Vampires of New York
~Wendepunkte~
Band 4
Kapitel 1
Lara
Der Mond war soeben aufgegangen und die Stadt wirkte so friedlich. Doch der Schein trog. Wir, die Vampire, lebten hier im Verborgenen. Die Menschen ahnten nicht, dass wir existierten und welche Kriege wir unter den Clans austrugen. Den letzten Kampf hatten wir gegen den Blood Witch Clan geführt, dessen Anführerinnen Kate und Kathryn Smith das mächtige Vampirpendel aus einer geheimen, unterirdischen Schatzkammer des Schlosses Bran in Transsylvanien gestohlen hatten – mit dem Ziel, seine Macht zu erwecken und so an die Herrschaft über alle Clans zu gelangen. Diesen Plan hatten wir glücklicherweise verhindert. Luna, die Hohepriesterin unseres Clans, hatte die Kraft des Vampirpendels aktiviert und in sich aufgenommen. Sie war nun zu unserer Clan-Oberhäuptin aufgestiegen und ihr Äußeres hatte sich durch die Macht des Amuletts verändert. Ihre ehemals schwarzen Haare waren nun silbrig-weiß und auf ihrem Körper waren dunkelblaue, verschnörkelte Muster erschienen. Luna war nun die mächtigste Vampirin unter den Clans.
In letzter Zeit war so vieles passiert: Darla war nicht mehr am Leben. Kate und Kathryn hatten sie getötet, als sie ebenfalls nach Transsylvanien gereist war, um das Vampirpendel zu finden. Ich hatte André Phillippe getroffen, den Anführer des Shadow Clans, und erfahren, dass in meinen Adern nicht das Blut des Black Moon Clans, sondern das des Shadow Clans floss. Adrian, der Vampir, der mich damals bekehrte, war der letzte Überlebende des Shadow Clans gewesen und Lucian hatte ihn in den Black Moon Clan aufgenommen. Adrian hatte auch meine beste Freundin Sasha zu einer Vampirin gemacht, was bedeutete, dass auch sie in Wahrheit zum Shadow Clan gehörte. Doch sie wusste davon nichts. Noch nicht. Ich hatte Lucian versprechen müssen, ihr nichts davon zu erzählen...
ξ
Als ich diesen Gedanken nachhing, saß ich gerade Zuhause in der Küche vor einer Tasse Tee und schaute aus dem Fenster. Es regnete in Strömen - und das schon seit Tagen und Nächten, was ich wirklich nervig fand.
Julian setzte sich zu mir an den Tisch. Mit einem Blick nach draußen, meinte er:
„Irgendeine Idee, wie wir den Abend retten können bevor er in Langeweile ausartet? Also ich nicht. Ich bin vor Publikum wie gelähmt.“
Ich musste grinsen. Selbstverständlich fielen mir so einige Dinge ein, die ich mit Julian hätte tun können, damit der Abend nicht sterbenslangweilig wurde. Doch in letzter Zeit war unsere Beziehung seltsam geworden. Julian war sehr eifersüchtig wegen André und hasste ihn wie die Pest. Warum auch immer. Er sagte immer, dass er ihm nicht über den Weg traute. Nun ja, André war ein geheimnisvoller Mann voller Ausstrahlung und Charme. Er war gutaussehend, in mich verliebt und... Meine Güte, was dachte ich da schon wieder? Ja, er war umwerfend. Sogar ziemlich. Ich selbst hatte Mühe, seinem Charme nicht zu erliegen. Ich fühlte mich seit einiger Zeit von ihm angezogen. Es mochte damit zusammenhängen, dass in unseren Adern dasselbe Blut floss. Ich hatte nach wie vor eine enge Bindung zum Black Moon Clan und würde diesen um nichts in der Welt verlassen. Doch die Wahrheit war, dass meine Wurzeln woanders lagen – nämlich im Shadow Clan. Insofern war ich ein Teil von André und er von mir. Dennoch hatte André mir gesagt, er würde mich nicht dazu zwingen, ihn als mein Clan-Oberhaupt zu akzeptieren. Ich sollte dies aus freiem Willen entscheiden, wenn ich das wollte. Dafür war ich ihm sehr dankbar.
„Wir könnten ins Black Heaven gehen“, erwiderte ich schließlich.
Julian verzog das Gesicht.
„Das tun wir doch immer.“
Ich grinste.
„Ja, aber ich liebe diesen Laden eben. Dort sind tolle Leute und Musik von The Craft.“
„Dann besorge dir doch eine CD von The Craft“, meinte Julian scherzend.
„Es geht nichts über Live-Auftritte...“
The Craft war eine Symphonic Metal Band – und zudem waren sie ebenfalls Vampire. Sie gehörten zum Craft Clan und Buffy, die Leadsängerin der Band, war deren Oberhäuptin. Zur Zeit befanden sie sich wieder auf Tournee.
„Ja, da hast du allerdings Recht“, stimmte Julian mir zu. „Apropos Live-Auftritt... Witches Brew spielen heute Abend zum ersten Mal nach ihrer Tour wieder im Wicked. Sollen wir hingehen?“
Alleine das Wort Wicked löste in mir Unbehagen aus. Es war der Club, der Kate und Kathryn Smith gehörte. Ich hielt es nach wie vor nicht für angebracht, in deren Kreisen zu verkehren. Sie waren unsere Feinde. Und ich war mir sicher, dass sie sich noch lange nicht geschlagen geben würden. Zudem war Julian vor langer Zeit ziemlich oft dort gewesen, was immer zu einem Streitpunkt zwischen uns geführt hatte. Er hatte mir neulich versprochen, keinen Fuß mehr dort hineinzusetzen. Aber ich wollte nicht schon wieder diese Diskussion vom Zaun brechen.
„Ich weiß nicht, Julian“, sagte ich gedehnt. „Nichts gegen diesen Club oder Witches Brew. Aber du weißt, dass der Blood Witch Clan zu unseren größten Feinden neben den Dark Bloods gehört. Momentan herrscht Waffenstillstand, aber ich habe trotzdem kein gutes Gefühl, dorthin zu gehen.“
Julian zwinkerte.
„Wir behalten unsere Feinde am Besten im Auge, wenn wir nah genug an ihnen dran sind.“
„Solange du ihnen nicht zu nahe kommst“, erwiderte ich scherzend.
„Keine Sorge“, gab er lächelnd zurück.
Nun, da ich Julian wohl auch nicht dazu überreden können würde, mit mir ins Shadow zu gehen, würde ich mich wohl dieses eine Mal beugen und mit ihm gehen. Was sollte schon passieren? Schließlich waren auch Sterbliche in dem Club. Wenn die Vampirhexen uns angreifen wollten, dann hinterrücks – und nicht in aller Öffentlichkeit.
„Also, was ist nun? Gehen wir ins Wicked?“, wollte Julian wissen.
„Na gut.“
Er grinste zufrieden. Seinem hübschen Lächeln ließ ich einfach alles durch gehen.
Wicked
Als wir den Club betraten, heizten Witches Brew den Besuchern schon ordentlich ein. Die Band war inzwischen genauso berühmt wie The Craft und sie galten als deren Konkurrenzband. Zwei Vampirbands eroberten die Welt. Bei dem Gedanken musste ich einfach grinsen. Julian und ich hockten uns an die Bar. Als ich meinen Blick durch den Club schweifen ließ, entdeckte ich André Phillippe. Er saß ganz allein an einem Tisch in der Ecke. Es war seltsam, dass er immer alleine unterwegs war. So gut wie er aussah, mussten ihm die Frauen doch in Scharen hinterherlaufen. Vielleicht ließ er alle abblitzen, weil er sich nur für eine bestimmte Frau interessierte – und das war ich, Lara Chase. Naja, ich fand ihn ja auch wirklich nett. So nett, dass ich ihn einmal beinahe geküsst hatte – und ich hatte mit ihm im Shadow getanzt. Aber ich hatte es nie zugelassen, dass ich die Grenze überschritt – wegen Julian. Ich wollte ihn nicht betrügen.
Als ich André da so alleine sitzen sah, tat er mir irgendwie leid. Er hatte den Blick gesenkt und wirkte traurig. Ich verspürte den Drang in mir, zu ihm zu gehen und ihn zu trösten – was auch immer er hatte.
„Hey, Lara. Wollen wir tanzen?“, riss Julian mich aus meinen Gedanken.
„Ok“, erwiderte ich und ging mit ihm zur Tanzfläche.
Als Julian zur Toilette musste, nahm ich die Gelegenheit wahr und ging zu André, der immer noch alleine in seiner Ecke saß.
„Hey, André...“
Er sah auf und seine traurigen Augen leuchteten plötzlich.
„Lara. Wie schön, dich zu sehen.“
„Wie geht es dir?“
Er verzog das Gesicht.
„Geht so und bei dir?“
„Ich kann mich zur Zeit nicht beklagen“, erwiderte ich schulterzuckend.
„Ich habe gehört, dass ihr gegen die Vampirhexen gewonnen habt. Luna ist nun die Oberhäuptin des Black Moon Clans. Glückwunsch“, sagte André und schmunzelte, was seine Grübchen, die mich wieder einmal mehr beinahe um den Verstand brachten, zum Vorschein kommen ließ. „Freut mich, wenn es dir gut geht.“
„Aber dir scheint es gar nicht so gut zu gehen“, meinte ich ernst.
„Seit du da bist, geht es mir schon etwas besser. Warum setzt du dich nicht zu mir?“
„Geht nicht. Ich bin mit Julian hier. Und ich möchte nicht, dass wir wieder Streit bekommen.“ Ich sah kurz beschämt zu Boden, dann blickte ich ihn wieder an. „Du weißt schon, warum.“
André musterte mich und nickte dann schließlich.
„Ja, ich weiß. Kein Problem, Lara. Wir können uns ein andermal wieder treffen – wenn du das möchtest.“
Ich lächelte und spürte, dass ich mich bereits jetzt innerlich auf dieses Treffen freute. Egal, wie verboten meine Gefühle für André auch sein mochten...
„Ja, wir sehen uns bestimmt. Bis irgendwann dann mal“, sagte ich, bevor ich zurück zur Tanzfläche ging. Julian war allerdings noch nicht wieder aufgetaucht.
Jessica
Jessica Rutherford und ihre Freundinnen waren ebenfalls im Wicked.
„Julian ist hier“, sagte sie zu Terry, eine ihrer Freundinnen. „Aber er hat seine Freundin dabei.“
„Macht dich das nicht sauer, Jessie?“, fragte Cassandra.
„Es wurmt mich irgendwie ganz schön“, erwiderte Jessica. „Naja, sobald er wieder alleine hierher kommt, krall ich ihn mir.“
„Du bist total in den Typen verknallt, oder?“, meinte Kelly. Jessica nickte. Ja, das war sie. Sie war von diesem Mann besessen. Sie wollte ihn für sich haben. Nun, aber sie musste ihn wohl oder übel mit seiner Freundin teilen. Vor kurzem hatte es so ausgesehen, als ob Julian den Kontakt mit Jessica abbrechen wollte. Doch nach dem Kampf gegen den Black Moon Clan, hatten sie sich erneut getroffen – und wieder geküsst. Jessica hatte ihn wieder in ihren Bann gezogen. Er würde ihr nicht widerstehen können. Egal, wie sehr er sich dagegen wehrte.
Julian
Als Julian aus der Herrentoilette kam, stand Jessica vor der Tür und lächelte ihn an. Natürlich hatte er damit gerechnet, sie ebenfalls hier anzutreffen, wenn er Lara mit hier her nahm.
„Oh. Hi, Jessica. Du, es ist heute wirklich schlecht. Meine Freundin...“
„Ich weiß“, unterbrach die blonde Vampirhexe ihn. „Und ich bin ehrlich gesagt, ein wenig enttäuscht...“ Jessica grinste. „Um mich zufriedenzustellen, könntest du mich wenigstens küssen, Julian.“
Sie sah ihn mit ihren blauen Augen an und er konnte nicht widerstehen. Diese Augen trieben ihn noch in den Wahnsinn. Diese Anziehungskraft, die von ihnen ausging.
„Also gut“, sagte er und kam ihrer Bitte nach.
Nur gut, dass die Toiletten in einem separaten Gang untergebracht waren und sie so niemand sehen konnte.
„Zufrieden?“, meinte Julian lächelnd.
„Ja“, erwiderte Jessica und ging wieder zurück zu ihren Freundinnen.
Lara
Ich saß alleine an der Bar und wartete auf Julian. Wo war er nur abgeblieben?
Schließlich ließ er sich neben mir auf dem Barhocker nieder und hauchte mir einen Kuss auf die Lippen
„Hey, da bist du ja wieder“, meinte ich.
„Hat etwas länger gedauert. Entschuldige, bitte. Ich war hungrig und ich musste den richtigen Moment abpassen. Es war leider sehr voll dort.“
Kate und Kathryn
Kathryn schwamm zum Rand des Pools, wo ihre Schwester Kate im Bikini saß und in ein Buch vertieft war.
„Kate, ich habe einen Plan.“
„Toll“, erwiderte Kate, ohne von ihrem Buch aufzusehen und klang dabei völlig unbeteiligt. „Lass mal hören.“
Kathryn verschränkte die Arme auf dem Randstein des Beckens.
„Es gibt nur einen Weg, wie wir das Vampirpendel wieder zurückbekommen.“
„Und der wäre?“, fragte Kate und hob die Augenbrauen. „Zu Luna hinlaufen und sie freundlich darum bitten?“ Ihre Stimme war voller Sarkasmus.
Kathryn verzog das Gesicht.
„Ach, was!“
Dann entspannten sich ihre Züge und ein geheimnisvoller Ausdruck flackerte in ihren bernsteinfarbenen Augen auf.
„Die rechtmäßige Eigentümerin höchstpersönlich wird es sich holen.“
Kate prustete los und legte das Buch zur Seite.
„Lilith? Hast du vergessen, dass sie seit über vierhundert Jahren tot ist?“
Kathryn musterte ihre Schwester ohne eine Miene zu verziehen.
„Kate, ich scherze nicht. Ich rede wirklich von Lilith. Wir werden sie wieder zum Leben erwecken.“
Kates Augen weiteten sich mit einem Mal vor Entsetzen.
„Kathryn, man kann die Toten nicht zurückholen. Es ist verboten. Es ist schwarze Magie!“
Kathryns Mundwinkel zuckten, während ein berechnender Ausdruck in ihren Augen erschien.
„Seit wann kümmert es uns, was verboten ist und was nicht? Wer hat uns das vorzuschreiben?“, entgegnete sie ein wenig forsch. „Und seit wann haben wir etwas gegen schwarze Magie?“
Kate schwieg einen Moment, ehe sie erwiderte:
„Du hast Recht. Wir haben immer damit experimentiert. Aber überlege dir: Wenn wir Lilith zurückholen, wird sie vermutlich nicht mehr dieselbe sein. Sie könnte verändert sein.“
Ein geheimnisvolles Grinsen umspielte Kathryns Lippen.
„Das ist doch genau der Plan, Kate. Sie wird zurückkommen und wir werden ihre Gedanken ein wenig manipulieren. Alles, was sie empfinden wird, ist Hass – auf den Black Moon Clan und ihren ehemaligen Geliebten Lucian. Sie wird sich nicht einmal an ihre Liebe zu ihm erinnern. Sie wird nur Rache im Sinn haben. Und dann wird sie für uns Luna und Lucian töten – und uns das Vampirpendel zurückbringen.“
Kate sah sie mit großen Augen an und überlegte eine Weile.
„Nun, dieser Plan ist gar nicht mal schlecht...“, sagte sie schließlich, was Kathryn triumphierend lächeln ließ.
„Morgen Nacht ist Vollmond. Dann wird Lilith auferstehen.“
ξ
Die Nacht darauf
Das Mondlicht fiel ins Schlafzimmer der Smith Villa und der Wind, der durch die geöffnete Balkontüre in den Raum drang, strich sanft die Gardinen entlang und bewegte sie in sanften Wellen.
Im Raum selbst war es dunkel, bis auf einen brennenden Kerzenkreis, der sich auf dem Boden zwischen den sich gegenüber sitzenden Vampirhexen befand. Kate und Kathryn saßen im Schneidersitz auf dem Boden und hatten die Augen geschlossen. Neben Kathryn lag ein aufgeschlagenes Hexenbuch. Sie beide trugen schwarze Kutten mit Kapuzen. In die Mitte des Kerzenkreises war ein Pentagramm aufgezeichnet worden.
Die beiden sprachen im Chor:
„Lilith, mächtigste Vampirhexe aller Zeiten, unsere allmächtige Schöpferin. Wir rufen dich zurück ins Leben. Finde den Weg vom Jenseits zurück ins Diesseits. Begib dich zurück ins unendliche Leben der Untoten und lebe von Neuem! Aber hasse diejenigen, die besitzen, was dir gehört! Lilith, erwache!“
Das Pentagramm leuchte zuerst flackernd auf, dann immer stärker. Schließlich schossen aus den den fünf Zacken des Symbols violette Lichtstrahlen in die Höhe und trafen sich an einem Mittelpunkt in der Luft. Für einen Moment schwebte über dem Kerzenkreis eine magische Lichtkugel, die immer größer wurde, bis sie schließlich anfing, sich zu verformen. Allmählich bildete sich daraus eine weibliche Silhouette, die von violettem Licht eingehüllt war.
„Es funktioniert!“, flüsterte Kate voller Ehrfurcht.
„Ich habe nie daran gezweifelt“, erwiderte Kathryn zufrieden.
Der leuchtende Schein um die Gestalt erlosch und vor ihnen stand tatsächlich Lilith, die mächtigste Vampirhexe aller Zeiten, aus Fleisch und Blut. Sie trug ihre metallene Rüstung und hielt ihr Schwert in der Hand. Ihre langen, roten Haare wehten im Wind.
Kate und Kathryn erhoben sich ehrfürchtig.
„Ein seltsames Gefühl...“, sprach Lilith. „Die Rückkehr nach all den Jahrhunderten. Aber sehr aufregend...“ Die rothaarige Vampirhexe hielt eine Weile inne und führte ihre Hand zu ihrem Hals. „Doch es fehlt etwas.“ Dann weiteten sich ihre giftgrünen Augen. „Mein Pendel!“
„Herrin, willkommen zurück“, sagte Kathryn und die beiden Schwestern verbeugten sich mit der Hand über ihren Herzen. Lilith wandte sich den beiden zu und dankte ihnen. Doch dann verengten sich ihre Augen zu Schlitzen, ein feuriges Flackern flammte darin auf.
„Kate, Kathryn. Wisst ihr, wo mein Pendel ist?“
„Luna, die Seherin des Black Moon Clans hat es“, erwiderte Kathryn und in ihren bernsteinfarbenen Augen blitzte Vorfreude auf.
„Luna....“, sagte Lilith nachdenklich. „Ich erinnere mich an sie. Sie ist Pandeias Tochter. Sie gehört zu Lucians Clan.“ Sie hielt inne und schien eine Weile zu überlegen. „Lucian... Wo ist er?“ In ihrer Stimme wehte ein Hauch von Sehnsucht mit, als sie ihren ehemaligen Geliebten erwähnte. Einst waren Lucian und Lilith ein Paar gewesen, doch sie waren jäh voneinander getrennt worden, als der Orden der Vampirjäger sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt hatte.
„Lucian ist bei Luna. Die beiden sind ein Liebespaar“, erwiderte Kathryn. „Sie hat nicht nur dein Pendel, sie hat auch Lucian. Luna besitzt zwei Dinge, die dir am meisten am Herzen liegen.“
In Liliths Augen flackerte Wut auf. Ihr ganzer Körper bebte mit einem Mal vor Zorn.
„Luna! Lucian! Ihr beide sollt in der Hölle brennen! Ich persönlich werde euch diese Hölle bescheren! Und ich werde mir zurückholen, was mir gehört!“ Dann wandte sie sich ihren beiden engsten Gefährtinnen zu.
„Ich denke, ich sollte die beiden einmal auf mich aufmerksam machen.“
„Wir sind froh, dass du wieder bei uns bist, Lilith“, sagte Kate.
„Ich auch“, entgegnete sie mit einem Blick zum Balkon. Sie trat hinaus und sah auf den Garten des Anwesens der Smith-Schwestern auf Long Island hinab. Doch sie hatte keine Ahnung, an welchem Ort sie sich hier befand. Das letzte, woran sie sich erinnern konnte, war der Scheiterhaufen in Mediasch gewesen, auf dem sie verbrannt worden war – neben Pandeia. Wie lange war das nun her? Wieviele Jahrhunderte waren seitdem vergangen?
„Welches Jahr haben wir?“
„2018“, erwiderte Kathryn, die zusammen mit Kate ebenfalls auf den Balkon hinausgetreten war.
Lilith seufzte.
„Seit meinem Tod ist viel Zeit vergangen“, sagte sie nachdenklich. „Es wird schwer, mich hier zurechtzufinden.“
Lilith begab sich ins Schlafzimmer zurück.
„Aber wie ich sehe, seid ihr beiden stärker geworden, was eure Kräfte angeht...“
Kate und Kathryn sahen ihre Herrin erwartungsvoll an.
„Denn sonst hättet ihr mich nicht erwecken können. Dieser Vorgang kostet sehr viel Energie. Kate, Kathryn – ich bin stolz auf euch.“ Eine Weile schwieg Lilith, ehe sie erneut das Wort erhob. „Dann werde ich mich einmal auf den Weg machen.“
Luna
Lunas Augenlider zuckten heftig, während sie träumte.
Sie lief durch einen dunklen nebeligen Wald. Sie lief und lief – ohne genau zu wissen, wohin.
Lunaaaa...
Jemand rief ihren Namen. Nein, es war ein Flüstern, aber dennoch durchdringend. Wer rief nach ihr?
Luna lief weiter. Zwischen Bäumen und Büschen hindurch, bis sie schließlich zu einer Lichtung gelangte. Dort erblickte sie eine Gestalt, eingehüllt in einen schwarzen Umhang mit Kapuze, die mit dem Rücken zu ihr stand.
„Wer bist du?“, hörte Luna sich fragen.
Die verschleierte Person drehte sich langsam um. Die Kapuze saß ihr so tief im Gesicht, dass Luna es nicht erkennen konnte. Sie konnte nur die Mundwinkel sehen, die sich zu einem hinterlistigen Grinsen verzogen. Der weichen Form des Kinns und der Lippen nach zu urteilen, handelte es sich um eine Frau. Dann warf sie ihre Kapuze nach hinten und lange, wallende, rote Haare kamen zum Vorschein.
Als Luna ihr Gesicht erblickte, stockte sie.
Lilith.
Sie stand auf der Lichtung und fixierte sie eingehend. Plötzlich sprang sie mit einem Satz in die Lüfte, warf den Umhang von sich und zog ihr langes Schwert aus der Scheide. Sie schwebte mit irrsinniger Geschwindigkeit auf Luna zu und wollte ihre Waffe auf sie niedersausen lassen. Luna sprang zur Seite und wich aus. Sie stolperte und kauerte am Boden, während sie Lilith langsam auf sich zukommen sah.
„Ich werde mir zurückholen, was mir gehört!“, schrie sie und griff erneut an. Luna konnte sich nicht bewegen. Sie sah, wie die Klinge des Schwertes auf sie niedersauste. Dann wurde alles schwarz. War der Traum vorbei?
Mit einem Mal war alles um sie herum in einen dichten Nebel gehüllt, der sich langsam auflöste und die Sicht auf zwei weitere Gestalten auf der Waldlichtung freigab – eine weibliche und eine männliche Silhouette. Lilith war verschwunden. Wer waren diese beiden?
Oh, mein Gott!, dachte sie, als sie genauer hinsah.Die beiden Personen auf der Lichtung waren Lara und – Adrian! Er hielt sie im Arm und sie schmiegte sich an ihn. Die beiden küssten sich leidenschaftlich. Dann ließ Adrian von Lara ab und blickte Luna direkt ins Gesicht.
„Ich werde mir zurückholen, was mir gehört“, flüsterte er mit einem fiesen Grinsen. Er wiederholte die Worte, die Lilith zuvor ausgesprochen hatte. Dann lachte er laut auf und verschwand mit Lara im Nichts.
ξ
Luna schrak keuchend aus ihrem Traum auf und fuhr im Bett hoch. War das wirklich nur ein Traum gewesen oder eine Vision, die sie im Schlaf heimgesucht hatte? Sie hörte, wie Lucian sich knurrend zu ihr herum wälzte.
„Luna?“ Er blinzelte verschlafen. „Alles in Ordnung?“
Die Seherin beruhigte sich allmählich wieder.
„Ich habe geträumt, Lucian. Mach dir keine Gedanken, es ist alles in Ordnung“, versicherte sie lächelnd und legte sich wieder hin. Er legte seinen Arm um sie, schloss die Augen und schmunzelte. Kurz darauf war er wieder eingeschlafen. Doch Luna war hellwach. Der Traum hielt sie noch immer gefangen. Er war zu realistisch gewesen. Sie konnte noch immer förmlich Liliths Wut spüren. Luna umfasste das Vampirpendel an ihrem Hals und zog sofort die Finger wieder zurück. Es war glühend heiß! Es musste wohl reagiert haben, während sie geträumt hatte. Was konnte das bedeuten? Normalerweise regte es sich nur, wenn Luna seine Kraft beschwor. Warum hatte es sich selbstständig gemacht? Und was hatte es mit dem zweiten Traum bezüglich Adrian und Lara auf sich? Luna konnte es sich nicht erklären. Entweder hatte sie wirklich eine Vision gehabt oder ihr Unterbewusstsein hatte sich aufgrund all der Ereignisse der letzten Zeit etwas zusammengereimt. Luna atmete tief durch und schloss die Augen. Als sie gerade dabei war, wieder einzunicken, schrak sie erneut auf.
Ich werde mir zurückholen, was mir gehört!
Liliths Stimme hallte erneut durch ihren Kopf. Sie spürte, wie sich das Metall des Pendels auf ihrem Brustbein erwärmte. Ruckartig setzte sie sich auf und betrachtete es. Der rote Kristall leuchtete mehrmals hintereinander auf, dann erlosch er wieder. Luna verstand nicht, was hier passierte. Sprach Lilith wirklich durch das Pendel zu ihr? War ihre Seele noch damit verbunden, obwohl sie bereits seit über vierhundert Jahren tot war? Da wusste Luna, dass dies eben nicht nur ein Traum gewesen war, wenn Liliths Stimme nun auch im halbwachen Zustand zu ihr durchdrang. Irgendetwas ging vor sich, das spürte sie genau. Sie würde in nächster Zeit genauer auf Zeichen und Vorahnungen achten müssen.
Sie beobachtete Lucian, der friedlich neben ihr schlief. Er war zum Glück nicht wieder wachgeworden. Ob sie ihm davon erzählen sollte? Luna musste dies erst einmal für sich selbst einordnen, was es mit diesen Vorahnungen auf sich hatte – und herausfinden, was sich dahinter verbarg.
Lilith
Lilith lief durch die dunklen Gassen von Queens. Bevor sie Lucian und Luna auf sich aufmerskam machen würde, brauchte sie Blut. Und sie würde es sich holen! Ob sterbliches oder unsterbliches Blut spielte keine Rolle. Ihr Durst war nach all den Jahrhunderten unersättlich. Wie auf Bestellung kam ihr ein blondes, ziemlich aufgedonnertes Mädchen entgegen, das ihren Appetit anregte.
Reizend, dachte sie. Die kommt mir gerade recht.
„Hallo“, sagte Lilith. Als das Mädchen sie erblickte, erwiderte dieses naserümpfend:
„Gott! Wie läufst du denn herum? Sieht verdammt nach Steinzeit aus! Oder bist du so etwas wie eine Cosplayerin?“ Sie deutete auf Liliths offenherzige, metallene Rüstung und das Schwert, das in einer Halterung um ihre Hüfte hing. Doch das beeindruckte Lilith herzlich wenig.
„Hm... Es gefällt mir, was ich anhabe“, erwiderte die rothaarige Vampirhexe.
„Naja, Einbildung ist auch eine Bildung“, entgegnete die Blonde schulterzuckend. „Aber ich könnte dir ein paar heiße Modetipps geben.“
Lilith lehnte dankend ab, dann verzog sie die Lippen zu einem Grinsen.
„Aber du könntest mir etwas Anderes geben.“
Den fiesen Unterton in ihrer Stimme schien die Andere vollkommen zu überhören.
„Was denn?“, fragte sie und hob die Augenbrauen.
„Dein Blut!“
„Bitte?“, entfuhr es der Blonden und sie lachte unsicher. „Du scherzt. Ich meine, das ist doch irre. Das meinst du nicht ernst, oder?“
Ehe sich das Mädchen versah, hatte Lilith ihr mit voller Kraft ins Gesicht geschlagen. Sie taumelte gegen eine Wand und stürzte zu Boden.
„Närrin! Natürlich meine ich es ernst!“, zischte Lilith wütend.
„Hey!“, schrie die Blonde. „Sag mal, spinnst du?“
Lilith ging nicht darauf ein, sondern musterte die Andere mit eisigem Blick.
„Ich werde mir jetzt das holen, was ich brauche!“
Sie trat auf das Mädchen zu, die noch immer am Boden kauerte und die rothaarige Frau mit großen Augen anstarrte. Sie erblickte Liliths spitze Fänge.
„Diese Zähne!“, schrie sie auf. „Bist du ein Vampir?“
Lilith beugte sich über sie. Ihre Augen blitzten gefährlich auf.
„Erraten – und ich fürchte, du wirst dieses Geheimnis mit ins Grab nehmen.“
Das Mädchen zitterte vor Angst, als Lilith sie am Genick packte und ihre Reißzähne in ihren Hals schlug. Lilith genoss den ersten Schluck Blut nach all den Jahrhunderten. Und es würde nicht nur bei einem Schluck bleiben. Sie saugte die Blonde bis auf den letzten Tropfen aus und ließ ihren Leichnam dann achtlos zu Boden fallen.
„Ich wünsche angenehme Träume“, murmelte Lilith, ehe sie ihren Weg fortsetzte.
Ich glaube, es wird mir hier gefallen, dachte sie.
Und nun war es an der Zeit, Lucian und Luna wissen zu lassen, dass sie, Lilith, wieder hier war. Sie würde sich ihr Vampirpendel zurückholen und dann würde sie wieder so mächtig wie damals sein.
Nach einer Weile begegnete ihr ein Vampir – einer aus dem Black Moon Clan. Das konnte Lilith deutlich spüren.
Pah! Black Moons! Die Vampire aus Pandeias Clan waren noch nie zu etwas zu gebrauchen! Friedliebende Jammerlappen!
„Woah. Hallo!“, sagte der Vampir, als er Lilith erblickte. „Coole Aufmachung, Süße.“ Er musterte ihr Outfit ganz genau. „Aber wofür das alles? Willst du in den Krieg ziehen, Baby? Kannst du überhaupt umgehen mit dem Ding?“
Er deutete auf das Schwert an ihrem Gürtel. Lilith grinste teuflisch. Ehe er sich versah, hatte sie ihr Schwert gezogen und schwang es über ihrem Kopf.
„Niemand wagt es, sich über Lilith lustig zu machen!“, schrie sie. Der Vampir sah sie mit großen Augen an. Bevor er reagieren konnte, hatte die rothaarige Vampirhexe sein Leben ausgelöscht...
Kapitel 2
Lucian
Lucian war zufällig in der Nähe, als er durch einen gellenden Schrei aus seinen Gedanken gerissen wurde. Blitzschnell rannte er in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Als er schließlich die Stelle erreicht hatte, sah er Furchtbares: Vor ihm auf dem Boden lag ein Vampir seines Clans – mit abgetrenntem Kopf. Es war Damon.
„Oh, mein Gott“, flüsterte Lucian fassungslos. Wer hatte das getan? Wer hatte Damon getötet – und warum? Dann entdeckte er einen kleinen Zettel, der neben dem leblosen Körper seines Clanmitglieds lag. Lucian hob ihn auf und las, was darauf stand:
Ich bin wieder zurück, Liebling.
Er verstand gar nichts. Wer war wieder da? Wer kündigte sich auf diese brutale Weise bei ihm an? Er konnte es sich nicht erklären. Er musste Luna davon berichten.
Lilith
Lilith lauerte hinter einer Hausecke und beobachtete Lucian. Er war noch immer genauso schön wie damals...
Sie würde sich ihm noch nicht offenbaren und ihn noch ein wenig im Ungewissen lassen. Vielleicht löste er das Rätsel von selbst. Lilith machte sie auf den Weg zurück zu Kate und Kathryn nach Long Island. Sie hielt noch immer ihr Schwert in der Hand, von dem Damons Blut tropfte...
Kate und Kathryn
Kate saß auf der Couch und trank gemütlich ihren Rotwein. Kathryn dagegen, lief die ganze Zeit unruhig auf und ab.
„Ich frage mich, wo Lilith so lange bleibt?“, knurrte sie.
„Ach, lass ihr doch ihren Spaß!“, erwiderte Kate.
„Ich hoffe, sie bringt das Pendel mit! Und noch besser wäre es, sie hätte Lunas Kopf unter ihren Armen! Und am Besten den von Lucian gleich dazu!“
Kate seufzte.
„Ich komme mir mies vor, ich weiß auch nicht...“
Kathryn blieb abrupt stehen und musterte ihre Schwester argwöhnisch.
„Wieso?“
„Weil wir Lilith dazu benutzen, um das Pendel zu bekommen. Wir nutzen sie nur aus. Sie vertraut uns, wir sind ihre engsten Gefährtinnen. So etwas hat sie nicht verdient“, erklärte Kate.
Kathryn schnaubte genervt.
„Jetzt hör schon mit diesem sentimentalen Quatsch auf, Kate!“, schrie sie. Dann beruhigte sich ihre Stimme wieder. „Ja, eigentlich hast du Recht mit dem, was du da sagst. Glaub mir, ich fühle mich auch nicht wohl dabei, aber es ist die einzige Chance, das Pendel zurückzubekommen!“
Kate musterte ihre Schwester eine Weile, während sie von ihrem Glas nippte.
„Aber was ist, wenn wir das Pendel haben? Willst du, dass wir Lilith dann wieder ins Jenseits zurückbefördern?“, fragte sie schließlich.
„Aber nein!“, erwiderte Kathryn erschrocken und verschränkte die Arme. „Sie wird hier bei uns bleiben und wir werden gemeinsam über die Clans herrschen. Es wird wieder alles so wie früher werden – bevor Lucian sich zwischen uns und Lilith gedrängt hat!“
Kate lächelte mit geschlossenen Augen.
„Ja, so wird es sein.“
Lucians Anwesen
„Und du hast wirklich keine Ahnung, wer es gewesen sein könnte, der Damon getötet hat?“, fragte Luna, nachdem er ihr alles erzählt hatte. Die beiden standen sich im Wohnzimmer gegenüber.
„Nein, Luna. Und ich weiß auch nicht, was sie von mir will“, erwiderte Lucian und seufzte.
„Sie?“, fragte die neue Clan-Oberhäuptin überrascht. „Woher weißt du, dass es eine Frau war?“ Lucian kramte in der Tasche seiner Lederjacke und zog einen Zettel hervor.
„Sie hat mir freundlicherweise eine Nachricht hinterlassen, in der sie mich Liebling nennt“, erklärte er und überreichte ihr das kleine Stück Papier, das Luna eingehend musterte.
Ich bin wieder zurück, Liebling.
„Woher weißt du, dass diese Nachricht dir gilt, Lucian?“, fragte Luna und sah ihn stirnrunzelnd an.
Er hob die Schultern.
„Ich weiß es nicht. Es ist nur so ein Gefühl. Wer auch immer es war, die Damon enthauptet hat, hatte eine sehr scharfe Waffe. Es könnte womöglich ein Schwert gewesen sein.“
Luna nickte stumm und ließ ihren Blick zu Liliths Gemälde schweifen, das über der Couch hing.
Ein Schwert...
Ich werde mir zurückholen, was mir gehört!
Die Stimme hallte wieder
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 24.08.2017
ISBN: 978-3-7487-0140-8
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Widmung:
Texte: © Copyright by Stefania Blackthorne
Umschlag: © Copyright by Stefania Blackthorne
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Hintergrund: AshenSorrow Designs
Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Lilith
https://de.wikipedia.org/wiki/Selene
https://de.wikipedia.org/wiki/Luna
https://de.wikipedia.org/wiki/Hekate