haben sie dann alles sehen können, was ihnen in ihren vergangenen Existenzen auf Erden widerfahren ist“

Ich nickte.

Ja, davon habe ich schon gehört“

Und weißt du auch, dass es bestimmte Seelenverbindungen auf dieser Erde gibt? Seelen, die sich im Laufe ihres Lebens immer und immer wieder finden? Über Lebenszyklen hinweg? So etwas nennt man Seelenverwandtschaft. Vielleicht haben Corvin und du eine dieser besonderen Verbindungen“

Dieser Gedanke ließ mich einfach nicht mehr los. Ich musste etwas darüber herausfinden. Kurzerhand griff ich nach meinem Handy und gab in den Browser „Seelenverwandtschaft“ ein. Dort stieß ich auf einige Erklärungen und Ausführungen, doch das erschien mir alles zu oberflächlich. Doch nach einigem Weitersuchen begegnete mir ein Artikel, der mein Interesse erweckte. Darin ging es um „Zwillingsseelen“ oder auch „Zwillingsflammen“ genannt:

 

 

Wenn ein Mensch seine Zwillingsseele trifft, entsteht ein großes Vertrauen und Verbundenheit. Oft reicht schon ein einziger Blickkontakt zwischen zwei verwandten Seelen, zwischen Zwillingsseelen, um Wissen, Verstehen, Vertrautheit und Nähe zu erlangen. Oft haben Menschen dann auch das Gefühl, den anderen in seiner Tiefe zu erkennen. Eine solche Verbindung ist ein Geschenk oder auch Segen, der einfach da ist. Oft passiert den Beteiligten so eine Liebe einfach. Denn eine Liebe mit seiner Zwillingsseele kann man sich nicht erarbeiten oder verdienen. Sie ist und war immer da, über verschiedene Inkarnationen hinweg. Wenn zwei Seelen sich finden und ihre Getrenntheit voneinander überwinden, ist dies immer ein Segen. Grundsätzlich braucht ein Mensch seine Zwillingsseele nicht zu suchen. Wenn ein Zusammentreffen mit der Zwillingsseele in seinem Seelenplan angelegt ist, dass er dieser begegnen wird, dann passiert es auch. Es ist jedoch tatsächlich nicht selbstverständlich, dass beide Teile einer Seele immer zu gleicher Zeit inkarnieren. Es kann durchaus passieren, dass über mehrere Leben nur ein Teil der Zwillingseele inkarniert und beide sich über mehrere Inkarnationen nicht treffen. Auch wenn der eine Teil einer Zwillingsseele nicht inkarniert ist, profitiert dieser Teil in der geistigen Welt von den Erfahrungen seines Seelenpartners. Oft ist die Verbindung zwischen beiden dann sogar ausgesprochen harmonisch, weil sie ohne Ego und zu große Emotionen vonstatten geht. Eben gerade, weil im Menschsein das menschliche Ego und der Geist einer solchen Verbindung oft im Weg stehen, ist es meist so, dass nur alte, sehr weise Seelen ihre Zwillingsseele im menschlichen Leben treffen.

 

Über verschiedene Inkarnationen hinweg..., wiederholte ich die Worte des Artikels in Gedanken. Dann war es also wirklich möglich, dass mir in den letzten beiden Tagen immer wieder Erinnerungsfetzen eines früheren Lebens ins Bewusstsein traten, weil meine inkarnierte Seele offenbar wusste, dass ich dabei war, meiner Zwillingsseele zu begegnen. Ich erinnerte mich daran, dass ich bereits eine Verbundenheit zu diesem Land, Rumänien, verspürt hatte, als Adi und ich die Karpaten erreichten. Und dieses unglaubliche Gefühl, jedes Detail, jedes Zimmer dieses Hauses zu kennen, in dem wir unseren Urlaub verbrachten. War mein Name also wirklich Rada in einem meiner vergangenen Leben gewesen? War ich wirklich sie? Und was war mit Corvin? Wenn ich dem Artikel Glauben schenken konnte, dann wurde seine Seele zur gleichen Zeit wie meine in der menschlichen Welt wiedergeboren, denn sonst hätte ich ihn nicht angetroffen. Doch wusste er es ebenfalls? Spürte er die gleiche Verbundenheit zu mir, die ich für ihn empfand?

Ich las den Artikel weiter:

 

Wenn die Zwillingseelen zusammenfinden. erleben diese Menschen oft spontan sehr intensive Zusammenkünfte mit ihrer Zwillingsflamme. So kommt diese oft schnell durch Zufälle in ihr Leben. Meist spüren es beide Menschen sofort oder zeitnah, dass sie sehr vertraut miteinander sind. Nur selten erkennt nur ein Partner, dass es sich um seine Zwillingsseele handelt. Dann jagt er quasi oft dem anderen hinterher, bis dieser sich wieder erinnert an den Seelenvertrag und die Verbindung, die beide jenseits der Welt der Dinge getroffen haben. Schnell werden ihnen gemeinsame Erinnerungen klar, die sie aus verschiedenen vorangegangenen Inkarnationen teilen.

War das die Antwort auf meine Fragen? Wenn es also wirklich der Wahrheit entsprach, dass Corvin und ich Zwillingsseelen waren, dann musste auch er es mittlerweile erkannt haben – oder auch nicht. Wie sollte ich das herausfinden? Sollte ich einfach zu ihm gehen und sagen:

„Hey, ich hab da so ein Gefühl, dass du meine Zwillingsseele bist?“

Nein. Allein die Vorstellung, ihm diese Frage zu stellen, war vollkommen absurd. Womöglich hielt er mich dann für vollkommen verrückt und abgedreht. Ich konnte ihn keinesfalls danach fragen, ohne vollkommen vor Scham im Erdboden zu versinken, wenn er seltsam darauf reagierte. Also beschloss ich, einfach auf Zeichen zu warten, die mir verrieten, dass er genauso empfand. Die Zeit würde es offenbaren.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 5

5. Kapitel

Romy

 

Romy! Wach auf!“

Adi´s Stimme holte mich aus dem Schlaf. Grummelnd öffnete ich die Augen. Sie saß neben mir auf der Bettkante und strahlte übers ganze Gesicht. Was war passiert? Wie spät war es?

„Hey, Schlafmütze! Raus aus den Federn! Es ist fast 12 Uhr Mittags“ Adi deutete auf etwas neben sich. „Und rate mal, was soeben angekommen ist? Dein Koffer!“

Mit einem Mal saß ich senkrecht im Bett.

„Ehrlich??! Mann, bin ich erleichtert!“

Endlich waren meine persönlichen Sachen wieder bei mir! Mir fiel wirklich ein Stein vom Herzen. Nun war der Urlaub gerettet und ich konnte ihn in vollen Zügen genießen. Konnte ich? In mir waren noch immer so viele Fragen. Würde ich die Antworten darauf erhalten? Ich stellte fest, dass ich nicht mehr geträumt hatte, als ich gestern Nacht irgendwann endlich wieder eingeschlafen war. Mir ging diese ganze Sache mit Corvin einfach nicht aus dem Kopf. Ein Teil von mir war sich fast sicher, dass all das stimmen musste, was ich gestern Nacht im Internet über Zwillingsseelen gelesen hatte. Doch der andere, skeptische Teil in mir konnte sich das einfach nicht vorstellen. Mein Verstand rebellierte dagegen.

Ein Fingerschnippen vor meinem Gesicht holte mich in die Realität zurück.

„Hey! Wo bist du schon wieder mit deinen Gedanken, Liebes?“ Adriana´s Stimme klang belustigt.

Ich rang mich zu einem gequälten Lächeln durch.

„Ach, weißt du, Adi.....wir haben doch über das Thema Seelenverbindungen gesprochen gestern Abend. Und ich habe ein wenig im Netz recherchiert gestern Nacht, nachdem ich wieder einen sehr realistischen Traum hatte, von dem ich glaube, dass es eine Erinnerung aus einem früheren Leben war. Ich schrak aus dem Traum auf und konnte nicht mehr einschlafen. Also bin ich in die Küche gegangen, um Wasser zu trinken. Und dann sah ich Corvin draußen auf der Treppe sitzen. Also habe ich mich zu ihm gesellt....“

„Und was dann?“ Adi´s Stimme war die Spannung deutlich anzuhören. Zumindest schien sie mich nicht für vollkommen abgedreht zu halten. Es war, als wusste sie insgeheim genau, wovon ich sprach und schien es zu verstehen. Oder war es einfach nur die Tatsache, dass sie eben meine beste Freundin war und ich mit ihr einfach über alles reden konnte? Also fuhr ich unbeirrt mit meiner Erzählung fort:

„Dann hatte ich wieder eine Erinnerung......Corvin´s Name war Arian. Und meiner war Rada. Ich glaube, ich war in meinem früheren Leben ein Zigeunermädchen und bin als kleines Kind in Arian´s Familie gekommen. Das hat mir zumindest mein Traum letzte Nacht offenbart. In der Vision draußen auf der Treppe waren wir beide schon erwachsen, wir neckten uns gegenseitig, schienen uns sehr vertraut zu sein....und ich glaube, wir waren verliebt ineinander...“

Meine beste Freundin stieß scharf die Luft aus.

„Meine Güte! Wie aufregend!“

Ja, das war es durchaus. Doch ich wusste noch immer nicht, ob das alles wirklich real war. Was, wenn ich mir das alles nur einbildete? Aber das erklärte nicht die seltsamen Bilder und Träume, die immer wieder auftauchten.

„Ja, es ist aufregend. Aber auch sehr nervenaufreibend, weil alles, was ich sehe, sich so verdammt echt anfühlt. So, als ist mir all das wirklich widerfahren. Und wenn Corvin und ich wirklich Zwillingsseelen sind, dann muss auch er mich bereits erkannt haben. So stand es zumindest im Internet, dass beide Seelen sich erkennen, wenn sie sich begegnen“

„Warum fragst du ihn nicht einfach danach?“, wollte Adi wissen.

„Nein!“, entfuhr es mir unwillkürlich. „Das kann ich nicht, Adi. Wie soll ich das denn bitte machen? Was, wenn er mich für eine Spinnerin hält? Ich habe beschlossen, lieber abzuwarten, ob ich mit der Zeit Zeichen erkennen kann, die mir verraten, dass er genauso empfindet“

Adriana runzelte die Stirn.

„Wie ist denn dein Eindruck von ihm? Wie verhält sich Corvin dir gegenüber?“

Ich überlegte eine Weile. Corvin war eigentlich ein ziemlich zurückhaltender Mensch. Stets höflich, aber oft wirkte er ziemlich gedankenverloren und introvertiert. Viel konnte ich über ihn nicht sagen, schließlich kannte ich ihn erst seit zwei Tagen. So vertraut er mir vorkam, genauso war er mir aber auch ein Rätsel. Und trotzdem schien ich manchmal in seinen Augen einen Funken zu erkennen, wenn er mich ansah.

Ein Klopfen an der Zimmertüre ließ mich aus meinen Gedanken aufschrecken.

„Mädels? Seid ihr wach? Kann ich reinkommen? “

Corvin. Mein Herz setzte unwillkürlich einen Schlag aus.

„Klar! Komm rein!“, erwiderte Adi fröhlich.

Im nächsten Moment erschien Corvin im Zimmer – und mir stockte der Atem. Wie jedes Mal, wenn er mir gegenüber stand. Er trug schwarze Shorts und ein schwarzes Muskelshirt. Seine dunklen Haare fielen ihm wirr ins Gesicht. Und er sah einfach nur unglaublich süß aus, wie er so da stand. Kurz begegneten sich unsere Blicke und ich spürte sogleich wieder das Feuer, das in meinem Herzen aufzuflammen begann, es mich innerlich verzehrte. Jede Faser meines Körpers sehnte sich nach diesem Mann. Mein Herz hämmerte wie wild in meiner Brust. Fast so, als wollte es zerspringen.

„Guten Morgen. Habt ihr gut geschlafen?“, fragte er an uns beide gewandt. Ich erwiderte seine Frage mit einem Nicken.

„Frühstück steht bereits auf dem Tisch, wenn ihr hungrig seid“, meinte Corvin. „Und vielleicht können wir dann besprechen, was wir heute Schönes unternehmen werden“

„In Ordnung“, entgegnete Adi.

 

 

Beim Frühstück beschlossen wir einstimmig, einen Ausflug nach Bran zum Dracula-Schloss zu unternehmen. Corvin und Alexandru erzählten, dass dort eine ehemalige Schulfreundin namens Adina als Tourguide arbeitete. Corvin rief sie sogleich an und erfuhr, dass sie heute Dienst hatte. Ich war schon ziemlich gespannt. Bereits vor der Reise hatte ich mich im Internet darüber informiert. Es hieß, dass Schloss Bran den Touristen zwar als Dracula Schloss präsentiert wurde, da es der Beschreibung des Schlosses in Bram Stokers Roman ähnelte, der walachische Fürst Vlad III. Draculea es aber nie betreten hatte. Trotzdem schien sich mit dem Mythos um Vlad Dracula scheinbar viel Geld zu machen. Denn es hieß, dass täglich fast fünftausend Touristen das Schloss besuchten. Heutzutage befand es sich im Besitz der Habsburger. Nichtsdestotrotz freute ich mich auf den Besuch dort, da ich alte Gemäuer, Burgen und Schlösser schon immer furchtbar interessant fand. Sie ließen einen für kurze Zeit in ein anderes Zeitalter eintauchen.

Während wir am Frühstückstisch in der Küche saßen, vibrierte Alexandru´s Handy auf der Tischplatte. Er griff danach und hob ab. Soweit ich es verstehen konnte, war Milena am Telefon. Die beiden unterhielten sich eine Weile auf rumänisch. Hin und wieder drang das Worte „Bran“ zu mir durch. Er schien ihr wohl gerade von unseren Ausflugsplänen zu berichten. Für einen Moment hielt der junge Rumäne inne und wandte sich an Adi und mich.

„Darf Milena auch mitkommen?“, fragte Alexandru und trank von seinem Kaffee.

„Aber selbstverständlich. Was für eine Frage“, erwiderte ich schmunzelnd. Ich mochte Alex´Freundin sehr und freute mich, dass sie uns begleiten wollte. Mit mir waren wir zu Fünft und passten daher locker alle in das Mietauto.

„Sie wird in einer Stunde hier sein“, meinte Alex, nachdem er das Gespräch mit seiner Freundin beendet hatte. Während wir gemütlich weiter aßen, spürte ich plötzlich, wie eine Gänsehaut über meinen Körper wanderte. Ohne von meinem Teller aufzusehen, wusste ich, dass Corvin´s sanfte, dunkle Augen auf mir ruhten. Als ich aufsah, kreuzten sich unsere Blicke. Zwar nur für einen kurzen Moment, doch es schien^qwdddd, als sahen wir uns eine halbe Ewigkeit in die Augen. Wieder spürte ich diese Sehnsucht in mir aufsteigen. Spürte die Einheit zwischen uns in dem Bruchteil dieser einen Sekunde. Fühlte mich für diesen einen Moment vollkommen und komplett. Nur ein einziger Blickkontakt reichte aus, um in mir dieses Gefühl der Verbundenheit herauf zu beschwören. Am Liebsten wollte ich sein samtenes, schwarzes Haar berühren. Meine Lippen auf seine sinken lassen, um mit ihm zu verschmelzen. Die Hitze stieg mir in die Wangen und ich fächerte mir unwillkürlich Luft zu.

Alexandru zog verwundert die Stirn kraus. „Was ist los? Ist dir heiß?“

Auf diese Frage war ich nicht vorbereitet und schaute ihn eine Weile verständnislos an, ehe ich die Sprache wiederfand.

„Puuh....Ja, es scheint ein heißer Tag zu werden“, erwiderte ich schließlich, zwischen ihm und Corvin hin und her schauend. Ein Schmunzeln huschte über Corvin´s Gesicht und das Erscheinen seiner Grübchen trug nicht wirklich zum Abklingen meiner Hitzewallungen bei. Ich hatte plötzlich das unbändige Verlangen nach einer Abkühlung. Ich vertilgte den letzten Bissen meines mit Käse belegten Weißbrotes und spülte ihn mit dem Rest Kaffee meine staubtrockene Kehle hinunter. Dann entschuldigte ich mich bei den Anderen, dass ich duschen gehen würde.

Leise seufzte ich auf, als das kühle Nass auf mich niederregnete. Das konnte ja ein toller Tag werden, wenn schon ein einziger Blickkontakt mit Corvin meinen Körper vollkommen aus der Fassung brachte. Doch da würde ich wohl oder übel irgendwie durch müssen. In mir brannte noch immer die Frage, ob er Dasselbe fühlte wie ich. Wenn ja, dann konnte er es unglaublich gut verbergen. Überhaupt verrieten seine Gesichtszüge sehr wenig über sein Gefühlsleben. Oftmals kam es mir vor, als sei er ein überaus kontrollierter Mensch. Was ich an sich ja auch war. Ich war der Kontrollfreak schlechthin. Ein typische Jungfrau eben. Nach Außen hin kühl und reserviert, stets in Gedanken am Analysieren meiner Umwelt und der Menschen um mich herum. Ich war eben das genaue Gegenteil von Adi. Während sie stets plapperte, wie ihr der Schnabel gewachsen war und niemals ein Blatt vor den Mund nahm, war ich der Ruhepol unserer langjährigen Freundschaft. Doch wir ergänzten uns in dieser Hinsicht einfach perfekt. Ich erdete sie, wenn es nötig war und sie ermutigte mich oftmals, einfach einmal etwas zu wagen.

Nach der Dusche fühlte ich mich herrlich erfrischt und schlüpfte in meine frische Unterwäsche und ein kurzes schwarzes Kleid, nachdem ich mich abgetrocknet hatte. Vor dem Badezimmerspiegel rubbelte ich meine Haare trocken und kämmte sie provisorisch durch. Den Rest würde die Sommersonne draußen erledigen.

Milena war in der Zwischenzeit eingetrudelt, als ich das Badezimmer verließ und wieder zu den Anderen in die Küche stieß.

„Hi Romy!“, begrüßte sie mich freudig und umarmte mich herzlich.

„Hey, Süße“, erwiderte ich und erwiderte ihre Umarmung. Ich musste zugeben, dass mir die quirlige, junge Rumänin mit dem niedlichen Puppengesicht innerhalb dieser kurzen Zeit bereits sehr ans Herz gewachsen war. Adriana, Corvin und Alexandru waren gerade dabei, den Frühstückstisch abzuräumen und das benutzte Geschirr zu spülen. Milena und ich halfen ihnen beim Abtrocknen und Einräumen.

Kurze Zeit später saßen wir dann in dem gemieteten Kleinwagen und machten uns auf den Weg in das rund dreißig Kilometer entfernte Bran. Glücklicherweise verfügte das Auto über eine Klimaanlage, denn draußen hatte es bereits um die sechsunddreißig Grad. In Rumänien waren die Sommer sehr heiß und trocken. Dennoch empfand ich den Sommer in Deutschland weitaus unangenehmer. Das Klima hier den Karpaten machte die Hitze doch ein weniger erträglicher.

Adi saß neben mir auf dem Beifahrersitz, während Corvin, Alex und Milena auf der Rückbank Platz genommen hatten. Meine beste Freundin suchte gerade nach einem Radiosender und stieß schließlich auf RockFM. Sie drehte das Radio lauter und kurzerhand ließen wir eine kleine Privatparty in dem Kleinwagen steigen. Die Stimmung war ausgelassen und fröhlich.

Etwa eine halbe Stunde später erreichten wir Bran. Der kleine Ort wirkte auf den ersten Blick sehr unscheinbar mit einer kurvigen Hauptstraße und einigen kleinen Restaurants und Cafés. Doch als sich das majestätische Schloss Bran vor meinen Augen in den Himmel erhob, stockte mir der Atem. Es war wirklich atemberaubend, wie es auf einem Hügel inmitten des kleinen Örtchens empor ragte. Es wirkte wie in einem Märchen und man konnte deutlich die Mystik spüren, die es umgab. Auch, wenn es sich dabei nur um eine Touristenattraktion für Dracula-Fans handelte. Alleine die Architektur des Schlosses war traumhaft. Es besaß mehrere sandsteinfarbene, spitze Türme. Der Rest davon wirkte, als sei es dem Felsenhügel entwachsen, auf dem es thronte.

„Wow!“, hauchte ich. „Wie wunderschön!“

„Du musst es erst mal im Winter sehen. Oder an Halloween!“, vernahm ich Corvins Stimme und sogleich vernahm ich das wohlige Prickeln einer Gänsehaut auf meinem gesamten Körper. Alleine seine Stimme zu hören, war wie Musik in meinen Ohren. Unwillkürlich stellte ich mir vor, wie es wohl sein mochte, Halloween mit ihm dort zu feiern. Ich schob diese Gedanken beiseite und sah mich nach einem Parkplatz um. Sogleich fanden wir einen in der Nähe des Schlosses.

Als wir den Innenhof betraten, fielen mir sofort die vielen Verkaufsstände mit „Dracula-Fanartikeln“ auf. Ein Schmunzeln huschte mir übers Gesicht, als ich doch tatsächlich „Dracula Beer“ erblickte. Einfach zu ulkig. Davon würde ich mir später wohl noch eine Flasche kaufen als Souvenir. Wir kauften unsere Eintrittskarten und stießen wenig später zu einer Gruppe von Touristen, die auf die Tourführerin warteten.

„Da ist Adina!“, rief Alexandru und zeigte auf eine kleine, junge Frau mit schulterlangen, braunen Haaren. Milena und die beiden Zwillinge winkten ihr zu.

Die Tour durch das Schloss dauerte gut eine Stunde und war sehr interessant. Adina erklärte auf humorvolle Art und Weise die historischen Fakten rund um Schloss Bran. Auch, wie der Mythos um das Dracula Schloss entstand. 1897 veröffentlichte Bram Stoker seinen Dracula-Roman, erlebte jedoch den Erfolg seines Buches nicht mehr, da er 1912 nach mehreren Schlaganfällen in London starb. Fasziniert von seinem Werk strömten Menschen in Scharen zu dem Schloss, um zu erfahren, ob hier wirklich ein Vampirfürst gelebt hatte. Die damaligen Rumänen antworteten auf diese bescheidene Frage lediglich mit: „Vielleicht, vielleicht auch nicht“. Und somit war der Hype um das Dracula-Schloss geboren worden– bis heute.

Adina erläuterte noch einige geschichtliche Fakten rund um Bran Castle. Es befand sich von 1377 bis 1427 unter ungarischer Herrschaft, fiel 1498 in den Besitz Brasovs, musste zwischenzeitlich einige Belagerungen durch Türken und walachische Truppen überstehen, bis es schließlich 1612 kampflos an Fürst Gabriel Bathory übergeben wurde. 1916 eroberten rumänische Truppen das Schloss und Brasov schenkte es 1920 Königin Maria, der Gattin von König Ferdinand I. Deren Tochter, Prinzessin Ileana, erbte es schließlich. Nachdem Rumänien nach dem Zweiten Weltkrieg kommunistisch wurde, übernahm der Staat das Schloss. Dessen Staatspräsident und Diktator Nicolae Ceausescu ließ es zur Touristenattraktion ausbauen. Im Mai 2006 gelangte Schloss Bran schließlich wieder in den Besitz von Dominic Habsburg zurück und wurde 2009 als Museum wiedereröffnet, in dem die Möbel und Objekte der Familie Habsburg ausgestellt waren. Diese sahen wir ebenfalls auf unserer Tour durch das Schloss: Das Zepter, die Krone und ein Silberdolch von König Ferdinand. Besonders faszinierten mich die einzelnen Zimmer und das gut erhaltene Interieur. Ich stellte mir vor, wie es wohl gewesen war, früher hier zu leben. Da mich an diesem Ort bisher keinerlei Visionen aus meinem vermeintlichen früheren Leben heimsuchten, schienen Rada und Arian diesen Ort niemals besucht zu haben. So konnte ich zumindest ein wenig durchatmen und musste nicht besorgt darum sein, wieder in meine parallele Gedankenwelt abzudriften.

Nach der Schlossführung spazierten wir noch durch den Park unterhalb von Bran Castle, in dem sich ein wunderschöner kleiner See und eine altertümliche Hütte befand, die „Casa de Ceai“ heiß. Es war sowohl Teehaus, als auch Restaurant. Dort ließen wir uns auf der gemütlichen Außenterrasse nieder und bestellten uns eisgekühlte Getränke. Milena und Alexandru nahmen gegenüber von Adi und mir Platz, während Corvin am Äußeren Ende des Tisches zwischen mir und seinem Bruder saß.

„Wie hat dir die Tour durch das Schloss gefallen, Romy?“, fragte Corvin. Die Art, wie er meinen Namen aussprach, ließ mein Herz schon wieder vor Freude Pirouetten tanzen und eine angenehme Wärme breitete sich darin aus.

„Oh, es war einfach wunderbar“, erwiderte ich lächelnd. „So schön hätte ich es mir gar nicht träumen lassen“

„Wir müssen unbedingt irgendwann noch einmal hier her kommen und Halloween hier feiern!“, meldete sich Adriana neben mir zu Wort.

„Ja, das wäre absolut cool!“, entgegnete Milena freudig.

„Ihr seid uns jederzeit willkommen!“, fügte Alexandru hinzu.

„Ja, absolut!“, stimmte Corvin seinem Zwillingsbruder zu. Ein Schmunzeln huschte über mein Gesicht bei dem Gedanken, eines Tages wieder hier her zurück zu kehren. Doch machte sich unerklärlicherweise auch ein Schmerz in meiner Brustgegend bei der Vorstellung breit, dass wir Rumänien in wenigen Tagen wieder verlassen würden. Wieso nur? War ich tief in meinem Inneren so sehr mit diesem Land verbunden? Es fühlte sich fast wie meine zweite Heimat an und das, obwohl ich es bis vor drei Tagen noch niemals zuvor betreten hatte. Noch vor nicht allzu langer Zeit hatte ich mir noch nicht einmal vorstellen können, überhaupt jemals hier einen Urlaub zu verbringen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich ihn hier finden würde und welch bedeutungsvolle Ereignisse ich hier erleben würde. Nein, niemals hatte ich mir das träumen lassen.



 

Nach gut einer Stunde machten wir uns schließlich auf den Weg zu den Souvenirständen, bei denen man außer den Dracula-Merchandise-Artikeln noch Schmuck und traditionelle rumänische Trachten erwerben konnte. Ich betrachtete die weißen Blusen mit den bestickten roten Blumenmustern und den dazugehörigen bunten Röcken. Normalerweise würde ich so etwas niemals nur im Ansatz tragen, dachte ich mir. Doch mein Gefühl sagte mir, dass ich in meinem früheren Leben wohl beinahe täglich solche Kleider getragen hatte.

„Willst du dir nicht eins kaufen?“, feixte Adriana neben mir.

Naserümpfend sah ich sie an.

„Im Leben nicht!“

„Och. Komm schon, Romy! Das würde dir doch super stehen!“, neckte sie mich weiter, worauf sie einen missbilligenden Blick von mir erntete. Nein, ich blieb bei meinem dezenten, fröhlichen Schwarz. Bunte Kleider waren einfach nichts für mich. Außer vielleicht beim Orientalischen Tanz. Das war etwas ganz Anderes.

Als ich mich von dem Stand abwandte, um weiter zu gehen, wurde ich plötzlich von einem der vorbeigehenden Besucher angerempelt. Ich stolperte vorwärts und wusste gar nicht, wie mir geschah, als ich plötzlich gegen einen anderen Körper stieß und direkt in dessen Armen landete.

Meine Güte, wie peinlich!

„Oh, tut mir....“

Ich brach mitten im Satz ab, als ich den Blick hob und direkt in zwei sanfte, braune Augen blickte. Die Augen, die mir so unendlich vertraut waren und in die ich am Liebsten eintauchen wollte. Corvin´s Augen.

Für einen Moment war ich wie erstarrt und sah ihn einfach nur an, während er mich noch immer festhielt. Seine Berührung strömte wie ein Blitz durch meinen gesamten Körper. Mein Herz hämmerte wild gegen meinen Brustkorb, als wollte es jeden Moment heraus springen. Ein weiteres Mal verblasste alles um mich herum, die Gespräche der anderen Leute rückten in weite Ferne...Es gab nur mich und ihn in diesem Moment. Unsere Herzschläge, die sich zu einem zusammenfügten...

Zorn blitzte plötzlich in seinen Augen auf, der mir einen Schauer über den Rücken jagte.

„Können diese Idioten nicht aufpassen?!“ Bisher hatte ich ihn nur als ruhig und zurückhaltend erlebt.

„Alles in Ordnung, Romy?“, fügte er dann sanft hinzu und musterte mich.

Ich nickte stumm.

„Ja, alles ok“

„Ok“, schmunzelte er und ein sanftes Leuchten kehrte in seinen Blick zurück. Er ließ mich los und innerlich wünschte ich mir, er hätte es nicht getan. Wünschte mir, dass er mich nur noch für eine weitere Sekunde festhielt.

„Verdammte Rüpel!“, empörte sich Adi. „Und sich zu entschuldigen haben sie wohl auch nicht gelernt! Alles in Ordnung, Mäuschen?“

„Mir geht’s gut. Nichts passiert“, versicherte ich ihr.

„Na, bist ja auch gut aufgefangen worden!“, feixte sie mir zwinkernd zu.

Unwillkürlich verdrehte ich die Augen und stieß sie leicht mit dem Ellenbogen in die Seite. Ihre Kommentare konnte ich gerade nun wirklich nicht gebrauchen. Nur gut, dass sie Deutsch gesprochen hatte, sodass die Anderen es nicht verstehen konnten.

„Was hat sie gesagt?“, wollte Corvin stirnrunzelnd wissen und unterdrückte ein Lachen wegen meiner Reaktion auf Adriana´s Worte.

„Ach, nichts. Schon gut“, erwiderte ich und schmunzelte leicht.

Wir liefen weiter die Souvenirstände ab und ich kaufte mir letztendlich das „Dracula Beer“, das ich bei Ankunft am Schloss zuvor schon entdeckt hatte. Gegen Abend machten wir uns dann auf den Rückweg nach Brasov.

 

 

 

Das war ein schöner Ausflug!“, schwärmte Adi, als ich später Zuhause mit ihr auf der grünen Holzbank im Hof saß und wir gemeinsam eine Zigarette rauchten. Corvin und die Anderen waren im Haus, wo sie Tante Flori halfen beim Zubereiten des Abendessens halfen.

Ja, das war es wirklich“, erwiderte ich und blies den Rauch in den Himmel.

Es war gegen neunzehn Uhr und die Abendsonne tauchte den Hof in ein sanftes Licht.

Meine beste Freundin und ich saßen noch eine ganze Weile draußen, genossen die allmählich kühler werdende Abendluft. Hin und wieder passierten uns Nachbarn, die wir freundlich mit „Buna Seara“ grüßten, was auf rumänisch „Guten Abend“ hieß. Diese nickten uns stets höflich im Vorbeigehen zu, beachteten uns aber nicht weiter. Doch eine etwas ältere Frau mit zu einem Dutt hochgesteckten schwarzen Haaren und dunkler Haut, hielt neben der Bank inne. Eine Gänsehaut durchfuhr mich, als sie mir mit ihren dunklen Augen direkt in meine blickte. Ihr Blick war so durchdringend, als könne sie direkt in meine Seele blicken. Eine geheimnisvolle Aura umgab die Frau und in ihrem Blick lag ein wissender Ausdruck, als sie freundlich lächelnd auf mich zu trat. Von Adi schien sie allerdings keinerlei Notiz zu nehmen, was mich irritierte. Die Frau sprach rumänisch, doch auf unerklärliche Weise verstand ich jedes einzelne Wort, als sei es meine Muttersprache:

Ai venit la Arian?“

Bist du zu Arian gekommen?

Mein Herz setzte einen Schlag aus und ich starrte die Frau mit geweiteten Augen an. Ein kalter Schauer nach dem anderen jagte über meinen Rücken und ließ jede Faser meines Körpers erzittern. Ich war nicht im Stande, etwas zu erwidern. Mir fehlten einfach die Worte, sie blieben mir im Halse stecken. Woher wusste diese Frau davon? Wieso wusste sie von Arian? Und warum konnte ich sie verstehen? Ich sprach normalerweise kein einziges Wort rumänisch, geschweige denn konnte ich es verstehen!

Noch immer freundlich schmunzelnd setzte die Frau dann ihren Weg fort und verschwand durch das Tor nach draußen auf die Straße. Ich starrte ihr noch immer ungläubig hinterher, als ich hörte, wie Adriana neben mir die Luft scharf ausstieß.

Langsam löste ich mich aus meiner Erstarrung und sah meine beste Freundin an, in deren Gesicht ebenfalls die Fragezeichen geschrieben standen.

Hast du das gehört?“, flüsterte ich. Ich war nicht in der Lage, laut zu sprechen. Es war, als strengte es mich zu sehr an, denn meine Kehle war staubtrocken. Adi´s braune Augen weiteten sich.

Hast du verstanden, was sie gesagt hat?“

Ich erwiderte ihre Frage mit einem stummen Nicken.

Jedes einzelne Wort...Wie ist das möglich, Adi?? Woher weiß sie davon? Und warum scheint sie mich zu kennen? Ich verstehe das alles einfach nicht mehr!“

Während ich diese Worte aussprach, rieb ich mir angestrengt die Schläfen und fühlte mich mit einem Mal vollkommen ausgelaugt. So, als hatte der durchdringende Blick der Frau mir jegliche Energie geraubt.

Ich weiß es nicht“, gab Adi zu.

Das war eine Zigeunerin, richtig?“

Adriana bejahte. Meines Wissens sagte man den Zigeunerinnen nach, dass sie die Zukunft voraussagen konnten. Doch konnten sie auch in die Vergangenheit sehen? Nach allem, was ich bisher in den wenigen Tagen hier erlebt hatte, war das nichts, was mich verwundern würde. Ich musste unbedingt herausfinden, wer diese Frau war und woher sie all das wusste. Vielleicht konnte sie mir Antworten auf all meine Fragen geben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 6

 

6. Kapitel

Romy

 

 

„Essen ist fertig!“

Ich erschrak fürchterlich, als mich Corvin´s Stimme aus meinen Gedanken riss und hielt mir vor Schreck die Hand ans Herz. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er gekommen war! Ein verwirrter Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit und er hob fragend die Augenbrauen.

„Alles in Ordnung?“

Ich atmete tief durch und mein Herzschlag beruhigte sich allmählich wieder.

„Ich hab mich nur erschreckt. Alles gut“

In Adi´s dunklen Augen blitzte der Schalk auf, als sie Corvin musterte.

„Und du bist nicht der Einzige, der Romy einen Schrecken eingejagt hat. Ihr habt da eine ziemlich unheimliche Nachbarin!“

Ich warf ihr einen missbilligenden Blick zu. Ich wusste, dass sie auf die Begegnung mit der Zigeunerin anspielte.

„Wie meinst du das, Adriana?“, wollte der schwarzhaarige Rumäne wissen. „Welche Nachbarin meinst du?“

„Die alte Zigeunerin“

Verwunderung machte sich auf seinem Gesicht breit.

„Welche alte Zigeunerin? Hier wohnt keine alte Zigeunerin“

„Auf jeden Fall war sie ein wenig strange“

Corvin winkte ab.

„Das sind die meisten Zigeuner. Aber ich kann euch versichern, dass hier im Innenhof keine wohnen“

Meine beste Freundin sah mich an. Mit einem stummen Flehen in meinem Blick gab ich ihr zu verstehen, nicht weiter zu sprechen. Ich wollte dieses Thema hier und jetzt nicht weiter ausführen. Zumal meine Chance, sie wieder zu treffen, nun um Einiges geschmälert worden war, wenn sie wirklich nicht hier wohnte. Glücklicherweise schien Adi meine Bitte zu verstehen. Sie wandte sich wieder an Corvin und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.

„Na, ist auch egal. Was hat Tante Flori Gutes gezaubert?“

 

 

 

Es gab mit Hackfleisch und Reis gefüllte Paprikaschoten und dazu Polenta – oder „Mamaliga“, wie man den Maisbrei in Rumänien nannte. Es schmeckte wirklich vorzüglich und wir alle aßen mit großem Appetit. Ich nahm gleich eine doppelte Portion.

Wenig später rieb ich mir draußen auf der Bank den Bauch, während ich mir noch eine Zigarette gönnte. Die Anderen waren im Haus und halfen beim Abspülen. Ich persönlich genoss diesen Moment der Stille im Hof - und mit meinen Gedanken alleine zu sein. Ich grübelte noch immer über diese alte Frau nach und hoffte, dass sie vielleicht wieder über den Hof laufen würde. Doch niemand erschien. Ich war die Einzige hier draußen. Mittlerweile war die Sonne fast untergegangen und eine angenehme Kühle breitete sich aus. Ich zog meine Strickjacke ein wenig enger um meine Schultern.

Schritte ertönten auf der Treppe und als ich aufsah, erblickte ich Corvin, der sich lässig beim Heruntergehen eine Zigarette zwischen seine schön geschwungenen Lippen schob und sie anzündete.

„Hey...“, sagte er und ließ sich neben mir auf der Bank nieder.

„Hey...“, erwiderte ich und es klang irgendwie tonlos. Ich wusste selbst nicht warum. Doch Corvin schien zu bemerken, dass etwas nicht stimmte.

„Ist alles in Ordnung mit dir, Romina?“

Ich wusste nicht recht, was ich darauf antworten sollte. War alles in Ordnung? Nein, irgendwie so ganz und gar nicht. Seitdem ich in dieses Land gekommen war, war mein Leben vollkommen auf den Kopf gestellt worden. Ich glaubte, meiner Zwillingsseele begegnet zu sein, was an sich eigentlich etwas Wunderbares war. Doch ich wusste noch immer nicht, ob es ihm genauso erging. Wie sollte ich es herausfinden? Ich hatte gehofft, dass die alte Frau mir meine Fragen beantworten können würde. Aber ob ich sie jemals wieder sehen würde, stand in den Sternen.

Ich hob die Schultern, stieß einen Seufzer aus und rang mich schließlich zu einem Lächeln durch, während ich ihn ansah.

„Ich bin nur müde. Das ist alles“

Ein Schmunzeln trat auf sein Gesicht und seine braunen Augen funkelten sanft.

„In Ordnung“

Er schwieg für einen Moment und wir beide hingen unseren eigenen Gedanken nach, eher er sagte: „Das war ein schöner Tag heute“

„Ja. Es hat Spaß gemacht“

Dann musterte Corvin mich mit einem Anflug von Verwirrung und legte die Stirn in Falten. Ich fragte mich, worüber er nachgrübelte?

„Adriana hat doch vorhin gesagt, dass eine alte Zigeunerin dich erschreckt hat. Was hat sie getan?“

Die Hitze stieg mir ins Gesicht. Oh, Nein! Was sollte ich ihm sagen? Doch vielleicht war das ein guter Moment, ihm ein wenig auf den Zahn zu fühlen.

„Sag mal, Corvin: Wohnt hier zufällig jemand namens Arian?“

Der junge Rumäne riss verwundert die Augen auf und ein Ausdruck machte sich darin breit, den ich nicht deuten konnte. Er schien eine Weile zu überlegen, ehe er antwortete:

„Wieso fragst du das?“

„Weil die alte Frau diesen Namen erwähnte. Sie fragte mich, ob ich zu ihm gekommen sei. Wer ist Arian?“

Vielleicht konnte ich Corvin mit dieser Frage entlocken, ob er ebenfalls von Visionen und Träumen aus einem vergangenen Leben heimgesucht wurde. Corvin senkte den Blick, ehe er mich wieder ansah. Durchdringend. Fragend? Unsicher? Ich wandte meinen Blick nicht von ihm ab. Versuchte, in seine Seele zu blicken und von seinen Augen etwas zu abzulesen, das mir verriet, dass ich nicht die einzige Verrückte hier war. Und ein Gefühl sagte mir plötzlich, dass er genau wusste, wovon ich sprach.

Er wandte seinen Blick von mir ab und starrte gerade aus. Doch das Band zwischen uns war nicht gerissen. Es bestand noch immer, wurde in diesem Moment vielleicht stärker als jemals zuvor.

„Ich habe keine Ahnung“

Ich musterte ihn von der Seite. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Ich konnte förmlich sein Herz hören, das wild in seiner Brust hämmerte. Sein Gesicht wirkte angespannt, die Augenbrauen hatte er zusammengezogen, sodass sich zwischen ihnen eine Falte bildete.

„Du lügst“, erwiderte ich ohne eine Miene zu verziehen. Denn ich wusste genau, dass er in diesem Augenblick nur so tat, als wusste er nicht, wovon ich sprach. Corvin beugte sich nach vorne und legte die Arme lässig auf seinen Knien ab. Dann musterte er mich stirnrunzelnd.

„Lügen? Was meinst du damit?“

Er machte Anstalten, die Zigarette an seine Lippen zu führen, doch ich nahm sie ihm blitzschnell aus der Hand und nahm einen Zug.

„Nun, sei mal nicht so geizig, ja?“

Ich wiederholte absichtlich die Worte, die Rada in meinem Traum zu Arian sagte. Corvins Augen weiteten sich und ich hörte, wie er scharf die Luft einsog. Spürte, wie er mit sich rang. Ja, kein Zweifel. Er wusste es! Für eine Ewigkeit sahen wir uns in die Augen. Grün traf auf Braun. Die Luft um uns herum schien zu vibrieren und zu knistern, so geladen war sie. Unsere Herzen schlugen wild. Es war, als konnte ich seinen Herzschlag in meiner eigenen Brust spüren, wenn ich ihm in die Augen sah, wenn er nur in meiner Nähe war. Und er war holprig, ängstlich.

„Woher weißt du das?“, flüsterte Corvin.

„Tja, du weißt eben gar nichts von mir, Arian. Immerhin warst du viel zu lange weg und hast Einiges verpasst“, wiederholte ich erneut Rada´s Worte.

„Sag mir, woher du das weißt...“, beharrte er und sprach noch immer leise. Ich konnte nicht mehr anders. Ich musste es ihm sagen. Jetzt, wo ich mir beinahe zu hundert Prozent sicher war, dass es Corvin genauso wie mir ging.

„Seit ich vor drei Tagen zum ersten Mal durch dieses Hoftor getreten bin, die grüne Bank sah, auf der wir beide nun sitzen, wusste ich, dass ich schon einmal hier war. Mit dir. Und trotzdem bin ich mir sicher, dass ich zum ersten Mal hier bin. Als ich das Haus betrat, kam es mir vor, als sei es mein eigenes Zuhause. Ich wusste, was sich in jedem einzelnen Zimmer befindet, ohne jemals hier gewesen zu sein. Und seit ich dein Foto sah, noch bevor ich dich überhaupt traf, war mir klar, dass du und ich uns schon seit einer Ewigkeit kennen. Erinnerungsfetzen treten völlig unerwartet in mein Bewusstsein. Träume suchen mich Nachts heim. Träume von dir und mir. In diesen Visionen ist mein Name Rada und dein Name ist Arian. Und die beiden lieben sich von ganzem Herzen. Und diese Zigeunerin heute fragte mich, ob ich zu Arian gekommen bin. Ob ich zu dir gekommen bin, Corvin. Sag mir, wie ist das alles möglich?“

Corvin sah zu Boden und schwieg. Eine erdrückende Stille herrschte zwischen uns. Doch ich spürte, dass sich die Gedanken in seinem Kopf drehten wie ein Karussell. Es machte mich beinahe selbst schwindelig.

„Und dir geht es genauso, nicht wahr?“ Nach einer gefühlten Ewigkeit rang ich mich zu dieser Frage durch. Doch ich erhielt keine Antwort.

Adi erschien oben auf der Treppe und stand wenige Sekunden später vor uns.

„Was schaut ihr beide denn so wie drei Tage Regenwetter?“

 

 

Corvin

 

Ich lag im Bett, doch konnte nicht einschlafen. Ich dachte an die Unterhaltung mit Romina vorhin. Ich hatte nicht gewusst, was ich auf all ihre Fragen antworten sollte. Ja, es ging mir genauso wie ihr. All diese Dinge, die sie geschildert hatte, passierten auch mir. Und sie machten mir Angst. Meine Gefühle machten mir Angst. Dass ich Romy berühren wollte, wann immer ich sie ansah, sie in meiner Nähe spürte. Und mich doch nicht von ihr fernhalten konnte. Ich konnte es nicht.

Als sie heute Nachmittag in meine Arme gefallen war, wollte ich sie am Liebsten nicht mehr loslassen. Es bereitete mir Furcht, dass ich den Drang verspürte, mich ihr zu öffnen und diese Nähe zuzulassen. Mich zu öffnen, würde mich verletzlich machen. Und dann würde mein Herz in Stücke gerissen werden, wenn sie das Land wieder verließ. Und das wollte ich nicht: Verlassen werden. Wieder verlassen werden. So wie mein Vater meinen Bruder und mich zurückgelassen hatte – und damit ein großes Loch in meinem Herzen. Ich wusste nicht, wie Alexandru damit umging, er sprach nicht darüber. Und ich selbst eigentlich auch nicht. Es war seit wir klein waren eine unausgesprochene Sache zwischen uns und unserer Mutter. Und was hatten wir uns als Kinder nicht alles von den Nachbarn anhören müssen!

Bastarde ohne Vater!, hatte eine alte, verbitterte Nachbarin uns einst beschimpft, als wir Zwillinge draußen im Hof spielten. Diese alte Hexe hatte selbst keine Familie und war vielleicht deshalb so zynisch gewesen. Schließlich war sie eines Tages in Einsamkeit gestorben.

Meine Gedanken schweiften wieder zu Romina – oder zu Rada, der Frau, die ich scheinbar in einem früheren Leben so sehr geliebt hatte. War das wirklich möglich? Waren diese Träume Erinnerungen? Und warum erging es Romy genauso? Ich war vorhin viel zu perplex gewesen, um noch weiter mit Romy darüber zu sprechen. Zudem waren Adriana, Alexandru und Milena die ganze Zeit um uns herum gewesen. Es tat mir Leid, dass ich Romy im weiteren Verlauf des Abends ignoriert hatte. Doch ich wusste einfach nicht, wie ich damit umgehen sollte. Es war einfach gerade zu unheimlich, was seit einiger Zeit passierte. Einige Wochen bevor Adriana und Romy hier auftauchten, war ich bereits von Träumen heimgesucht worden, die ich nicht zu deuten gewusst hatte. Es waren verschiedene Träume, aber immer spielten dieselben Personen eine Rolle darin. Eine junge Frau namens Rada, deren Gesicht ich niemals sehen konnte. Doch ich wusste, dass ich sie von ganzem Herzen liebte. Und ein junger Mann namens Arian, der ich selbst zu sein schien. Ebenfalls erschien mir eine alte Frau, die meiner eigenen Großmutter, die vor zwei Jahren gestorben war, sehr ähnlich war. Doch diese schien Rada zu hassen. Aus welchem Grund auch immer. Und irgendetwas war mit Rada passiert, doch ich wusste nicht, was. Ich fühlte nur einen unendlichen Schmerz und Verlust, wenn ich aufwachte. Und als ich Romina zum ersten Mal getroffen hatte, war mir klar geworden, dass sie die Frau in meinen Träumen war.

Ich dachte an die alte Zigeunerin, von der Romy mir erzählt hatte und die genau zu wissen schien, dass hier vor langer Zeit einst ein junger Mann namens Arian lebte. Doch woher konnte sie das wissen? Soweit ich meine Träume deuten konnte, spielte sich alles im 18. Jahrhundert ab. Diese Frau konnte unmöglich noch immer am Leben sein. Trotzdem sagte mir ein Gefühl, dass sie womöglich der Schlüssel zu all den Rätseln sein konnte. Wo immer sich diese Frau auch aufhielt.

 

 

Romy

 

Als ich später im Bett lag, tat ich kein Auge zu. Adriana neben mir schlief bereits tief und friedlich.

Eine Antwort auf meine Frage hatte ich von Corvin nicht erhalten. Wir hatten noch eine Weile im Wohnzimmer gesessen, doch er hatte sich ausschließlich mit Milena und Alexandru unterhalten. Hin und wieder auch mit Adriana. Doch mich schien er völlig zu schneiden, was sich wie tausend Messerstiche mitten ins Herz angefühlt hatte. Als ob es mir aus der Brust gerissen wurde...

Corvin´s Zimmer war nebenan. Obwohl uns eine Wand trennte, spürte ich seine Anwesenheit und seine Unruhe. Er schien ebenfalls nicht schlafen zu können. Ich kämpfte innerlich gegen den Drang an, einfach zu ihm rüber zu gehen. Doch jede Faser in mir sehnte sich so sehr danach. Aber ich wusste nicht, ob er denn überhaupt noch mit mir reden wollte. Vielleicht war es besser, ihm Zeit zu lassen, sich damit auseinander zu setzen. Allmählich spürte ich, wie mir die Lider schwer wurden und ich fiel in einen unruhigen Schlaf.

Jemand rüttelte mich leicht an der Schulter und ich öffnete langsam blinzelnd die Augen. Das Mondlicht fiel durch das Fenster ins Zimmer und erhellte es nur spärlich. Doch ich erkannte sofort diese sanften, dunklen Augen, die mich anblickten. Die Augen, die ich so sehr liebte. Corvin kniete neben dem Bett.

„Romina“, flüsterte er. „Kommst du mit mir nach draußen auf die Bank?“

 

Nachdem ich mir meine Strickweste übergeworfen hatte, saßen Corvin und ich kurze Zeit später nebeneinander auf der grünen Bank. Wir schwiegen und rauchten. Und es fühlte sich nicht seltsam, sondern sehr vertraut an. Corvin´s Unruhe schien verflogen zu sein, und somit auch meine. Ich genoss es einfach nur, dass wir gerade zusammen waren. Keine Worte zu sprechen brauchten. Nach einer Weile brach er die Stille.

„Romy...Es tut mir Leid, dass ich heute Abend nicht mehr mit dir gesprochen und dich ignoriert habe. Du musst wissen, dass ich keine einfache Person bin“

Ein Schmunzeln huschte über mein Gesicht.

„Wer ist das schon? Einfach ist doch langweilig“

Corvin sah mich an und seine Mundwinkel zuckten. Seine braunen Augen ruhten auf mir und strahlten einen Hauch von Wärme aus. Doch im nächsten Moment erlosch dieses Leuchten wieder.

„Du wolltest doch eine Antwort auf deine Frage haben, oder?“

„Wenn du bereit bist, sie mir zu geben? Ich wollte dich keinesfalls drängen, Corvin...Doch ich hielt es einfach nicht mehr aus. Ich musste wissen, ob es nur mir so geht“

„Tut es nicht“, erwiderte er, während er mich noch immer ansah. „Du hast Recht, Romy. Ich erlebe im Moment die gleichen Dinge wie du. Ich habe dieselben Träume und Empfindungen wie du. Ich hielt es zunächst für Einbildung. Aber jetzt ist mir klar, dass da mehr dahinter steckt“

Ich nickte stumm.

„Anfangs dachte ich, verrückt zu werden“, gab ich zu. „Doch das sind wir nicht, Corvin. Für all das hier gibt es eine Erklärung“

Corvin sah mich erwartungsvoll an. Ich dachte mir fast, dass er sich nie selbst mit dem Thema „Seelenverwandtschaft“ oder „Zwillingsseelen“ auseinandergesetzt hatte.

„Du und ich....Es ist möglich, dass wir beide eine Seelenverbindung haben. Dass wir sogenannte „Zwillingsflammen“ sind. Zwei Seelen, die sich über mehrere Lebenszyklen immer und wieder treffen. Und wenn sie sich sehen, dann wissen beide, dass sie ihren anderen Seelenzwilling gefunden haben. Daher ist es nicht unüblich, dass wir uns beide an Dinge aus früheren Leben erinnern“

Der junge Rumäne legte die Stirn in Falten.

„Und du glaubst wirklich an so etwas?“

Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Ist das, was uns beiden gerade passiert, nicht der Beweis dafür?“

Er schien eine Weile zu überlegen und ich spürte, dass sich in ihm wieder Unruhe und Nervosität breit machte. Und dass er Zweifel hegte. Vielleicht nicht an unserer Seelenverbindung, aber ein Teil von ihm schien es nicht akzeptieren zu wollen.

„Romy.....Bitte verstehe mich nicht falsch. Ich mag dich. Sogar sehr. Aber wie ich dir schon sagte, bin ich kein einfacher Mensch. Ich habe große Probleme in Bezug auf Nähe. Und wir beide wissen, dass unsere gemeinsame Zeit nicht von langer Dauer ist. Wir sollten uns beide diesen Schmerz ersparen“

Mein Herz krampfte sich bei seinen Worten zusammen. Obwohl ich wusste, dass er Recht hatte. In wenigen Tagen würden Adi und ich Brasov verlassen, in unser normales Leben in Deutschland zurückkehren. Bei diesem Gedanken verstärkten sich die Stiche in meinem Herzen nur noch mehr. Tief im Inneren wusste ich, dass ich nicht gehen wollte. Nicht gehen konnte. Nicht, bevor ich nicht die ganze Wahrheit herausgefunden hatte. Ich musste wissen, was zwischen Rada und Arian passiert war. Ich wollte die ganze Geschichte erfahren. Und ein Gefühl sagte mir, dass die alte Zigeunerin des Rätsels Lösung sein würde. Vielleicht war sie in der Lage, eine Rückführung in mein altes Leben durchzuführen?

„Du sagst gar nichts mehr, Romy....Es tut mir Leid...“ In Corvin´s Stimme lag Bedauern. Ich wusste, dass es mir nichts bringen würde, mich nun verletzlich zu geben. Oder ihm gar eine Szene zu machen, weil er meine Gefühle offenbar nicht erwidern wollte – oder konnte.

Sanft legte ich meine Hand auf seine. Kurz zuckte er zusammen und ich spürte, dass er mit sich haderte und zu überlegen schien, ob er sie wegziehen sollte. Doch er ließ sie unter meiner ruhen.

„Wieso hast du Probleme in Bezug auf Nähe? Möchtest du darüber sprechen?“

Corvin seufzte tief und ich fühlte den Schmerz, der sich in seiner Brust ausbreitete. Mein eigenes Herz wurde schwer. Seine Emotionen schienen auch meine zu sein.

„Romy. Ich kann die Mädchen, mit denen ich zusammen war, an einer Hand abzählen. Und meine Beziehungen waren nie besonders tiefgehend. Tief in mir drin habe ich Angst vor dem Verlassenwerden. Als Alexandru und ich noch klein waren, hat unser Vater uns von einen auf den anderen Tag einfach verlassen. Ich werde niemals diesen Tag vergessen, an dem er ohne zurück zu schauen durch die Tür ging und nie wieder kam. Ich habe meinen Vater über alles geliebt, das weiß ich. In mir ist etwas zerbrochen, als er ging. Und seitdem konnte ich mich nie wieder richtig öffnen. Auch nicht meiner Mutter oder meinem Bruder gegenüber. Ich liebe meine Familie, keine Frage. Aber ich gehe immer auf Abstand, um nicht zu viel emotionale Nähe zu zulassen“

„Ist das der Grund, weshalb du beim Militär bist? Weil du dort abgeschieden von deiner Familie bist? Weil du dich dort Regeln unterwerfen musst, wo Gefühle keinen Platz haben?“

Ich wusste nicht, woher ich diese Erkenntnis mit einem Mal hatte. Doch sie schien mir plausibel zu sein. Dort hatte Corvin mit männlichen Autoritätspersonen zu tun, in denen er vielleicht unbewusst eine Vaterfigur suchte, zu der er aufschauen konnte. Aus großen Augen sah er mich an.

„Das könnte möglich sein“

„Bist du glücklich mit dem, was du tust?“

Corvin verzog die Lippen zu einem gequälten Schmunzeln.

„Um ehrlich zu sein: Ich hasse es“

„Und wieso machst du es dann? Wenn du nicht in der Armee sein möchtest, dann tu es nicht“

„Vielleicht aus genau den Gründen, die du eben genannt hast. Vielleicht will ich mir selbst etwas beweisen. Will beweisen, dass ich ein Mann bin. Will, dass man stolz auf mich ist“

Ich sah ihn von der Seite an.

„Dass dein Vater stolz auf dich ist?“

Corvin schwieg einen Moment und sah zu Boden.

„Er hat all die Jahre nicht mehr nach uns gesehen. Ist nie mehr zurückgekommen. Ich weiß nur, dass er mittlerweile eine neue Familie hat“

„Hast du einmal versucht, ihn zu suchen? Mit ihm zu reden?“

Ihm entfuhr ein Seufzen.

„Ich habe öfter daran gedacht, ja“

„Warum tust es dann nicht? Es scheint sehr wichtig für dich zu sein. Was denkt Alexandru darüber?“

Der junge Rumäne hob die Schultern.

„Er spricht nie darüber. Wann immer ich das Thema anschneide, weicht er aus. Es scheint, dass er ihn nicht wieder sehen möchte“

„Was hältst du davon, wenn ich dir helfe, deinen Vater zu finden?“

Corvin sah mich mit großen Augen an.

„Das würdest du tun?“

Ich nickte. Für einem Moment leuchtete Freude in seinen braunen Augen auf, doch dann schlug der Ausdruck darin in Zweifel um – und ebenso konnte ich seinen inneren Zwist an meinem eigenen Leibe spüren.

„Was ist, wenn er mich gar nicht sehen will? Wenn er mich wegschickt?“

Ich drückte seine Hand.

„Was aber, wenn er sich freut, dich kennenzulernen? Wenn er erkennt, was für einen tollen Sohn er hat? Das wirst du niemals erfahren, wenn du es nicht versuchst“

Corvin musterte mich eine Weile schweigend und seine Mundwinkel zuckten.

„Danke, Romy....Ich werde darüber nachdenken“

Mit diesen Worten zog er seine Hand unter meiner weg und es breitete sich wieder dieses schmerzliche Ziehen in meinem Herzen aus. Es fühlte sich an, als ob eine große Leere darin zurückblieb. Es gab keinen Zweifel daran:

Wir waren Seelenzwillinge. Und ich würde nicht ruhen, bis ich die alte Zigeunerin gefunden hatte.

„Dafür sind Freunde da“, erwiderte ich und lächelte.

„Freunde?“, wiederholte er verwundert.

„Das sind wir doch, oder?“

Corvin schmunzelte.

„Ja, das sind wir“

 

 

 

 

 

  

Kapitel 7

 

7. Kapitel

Romy

 

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte sich mein Herz befreit an. Die Sonne schien in sanften, wärmenden Strahlen durch das Fenster und kitzelte mich wach. Adriana war bereits aufgestanden.

Mit einem Schmunzeln dachte ich an die Unterhaltung mit Corvin letzte Nacht. Da nun alles zwischen uns ausgesprochen war und ich nun mit Sicherheit wusste, dass er genau dasselbe erlebte wie ich, fühlte es sich an, als sei mir ein großer Stein vom Herzen gefallen. Auch wenn Corvin sich gegen seine Gefühle zu wehren schien. Natürlich hätte ich sauer darüber sein können, doch war ich einfach zu sehr Realist und wusste, dass man nichts erzwingen konnte. Und ich musste Corvin Recht geben: Unsere gemeinsame Zeit hier war begrenzt. Und das Letzte, worauf ich Lust hatte, war ein gebrochenes Herz. Besonders nachdem mein Leben nach der Geschichte mit meinem Ex-Freund und meiner ehemaligen guten Freundin, wieder einigermaßen in ruhigen Bahnen verlief. Und doch glaubte ich daran, dass all das vielleicht einen Grund hatte, es vielleicht Schicksal gewesen war, warum all das so passiert war. Vielleicht war es mir vorbestimmt, Corvin zu treffen, ihn als meinen Seelenzwilling zu erkennen und umgekehrt. Aber was, wenn es nicht der richtige Zeitpunkt für unsere Seelen war, sich wieder zu treffen? Wenn beide Seelen noch eine Aufgabe oder Lektion zu lernen hatten, bevor sie sich wieder vereinen konnten? Corvin hatte definitiv seine Dämonen, gegen die er kämpfte. Ich hoffte, ihm mit meinem Vorschlag, seinen Vater zu suchen, einen Denkanstoß gegeben zu haben.

 

 

Als ich die Küche betrat, saßen die Anderen schon alle um den Tisch, auf dem Weißbrot, Butter, gekochte Eier, Wurst, Käse und Marmelade bereit stand.

„Guten Morgen, Herzchen“, begrüßte mich meine beste Freundin strahlend.

„Morgen, Adi“, erwiderte ich und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Ich spürte Corvin´s Blick auf mir und für einen Moment sahen wir uns an. Seine Augen leuchteten warm und freundlich, sodass mein Herz erleichtert aufseufzte. Unsere Verbindung war noch nicht abgebrochen. Sie war immer noch da und das beruhigte mich zutiefst.

„Gibt es noch Kaffee?“, fragte ich, als ich mich neben Adi am Tisch niederließ.

„Ich bin gerade dabei, neuen Kaffee aufzusetzen“, meldete sich Alexandru zu Wort, der an der Küchenzeile stand und soeben Kaffeepulver in den Filter füllte.

„Super“, meinte ich lächelnd. „Was steht heute an?“

„Wir dachten daran, nach Poiana Brasov zu fahren“, entgegnete Corvin und biss von seinem Brot ab.

„Poiana Brasov?“

„Unser Skigebiet“, erklärte Alexandru.

„Ihr wollt im Sommer ins Skigebiet?“, fragte ich verwundert.

„Man kann auch im Sommer dort ganz tolle Sachen unternehmen. Die Restaurants und Café´s dort sind ganzjährig geöffnet. Eines können wir besonders empfehlen: Das Sura Dacilor. Es ist im Stil der früheren Daken gehalten. Überall an den Wänden hängen Bärenfalle und Geweihe. Außerdem gibt es dort einige schicke Hotelanlagen“, fuhr Corvin fort.

Adi stieß mir in die Seite.

„Und wenn wir uns vielleicht entscheiden, hier mal einen Ski-Urlaub zu verbringen, dann wissen wir bereits, wo wir hingehen können“

 

 

 

Die Mittagssonne stand hoch am Himmel, als ich auf dem Parkplatz unterhalb von Poiana Brasov hielt. Unterwegs hatten wir zuvor Milena eingesammelt. Ich freute mich, dass sie wieder dabei war. Nachdem ich ein Parkticket gelöst hatte, machten wir uns dann auf den Fußweg in das Skigebiet. Die vielen grünen Tannen verliehen dem Ort etwas heimeliges. Es erinnerte mich an meine Heimat in Deutschland. Den wunderschönen Spessart.

Corvin hatte nicht untertrieben:

An der Straße entlang gab es unzählige kleine Restaurants und Imbissstände. Ein Restaurant trug den Namen „Capra Neagra“, was übersetzt „Schwarze Ziege“ heißt. Dort konnte man die deftige traditionelle transsylvanische Küche genießen. Nach einem langen Skitag war es bestimmt genau das Richtige, wenn man sich danach bibbernd vor Kälte in die warmen Hütten und Restaurants begab, um sich zu stärken. Im Großen und Ganzen erinnerten die Hotels hier oben an die in Österreich. Von den jungen Rumänen erfuhr ich, dass die Leute hier eben viele Dinge von den Deutschen und Österreichern kopierten. Immerhin war Brasov eine ehemalig deutsch beeinflusste Stadt gewesen, was man auch heute noch an der Architektur sah. Ein Hotel erweckte besonders meine Aufmerksamkeit und mir stockte regelrecht der Atem: Der riesige, altertümlich gehaltene Komplex des „Aurelius Imparatul Romanilor“ befand sich mitten auf einem See und eine lange, hölzerne Brücke führte direkt zum Eingang. Das war wirklich beeindruckend. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Bei Schnee musste es noch viel romantischer wirken. Ich fragte mich, was eine Nacht in diesem Hotel wohl kostete? Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße befand sich eine alte, orthodoxe Kirche aus Holz.

Wir liefen weiter die Straße entlang, die uns zum „Sura Dacilor“ führte und passierten einen kleinen Markt mit allerlei Souvenirständen. Hier fand man wieder die typisch rumänischen Trachtenblusen und Röcke. Der Markt war gut besucht und wir mussten uns durch all die Menschen zum Restaurant vorarbeiten.

Plötzlich erregte eine kleine, dunkelhaarige Frau in einem langen, geblümten Rock meine Aufmerksamkeit. Die alte Zigeunerin! Doch so schnell wie ich sie gesehen hatte, war sie auch schon wieder in der Menschenmenge verschwunden. Hektisch blickte ich mich zu allen Seiten um, doch ich konnte sie nicht mehr sehen. Dann erblickte ich sie wieder, wie sie am Straßenrand in einem Zelt verschwand. Instinktiv griff ich nach Corvin´s Hand.

„Komm mit, Corvin!“

„Wohin?“, fragte er überrascht. Ich reagierte nicht auf seine Frage, sondern zog ihn hinter mir her.

„Romy! Romy, wo wollt ihr denn so schnell hin??“, hörte ich Adriana hinter mir rufen, doch ich schenkte auch ihr keine Aufmerksamkeit.

„Was willst du in dem Wahrsager-Zelt, Romy?“, wollte Corvin wissen, als wir davor hielten. „Die werden dir nur das Geld aus der Tasche ziehen“

Seine Hand noch immer fest umklammert, sah ich ihn mit großen Augen an. Meine Brust hob und senkte sich, so schwer atmete ich.

„Corvin....Da drin ist die alte Zigeunerin, die gestern bei euch im Hof war. Ich habe gesehen, wie sie in das Zelt verschwunden ist“

Seine dunklen Augen weiteten sich und wollte dazu ansetzen, etwas zu erwidern. Doch ich unterbrach ihn.

„Sie hat die Antworten auf unsere Fragen, Corvin. Das spüre ich. Sie weiß Dinge, die sie nicht wissen kann. Ich bin davon überzeugt, dass sie uns darüber aufklären kann, wer wir beide in unserem früheren Leben gewesen sind. Bitte geh mit mir da rein. Lass es uns gemeinsam herausfinden“

Corvin sah mich eine Weile skeptisch an, doch dann nickte er schließlich.

„In Ordnung“

 

 

 

„Wie schön, dass ihr gekommen seid. Rada und Arian“

Corvin und ich hatten nicht damit gerechnet, dass uns die alte Zigeunerin direkt mit unseren Namen aus unserem früheren Leben begrüßen würde. Und obwohl sie wieder einmal rumänisch gesprochen hatte, verstand ich trotzdem jedes einzelne Wort. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, warum ich ausgerechnet nur sie verstehen konnte und niemand Anderen? Hatte sie etwa einen besonderen telepathischen Draht zu mir und beeinflusste meine Wahrnehmung, sodass ich ihre Worte verstand? Sie saß vor uns an ihrem runden Tisch, vor ihr ganz klischeehaft eine Kristallkugel.

„Wer sind Sie?“, fragte Corvin ruhig, aber bestimmt. Ich sah, dass er die Lippen aufeinander presste und die alte Frau skeptisch beäugte. Er schien ihr keinerlei Vertrauen zu schenken. Ein Schmunzeln umspielte die faltigen Lippen der alten Zigeuner-Frau.

„Ich bin nur ein Medium. Ein Medium, das Seelenzwillinge an ihre Bestimmung erinnert. Sie wieder zusammenführt. Sie einander besser verstehen lässt. Ihnen die Antworten auf ihre Fragen gibt. Deswegen seid ihr doch gekommen, oder?“

Ich nickte eifrig.

„Und was lassen Sie sich diese Antworten kosten?“, meinte Corvin, noch immer ungläubig drein schauend.

„Nichts, mein Junge. Es ist meine Aufgabe, die Zwillingsseelen in dieser hoch schwingenden Zeit zueinander zu führen“, erwiderte die alte Frau und verschränkte ihre Hände auf der Tischplatte ineinander. „Alles, was ihr beide tun müsst, ist euch für das zu öffnen, was ich euch nun zeigen werde“

Corvin und ich sahen uns einen Moment lang in die Augen. Ich nickte ihm aufmunternd zu. Ich wusste nicht wieso, aber ich vertraute der Zigeunerin. Eine Intuition sagte mir, dass sie die Wahrheit sagte. Der junge Rumäne wandte sich der Frau wieder zu.

„In Ordnung. Fangen wir an“

Die Zigeunerin nickte und lächelte.

„Ich möchte, dass ihr euch bei den Händen nehmt. So spürt ihr die Verbindung zueinander stärker“

Zaghaft spürte ich, wie Corvin´s Finger sich um meine schlossen.

„Schließt eure Augen“

Wir taten, was die Frau uns sagte. Sofort spürte ich die Energie, die durch unsere beiden Körper floss. Zunächst schlugen unsere Herzen wie wild. Vermutlich vor Nervosität.

„Atmet tief ein....“

Ich sog tief die Luft durch meine Nase ein, spürte wie sie meine Lungen erweiterte und wie sich allmählich unsere beiden Herzschlag beruhigten. Zunächst konnte ich zwei Herzschläge wahrnehmen, der sich aber allmählich zu einem Einzigen verband. Nun waren wir eins. Ein und dieselbe Seele, die sich vereint hatte.

„....und wieder ausatmen....Öffnet euren Geist, eure Seele....“

Zuerst sah ich nur Dunkelheit. Doch allmählich erschienen vor meinem geistigen Auge Bilder aus einer anderen Zeit....Bilder, die ich in den letzten Tagen schon einmal gesehen, aber nicht verstanden hatte. Und mit einem Mal war ich nicht mehr in der Lage eigenständig zu denken. Der Film, der sich in meinem Kopf abspielte, nahm seinen ganz eigenen Lauf.....und wir sahen ihn beide.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 8

 

 

8. Kapitel

 

Kronstadt, 1834

 

Ssssch...“, sagte der kleine Junge mit den dunklen Haaren und den braunen Augen. Das Mondlicht erhellte nur spärlich sein Gesicht.

Warte hier draußen. Ich bringe dir etwas zu Essen, ja?“

Mit diesen Worten rannte er blitzschnell die Stufen zum Haus hinauf und verschwand oben in der Tür. Rada blieb unten in ihrem Versteck bei den Treppen sitzen und spähte hinaus in die Dunkelheit. Das kleine Zigeunermädchen zog die Decke, die der Junge ihr zuvor gebracht hatte, ein klein wenig enger um sich. Die Nacht war bitterkalt. Rada wusste nicht, wie lange sie sich schon hier unten hinter den Treppenstufen versteckte. Sie war alleine, und das schon seit Tagen und Nächten. Sie wusste nicht, wo ihre Mutter, ihr Vater und die Anderen ihres Clans waren. Sie hatte sie einfach verloren und nun wusste sie nicht, wo sie hingehen sollte. Deshalb hatte Rada sich einfach hier in diesen Hinterhof geflüchtet und war dort geblieben. Bis der kleine schwarzhaarige Junge sie heute Abend entdeckte, ihr eine Decke und heißen Kräuter-Tee brachte. Und nun war er ins Haus gegangen, um etwas zu Essen zu holen. Rada vernahm seine schnellen, tapsigen Schritte auf der Treppe und kurze Zeit später stand er wieder vor ihr mit einem Körbchen voller Weißbrotscheiben.

Hier. Nimm“, sagte er freundlich und hielt ihr das Körbchen hin.

Danke....“, erwiderte das kleine, schwarzhaarige Mädchen zaghaft und griff nach einer Scheibe Brot.

Arian? Was machst du um diese Zeit hier draußen?“, ertönte die Stimme einer erwachsenen Frau von oben. Der kleine Junge sah Rada an und legte sich den Finger auf die Lippen, um zu signalisieren, dass sie keinen Laut von sich geben sollte.

Nichts, Mama!“

Im nächsten Moment ertönten erneut Schritte auf den Stufen und sie stand kurze Zeit später vor dem Versteck. Sie war eine dunkelhaarige, zierliche Frau etwa Mitte dreißig und sah die beiden Kinder aus großen Augen an.

Arian, wer ist das?“, fragte sie in Rada´s Richtung. Arian zuckte mit den Schultern.

Ich habe sie hier gefunden, Mama. Und ihr eine Decke und etwas zu Essen gebracht“

Rada vernahm ein leises Schnauben, welches von der Frau kam.

Um Gottes Willen, Arian. Du kannst sie doch nicht hier draußen in der Kälte lassen. Sie holt sich ja den Tod!“

Dann beugte sie sich zu dem Mädchen herab, sah sie mit einem liebevollen Ausdruck in den Augen an und streckte ihr ihre Hand hin.

Komm mit ins Haus, Kind“

Zögerlich ergriff das Zigeunermädchen diese und ließ sich dann von ihr, zusammen mit Arian, die Stufen hinauf ins Haus führen. Sofort kroch die angenehme Wärme im Inneren in ihre vor Kälte fast erstarrten Glieder. Als Rada zusammen mit der Frau und dem kleinen Jungen die wohlig warme Küche betrat, erblickte sie eine alte Frau, die zunächst Arian und seine Mutter musterte - und dann Rada. In ihrem Blick lag Argwohn, soweit sie das deuten konnte. Rada konnte deutlich spüren, dass sie ihr gegenüber Ablehnung empfand.

Wen bringt ihr da in unser Haus?! Zigeuner-Abschaum!!“

"Mutter! Wie kannst du so etwas sagen? Das arme kleine Ding hätte sich da draußen beinahe den Tod geholt, wenn Arian sie nicht gefunden hätte!", empörte sich die Mutter des kleinen Jungen.

"Wo sind ihre Eltern? Und ihr Zigeuner-Clan? Schickt sie dahin zurück, wo sie hingehört! In meinem Haus werde ich Niemanden von ihnen dulden!", donnerte erneut die erboste Stimme der alten Frau. Arian´s Mutter ging in die Knie und sah Rada an.

"Mein Kind, wo ist deine Familie?"

Rada sah traurig zu Boden und hob betrübt die Schultern.

"Ich weiß es nicht...Ich habe sie verloren....", wimmerte sie leise und aus ihren grünen Augen kullerte eine Träne über ihre Wange. Die Frau sah sie mitleidig an und schwieg für einen Moment. Dann zog sie das kleine Mädchen in ihre Arme und streichelte sanft ihre schwarzen Locken.

"Sssssch...nicht weinen, meine Kleine. Alles wird gut werden. Wir finden deine Eltern, versprochen", flüsterte die Mutter des kleinen Jungen. Als Rada sich beruhigt hatte, löste sich die Frau behutsam von ihr.

"Wie ist dein Name?", wollte sie wissen.

"Rada...."

Ein Schmunzeln huschte über das Gesicht der Frau und ihre braunen Augen leuchteten sanft .

"Ein wunderschöner Name. Ich heiße Maria. Und nun komm. Ich werde dir heiße Suppe geben"

"Das ist nicht dein Ernst, Maria!", beschwerte sich die alte Frau erneut und stemmte die Hände in die Hüften. "Wir haben selbst kaum etwas zu Essen und müssen sehen, wie wir über die Runden kommen! Sie wird uns die Haare vom Kopf fressen!"

Maria ignorierte die Großmutter und lief an ihr vorbei an den Herd, um das Feuer erneut anzuschüren. Rada beäugte die alte Frau mit großen Augen. Sie fragte sich, warum die alte Frau sie nicht mochte? Was hatte sie ihr denn getan? Jemand legte die Hand auf ihre Schulter und als Rada zur Seite sah, schaute sie in Arian´s sanfte, braune Augen.

"Mach dir nichts draus. Oma Caterina ist immer so...."

 

 

Die Hühnerbrühe schmeckte einfach fantastisch. Rada hatte noch nie so eine gute Suppe gegessen. Das kleine Zigeunermädchen aß mit großem Appetit. Schließlich war sie nach den vielen Tagen und Nächten da draußen unter der Treppe nahezu ausgehungert. Sie hatte sich nicht getraut, ihr Versteck dort zu verlassen und draußen auf der Straße um Essen zu betteln. Sie hatte einfach zu große Angst gehabt. Angst vor den Menschen da draußen, vor denen ihre Eltern und ihr Clan davongelaufen waren. Zuvor hatte Rada mit ihrer Mutter und den anderen Zigeunerinnen auf dem großen Marktplatz getanzt, während die Männer musizierten. Dann war ein großes Chaos ausgebrochen. Schreie waren zu hören gewesen. Vielleicht auch Schüsse? Rada konnte sich nicht mehr genau erinnern. Sie hatte nur noch gemerkt, wie ihre Mutter hastig nach ihrer kleinen Hand griff, sie hinter sich her zog und mit ihr davon lief.

"Weg, ihr Zigeunerpack!", hatten die Leute gerufen. Rada hatte fürchterliche Angst gehabt. Doch alles ging so schnell. Rada war gestolpert und hingefallen. Ihre Mutter wollte sich umdrehen, um sie zu holen. Doch sie wurde von den anderen Frauen und Männern des Clans einfach weiter voran gedrängt. Und so blieb das kleine Mädchen einfach alleine zurück. Und als Rada sich umgeblickt hatte, waren die Leute noch immer hinter ihnen her. Sie hatte nur die einzige Möglichkeit gesehen, sich durch ein hölzernes Tor in einen Hinterhof zu retten. Und so war sie nun hier gelandet. Und sie war erleichtert, dass Arian und Maria ihr mit Freundlichkeit begegnet waren. Abgesehen von der Großmutter. Warum gab es Menschen, die ihr Volk nicht mochten? Was hatten sie Unrechtes getan? Rada konnte das nicht verstehen.

Arian saß neben ihr am Küchentisch und beobachtete sie aus seinen dunklen, großen Kulleraugen beim Essen. Rada blickte ihn hin und wieder scheu an. Sie wusste, dass er ein guter Junge war. Immerhin hatte er ihr eine Decke und heißen Tee gebracht, als sie draußen zitternd in der Kälte saß.

"Bist du satt, mein Kind?", fragte Maria, als Rada ihren Teller geleert hatte. Sie nickte stumm und Arian´s Mutter räumte das Geschirr ab. "Es ist spät, Kinder. Ihr solltet nun zu Bett gehen"

"Wo soll das Mädchen denn schlafen?", ertönte erneut die herrische Stimme der Großmutter, die gerade in die Küche trottete und Rada abermals einen missbilligenden Blick von ihr erntete. "Wir haben weder genug zu Essen, noch Platz für eine weitere Person in diesem Haus!"

Maria erhob mahnend die Hand.

"Dann wird sie eben bei Arian schlafen. In der kleinsten Hütte ist Platz, Mutter!"

"Gute Nacht", erwiderte die Großmutter kühl und verließ schnaubend die Küche. Rada sah ihr hinterher. Was hatte diese Frau nur gegen sie? Maria stieß einen Seufzer aus und setzte sich neben die Kinder an den Tisch.

"Höre nicht auf sie, Rada. Meine Mutter ist starrköpfig und alt", sagte sie und streichelte Rada´s schwarze Locken. Das Herz des kleinen Mädchens verkrampfte sich bei dieser mütterlichen Geste. Es erinnerte sie nur zu schmerzlich an die liebevollen Berührungen ihrer eigenen Mutter. Sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden, doch sie drängte dieses Gefühl in die hinterste Ecke ihres Herzens.

 

Als Rada neben Arian in dem kleinen Bett lag und sich auf die Seite gerollt hatte, fand sie zunächst keinen Schlaf. Sie dachte unentwegt an ihre Familie. Sie seufzte innerlich auf. Ihre Eltern fehlten ihr so schrecklich. Was war nur aus ihnen geworden? Und würde sie sie je wieder sehen? Ein leises Schluchzen drang aus ihrem Mund. Arian regte sich neben ihr und drehte sich auf die Seite. Im nächsten Moment spürte Rada, dass er seinen kleinen Arm um ihre Taille legte und sich an sie drückte.

"Nicht weinen, Rada...Alles wird gut"

Die Berührung des Jungen tat ihr gut. Mit diesem Gefühl der Geborgenheit fiel sie schließlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

 

 

Rada lebte nun bereits seit einigen Wochen bei Arian und Maria Antonescu. Sie war von den beiden liebevoll in die Familie aufgenommen worden. Nur die Großmutter machte es ihr noch immer schwer. Rada begegnete ihr stets mit Freundlichkeit und gab ihr keinerlei Anlass, böse auf sie zu werden. Doch es schien, dass die alte Frau überhaupt keinen Grund brauchte, um Rada zu trietzen. Es schien alleine die Tatsache zu genügen, dass sie ein Zigeunermädchen war und somit in den Augen der alten Frau Abschaum war. Selbst das konnte Rada mit ihren acht Jahren bereits erkennen. Sie hatte erfahren, dass Arian genauso alt war wie sie selbst. Rada hatte ihn einst gefragt, wo sein Vater sei. Daraufhin war der kleine Junge ganz traurig geworden. Er sagte ihr, dass er vor einem Jahr gestorben sei. Seitdem lebte er mit seiner Mutter und Großmutter alleine in dem Haus.

Rada war öfter mit Arian und Maria auf den Marktplatz hinunter gegangen, der nicht weit von der Strada Castelului, der Straße, in der die Familie wohnte, entfernt war. In weniger als zehn Minuten erreichte man den "Piata Sfatului" zu Fuß. Sie hatten mit ihr zusammen nach ihrer Familie Ausschau gehalten. Vielleicht würden sie zurückkommen. Ihre Mutter musste sie doch vermissen und nach ihr suchen? Doch Rada konnte sich nicht vorstellen, dass sie wieder zum diesem Ort kommen würden, von dem man sie vertrieben hatte. Um ehrlich zu sein, wusste sie überhaupt nicht, wo sie mit der Suche nach ihrer Familie anfangen sollte. Mit jeder Woche, die verstrich, verlor sie mehr und mehr die Hoffnung. Und Enttäuschung machte sich in ihr breit: Sie war einfach zurückgelassen worden. Aber was war, wenn ihren Eltern etwas zugestoßen war? Rada wollte gar nicht daran denken. Sie war nur froh, dass die Menschen sie in Ruhe ließen, wenn sie mit Arian und Maria durch die Straßen lief. Vielleicht erkannten die Leute sie gar nicht als Zigeunerkind. Nachdem sie in das Haus von Arian´s Mutter kam, ging Maria mit ihr am Tag darauf in die Stadt, um ihr Kleidung zu kaufen. Einfache Mädchenkleider und Röcke, die man hier in Siebenbürgen trug. Die langen Haare hatte sie ihr ordentlich zurückgekammt und zu einem Zopf geflochten. Maria schickte sie sogar mit Arian zusammen zur Schule. Rada war niemals zuvor in einer Schule gewesen. Doch nun lernte sie lesen und schreiben. Und Arian hatte ihr seine Freunde vorgestellt, die Rada ebenfalls akzeptierten. Nach der Schule spielten sie oft zusammen im Hinterhof oder tobten über den Marktplatz. Arian war mittlerweile so etwas wie Rada´s bester Freund geworden. Oder mehr wie ein Bruder. Die beiden verbrachten jede freie Minute miteinander, lernten Abends gemeinsam für die Schule oder neckten sich gegenseitig. Maria behandelte sie stets herzlich und fast wie – ja, als sei sie ihre eigene Tochter. Sie schien keinen Unterschied zu machen. Oft las sie Arian und Rada Gute-Nacht-Geschichten vor oder sang ihnen Lieder.

 

 

Kronstadt, 1842

 

 

Aus den Wochen, die Rada bereits bei Arian´s Familie lebte, wurden schließlich Monate. Aus Monaten wurden Jahre. Und sie wuchs zu einer jungen, hübschen Frau heran. Maria unterrichtete sie in Haushaltsdingen, schickte sie zum Einkaufen. Und Rada half ihr gerne. Schließlich hatte sie Rada vor beinahe acht Jahren aufgenommen, ihr ein Zuhause gegeben als sie nicht wusste, wo sie hingehen sollte.

Sie dachte noch immer häufig an ihre eigene Familie und was wohl aus ihnen geworden war. Es war möglich, dass der Clan Richtung Europa weitergezogen war, wenn sie nicht von den Fürstentümern Siebenbürgens versklavt worden waren. Denn Roma oder >Tsigani<, wie die allgemeine Bevölkerung ihr Volk nannte, wurden an Fürsten verkauft und mussten für diese umherziehen, um als Handwerker, Goldwäscher, Händler, Musiker oder Gaukler Geld zu verdienen, von dem sie einen jährlichen Betrag bei den Fürsten abzugeben hatten. Tief im Inneren hoffte Rada, dass ihrer Familie die Flucht aus dem Land gelungen war. Auch, wenn sie ihre Eltern vielleicht nie wieder sah. Sie selbst hatte auch Glück gehabt und führte ein gutes Leben in Arian´s Familie und sie waren ihr über die Jahre ans Herz gewachsen. Sie fühlte sich bei ihnen akzeptiert und aufgenommen. Abgesehen von Großmutter Caterina, die nach all der Zeit in Bezug auf Rada noch immer ein Biest war. So sehr sich Rada auch um ihre Zuneigung bemühte, sie scheiterte. Caterina würde ihre Meinung wohl niemals ändern. Wie oft hatte sie für Großmutter Bilder gemalt, als sie klein war. Doch sie schenkte diesen niemals Beachtung, während sie Arians Malereien in den Himmel lobte. Egal, was er auch tat, sie überhäufte ihn stets mit Zuneigung und Liebe. Eine Sache, die Rada zeigte, dass diese scheinbar kalte und herzlose Frau durchaus im Stande war, Herzlichkeit zu zeigen. Nur eben nicht ihr gegenüber.

Gerade beschwerte sie sich einmal wieder lauthals über Rada´s angeblich, missratene Kochkünste, als die Familie gemeinsam beim Abendessen saß. Die Sonne war draußen mittlerweile untergegangen. Der Herbst nahte und es wurde allmählich früher dunkel. Obwohl die Tage noch immer spätsommerlich warm waren, waren die Abende schon merklich kühler.

"Die Bohnensuppe ist doch viel zu salzig! Mit sechzehn Jahren noch nicht mal eine anständige "Ciorba de Fasole" kochen zu können, lässt wirklich zu wünschen übrig!"

Arian warf Rada einen vielsagenden Blick zu und in seinen dunklen Augen blitzte der Schalk. Dieser Gesichtsausdruck war typisch für ihn – und Rada liebte dieses verschmitzte Leuchten in seinen Augen. Es verlieh ihm etwas Spitzbübisches. Etwas Anziehendes. Er war mittlerweile, wie sie selbst, zu einem jungen Erwachsenen geworden und die Mädchen in der Schule liefen ihm in Scharen hinter her. Was Rada nur gut verstehen konnte. Doch hin und wieder ertappte sie sich dabei, wie ein Gefühl der Eifersucht in ihr aufflackerte. Aus irgendeinem Grund konnte sie es überhaupt nicht leiden, wenn andere Mädchen ihren Arian anhimmelten. In ihren Augen waren das alle dumme Gänse, die nichts im Kopf hatten und viel zu oberflächlich waren. Ob Arian sich dessen aber bewusst war, dass er von den Mädchen in der Schule gerade zu umschwärmt wurde, wusste Rada nicht zu sagen. Denn er schien sich glücklicherweise recht wenig aus ihnen zu machen. Zudem hatten beide vor wenigen Tagen ihren Abschluss gemacht.

"Ich weiß nicht, was du an Rada´s Suppe auszusetzen hast, Großmutter. Ich finde sie fantastisch", sagte Arian schulterzuckend, worauf er einen missbilligenden Blick von Caterina erntete.

"Verteidige sie nur, Arian! Du bist immer auf ihrer Seite. Ihr beide klebt seit eurer Kindheit aneinander wie die Schmeißfliegen"

Maria entwich ein leises Lachen. In den letzten acht Jahren hatte sie sich äußerlich kaum verändert. Abgesehen von den wenigen grauen Strähnen, die ihr Haar mittlerweile durchzogen.

"Bald nicht mehr, Mutter. Wie wir wissen, wird uns Arian in drei Tagen für einige Zeit verlassen"

Bei diesem Gedanken krampfte sich Rada´s Magen zusammen. Ja, Arian würde fortgehen. Dadurch, dass er stets ein guter Schüler gewesen und später auf das städtische Gymnasium gewechselt war, konnte er nach seinem Abschluss nun eine ausländische Universität besuchen, an der er Medizin studieren würde. Denn Arian wollte, wie sein Vater, Arzt werden und seiner Familie eine gute Zukunft bieten. Er würde nach London aufbrechen und für eine sehr lange Zeit weg sein, denn ein Medizinstudium dauerte in der Regel sechs Jahre. Rada hingegen hatte einen normalen Schulabschluss abgelegt, denn ihre Rolle in der Familie und Gesellschaft war eine Andere. Sie würde weiterhin Maria und Caterina im Haushalt unterstützen, bis sie eines Tages selbst heiratete und eine eigene Familie gründete. Aber von diesen Gedanken war sie noch weit entfernt.

Nach dem Abendessen half Rada ihrer Mutter – ja, mittlerweile bezeichnete sie Maria als Solche – beim Abwaschen des Geschirrs. Danach wartete noch ein ganzer Berg Wäsche auf sie, die sie von Hand waschen und dann auf dem Dachboden zum Trocknen aufhängen musste. Darunter waren Unmengen von Arian´s Kleidung, die er für sein Auslandsstudium benötigen würde und die schnellstens trocknen mussten. Als Rada später gedankenverloren auf dem Dachboden mit dem Aufhängen der Wäsche beschäftigt war, dachte sie über eine Begegnung mit Roma neulich auf dem Marktplatz nach. Als sie einkaufen gegangen und über den Platz gelaufen war, hatte eine Gruppe von Zigeunern auf dem "Piata Sfatului" musiziert und Frauen tanzten zu deren Musik. Ein Hauch von Wehmut hatte Rada´s Herz bei diesem Anblick erfasst. Es erinnerte sie an ihre Kindheit, als sie mit ihrer Mutter und den anderen Roma-Frauen dort tanzte, ausgelassen sang und lachte. Es schien bereits eine Ewigkeit her zu sein und es kam ihr fast wie ein Traum vor, dass sie einmal zu ihnen gehört hatte. Doch ein Teil von ihr war noch immer Roma. Und das würde auch immer so bleiben. Als sie die Musik vernommen hatte, war ihr diese direkt durch Mark und Bein gegangen. Wie ein Blitz in ihr Herz gefahren. Unwillkürlich hatte sich ihr Körper zu den Takten der Zigeunermusik bewegen wollen, als hatte er nie vergessen, wie man dazu tanzte. Es lag ihr noch immer im Blut. In ungestörten Momenten wie diesem hier, wo sie alleine auf dem Dachboden war, summte sie die Melodie der Zigeunermusik vor sich hin und wiegte ihre Hüften im Rhythmus.

"Brauchst du Hilfe?"

Rada erschrak zutiefst, als Arian´s Stimme sie aus ihren Gedanken riss und erstarrte sofort.

"Arian! Warum schleichst du dich immer so an? Willst du, dass ich einen Herzinfarkt bekomme?"

Mit vor der Brust verschränkten Armen stand der dunkelhaarige junge Mann vor ihr, den Kopf schief gelegt und sah sie aus seinen braunen Augen verschmitzt an.

"Nicht bevor ich Arzt geworden bin, Schwesterchen"

Rada seufzte innerlich auf. Wollte er wirklich gehen? Und sie einfach so zurücklassen? Den Launen der Großmutter schutzlos ausgeliefert? Wobei Mutter ihr noch immer Rückhalt gab,

wenn Caterina es mit ihren Sticheleien übertrieb. Doch Arian war immer an ihrer Seite gewesen, all die Jahre lang. Und nun? Jetzt wollte er sie einfach verlassen!

"Musst du wirklich gehen?", sagte sie, als sie mehr oder weniger trotzig das Letzte seiner Kleidungsstücke auf die Leine hängte.

"Die Zeit wird wie im Flug vergehen, Rada"

Das wagte sie zu bezweifeln. Ein einziger Moment ohne Arian kam ihr schon wie hundert Jahre vor. Wie war es denn dann erst, wenn er ganze sechs Jahre fort war? Das war immerhin fast so viel Zeit, wie sie bereits in der Familie Antonescu verbracht hatte.Wie sollte sie das überleben? Seit sie ihn zum ersten Mal als kleinen Jungen gesehen hatte, wie er ihr die Decke und den heißen Tee in ihr Versteck unter der Treppe brachte, empfand sie Zuneigung für ihn. Eine sehr tiefe Zuneigung. Zwischen ihnen war ein Seelenband, das nichts und niemand durchtrennen konnte.

Rada schnaubte leise und warf Arian einen missbilligenden Blick zu.

"Wehe dir, wenn du mir nicht schreibst! Dann bring ich dich um, wenn du zurückkommst!"

Arian´s Mundwinkel zuckten und Belustigung leuchtete in seinem Blick auf.

"Dann bleib ich wohl besser fort", gab er witzelnd zurück.

"Wehe dir!" Rada machte einen Satz nach vorne auf ihn zu. Im Begriff, ihm die hübschen Ohren lang zu ziehen.

Arian wich lachend zur Seite aus."Du kriegst mich ja doch nicht!"

"Und ob!"

Die beiden lieferten sich eine Verfolgungsjagd durch das Dachbodenzimmer. Rada rannte Arian hinterher und versuchte ihn einzufangen. Doch dieser war einfach zu schnell und zu flink für sie. In ihrem langen Rock war es einfach beschwerlicher mit Arian Schritt zu halten. Die beiden lachten herzhaft aus voller Seele, während sie kindlich umeinander herumtollten. Doch plötzlich verfing sich einer von Rada´s Füßen in dem Rocksaum. Sie stolperte und fiel der Länge nach zu Boden, das Gesicht auf den Boden gedrückt. Arian brach ihn schallendes Gelächter aus, was ihm sofort einen verächtlichen Blick von Rada einbrachte.

"Hör auf zu lachen, du Blödmann! Na warte, wenn ich dich kriege!"

Ächzend erhob sie sich und tat erneut einen gespielt bedrohlichen Schritt auf Arian zu. Das Verfolgungsspiel wiederholte sich abermals. Arian huschte hinter ein Holzregal, auf dem einige alte Kisten verstaut waren und versteckte sich dort.

"Komm sofort da raus, du Feigling!", empörte sich Rada und stemmte die Hände in die Hüften.

"Ich denke ja gar nicht daran!", gab er feixend zurück. Rada warf ihre schwarzen Locken, die sich mittlerweile aus ihrem langen, geflochtenen Zopf gelöst hatten, kokett über ihre Schulter.

"Na, bitte. Dann bleib eben hier. Aber vergiss nicht, ich hab den Schlüssel. Wenn ich will, dann sperr ich dich solange hier oben ein, bis du wieder zu Sinnen kommst! Und dann werden wir sehen, ob du in drei Tagen noch zu deinem Auslandsstudium verreisen kannst!"

Rada machte kehrt und lief auf die Tür zu, im Begriff, den Dachboden zu verlassen.

"Das würde dir so passen, Rada!", erklang Arian´s Stimme hinter dem Regal. In Sekundenschnelle sprintete der dahinter hervor und umfing mit seinen Armen Rada´s Taille. Er hob sie an und drehte sich mit ihr lachend im Kreis.

"Lass mich runter, Arian! Mir wird ja ganz schlecht!"

Noch immer die Arme um sie geschlungen, ließ sich Arian schließlich zusammen mit Rada auf den Boden fallen. Beide lagen seitlich auf dem kühlen Holz und keuchten. Sie spürte seinen warmen Atem an ihrem Nacken, der eine sanfte Gänsehaut über ihren Körper schickte. Dieser Moment erinnerte sie an die erste Nacht, in der sie als Kinder nebeneinander in einem Bett geschlafen hatten. Damals hatte sie sich so wohl und geborgen in seiner Umarmung gefühlt. So wie jetzt. So sicher und behütet. Beschützt und geliebt. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

"Ich werde dich vermissen, Rada....", flüsterte Arian an ihrem Ohr. "So schrecklich"

Sie spürte seine zarten Lippen auf ihrer Wange, als er ihr einen Kuss darauf hauchte. Und da wusste auch sie, dass er ihr fürchterlich fehlen würde....

 

 

Kronstadt, 1848

 

Rada drehte sich lachend im Kreis zu der Geigenmusik. Ihr langer, weiter Rock breitete sich wie ein Kreisel aus und die bunten Muster darauf verschmolzen ineinander, während sie tanzte. Sie fühlte sich so frei und glücklich unter Ihresgleichen. Der junge Roma-Musikant mit den schwarzen Haaren, die ihm wild ins Gesicht und bis fast auf seine Schultern fielen, musterte sie aus seinen dunklen Augen. Sein Name war Lascar und neulich hatte er sie angesprochen, als sie einmal wieder, wie so oft, die Zigeuner auf dem Marktplatz beobachtete. Er schien sofort gefühlt zu haben, dass sie zu ihnen gehörte.

Seitdem traf sich Rada einmal die Woche mit seiner Musikantengruppe, um dort gemeinsam mit deren Frauen zu tanzen. Mutter Maria und Großmutter Caterina wussten davon selbstverständlich nichts. Rada stahl sich stets mit dem Vorwand aus dem Haus, einkaufen gehen zu müssen. Was ja nicht gelogen war und schließlich ging Rada öfter für die Familie einkaufen.

"Ich muss jetzt nach Hause, Lascar!"

Der junge Zigeuner zog einen Schmollmund.

"Ach. Bleib doch noch, Rada!"

Lascar war attraktiv und fand Gefallen an Rada, das wusste sie.

"Vielleicht entscheidest du dich ja eines Tages, dich uns anzuschließen", hatte er einmal gesagt. Doch sie versicherte ihm, dass sie ihr halbes Leben bereits nicht mehr unter Zigeunern gelebt und nun eine andere Familie hatte, die sie sehr liebte. Und sie vermisste Arian nach wie vor. Doch nicht mehr lange und er würde zurückkehren. Genaugenommen in wenigen Tagen schon. Sie fieberte diesem Tag entgegen, seitdem er vor sechs Jahren gegangen war. Und sie erinnerte sich noch immer mit jedem Detail an jenen ausgelassenen Abend oben auf dem Dachboden, als sie einander nachjagten und schließlich erschöpft und keuchend zu Boden fielen. Sein Atem in ihrem Nacken. Sein duftender Körper ganz nah an ihrem. Seine weichen Lippen, die einen sanften Kuss auf ihre Wange gehaucht hatten. Rada seufzte, als sie die Strada Castelului entlang lief. Seit Arian sein Auslandsstudium angetreten hatte, war es ihr vorgekommen, als sei sie die letzten sechs Jahre unvollständig gewesen. Vielleicht hatte sie deshalb den Kontakt zu den Roma-Musikanten am Marktplatz gesucht. Weil diese ihr ebenfalls ein Gefühl des Vollkommen-Seins vermittelten. Und irgendwie musste sie sich ja von ihrer Sehnsucht nach Arian ablenken. Ihrer Sehnsucht.....Rada war sich nicht sicher, ob sie überhaupt solche Gefühle für ihren Bruder haben durfte. Doch eigentlich war Arian gar nicht ihr Bruder. Sie waren nicht einmal blutsverwandt. Er hatte ihr gesagt, dass sie ihm fürchterlich fehlen würde. Doch hatte er ihr geschrieben? Kein einziges Mal! Seiner

Mutter hatte er hin und wieder einen Brief geschickt, in dem er Rada herzlich grüßen ließ. Doch kein persönlicher Brief nur für sie allein, in dem er ihr seine intimsten Gedanken mitteilte. So, wie er es als kleiner Junge immer getan hatte. Rada und Arian hatten von Kindesbeinen an stets über alles miteinander reden können. Es gab niemals Geheimnisse zwischen den beiden. Und trotzdem hatte er in all diesen Jahren nicht einen einzigen Brief übrig gehabt? Bei diesem Gedanken ballte Rada unwillkürlich die Hände zu Fäusten. Na, der konnte ja was erleben, wenn er nach Hause kam! So einfach würde er nicht davon kommen!

 

 

 

"Sind die Sarmale fertig, Rada?"

Maria erschien neben ihr, während Rada den Deckel von dem dampfenden Topf mit den Weißkrautwickeln anhob. Der angenehme Duft des Essens zog in ihre Nase und sie schloß genüsslich die Augen.

"In ein paar Minuten müssten sie fertig sein, Mutter"

"Hoffentlich sind sie nicht wieder halbroh wie beim letzten Mal!"

Großmutter Caterina´s Stimme schnitt messerscharf durch die Küche, als sie sich am Küchentisch niederließ und ihren Tee trank. Rada hatte mittlerweile gelernt, die scharfen Bemerkungen der alten, zynischen Frau zu ignorieren. Tief im Inneren hatte sie sich damit abgefunden, dass sie ihr niemals Wohlwollen entgegen bringen würde. Außerdem war Rada innerlich viel zu aufgeregt, um sich an Caterina´s Worten zu stören. Arian würde heute nach Hause kommen. Nach sechs langen Jahren. Sie freute sich, ihn wieder zu sehen. Und trotzdem würde sie es ihm nicht allzu einfach machen. Sie war noch immer wütend darüber, dass er ihr kein einziges Mal geschrieben hatte in all der Zeit, während sie täglich, ja beinahe jeden Moment, nur an ihn dachte. Speziell für seine heutige Ankunft hatte sie sein Lieblingsgessen zubereitet.

Vielleicht sollte ich in seinen Teller eine extra Portion Salz geben!, dachte sie bitter und spürte, wie sich die Schadenfreude in ihrem Bauch ausbreitete. Unwillkürlich begann sie zu schmunzeln bei dieser Vorstellung. Nein, das würde sie nicht wagen. Sie würde es ihn auf andere Weise büßen lassen.

"Rada´s Sarmale waren beim letzten Mal vorzüglich, Mutter", verteidigte Maria ihre Ziehtochter. "Wenn sie zu weich gekocht sind, fallen sie auseinander!"

Vielleicht liegt es auch einfach nur an den alten Zähnen dieser Hexe!, dachte Rada und kicherte ungewollt auf.

"Was gibt es da zu kichern?", empörte sich Großmutter Caterina prompt. Rada wandte sich zu der alten Frau um und lächelte sie freundlich an.

"Nichts, Großmutter"

Die junge Frau mit den schwarzen, langen Haaren, die sie stets zu einem geflochtenen Zopf trug, erntete einen missbilligenden Blick von Caterina. Sie wusste, dass die Alte es hasste, wenn Rada sie „Großmutter“ nannte. Denn sie würde sich niemals nur im Ansatz als die Verwandte eines Zigeunermädchens betiteln. Doch das war Rada herzlich egal. Irgendwie musste sie sich gegen die bissigen Kommentare dieser Frau verteidigen – und sei es nur unterschwellig.

"Schluss mit dem Geplänkel! Arian kommt jeden Moment", meldete sich Maria zu Wort. Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, vernahm Rada das Geräusch der Türklinke an der Haustür im Flur. Ihr stockte der Atem. Gleich würde Arian nach sechs Jahren wieder vor ihr stehen! Für einen Moment überlegte sie, ob ihre Haare ordentlich lagen und.....Verdammt! Rada´s Blick fiel auf ihre vom Kochen völlig verdreckte Schürze. Hastig zog sie diese über den Kopf und hängte sie an den Haken neben der Küchentür. Schnell zog sie nochmal ihre Bluse und ihren Rock gerade. Warum machte sie sich eigentlich so viele

Gedanken, ob sie gut aussah? Ob sie Arian gefallen würde? Vermutlich war es ihm vollkommen egal. Wenn er ihr nicht einmal ein paar Worte geschrieben hatte, dann dürfte es ihm auch herzlich egal sein, wie sie aussah. Pah! Der konnte sich noch immer auf was gefasst machen, dieser......! Rada´s Herz setzte einen Schlag aus. Arian sah umwerfend aus! Seine schwarzen Haare waren ein wenig länger geworden und fielen ihm seitlich ins Gesicht. Das weiße Hemd, dessen Ärmel er lässig bis zu den Ellenbogen zurückgekrempelt hatte, die schwarze Stoffhose und die gleichfarbigen Schuhe sahen piekfein an ihm aus. Die letzten Jahre schienen einen richtigen Mann aus ihm gemacht zu haben.

"Arian! Mein Sohn, du bist zurück!"

Maria fiel ihm freudestrahlend um den Hals.

"Hallo Mutter", erwiderte er lächelnd und drückte Maria fest an sich. Großmutter Caterina hatte sich mittlerweile von ihrem Stuhl erhoben und trat ebenfalls auf Arian zu, um ihn zu begrüßen. Er umarmte auch sie herzlich.

"Großmutter"

"Wie schön, dass du zurück bist"

Über die Schulter seiner Großmutter kreuzten sich schließlich Rada´s und Arian´s Blicke. Er schien für einen Moment inne zu halten. Mit großen Augen sah er sie zunächst an, dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht und seine wunderschönen Grübchen kamen zum Vorschein, die Rada seit ihren Kindertagen liebte. Die Röte schoss ihr unwillkürlich ins Gesicht, doch sie zwang sich zur Vernunft. Arian löste sich von seiner Großmutter und trat auf Rada zu.

Warte Bürschchen!, dachte sie bitter und verschränkte die Arme vor ihrer Brust, während sie ihn missmutig beäugte.

"Rada!"

Mit ausgebreiteten Armen und einem breiten Grinsen im Gesicht kam der junge Mann auf sie zu. Als er sie gerade umarmen wollte, wich sie zur Seite hin aus, warf kokett den Kopf in den Nacken und verließ die Küche, um direkt in das angrenzende Wohnzimmer zu verschwinden. Mit einem ohrenbetäubenden Knall ließ sie die Tür hinter sich zu fallen. Maria, Caterina und Arian sahen sich überrascht an.

"Was hat sie denn?", fragte er an Maria gewandt.

Diese hob die Schultern.

"Ich weiß es nicht. Vielleicht fragst du sie selber"

Caterina erhob mahnend einen Zeigefinger.

"Das ist das Zigeunertemperament! Wie unhöflich von ihr, sich so zu verhalten! Undankbares Gör! Ich hab ja immer geahnt, dass sie uns eines Tages auf dem Kopf herumtanzen wird!"

Arian ging nicht auf die Bemerkung seiner Großmutter ein, obwohl sie ihn im Inneren ärgerte, sondern lief schnurstracks auf das Wohnzimmer zu. Als er die Tür öffnete, erblickte er Rada, wie sie mit dem Rücken zu ihm am Fenster stand und hinaus starrte. Sie zeigte keine

Regung, nachdem er das Zimmer betreten hatte. War sie etwa trotzig? Was hatte er ihr getan? Arian schloss die Tür hinter sich. Langsam trat er an sie heran und stand kurz darauf direkt hinter ihr. Sie regte sich noch immer nicht, obwohl sie bereits spüren musste, dass er hinter ihr stand.

"Rada?"

Verärgertes Schnauben.

"Du erinnerst dich also noch an mich, ja?"

In ihrer Stimme schwang eine derartige Kälte und Ironie mit, die Arian das Blut in seinen Adern gefrieren ließ. Doch er entschied sich, sich nicht davon beeindrucken zu lassen. Er kannte ihr Temperament und wusste nur zu gut, wie aufbrausend sie sein konnte. Und Gott! Wie sehr hatte ihm das gefehlt! Ein Schmunzeln huschte über sein Gesicht.

"Wie könnte ich dich vergessen?", sagte Arian, als er seinen Kopf auf ihren Schultern ablegte und sie verschmitzt von der Seite beäugte. Sie starrte noch immer stur aus dem Fenster, die Arme vor der Brust verschränkt. Er sah, wie ihre Mundwinkel zuckten, sie sich aber angestrengt gegen ein Schmunzeln zu wehren versuchte. Stattdessen hob sie fragend die Augenbrauen, sah ihm aber noch nicht ins Gesicht.

"Das hast du scheinbar schon, als du damals durch die Tür gegangen bist", gab sie kühl zurück.

Arian hob den Kopf von ihrer Schulter.

"Wieso sagst du das?"

Schnaubend wandte Rada sich zu ihm herum. Die Arme noch immer vor der Brust verschränkt. Zwischen ihren Augenbrauen hatte sich eine Falte gebildet und sie sah ihn missbilligend an.

"Wieso ich das sage? Sechs Jahre ohne ein geschriebenes Wort von dir an mich, Arian!"

Arian hob fragend die Brauen und sah sie verständnislos an.

"Ich habe Mutter doch geschrieben und Grüße an dich ausrichten lassen"

Rada schnaubte abermals und warf mit einer heftigen Bewegung die Arme nach unten, während sie genervt die Augen verdrehte.

"Grüße? Mehr hattest du nicht übrig?"

Der junge Mann hob beschwichtigend die Hände, denn er hatte das Gefühl, dass Rada gleich auf ihn losgehen würde.

"Es tut mir Leid, Rada. So ein Medizinstudium ist harte Arbeit. Ich hatte ständig zu tun. Sonst hätte ich dir auch persönlich ein paar Zeilen zukommen lassen.....Bitte sei nicht mehr sauer auf mich"

Rada stieß die Luft scharf aus und wollte trotzig an ihm vorbei laufen, doch Arian bekam ihre Hand zu fassen und zog sie zu sich zurück. Mit weit aufgerissenen Augen stand sie mit dem Rücken an seinen Oberkörper gelehnt, spürte wieder seinen warmen Atem auf ihrer Haut und sog seinen süßlich-herben Duft ein, den sie in all der Zeit so vermisst hatte. Ein Gefühl der Wärme breitete sich in ihrem Brustkorb aus. Doch so schnell wollte sie nicht Kleinbei geben!

"Lass mich los!", brummte Rada. Sie vernahm sein leises Lachen an ihrem Ohr.

"Das werde ich. Aber vorher möchte ich dir noch etwas sagen"

"Dann mach schnell! Die Sarmale sind fertig! Ich hab extra für dich noch dein Lieblingsessen gekocht, du undankbarer Kerl!"

"Ich hab beinahe jeden Tag an dich gedacht. Jede Sekunde....Ich hab dich vermisst, Schwesterchen"

Eine Woge der Hitze schoß in Rada´s Wangen, als sie seine zarten Lippen auf ihnen spürte.

Er tat es schon wieder! So wie damals! Was bildete er sich ein? Dieser unverschämte Mistkerl! Doch sie konnte ihm einfach nicht böse sein. Dazu liebte sie ihn einfach zu sehr. Diesen kleinen Jungen, aus dem ein attraktiver junger Mann geworden war, der sein Medizinstudium nun erfolgreich abgeschlossen hatte. Innerlich war sie sogar sehr stolz auf ihn. Bald würde er sich Dr. Arian Antonescu nennen dürfen und eine eigene Praxis eröffnen.

 

 

Beim Essen erzählte Arian von seinem Studium in London und wie oft er sich gewünscht hatte, seine Familie wenigstens einmal im Jahr zu besuchen. Doch konnte er sich diese Reise einfach nicht leisten. Das Studium allein war teuer genug und er hatte Glück, dass er ein Stipendium nach seinem Hochschulabschluss bekommen hatte. Rada hörte ihm gebannt zu, während er von seiner Zeit in London erzählte. Hin und wieder schmunzelten sich beide unauffällig über den Tisch zu.

"Arian...", meldete sich Caterina zu Wort. "Was hast du vor, sobald du als Arzt tätig bist?"

Der junge Mann sah seine Großmutter verwundert an.

"Als Arzt tätig sein? Was soll ich sonst vorhaben, Großmutter?"

"Na, wie wäre es mit heiraten, Junge? Wann suchst du dir ein nettes Mädchen?"

Rada verschluckte sich beinahe an ihren Sarmale und trank schnell einen SchluckWasser. Arian und heiraten? Wen bitte? Eine dieser dummen Gänse, die damals schon um ihn herumschwarwenzelt waren? Bei diesem Gedanken drehte sich Rada der Magen um. Arian legte seine Hand auf Caterina´s und lächelte sie verständnisvoll an.

"Keine Sorge, Großmutter....Alles zu seiner Zeit"

Für einen Moment streifte sein Blick Rada und ihr schoss unwillkürlich die Röte ins Gesicht. Einen Augenblick lang hatte sie sich vorgestellt, wie es wohl sein würde, wenn sie dieses Mädchen an seiner Seite wäre. Doch sie verwarf diesen Gedanken ganz schnell wieder. Arian und Rada heiraten.....Das würde er sicher nie und nimmer. Er benahm sich zwar öfter so, als würde er mit ihr flirten, aber sie bezweifelte dennoch, dass Arian tiefergehende Gefühle für sie hatte....Oder? Was, wenn doch?

 

 

"Gehst du eben auf den Markt für mich, Liebes?", fragte Maria am Morgen darauf, als Rada gerade dabei war, das benutzte Frühstücksgeschirr abzuwaschen.

"Selbstverständlich, Mutter"

"Ich kann dich begleiten", meinte Arian, als er im Türrahmen stand und sich lässig dagegen lehnte. Oh Nein. Auch das noch. Ausgerechnet heute, wo sich Rada wie jede Woche auf dem Marktplatz mit Lascar, den Musikanten und den Tänzerinnen traf. Lascar und seine Truppe versammelten sich immer Mittwochs auf dem "Piata Sfatului", um mit ihren Darbietungen Geld zu verdienen. Und Rada brannte jede Woche darauf, dort hin zu gehen und ausgelassen zu tanzen. Wenn sie nun Arian im Nacken hatte, würde sie dort nicht hingehen können!

"Das ist nicht nötig, Arian", erwiderte Rada deshalb. "Du bist sicher noch erschöpft von der langen Reise. Bleib Zuhause und ruhe dich aus"

Glücklicherweise schien sich Arian damit zufrieden zu geben.

"Na, schön. Wie du meinst"

Kurze Zeit später machte sich Rada mit einem Korb in der Hand auf den Weg zum Marktplatz. Nachdem sie ihre Einkäufe erledigt hatte, begab sie sich zum Brunnen im Zentrum des Platzes. Von Weitem erkannte sie bereits Lascar, die Musikanten und die Frauen.

"Rada!", begrüßte Lascar sie freudig.

"Hallo, Lascar", erwiderte sie.

Der junge Zigeuner musterte sie eine Weile aus seinen dunklen Augen und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Schmunzeln.

"Schön, dass du uns wieder Gesellschaft leistest"

Dann ließ er sich vor dem Brunnen auf einem hölzernen Hocker nieder und begann auf seiner Violine zu spielen, während sein Freund neben ihm rhythmisch die Trommel zum erklingen brachte. Ein anderer sang zu der Melodie.

Wie jedes Mal lieh ihr Smaranda, eines der Roma-Mädchen, zwei bis drei lange, bunte Röcke. Da Zigeuner-Frauen an die zwölf Röcke übereinander trugen, war es nicht schlimm, drei davon abzugeben. Rada löste ihre langen, schwarzen Locken aus dem Zopf und schlang sich ein Hüfttuch um, das ihr Smaranda ebenfalls gab. Sie drehte sich mit den anderen Tänzerinnen im Kreis, ließ ihre Röcke im Takt der Musik schwingen und ihre Hüften verführerisch kreisen. Smaranda spielte während des Tanzes ihre Fingerzimbeln, die anderen Frauen ließen wild ihre Tambourine erklingen. Hin und wieder blieben einige Passanten stehen und beobachteten das Schauspiel. Manche von ihnen warfen sogar einige Münzen in den Hut, der vor Lascar auf dem Boden lag. Dieser bedankte sich stets mit einem freundlichen Nicken, während er lässig seine Violine weiter spielte und seine aufmerksamen Augen sogleich danach wieder auf Rada ruhten. Auf ihren geschmeidigen Hüften, dem üppigen Busen, der sich unter ihrer weiß-rot gemusterten Trachtenbluse abzeichnete. Die langen, schwarzen Locken und die smaragdgrünen Augen, die sich von ihrer leicht-gebräunten Haut abhoben, die vollen roten Lippen, die kleine, gerade Nase und ihre hohen Wangenknochen.Was für eine schöne Frau - und wie Schade war es, dass sie sich nicht entschied, sich seiner Truppe anzuschließen. Doch Lascar schien nicht Rada´s einziger Bewunderer zu sein.

 

 

 

Arian war Rada heimlich gefolgt. Wieso wollte sie nur alleine zum Einkaufen gehen? Früher hatten sie beinahe jede Sekunde miteinander verbracht, waren nie ohne einander irgendwo hingegangen. Und jetzt? War sie etwa noch immer sauer, weil er ihr während seiner Abwesenheit nicht geschrieben hatte? Oder hatte sie sich in all der Zeit einfach von ihm entfernt? Bei diesem Gedanken krampfte sich Arian´s Herz zusammen. Und beinahe blieb es ihm stehen, als er Rada inmitten von Roma-Frauen auf dem Marktplatz tanzen sah. Nicht vor Entsetzen. Ganz und gar nicht. Rada sah atemberaubend aus, während sie sich im Kreis drehte, lachte und sang. Die Röcke wild wirbeln ließ. So ausgelassen hatte er sie noch nie gesehen, so frei und ungezwungen. Zwar waren sie früher als Kinder hier über den Marktplatz getollt, aber niemals hatten ihre Augen dabei so sehr geleuchtet wie jetzt in diesem Moment, wo sie unter Ihresgleichen war. Mit einem Schmunzeln beobachtete Arian sie unauffällig von einer Bank einige Meter vom Brunnen entfernt. Das war also der Grund, weshalb Rada darauf bestanden hatte, alleine einkaufen zu gehen. Weil sie sich insgeheim nach ihrem Volk sehnte. Nach einer Weile machte Arian sich auf den Weg nach Hause, denn er wollte bei Rada nicht den Eindruck erwecken, dass er ihr nachstellte.

 



 

Freudestrahlend trat Rada durch das Holztor in den Innenhof, wo sich mit einem tiefen Seufzer auf der grünen Holzbank vor dem Haus niederließ. Den Einkaufskorb stellte sie neben sich ab. Ihre weiße Trachtenbluse klebte an ihrem Rücken, so sehr hatte sie getanzt.

"Wo bleibst du denn so lange, Kind?", ertönte Maria´s Stimme. Ihre Mutter erschien oben am Ende der Treppe in der Tür und schaute zu ihr herunter. Rada fächerte sich Luft zu.

"Es war voll auf dem Markt und bei dieser Hitze kann man nicht so schnell gehen, Mutter"

Ein verständnisvoller Ausdruck machte sich auf Maria Antonescu´s weichen Gesichtszügen breit.

"Nun komm rein und hilf mir beim Zubereiten des Mittagessens, Rada. Und Großmutter möchte ihren Tee"

Daran würde Caterina ja sowieso wieder etwas auszusetzen haben.

"Der ist viel zu bitter!"

Rada konnte die herrische Stimme der Alten schon bis hier hören und sie verdrehte unwillkürlich die Augen. Jedoch blieb ihr nichts Anderes übrig. Also griff sie nach dem Korb und erhob sich schwungvoll von der Bank, um kurz darauf die Treppe nach oben zu schreiten.

"Zurück von deinem Einkaufsbummel?", begrüßte sie Arian, der am Küchentisch saß und sie amüsiert musterte. Ein Ausdruck lag in seinen dunklen Augen, den Rada nicht deuten konnte. Irgendwie klang er so, als wüsste er, wo sie gewesen war. Doch das war unmöglich. Das bildete sie sich nur ein.

"Wie du siehst, ja", gab sie kühl zurück und stellte den Einkaufskorb auf dem Holztisch ab.

"Gib mir mal die Auberginen rüber, Rada", sagte Maria. "Ich möchte Auberginenaufstrich machen"

Rada übergab diese ihrer Mutter, die sogleich den Holzofen anschürte, um die Auberginen darin zu rösten, bis man die Haut davon lösen konnte. Das weiche Innere des Gemüses wurde dann mit einem Messer herausgelöst und zu einer cremigen Masse weiterverarbeitet. Dazu würden sie frische Tomaten, Weißbrot und rote Zwiebeln essen. Rada ging ihrer Ziehmutter dabei zur Hand und half ihr dabei, den Aufstrich zuzubereiten.

Arian hatte sich unterdessen in sein Zimmer zurückgezogen. Rada hatte seit einigen Jahren ihr eigenes Zimmer. Und zwar, seit Arian und sie aus dem Kindesalter heraus waren. Dann war es einfach nicht mehr schicklich, wenn Junge und Mädchen zusammen in einem Bett schliefen. Nur widerwillig hatte Caterina ihr Zimmer hergegeben, um bei Maria im Schlafzimmer zu übernachten. Selbige betrat soeben die Küche.

"Wo bleibt mein Tee?"

Mist. Das hatte Rada beinahe vergessen.

"Kommt sofort, Großmutter"

Ob der Bezeichnung ließ Caterina ein mürrisches Schnauben verlauten, das Rada innerlich schmunzeln ließ. Sie liebte es, die Alte damit zu fuchsen. Sogleich bereitete Rada den Kräuter-Tee für Caterina zu.

"Und mach ihn ja nicht wieder zu bitter!"

 

 

 

"Was hast du heute noch vor, Rada?"

Arian erschien hinter hier, während sie das Geschirr vom Mittagessen abwusch. Maria und Caterina hatten sich zur Mittagsruhe zurückgezogen. Er stand einmal wieder so unverschämt nah bei ihr, dass sie seinen Atem auf ihrem Nacken spürte, der ihr eine wohlige Gänsehaut auf ihrem ganzen Körper bescherte.

"Was soll ich deiner Meinung nach vorhaben, Arian?", erwiderte sie schulterzuckend ohne den Blick von den schmutzigen Tellern abzuwenden.

"Du könntest einen Spaziergang mit mir machen"

"Einen Spaziergang? Du hast wohl zu lange das Londoner Leben genossen, wie mir scheint!"

Arian hob verwundert die Brauen.

"Was ist dagegen einzuwenden?"

"Ich hab dafür keine Zeit. Ich muss gleich noch Wäsche waschen und zum Trocknen auf dem Dachboden aufhängen. Außerdem muss die Treppe draußen gefegt werden. Danach muss ich Mutter beim Zubereiten des Abendessens helfen. Wie du siehst, bin ich eine vielbeschäftigte Frau"

Arian schwieg eine Weile und überlegte. Ein Schmunzeln schlich um seine Mundwinkel.

"Ja, wie mir scheint, bist du das"

"Siehst du. Also halte mich nicht weiter von meiner Arbeit ab, Arian", erwiderte Rada schnaubend.

Er lachte leise.

"Habe ich nicht vor. Ich werde dir dabei helfen"

Grinsend drehte sich Rada zu ihm um, griff nach dem Besen in der Ecke und drückte ihn Arian in die Hand.

"Dann fang an!"

Zwinkernd ging Arian an ihr vorbei in den Flur und trat durch die Haustür. Gleich darauf vernahm Rada das Kehrgeräusch des Besens. Sie konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken, als sie ihn vom Küchenfenster aus beobachtete. Der junge Herr Dr. Arian Antonescu, der draußen auf der Treppe stand und fegte. Er sollte sich bloß nicht einbilden, dass er etwas Besseres war als sie!

"Das machst du gut", bemerkte Rada schelmisch, als sie mit einem Korb voller Wäsche an ihm vorbei lief. Oben am Fuße der Treppe befand sich ein weiterer Aufgang zum Dachboden, den sie nun ansteuerte. Arian folgte ihr.

"Was willst du hier oben?", fragte Rada stirnrunzelnd.

"Ich bin fertig mit der Treppe. Jetzt helfe ich dir beim Wäsche aufhängen"

Rada stellte den Wäschekorb auf der Treppe ab und stemmte die Hände in die Hüften.

"Kann es sein, dass du mir absichtlich nachläufst?"

Arian´s Mundwinkel zuckten und seine Augen leuchteten spitzbübisch auf.

"Ich will Zeit mit dir verbringen, Rada. Ist das so schlimm? Früher haben wir alles zusammen gemacht, waren keine einzige Sekunde getrennt. Und jetzt? Mir kommt es so vor, als ob du vor mir wegläufst, Rada"

Rada entfuhr ein verächtliches Schnauben.

"Ich laufe vor dir weg? Wer ist denn sechs Jahre fort gewesen und hat sich mit keinem Wort bei mir gemeldet? Hast du mal daran gedacht, dass ich mich in dieser Zeit auch verändert habe?"

Sie seufzte tief.

"Wir sind keine Kinder mehr, Arian"

Mit diesen Worten hob sie den Wäschekorb von den Stufen an und klemmte ihn sich unter den Arm. Dann setzte sie ihren Weg zum Dachboden fort. Arian blieb unten stehen und sah ihr verständnislos hinterher. Doch er dachte nicht im Entferntesten daran, sich von ihr fern zu halten. Also folgte er ihr hinauf auf den Dachboden, wo sie bereits begonnen hatte, die Wäsche auf die Leinen zu hängen.

"Du bist immer noch sauer auf mich?", fragte er überrascht, als er durch die Tür trat.

Rada bedachte ihn mit einem argwöhnischen Blick, während sie die Bettlaken auf der Leine stramm zog.

"Das kann man nicht so einfach vergessen, Arian"

Der junge Mann stemmte angestrengt die Hände in die Hüften.

"Was ist mit dir los, Rada?"

Diese blickte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

"Was soll mit mir los sein?"

Mit einem Schmunzeln trat er auf sie und sie errötete unwillkürlich, als sie sich an die Szene vor sechs Jahren hier oben auf dem Dachboden erinnerte. Wie er sie angehoben und sich lachend mit ihr im Kreis gedreht hatte, bis beide schwindelnd zu Boden gefallen waren. Wie er sie im Arm gehalten und ihr einen Kuss auf die Wange gehaucht hatte. So wie er es gestern wieder getan hatte. Warum bereitete ihr das jedes Mal so ein Wohlgefühl und wieso wollte sie ihn am Liebsten gleichzeitig dafür ohrfeigen?

"Meine kleine, wilde Rada.....", flüsterte er, als er ganz nah vor ihr stand. Sie konnte seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren, seinen süßlich-herben Duft riechen. "Wie sehr mir dein Temperament in all der Zeit gefehlt hat...."

Die Hitze schoß in Rada´s Wangen, als sie in Arian´s wunderschöne, dunkle Augen blickte, von denen sie ihre eigenen nicht abwenden konnte. Ihre Augen streiften seine wunderschön geschwungen Lippen und für einen Moment fragte sie sich, wie es sich wohl anfühlen mochte, diese auf ihren spüren. Als schien er diese unausgesprochene Frage beantworten zu wollen, sah sie, wie sie sich ihren langsam näherten.....Nur einen Wimpernschlag waren sie davon entfernt, sich auf ihre zu legen. Das Herz schlug wie wild in ihrer Brust, als wollte es jeden Moment zerspringen.

"Rada? Arian?"

Rada löste sich aus ihrer Erstarrung, als sie Maria´s Rufen vernahm.

"Wir sind hier oben, Mutter!", rief Rada und ging blitzschnell an Arian vorbei zur Tür, in dessen Rahmen sie innehielt. Sie war beinahe erleichtert, dass Maria sie unterbrochen hatte.

Doch ihre Wangen glühten wie Feuer.

 

 

Spät Abends ließ Rada sich erleichtert ins Bett fallen, doch sie fand keinen Schlaf. Arian ging ihr einfach nicht aus dem Kopf – und das, was beinahe zwischen ihnen passiert war. Bei dem Gedanken daran, spürte sie, wie sich ein Kribbeln in ihrer Magengegend breit machte und sie unwillkürlich schmunzeln musste. Was er wohl gerade machte? Vermutlich schlief er bereits tief und fest. Ein Seufzen verließ ihre Lippen. Wie sehr vermisste sie die alten Kindertage, als sie mit ihm zusammen in einem Bett geschlafen hatte. Und das ganz zwanglos – ohne irgendwelche seltsamen Gefühle, die sie verwirrten. Und die Arian ihr irgendwie fremd erscheinen ließen. Nach einer Weile spürte Rada die Trockenheit in ihrer Kehle und sie hatte fürchterlichen Durst. Also zog sie sich einen grauen Wollüberwurf über ihr weißes, langes Nachthemd und tappste barfuß in die Küche, wo sie sich einen Becher Wasser einschenkte und diesen mit einem Mal austrank. Als sie den Becher ausgepült und wieder in das Regal zurückgestellt hatte, wollte sie sich auf den Weg zurück ins Bett machen. Doch etwas ließ sie inne halten. War das das Aufflackern eines Streichholzes draußen vor dem Fenster? Langsam trat Rada an das Küchenfenster heran und spähte hinaus. Dort saß Arian auf der Treppe, ihr den Rücken zugewandt. Lässig bließ er den Rauch in den Himmel.

 

 

Arian, was machst du denn um diese Uhrzeit hier draußen?“

Er saß auf der Treppe, drehte sich zu Rada um und seine dunklen Augen blitzten sie schelmisch an.

Rauchen. Oder wonach sieht es denn deiner Meinung nach aus, Rada?“

Rada stemmte die Hände in die Hüften.

Wenn Großmutter das sieht, dann jagt sie dich zum Teufel!“

Es ist mitten in der Nacht! Sie schläft bereits tief und fest. Sie hat gar keine Zeit, mich zum Teufel zu jagen!“, gab Arian spitzbübisch zurück. Seufzend ließ sie sich neben ihm auf den Stufen nieder und schob den Saum ihres langen Nachthemdes zurecht.

Na, wenn du das sagst! Du weißt, dass sie ihre Augen und Ohren überall hat....“

Arian zuckte nur mit den Schultern und zog genüsslich an seiner Zigarette. Mit einem Hauch von Belustigung und Missbilligung musterte Rada ihn von der Seite, wie er den Rauch in den Nachthimmel blies. Er sah dabei sehr lässig und gleichzeitig elegant aus. Und unglaublich attraktiv. Sie spürte erneut, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.

Was ist, Rada? Warum siehst du mich so an??“, fragte Arian neckisch. Rada verzog das Gesicht und ehe er sich versah, hatte sie ihm die Zigarette abgenommen.

Nun sei mal nicht so geizig, ja?“

Arian sah sie aus großen Augen an, als er beobachtete, wie sie einen kräftigen Zug von der Zigarette nahm. Noch mehr verwundert schien er darüber zu sein, dass sie keinen Hustenanfall bekam. Rada musste zugeben, dass sie des Öfteren mit den Zigeunern auf dem Marktplatz geraucht hatte.

Rada! Seit wann rauchst du denn??“

Sie lachte leise auf.

Tja, du weißt eben gar nichts von mir, Arian. Immerhin warst du viel zu lange weg und hast Einiges verpasst“

Eine Weile musterte er sie. Der Schalk blitzte in seinen Augen auf.

"Ja, das ist wahr. Ich wusste zum Beispiel gar nicht, was für eine talentierte Tänzerin du bist"

Rada fiel beinahe die Zigarette aus der Hand. Woher wusste Arian das?

"Wie bitte?", gab sie betont überrascht zurück.

"Das war ein Kompliment, Rada", erwiderte er zwinkernd und holte sich seine Zigarette wieder zurück.

Rada´s grüne Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

"Bist du mir etwa nachgelaufen heute Nachmittag?"

"Ja", gab er ohne mit der Wimper zu zucken zurück. Ermahnend hob sie den Zeigefinger und schüttelte diesen vor seinem Gesicht.

"Wenn du ein Wort zu Mutter und Großmutter sagst, dann....."

"Werde ich nicht", entgegnete Arian schmunzelnd. "Genausowenig wie du Großmutter erzählen wirst, dass ich rauche. So haben wir beide ein Geheimnis"

Empörung machte sich in ihr breit. Als ob sie jemals vorgehabt hatte, ihn zu verpfeifen! Doch war sie auch erleichtert, dass Arian Stillschweigen über ihre wöchentlichen Treffen mit den Zigeunern bewahren würde. Für einen Moment sahen sich beide in die Augen und Rada spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Arian´s Blick war ganz sanft und voller Wärme.

Du glaubst nicht, wie sehr du mir in all der Zeit gefehlt hast, Rada“

Ihr Blick hing an seinen wunderschön geformten, schmalen Lippen, die sich langsam auf sie zu bewegten, sich sanft auf ihre legten....

 

 

"Arian! Was machst du denn?? Wenn das ein Scherz sein soll, dann ist das nicht lustig!"

Rada wich mit einem Mal von ihm zurück, als sie sich dessen bewusst wurde, was sie hier soeben tat. Arian küssen! Den Jungen, mit dem sie wie Bruder und Schwester aufgewachsen war! Dieser blickte sie aus großen Augen an.

"Was? Hat es dir etwa nicht gefallen?"

Rada senkte ihre Stimme, damit Maria und Caterina drinnen im Haus nicht wach wurden. Sonst hätte sie Arian mit Sicherheit nach allen Regeln der Kunst die Hölle heiß gemacht.

"Du bist ja wohl der unverschämteste Kerl, den ich je getroffen habe!", zischte sie leise. Ein Schmunzeln zuckte um Arian´s Lippen.

"Und wohl der Gutaussehendste"

"Der Arroganteste, wolltest du sagen!"

Arian schürzte die Lippen.

"Du warst schon immer gut darin, deine wahren Gefühle zu verbergen. Aber mir machst du nichts vor, kleine Rada"

Die Röte schoß ihr in die Wangen.

"Was willst du damit sagen?"

Arian´s Augen blitzten schelmisch auf.

"Ach, komm schon. Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich dich geküsst habe. Ich erinnere mich noch zu gut an unsere kindliche Herumtollerei auf dem Dachboden vor sechs Jahren. Wie du in meinen Armen lagst, dein Herz wild gepocht hat. Dein ganzer Körper sehnte sich mit jeder Faser nach mir"

"Vollkommener Unsinn!"

"Ist es nicht. Rada, ich weiß, dass du früher vor Eifersucht getobt hast, wenn die Mädchen in der Schule mir schöne Augen gemacht haben"

Für einen Moment wusste Rada nicht, was sie darauf antworten sollte. Ja, Arian hatte Recht. Sie konnte es nie ertragen, wenn die anderen Mädchen um ihn herumscharwenzelt waren, wie die Motten ums Licht. Rada verschränkte die Arme um ihre Knie und schnaubte. Ja, sie hatte Gefühle für ihn. Tiefe Gefühle. Doch wusste sie auch ganz genau, dass Großmutter Caterina es niemals dulden würde.

"Arian.....wir sind wie Geschwister aufgewachsen. Das geht nicht!"

"Wir sind nicht einmal blutsverwandt, Rada. Wieso soll das nicht gehen?"

Sie sah ihn an und hob fragend die Brauen.

"Bin ich etwa das, was sich deine Großmutter unter einem "netten Mädchen" für dich vorstellt?"

Arian schnalzte mit der Zunge.

"Was Großmutter als gut für mich erachtet, ist ihr Problem"

"Du meinst das doch nicht ernst??!"

"Doch, Rada. Ich meine es ernst"

Er umfasste ihre Hände und sie blickte ihn aus ihren großen, grünen Augen an. Für einen Moment wollte sie zurückweichen, doch das angenehme Gefühl seiner Berührung, ließ sie innehalten. Wohlige Wellen der Wärme flossen durch ihre Fingerspitzen bis zu ihrem Herzen, wo sie ein Feuerwerk der Gefühle entzündeten.

"Rada....Für mich bist du die Einzige, seit ich dich als kleines Mädchen da unter Treppe gefunden habe. Seitdem du das erste Mal mit mir in einem Bett geschlafen hast. Ich habe mich nie für andere Mädchen interessiert – nur für dich"

Mit einem Zwinkern fügte er hinzu:

"Denn mit keiner Frau kann ich mich so wunderbar streiten wie mit dir. Und ich weiß, dass du dasselbe fühlst"

Rada setzte sich nicht zu Wehr, als seine Lippen wieder näher kamen und sich sanft auf ihre legten. Sie schloß die Augen und schmeckte seine Süße, die Weichheit seines Mundes. Sog seinen süßlich-herben Duft ein und spürte, dass sie in diesem Moment eins waren. Als er sich von ihr löste, sah sie beschämt zu Boden. Arian umfasste noch immer ihre Hände.

"Du bist ja ganz schüchtern. So habe ich dich ja noch nie gesehen", sagte er voller Belustigung.

"Arian....Du musst mir versprechen, dass wir das erst einmal geheim halten. Bis wir uns ganz sicher sind", flüsterte sie.

"Ganz sicher? Ich bin mir sicher, Rada"

Rada sah ihm in die Augen.

"Versprich es mir"

Sein Blick war sanft, als er erwiderte:

"Ich verspreche es"

 

 

Arian hatte Glück. Dr. Stanciu Serban, ein renommierter ortsansässiger Arzt, bot ihm einige Wochen darauf eine Stelle in seiner Arztpraxis an, um dort sein praktisches Jahr zu absolvieren. Darauf stieß die Familie an jedem Abend, als Arian mit dieser wunderbaren Neuigkeit nach Hause kam, mit Maria´s selbstgebrannten Palinca an. Der Pflaumenschnaps brannte wie Feuer in Rada´s Kehle. Genau wie ihr Herz. Jedes Mal, wenn sie Arian ansah. Bisher gelang es ihnen, ihre Liebe vor Maria und Caterina zu verbergen. Meist trafen sie sich bei Nacht, wenn Mutter und Großmutter bereits tief und fest schliefen. Dann saßen Arian und Rada oft stundenlang auf der grünen Holzbank vor dem Haus, redeten oder lagen sich in den Armen, um die Sterne am Himmel zu beobachten. Ihnen blieb nur die Nacht, da Arian den ganzen Tag über nun in der Arztpraxis von Dr. Stanciu arbeitete und erst spät Abends nach Hause kam. Rada schalt ihn jedes Mal dafür, weil Arian seinen Schlaf dringend brauchte, um für die Arbeit in der Praxis ausgeruht zu sein. Doch er bestand beinahe jede Nacht darauf, Zeit mit ihr zu verbringen. Dementsprechend müde waren beide oftmals tagsüber und Rada schaffte es kaum noch zu den Treffen mit Lascar und den Zigeunerfrauen. Heute Abend war sie so müde, dass sie dringend früher zu Bett gehen wollte.

Caterina und Maria hatten sich bereits Schlafen gelegt, als Rada noch in der Küche hantierte und das Geschirr vom Abendessen abwusch. Arian saß in seinem Zimmer am Schreibtisch über seinen Berichten, die er während seines praktischen Jahres bei Dr. Serban täglich verfassen musste.

"Rada?"

Die junge Frau erschrak unwillkürlich, als sie Arians Stimme vernahm. Sie hatte ihn gar nicht kommen hören. Als sie sich umdrehte, stand er im Türrahmen und sah sie aus seinen sanften braunen Augen an. Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln.

"Ja?"

"Wärst du so lieb und bringst mir einen Tee ins Zimmer?"

"Natürlich"

Dann war Arian wieder verschwunden.

Kurz darauf betrat Rada Arians Zimmer, in dem beide in ihren Kindertagen gemeinsam geschlafen hatten. Mittlerweile befand sich dort ein großes Bett und eben jener Schreibtisch aus dunklem Holz, an dem er gerade bei gedämpftem Licht über seinen Berichten saß und eifrig etwas schrieb. Behutsam stellte sie die Tasse mit dem Kräutertee neben ihm ab. Lächelnd sah Arian sie an.

"Danke, meine Liebste"

Rada schmunzelte und wandte sich zu gehen, als Arian ihre Hand festhielt.

"Bleib doch noch...."

"Arian.....Du hast zu tun und ich bin wirklich müde....Du solltest auch früh zu Bett gehen"

"Nur einen Moment..."

Er hielt noch immer ihre Hand und in seinen Augen machte sich ein flehender Ausdruck breit. So wie der eines Kindes, das unbedingt Schokolade wollte. So herzerweichend, das selbst Rada es ihm nicht abschlagen konnte. Auf ihrem Gesicht machte sich ein Schmunzeln breit.

"In Ordnung..."

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, zog Arian Rada zu sich heran und sie saß mit einem Mal seitlich auf seinem Schoß. Behutsam legte sie ihre Arme um seine Schultern und sah ihm tief in die Augen. Seine Lippen suchten hungrig nach ihren und sie verschmolzen zu einem leidenschaftlichen Kuss, während Arian´s Hände sanft über ihren Rücken strichen, über ihre dichten, langen, schwarzen Locken, die sie wie immer zu einem Zopf geflochten hatte. Arian´s Finger tasteten nach dem Band, das den Zopf an dessen Ende zusammenhielt. Sie zogen es langsam aus ihren Haaren, um dann jede einzelne in sich verflochtene Strähne zu lösen, sodass ihre Lockenpracht wie Samt um ihre Schultern fiel. Arian liebte diese Haare. Den Duft nach Jasmin, den sie verströmten. Alles in ihm verzehrte sich nach dieser jungen Frau mit dem feurigen Zigeunerblut in ihren Adern. Sie war sein. Sie war es schon immer gewesen. Seit jener Nacht, in der er sie zum ersten Mal sah, wusste Arian, dass Rada sein Schicksal war. Die Süße ihrer Lippen machte ihn schwindelig und er vergaß Raum und Zeit um sich herum, als gäbe es nur sie beide auf dieser Welt.....

"Rada?? Wo treibst du dich herum?"

Caterina! Sollte sie nicht längst schlafen???

Rada löste sich hastig von Arian und sprang auf, als Großmutters Stimme durch den Flur hallte und ihre Schritte allmählich näher kamen. Nervös sah sie sich im Zimmer um. Wo war ihr Haarband?? Arian musste es auf den Boden geworfen haben. Da! Genau neben dem Stuhl! Bevor Rada sich danach bücken konnte, stand Caterina auch schon in der Tür.

"Hier bist du also!"

Die Alte stand im Türrahmen und stemmte die Hände in die Hüften, während sie Rada abschätzig musterte.

"Was hast du zu dieser Stunde in Arian´s Zimmer zu suchen?"

Rada wollte etwas erwidern, doch Arian kam ihr zuvor.

"Sie hat mir Tee gebracht, Großmutter", sagte er und zeigte auf die Tasse auf dem Schreibtisch.

Caterina nickte abfällig und verzog streng die Lippen, während sie Rada musterte.

"Dann halt ihn nicht länger von seiner Arbeit ab, Rada. Ihr beide solltet zu Bett gehen. Es ist spät!"

Rada versuchte noch immer ihre Nervosität zu unterdrücken. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie wollte sich gar nicht erst ausmalen, was geschehen wäre, wenn Caterina beide erwischt hätte. Wie war sie überhaupt darauf gekommen, dass Rada hier bei Arian war? Hatte sie zuvor in ihrem Zimmer nachgesehen, ob sie da war? Ahnte Caterina vielleicht irgendetwas?

"Großmutter, wieso hast du nach mir gesucht? Benötigst du etwas?"

"Jetzt nicht mehr. Ich hatte nach dir gerufen, damit du mir ein Glas Wasser in mein Zimmer bringst. Nachdem du nicht geantwortet hast, bin ich selbst in die Küche gelaufen und habe es mir selbst geholt. Und nun: Gute Nacht"

Mit diesen Worten machte Caterina auf dem Türabsatz kehrt und trottete zurück durch den Flur. Rada atmete auf. Ihr kam es vor, als hätte sie die ganze Zeit die Luft angehalten solange die Alte in Arian´s Zimmer gewesen war. Sie wartete darauf, das Zufallen von Caterina´s Schlafzimmertür zu hören. Doch wie es schien, war sie noch immer da draußen.

"Rada. Das gilt auch für dich!"

Die junge Zigeunerin warf Arian einen entschuldigenden Blick zu.

"Ich muss gehen", flüsterte sie und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer.

 

 

 

 

"Das war gestern verdammt knapp!", dachte Rada als sie am nächsten Tag gegen Mittag über den Marktplatz lief, um die Einkäufe für die Familie zu erledigen. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn Caterina Arian und sie erwischt hätte. Rada wusste nicht, weshalb sie solche Angst vor der alten Frau hatte. War es Angst? Nein, aber sie spürte, dass mit Caterina nicht zu spaßen war. Sie verachtete Rada aus tiefstem Herzen und sie würde es niemals billigen, wenn bekannt würde, dass Arian und Rada eine Liebesbeziehung führten. Doch wie lange würde es den beiden gelingen, es geheim zu halten?

"Rada!"

Sie zuckte zusammen, als sie eine vertraute Stimme vernahm und innehielt. Es war Lascar, der ihr vom Brunnen aus zuwinkte. Mit der Geige in der Hand lief er lächelnd auf sie zu. Oh.....In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie seit Wochen nicht mehr bei den Zigeunerin auf dem Marktplatz war und mit ihnen getanzt hatte.

"Lascar...."

"Ich habe dich lange nicht mehr gesehen, Rada. Du warst lange nicht mehr bei uns. Ist alles in Ordnung mit dir?", fragte er. "Warum kommst nicht mehr zum Tanzen vorbei?"

Rada wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie war in den letzten Wochen zu sehr mit Arian beschäftigt gewesen. Vor lauter Glück hatte sie keinen Gedanken mehr an Lascar und die Zigeuner verschwendet.

"Es tut mir Leid, Lascar. Ich war....beschäftigt...."

Der junge Zigeuner schmunzelte.

"Du musst dich nicht entschuldigen. Du kannst heute mit uns tanzen, wenn du möchtest"

Rada warf einen Blick auf die Rathausuhr und stellte fest, dass es beinahe Eins war. Für gewöhnlich traf sie sich jeden Tag mit Arian, wenn er Mittagspause machte, um ihm etwas zu Essen vorbeizubringen. Die Arztpraxis von Dr. Stanciu Serban befand sich in der Strada Republicii, direkt in der Nähe des Marktplatzes und Arian würde um ein Uhr wie üblich dort auf sie warten.

"Ich kann leider nicht, Lascar. Ich muss etwas erledigen. Es tut mir Leid"

Rada wollte sich gerade in Bewegung setzen, als Lascar nach ihrer Hand griff.

"Rada..."

Seine Augen blitzten feurig auf.

"Rada, du weißt, dass du tief in deinem Herzen eine von uns bist. Du gehörst zu uns. Warum schließt du dich uns nicht an? Komm mit mir....."

Die Art, wie Lascar den letzten Satz aussprach, ließ Rada vermuten, dass es ihm um mehr ging, als sich nur den Zigeunern anzuschließen. Es klang so, als wollte er ihr damit sagen, dass sie einzig und alleine mit ihm kommen und ihr Leben an seiner Seite verbringen sollte. Er hatte Gefühle für sie, doch sie sah sich nicht im Stande sie zu erwidern. Ihr Herz gehörte Arian. Und das würde immer so sein.

Ein Räuspern holte Rada aus ihren Gedanken.

"Entschuldigen Sie bitte, aber wären Sie so nett und lassen Rada´s Hand los?"

Arian. Woher war er gekommen? Und wieso war er hier auf dem Marktplatz und wartete nicht wie sonst vor der Praxis auf sie? Hastiger als beabsichtigt, schüttelte Rada Lascar´s Hand ab. Arian musterte Lascar missbilligend und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Zigeuner hob beschwichtigend die Hände.

"Verzeihung. Ich wollte Rada nicht zu Nahe treten", sagte Lascar lächend und hielt Arian seine rechte Hand hin. "Wir wurden uns noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Lascar"

Arian hob fragend eine Braue. Dann schüttelte er seinem Gegenüber schließlich die Hand, ließ ihn jedoch nicht aus den Augen. Lascar fixierte Arian ebenso mit seinem Blick. Die Spannung zwischen den beiden jagte Rada einen Schauer über den Rücken.

"Arian Antonescu. Dr. Arian Antonescu"

Oh, wunderbar! Musste Arian Lascar nun auf diese Art und Weise klar machen, dass er etwas Besseres als er war?

Sehr angenehm“, erwiderte Lascar und die Ironie in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Rada räusperte sich. Die Situation wurde ihr allmählich unangenehm.

Tut mir Leid, Lascar. Ich muss nun gehen“

Dann wandte sie sich an Arian.

Lass uns gehen“

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.10.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Geschichte beruht teils auf eigenen Erfahrungen, die ich gemacht habe und die mich mich selbst näher mit dem Thema "Dualseelen" und "Zwillingsseelen" beschäftigen ließen. Natürlich ist der größte Teil dieser Geschichte eine Fiktion, doch eine Begegnung mit einem besonderen Menschen im Jahr 2014 in Rumänien inspirierte mich zu diesem Buch. Eine Teils schöne und teils schmerzhafte Erfahrung, die ich nicht missen - und die einfach verarbeitet werden möchte :) Quellen: https://wiki.yoga-vidya.de/Zwillingsseele#Zwillingsseele Cover by: Stefania B. https://www.deviantart.com/blacklady999/art/Twinflames-780875181

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