Cover

Vampires of New York 1 ~ Schicksal~

 Vampires of New York

 

 

Schicksal

 

 

Band 1

 

 

  Stefania Blackthorne

 

Prolog Kapitel 1

Prolog

 

Kapitel 1



Lara



Eine heiße Sommernacht im August, die Sonne ging gerade über der Stadt unter, als der Hunger nach Blut mich aufwachen ließ. Ich war kein Mensch, ganz gewiss nicht. Ich war weder tot, noch lebendig. Ich bin, was die Menschen als "Vampir" bezeichnen. Seit einhundertdreißig Jahren wandele ich als Untote durch diese Stadt, die als New York bekannt ist. Hier wurde ich geboren und auch zu jenem Wesen gemacht, das ich seither jede Nacht bin. Obwohl ich mein jugendliches Äußeres über all die Jahrhunderte bewahrt habe, bin ich innerlich tot. Kein Leben ist in meinem Körper. Nur in den Momenten, wenn ich Blut trinke, gewinnt mein Körper an Wärme und meine blasse Haut scheint ein wenig rosiger zu sein. Natürlich habe ich Gefühle wie ein menschliches Wesen: Freude, Traurigkeit, Schmerz, sogar Liebe kann ich empfinden. Sogar viel intensiver als ein menschliches Wesen. Ich bin also nicht vollkommen tot im Inneren. All meine Sinne sind geschärft. Wenn ich in der obersten Etage eines Gebäudes stehe, kann ich die Menschen im Erdgeschoss flüstern hören. Ich habe die besondere Fähigkeit, in der Dunkelheit sehen zu können. Ich kann die Präsenz von Menschen und Vampiren zu jeder Zeit spüren. Ebenso besitze ich auch die Gabe, die Gedanken der Menschen lesen zu können. Dennoch verspüre ich nie die Kälte des Winters oder die Hitze des Sommers.

Einhundertdreißig Jahre... Eine lange Zeit, wenn man in Einsamkeit lebte. Doch das war nicht der Fall. Denn ich gehörte einem Vampirclan an, dem Black Moon Clan. Der Anführer war Lucian, einer der Ältesten Vampire dieser Welt. Deshalb nannten wir ihn den „Prinzen der Vampire“. Lucians Aufgabe war es, unser Überleben in der menschlichen Welt zu sichern. Er entwickelte vor Hunderten von Jahren Gesetze zum Schutz unserer Art. Es war uns verboten, die Aufmerksamkeit der Menschen auf uns zu lenken – sonst waren wir dazu verdammt, gejagt und vernichtet zu werden. Unser Schicksal war es, in der Dunkelheit zu leben und für die Welt da draußen tot zu sein. Kein Mensch durfte je von uns erfahren. Wenn es passierte, benutzten wir unsere vampirischen Kräfte, um die Erinnerungen der Sterblichen auszulöschen. Das war eine Fähigkeit, über die wir alle verfügten. Wir waren Meister der Manipulation. Doch wer gegen das Gesetz verstieß, wurde auf Lucians Befehl gnadenlos hingerichtet. Dies geschah auch mit dem Vampir, der mich verwandelte. Ich möchte euch nun die Geschichte erzählen, wie ich „bekehrt“ wurde – wie wir es nennen, wenn ein Mensch zu einem Vampir gemacht wird...





Brooklyn, 1887

 

Ich wurde 1867 als Larissa Chase geboren und wuchs behütet als Tochter von James und Mary-Anne Chase auf. Mein Vater war ein reicher Mann und Unternehmer, der mit erlesenen, hochwertigen Stoffen aus aller Welt, besonders aus dem Orient und Asien, handelte. Er hatte eine besondere Vorliebe für den Orient und Fernost - eine unserer wenigen Gemeinsamkeiten. Ich liebte Geschichten über Maharajas und Maharanis aus Indien. Als ich noch klein war, stellte ich mir mich selbst in wunderschönen Kleidern aus Brokat vor - mit pompösem Schmuck behangen wie eine indische Prinzessin. Und ich träumte von einem Prinzen auf einem weißen Elefanten. Die wenigen Male, die mich mein Vater mit ins Geschäft nahm, träumte ich mich in diese wunderschönen Welten hinein.

Nach zwei Fehlgeburten meiner Mutter, war ich das einzige Kind meiner Eltern. Sie liebten mich, aber heute denke ich, dass mein Vater sich immer einen Sohn gewünscht hatte, der eines Tages nach seinem Tod in seine Fußstapfen trat.

Meine Eltern versuchten viele Jahre lang ein weiteres Kind zu bekommen – leider ohne Erfolg. Ihnen schien dieses Glück nur einmal vergönnt gewesen zu sein. Dennoch liebte mich meine Mutter abgöttisch. Es bereitete ihr besondere Freude, meine langen schwarzen Haare zu bürsten und mir Schlaflieder vorzusingen. Sie hatte eine unglaublich schöne Stimme. So klar und rein. Sie sagte mir immer und immer wieder, ich sei ihr kleiner Engel. Ich zweifelte nie an ihrer Liebe zu mir.

Bei meinem Vater war das jedoch anders. Je älter ich wurde, desto kälter verhielt er sich mir gegenüber. Er schien mich auch bewusst von seinem Geschäft fernzuhalten, denn seiner Ansicht nach, hatte ein Mädchen dort nichts zu suchen. Mehr und mehr hatte ich das Gefühl, dass er lieber einen Sohn gehabt hätte, den er in die Aufgaben des Geschäftes einweisen konnte.

Aber war ich denn nicht trotzdem liebenswert, auch wenn ich nur ein Mädchen war? Liebte er mich denn nicht ein kleines bisschen? Ich konnte es nicht verstehen und weinte oft an der Schulter meiner Mutter. Sie sagte mir immer, Vater meine es nicht so. Er liebe mich genauso so sehr wie sie. Er könne es nur nicht zeigen. Ich wünschte nur, ich hätte das glauben können. Ich sah die Väter meiner Freundinnen und wie liebevoll sie mit ihnen umgingen.

Mein Vater war immerzu auf das Geschäft fixiert und dessen Fortbestehen. In seinen Augen konnte ich niemals sein Erbe antreten. Welche Rechte wurden Frauen damals zugesprochen? Ein Mädchen war damals wenig wert. Es hatte im Haushalt zu helfen, zu heiraten und Kinder großzuziehen – und nicht das Unternehmen des Vaters zu übernehmen und zu leiten.

Jungen aus gut situierten Familien besuchten Internate, auf denen sie Latein, Griechisch und Mathematik lernten. Mädchen aus den Oberschichten schickte man hingegen oftmals gar nicht zur Schule und Studieren war Frauen ohnehin untersagt. Sie wurden Zuhause in Dingen unterrichtet, die eine ideale viktorianische Frau beherrschen musste: Das Spielen eines Instrumentes, Malen, Sticken oder Nähen. Ebenso das Erlernen der französischen Sprache. Der Lebenssinn einer Frau bestand darin, eine gute Ehefrau und Mutter zu werden. Alles, was die perfekte Gesellschaftsdame nicht brauchte, wurde ihr schlichtweg nicht beigebracht.

Glücklicherweise schickten meine Eltern mich zur Schule und ich hatte auch nichts gegen die schönen Künste einzuwenden, ganz im Gegenteil. Ich liebte Malerei, Musik, Theaterstücke und Opern. Jedoch widerstrebte es mir mit zunehmendem Alter trotzdem, in welche Rolle man als Frau gezwungen wurde.

Nichtsdestotrotz gab ich nach außen hin stets die vorbildliche Dame, zu der ich erzogen worden war. Doch tief im Inneren lehnte ich mich dagegen auf. Meiner Ansicht nach gab es soviel mehr im Leben als das, was man uns Frauen vorschrieb zu sein – und zwar ein vom Wohlwollen ihres Ehegatten vollkommen abhängiges Wesen, das keine eigenen Rechte besaß und absichtlich dumm gehalten wurde, sodass es auf sich allein gestellt niemals bestehen konnte.

Meine Mutter war selbstverständlich der Inbegriff der perfekten viktorianischen Gesellschaftsdame - und zwar in jeder Hinsicht. Sie war meinem Vater treu ergeben und liebte ihn bedingungslos, wie es von ihr erwartet wurde. Sie verbrachte den Tag im Haus und empfing Freundinnen, wenn sie nicht gerade über den Haushalt und die Dienerschaft wachte. Ansonsten liebte sie es, ihren Rosengarten zu hegen und zu pflegen.

Der Mann war das Oberhaupt der Familie, die Frau der „Engel des Hauses“. Sie hatte dafür Sorge zu tragen, dass der Ruf der Familie und des Ehemannes rein und unangetastet blieb. Und selbiges wurde auch von mir erwartet, wenn ich einmal verheiratet war und Kinder hatte. Doch ich war mir nicht sicher, ob es wirklich das war, was ich mir vom Leben erhoffte. Konnte man mit einem derart beschränkten Horizont wirklich glücklich werden? Ich bezweifelte es.

In der Welt da draußen gab es so viel zu entdecken. Woher ich das wusste? Mir war es zwar verboten zu studieren, jedoch nicht, eine Bibliothek aufzusuchen und mir so mein Wissen anzueignen. Ich liebte Bücher aller Art, insbesondere über Mythen und Sagen verschiedenster Kulturen, aber auch über historische Ereignisse. Ganz besonders faszinierten mich Bücher mit starken, weiblichen Charakteren oder Historienberichte bedeutender Frauen der Weltgeschichte, wie beispielsweise über Olympe de Gouges. Sie war eine Frauenrechtlerin in der Französischen Revolution und forderte 1791, kurz nach der Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte, dieselben Rechte und Pflichten für Frauen ein, die Männer seit jeher beanspruchten. Dies entfachte letzten Endes mein Interesse für die Frauenbewegung. Ich bewunderte den Mut dieser Frauen, die für die Rechte der weiblichen Mitglieder unserer Gesellschaft kämpften.

Eines Tages traf ich in der Bibliothek eine junge Frau namens Estelle, eine engagierte Kämpferin für Frauenrechte. Sie zeigte mir einige ihrer persönlichen Niederschriften, die ich mit Begeisterung verschlang. Estelle gab mir auch ihre Adresse und lud mich zu einer ihrer Versammlungen mit anderen Feministinnen ein. Bisher war ich dieser Einladung jedoch nicht nachgekommen, weil mir der Mut dazu fehlte.

Vor meinen Eltern hielt ich dies allerdings streng geheim, denn ich wusste, dass sie diese Bewegung strikt ablehnten.

 

 

ξ

 

Es war der Tag meines zwanzigsten Geburtstags. Ich stand auf dem Balkon unseres großen Anwesens und blickte verträumt in den Garten, in dessen Mitte sich ein großer Springbrunnen befand. Rundherum wuchsen die Rosenbeete, die meine Mutter stets mit soviel Sorgfalt bedachte.

Lächelnd betrachtete ich den silbernen Armreif, den sie mir am Morgen geschenkt hatte. Er war ganz und gar mit floralen Mustern verziert und enthielt eine Gravierung:

 

Larissa, Tochter meines Herzens

 

 

Jedes Jahr beschenkte sie mich zu meinem Geburtstag mit reichlich Schmuck, doch dieser Armreif war der Schönste, den ich je gesehen hatte. Ich würde ihn mit Sicherheit jeden Tag tragen.

„Larissa, meine Tochter“, riss Vater mich aus meinen Gedanken. Ich erschrak und wandte mich schnell zu ihm herum.

„Ja, Vater?“

Er kam auf mich zu und seine Augen leuchteten mich liebevoll an. Etwas, was mich vollkommen irritierte.

„Heute wirst du zwanzig Jahre alt. Das bedeutet, dass du jetzt eine junge Dame bist – und erwachsen.“

Er schmunzelte und ich glaubte, ein wenig Stolz in seinen Augen zu erkennen. Ich sah ihn hoffnungsvoll an, denn ich konnte mich nicht daran erinnern, wann er je so mit mir gesprochen hatte.

„Ja, in der Tat“, antwortete ich.

„Deine Mutter war noch viel jünger, als ich sie heiratete. Und wenn ich dich so ansehe, kommt es mir vor, als stünde sie vor mir. Sie sah genauso aus wie du.“

Ich sah ihn noch immer erwartungsvoll an, denn seine Art zu sprechen verwirrte mich. Worauf wollte er hinaus?

„Larissa, ich denke ich habe mich in den letzten Jahren als Vater dir gegenüber nicht richtig verhalten. Ich weiß, dass ich in all der Zeit sehr kalt zu dir war. Und ich möchte mich dafür entschuldigen. Ich war sehr selbstsüchtig. Ich habe mir immer einen Sohn gewünscht und das einzige Kind, das deine Mutter mir schenkte, war eine Tochter. Ich hoffte immer auf einen männlichen Erben, der unsere soziale Position und unseren Namen fortführt.“

Da wusste ich, dass ich all die Jahre über Recht gehabt hatte, was meinen Vater betraf.

„Ich habe ein Geschenk für dich“, fuhr er fort. Das Maß meiner Verwirrung war nicht mehr steigerungsfähig. Denn im Gegensatz zu meiner Mutter, beschenkte Vater mich nie an meinen Geburtstagen.

„Wirklich?“, fragte ich überrascht und es klang ein wenig unsicher.

„Ja. Wie ich schon sagte, bist du jetzt zwanzig Jahre alt und eine erwachsene Frau. Und du bist noch immer unverheiratet, mein Kind.“

„Eines Tages werde ich mich sicher verlieben und heiraten“, erwiderte ich schmunzelnd, um meinen Vater zufrieden zu stellen.

Nun, zu der Zeit als sich geboren wurde, war man mit zwanzig Jahren als unverheiratete Frau eigentlich schon eine alte Jungfer. Im Alter von Sechzehn wurde ich in die Gesellschaft eingeführt, was bedeutete, dass ich dem Heiratsmarkt zur Verfügung stand. Ab diesem Zeitpunkt waren die bunten, verspielten Kleider meiner Kindheit bodenlangen Kleidern mit üppiger Tournüre, geschnürter Taille und kunstvoll aufgesteckten Haaren gewichen. Meine Eltern nahmen mich mit auf Bälle und andere soziale Veranstaltungen. Hin und wieder musste ich selbst einen Ball organisieren und austragen, denn es gehörte zu den Aufgaben einer Frau, das soziale Ansehen der Familie zu wahren. Zudem musste all das erprobt werden, was mir von Kindesbeinen an beigebracht worden war. Der Haushalt und die Dienerschaft musste ebenso überwacht werden. Was aber die Heiratsabsichten betraf, so blieben die Bewerber aus. Es mochte daran liegen, dass mein Vater zwar ein gut situierter Mann war, aber dennoch keinen Titel trug. Junge Männer suchten sich ihre zukünftigen Ehefrauen nach Status, Reichtum und Ansehen aus. Daher war es nur allzu offensichtlich, dass man eher auf junge Frauen zurückgriff, deren Familien über einen Titel oder noch höheres Ansehen verfügten. Nun, mir war es damals nur allzu Recht, denn ich fühlte mich mit sechzehn Jahren definitiv zu jung, um zu heiraten – auch wenn es in der Gesellschaft weit verbreitet war. All meine Freundinnen waren seit mindestens zwei Jahren bereits verheiratete Frauen.

Es war mir jedoch bewusst, dass eines Tages der Zeitpunkt kommen würde, an dem Vater mir ein Ultimatum stellte.

„Ich habe eine Entscheidung getroffen, meine Tochter“, sagte er und pausierte für eine Weile. Die Anspannung in mir stieg bis aufs Äußerste an.

Ich ahnte es. Nein, er würde doch nicht etwa...?

„Ich habe eine Verlobung für dich arrangiert! Das ist mein Geschenk für dich!“

„Eine Verlobung?“, fragte ich vorsichtig. Ich musste mich beherrschen, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken.

„Ja, er ist ein reicher Mann und du wirst eine gute Ehe mit ihm haben“, erwiderte er stolz.

„Kenne ich ihn?“, wollte ich wissen und hob verwundert die Augenbrauen. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wen er da für mich ausgesucht hatte. Meine Kontakte zu jungen Männern beschränkten sich auf ein Mininum. Eigentlich vermied ich es tunlichst, überhaupt einen Mann kennenzulernen.

„Spielt das eine Rolle?“, antwortete er und sah mich misstrauisch an.

„Natürlich!“, entgegnete ich mit fester Stimme. „Wie kann ich jemanden heiraten, den ich nicht kenne?“

Einmal abgesehen von der Tatsache, dass ich überhaupt nicht heiraten will!, fügte ich in Gedanken hinzu.

Mein Vater ging nicht darauf ein, sondern fuhr unbeirrt fort:

„Du wirst ein gutes Leben mit ihm haben. Er ist sehr vermögend und hoch angesehen – und er wird eine Menge Geld in unser Unternehmen investieren.“ Seine Stimme wurde eindringlich.

„Diese Heirat ist wichtig für unsere zukünftige Existenz, Larissa.“

Die Geschäfte liefen in letzter Zeit nicht ganz so rosig. Und da wurde mir klar, worum es in Wirklichkeit ging! Er wollte eine arrangierte Ehe für mich, nur um das Fortbestehen seines Geschäfts zu sichern. Das war alles. Es war kein Geschenk seiner Liebe für mich, sondern beruhte auf purem Egoismus!

Wenn ich es nicht wert war, sein Erbe anzutreten, sollte ich also mit einem reichen Mann verheiratet werden. Man hätte sagen können, dass ich mich glücklich schätzen konnte, denn schließlich war ich die Erbin eines großen Anwesens und eines Geschäfts. Doch mit meiner Heirat würde jeglicher Besitz in das Eigentum meines zukünftigen Ehemanns übergehen.Wozu sich also die Mühe machen, einem Mädchen alles beizubringen, was nötig war, um zukünftig das Geschäft zu leiten?

War die Existenz denn alles? Was war mit meinen Gefühlen? Ich konnte keinen Mann heiraten, den ich nicht kannte – und schon gar keinen, den ich nicht liebte! Wie konnte mein Vater das von mir verlangen?

Für eine Weile stand ich einfach nur da, lehnte am Geländer des Balkons und starrte ihn ungläubig an. Was würde er tun, wenn ich mich weigerte?

„Du wirst ihn sehr bald treffen“, sagte Vater und nahm mich in die Arme. Ich stand regungslos da, noch immer unfähig, etwas zu sagen. „Es ist schön, dass wir uns so gut verstehen.“

Dann verschwand er ins Haus.

Als ich Abends im Bett lag, konnte ich nicht einschlafen. Ich musste immerzu daran denken, was mein Vater zu mir gesagt hatte. Ich hasste ihn! Ich hatte nicht einmal zugestimmt! Mein Schweigen hatte er einfach als Einverständnis interpretiert. Was sollte ich nun tun? Mir hatte ganz einfach der Mut gefehlt, mich gegen ihn aufzulehnen.

Lieber sterbe ich als das zu tun!, dachte ich voll Bitterkeit.

 

ξ

 

Irgendwann schlief ich ein und träumte.

Ich lag auf einem seidenen roten Bett und trug ein weißes Kleid. Meine langen schwarzen Locken fielen sanft über das Kissen. Meine Augen waren geschlossen, die Hände auf der Brust zusammengefaltet.

Nein! Das war kein Bett, auf dem ich da lag! Ich erkannte, dass es ein Sarg war! Ich schwebte über mir und sah mich selbst – tot in einem Sarg in einem Grab liegend!

Niemand stand um die Totenstätte herum. Niemand war gekommen, um meinen Tod zu betrauern.

Plötzlich öffnete die Person, die wie ich aussah, die Augen. Sie waren nicht mehr normal grün, sondern erleuchteten animalisch in einem grellen Grün. Meine Haut war blass, fast durchsichtig. Ich verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln und entblößte dabei meine Zähne.

Oh, mein Gott! Was war das?

Meine Eckzähne waren spitz – fast wie die einer Katze!

Auf einmal schwebte ich nicht mehr über mir selbst. Ich war wieder Ich und in meinem Körper. Aufrecht im Sarg sitzend, schaute ich auf meine Hände herab, die genauso blass wie mein Gesicht waren. Die blauen Adern zeichneten sich klar und deutlich unter meiner Haut ab.

Ich verspürte ein Verlangen. Ein seltsames Verlangen nach... Blut! Wieder sah ich an mir herunter. Blut! Es war überall – an meinen Händen, auf meinem weißen Kleid! Ich konnte es sogar in meinem Mund schmecken!

Mein Blick schoss nach oben und ich sah eine schwarze Silhouette am Grab stehen. Ich konnte nur die Augen erkennen. Sie waren genauso grell grün wie meine!

Plötzlich verschwand die Gestalt und mein Vater erschien. Er sah missbilligend auf mich herab und sagte mit zorniger Stimme:

„Und alles nur, weil du dich mir widersetzt hast!“

 

ξ

 

Ich wachte schweißgebadet auf. Was für ein Traum!

Schwer atmend saß ich im Bett, schwitzte und zitterte zur gleichen Zeit am ganzen Körper. Warum träumte ich so etwas? Zu welcher Kreatur war ich in meinem Traum geworden? Überall Blut! Glühende Augen! Spitze Zähne! Was hatte das zu bedeuten? Die Silhouette am Grab und mein Vater, der sagte:

„Und alles nur, weil du dich mir widersetzt hast!“

Warum träumte ich von meinem eigenen Tod? Es dauerte eine Weile, bis ich mich beruhigt hatte.

Es war nur ein Traum. Mehr nicht!, versuchte ich mich gedanklich innerlich zu beruhigen. Doch mein Herz hämmerte wie wild gegen meinen Brustkorb.

Die Erinnerungen des vergangenen Tages traten mir ins Bewusstsein. Mein Vater wollte mich mit einem Fremden verloben und ich sollte ihn schon bald heiraten - nur um die zukünftige Existenz unserer Familie zu sichern.

Ich fragte mich, ob er mich wohl töten würde, wenn ich mich weigerte, diesen Mann zu heiraten?

Ich versuchte, diese Gedanken abzuschütteln und wieder einzuschlafen. Doch der Traum ließ mich nicht los. Er hielt mich noch immer in seinen Klauen. Er hatte sich so real angefühlt.

Wer war diese Kreatur mit den glühenden Augen gewesen?

Ich kam zu der Erkenntnis, dass mein Unterbewusstsein sich wohl etwas zusammengereimt hatte und dass der Traum nicht das Geringste zu bedeuten hatte.

Schließlich fiel ich in einen traumlosen und tiefen Schlaf, bis meine Dienerin Mina am nächsten Morgen in mein Zimmer kam, um mich aufzuwecken.

„Es ist Zeit aufzustehen, junge Lady“, sagte sie fröhlich und zog mit einem heftigen Ruck die Vorhänge auseinander. Das Sonnenlicht blendete mich so sehr, dass ich blinzeln und meine Augen mit der Bettdecke schützen musste.

„Ach wirklich?“, grummelte ich unter meiner Decke.

„Ja, wirklich“, meinte sie beschwingt und zog mit einem Ruck die Bettdecke weg.

Ich war noch immer wie gelähmt von letzter Nacht. Jeder Muskel und jedes Glied in mir fühlten sich stocksteif an.

Schließlich entschied ich mich aufzustehen und ließ Mina mir beim Anziehen meines bordeauxroten viktorianischen Kleides helfen, nachdem sie mein Korsett geschnürt hatte. Es war viel zu eng und ich konnte kaum atmen!

Eingeengt von dem verdammten Korsett und der steifen Krinoline unter dem Kleid, schaffte ich es gerade so, mich auf dem Hocker meines Frisiertisches niederzulassen. Meiner Meinung nach wurde es allmählich Zeit, dass das „Aesthetic Dress“ auch in den höheren Kreisen für gesellschaftsfähig erklärt wurde. Neben der Frauenbewegung gab es noch eine weitere, die für die Revolution der Damenmode plädierte: Korsetts, Tournüren und Krinolinen galten deren Ansicht nach als zu künstlich, da sie den weiblichen Körper verformten. Das „Aesthetic Dress“ war ein locker fallendes Kleid mit einem Gürtel um die Taille, das es Frauen ermöglichte, sich in Harmonie mit ihrer Umwelt zu kleiden, ohne Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Oscar Wilde höchstpersönlich war ein Anhänger dieser Bewegung und versuchte, die Künstlerkreise für diese neue Mode zu begeistern.

Mina begann mein Haar zu bürsten bis es glänzte und half mir, es kunstvoll hochzustecken.

„Sie müssen heute besonders hübsch aussehen. Ich habe gehört, dass heute ein außergewöhnlicher Besucher zu Ihnen kommen wird“, sagte sie lieblich und geheimnisvoll.

Oh, mein Gott! Sollte ich ihn wirklich heute schon treffen?

„Sie können sich glücklich schätzen, Miss Larissa. Er ist ein sehr hoch angesehener Mann“, säuselte sie verträumt. Ich konnte mir das Augenrollen gerade so verkneifen. Dass er sehr hoch angesehen war, wusste ich ja nun schon seit gestern.

Mina war ein Jahr älter als ich, ziemlich klein und zierlich. Sehr hübsch, wie ich fand. Sie hatte braune, lockige Haare und braune Augen. Und sie war immer fröhlich. Eigentlich mochte ich sie gerne. Trotzdem war mir ihre Art zu sprechen, in diesem Augenblick zuwider.

Und warum heiratest du ihn dann nicht?, dachte ich bitter. Doch ich verkniff es mir lieber, das laut auszusprechen.

„Ach wirklich?“, antwortete ich stattdessen tonlos.

Ich drehte mich zu ihr um und sah sie an.

„Mina“ Meine Stimme klang verzweifelt. „Ich kann das nicht tun. Ich kann diesen Mann nicht heiraten. Ich kenne ihn nicht einmal.“

Mina verzog die Lippen zu einem Lächeln.

„Vielleicht sollten Sie ihn erst einmal kennenlernen?“

Vermutlich hatte sie Recht. Aber irgendetwas sagte mir, dass ich nicht glücklich werden würde. Ich wollte jemanden heiraten, den ich liebte und den ich erst einmal kennenlernen konnte, ohne schon vorher verlobt zu sein! Falls ich überhaupt heiraten wollte. Ich war noch jung und das ganze Leben lag vor mir. Auch, wenn die Gesellschaft das anders sah. Wie bereits gesagt: Mit Zwanzig gehörte ich bereits zu den alten Jungfern. Doch lieber war ich eine alte Jungfer, als mit einem Mann verheiratet, den ich noch niemals zuvor getroffen hatte.

Ich seufzte leise, als Mina aus meinem Zimmer ging und die Tür hinter sich schloss.

 

 

ξ

 

Am Nachmittag deckten die Bediensteten den Tisch auf dem großen Balkon und servierten allerlei Gebäck, Kaffee und Tee. Die Sonne schien und das Wetter war so herrlich. Alles war vom Geruch des Frühlings erfüllt.

Da saß ich nun und wartete auf mein Schicksal. Meine Mutter und mein Vater hatten auf den Stühlen neben mir Platz genommen.

„Ich bin sehr stolz auf meine Tochter“, hörte ich ihn zu meiner Mutter sagen.

Ich konnte es nicht fassen. Das war eine Lüge! Er war nicht stolz auf mich. Er war nur stolz darauf, endlich einen Wert für seine Tochter gefunden zu haben, die eigentlich lieber ein Sohn hätte werden sollen. Ich räusperte mich, woraufhin Mutter mir einen vielsagenden Blick zu warf.

Sie wusste, was ich innerlich dachte. Aber sie wagte es nicht, es meinem Vater auszureden. Er war immer dominanter gewesen. Jeder musste tun, was er sagte. Sogar seine Ehefrau. Doch ich war mir sicher, dass sie die Verbitterung und Verzweiflung in meinen Augen sehen konnte.

Mina trat auf den Balkon hinaus.

„Mister Edward Lancaster ist soeben eingetroffen, Sir.“

„Er darf eintreten“, erwiderte mein Vater schmunzelnd.

Ich hielt die Luft an, atmete aber sogleich wieder aus. Mein Korsett nahm mir schon genug die Luft zum Atmen!

Ein Mann um die fünfzig Jahre erschien auf dem Balkon. Er war korpulent und hatte einen Vollbart. Sein Gehrock war viel zu eng!

Ich war kurz davor in Ohnmacht zu fallen. Ihn sollte ich heiraten?? Er konnte mein Vater sein!

Nein, dachte ich. Lieber sterbe ich als ihn zu heiraten!

Ich musste mit offenem Mund da gesessen und ihn einfach nur angestarrt haben, denn ich spürte plötzlich den Ellenbogen meiner Mutter, der gegen meine Seite stieß.

„Guten Tag, Mr. Chase. Wie geht es Ihnen heute an diesem wundervollen sonnigen Tag?“, begrüßte Mr. Lancaster meinen Vater.

„Wunderbar, vielen Dank“, erwiderte dieser und stand auf, um ihm die Hand zu schütteln.

Mein „Verlobter“ begrüßte meine Mutter mit einem Handkuss.

„Mylady, Sie sind wunderschön wie immer.“

Unwillkürlich verzog ich angewidert den Mund, wies mich aber sogleich in Gedanken zurecht, dies zu unterlassen!

Dann stand er vor mir. Ich erhob mich ebenfalls, obwohl meine Knie weich wie Butter waren. Ich glaubte, in meinem Korsett zu ersticken.

Mina, verdammt!!

„Und diese junge Dame ist...“

„...Ihre zukünftige Braut“, beendete Vater seinen Satz mit vor Stolz aufgeblähter Brust.

Lancaster verzog die Lippen zu einem süßlichen Lächeln, das sich meine Magengegend vor Übelkeit zusammenziehen ließ.

„Natürlich. Die liebliche Larissa“, sagte er und gab nun auch mir einen Handkuss. Sofort hatte ich Mühe mich zu beherrschen, um meine Hand nicht sofort zurückweichen zu lassen. Ich versuchte zu lächeln, doch es sah wohl eher angestrengt aus.

Oh, mein Gott. Was für ein Albtraum.

An diesem Nachmittag unterzeichneten Vater und mein zukünftiger Ehemann den Vertrag, um unsere Heirat zu besiegeln und verhandelten über das Hochzeitsdatum. Es sollte schon diesen Samstag sein. Heute war Donnerstag. Warum in aller Welt hatte mein Vater es so eilig? Ich saß die ganze Zeit da, musste freundlich lächeln (was mir äußerst schwer fiel) und es war mir nur erlaubt zu sprechen, wenn ich gefragt wurde. Doch ich war geistig nicht anwesend. Ich glaubte, in einem Albtraum gefangen zu sein, aus dem ich bald erwachen und in meinem Bett liegen würde. Aber ich wachte einfach nicht auf...

Als Edward Lancaster unser Anwesen spät am Abend verließ, bat ich meine Eltern um Erlaubnis, mich in mein Zimmer zurückziehen zu dürfen. Den ganzen Tag hatte ich dagegen angekämpft, nicht die Kontrolle zu verlieren. Doch das änderte sich just in dem Moment, als ich mein Zimmer erreichte und die Tür hinter mir schloss. Eine Weile stand ich regungslos an die Tür gelehnt und starrte zur Decke. Dann gaben meine Knie unter mir nach und ich brach zusammen. Die Tränen flossen in Strömen. Ich wusste nicht, wie lange ich dort kauerte und einfach nur vor mich hinschluchzte.

Ich will diesen Kerl nicht heiraten! NIEMALS!

Irgendwann schleppte ich mich zu meinem Bett und ließ mich darauf fallen. Ich war so erschöpft vom vielen Weinen, dass ich irgendwann einfach einschlief...

 

 

ξ

 

Ich lag in den Armen eines Mannes. Er war jung und hatte schulterlange, schwarze Haare. Wir standen auf dem Balkon eines Schlosses und küssten uns.

Er umarmte meine Hüften und zog mich näher an sich heran. Ich fühlte die Erregung in mir aufsteigen, während seine Lippen sanft die meinen berührten. Schließlich wanderte sein Mund zu meinem Hals, um ihn langsam und zärtlich zu liebkosen. Ich fühlte eine unglaubliche Leidenschaft in mir, die ich mir nie vorzustellen gewagt hatte.

Doch plötzlich spürte ich, wie sich etwas Spitzes wie Nadeln in meinen Hals bohrte. Der schöne Fremde begann an meinem Hals zu saugen und ich fühlte, wie mein Körper schwächer und schwächer wurde. Sämtliche Energie floss mit jedem Tropfen Blut, den er von mir trank, aus mir heraus. Dann ließ er von mir ab und sah mir direkt in die Augen. Mir gefror das Blut in den Adern!

Da waren sie wieder! Diese grünen, glühenden, wilden Augen... und die spitzen Zähne! An seinen Mundwinkeln lief Blut herunter. Mein Blut!

Plötzlich sah ich mich selbst wieder in dem Sarg liegen und der Traum der letzten Nacht wiederholte sich. Das weiße Kleid, mein verändertes Selbst, das Blut überall! Ich war wieder das seltsame Wesen aus der Nacht zuvor!

 

 

 

ξ

 

Schweißgebadet fuhr ich hoch und blickte mich schwer atmend um. Mein ganzer Körper zitterte und kalte Schauer liefen meinen Rücken hinunter. Meine Hand griff nach meinem Hals, um zu prüfen, ob da irgendwelche Spuren spitzer Zähne waren. Zu meiner Erleichtung war alles normal. Seufzend schloss ich die Augen und dann realisierte ich, dass ich noch immer das viktorianische Kleid trug.

Wieder dieser Traum! Warum träumte ich ihn zum zweiten Mal? Und wer war dieser Mann, der darin erschienen war und mit dem ich auf dem Balkon gestanden hatte? Ich errötete unwillkürlich, als ich mich an die Szene erinnerte, in der ich ihn geküsst und welch Verlangen ich verspürt hatte. Meine Wangen glühten. Es war fast, als konnte ich seine Berührungen noch immer fühlen. Normalerweise traute ich mich nicht einmal im Ansatz, mir so etwas nur vorzustellen! Nicht, dass ich grundsätzlich uninteressiert an Männern war, aber für Frauen des viktorianischen Zeitalters schickte es sich einfach nicht, solche Gedanken zu hegen. Das war leider auch etwas, was meiner Erziehung zugrunde lag:

Die weibliche Sexualität wurde als etwas Böses erachtet, das nicht erwachen durfte. Andererseits musste eine verheiratete Frau stets ihre ehelichen Pflichten erfüllen.

Beklemmung überkam mich, als ich daran dachte, dass mir das alles bald ebenfalls mit diesem Lancaster bevorstand. Übelkeit stieg in mir auf, wenn ich mir das nur vorstellte! Nein, ich würde mich diesem Mann niemals freiwillig hingeben!

Was soll ich nur tun?, dachte ich verzweifelt. Ich muss von hier verschwinden! Ich kann hier nicht länger bleiben!

Ich musste verschwinden, bevor mein Leben für immer zerstört wurde. Bevor ich zu dem wurde, was ich tief im Inneren immer verabscheut hatte: Eine ihrem Ehemann durch und durch hörige Frau, die keinerlei Freiheiten besaß. Morgen Nacht würde ich von hier weggehen. Und niemand würde mich hier je wiedersehen. Ich würde alles hinter mir lassen und ein neues Leben beginnen – ein Leben, das mir gehörte! Dennoch erfüllte mich der Gedanke, meine Mutter zu verlassen, mit Schmerz. Meine liebe Mutter, die mich mehr als alles Andere liebte. Aber ich hatte keine Wahl. Ich musste aus diesem Gefängnis fliehen.Wieder überkam mich die Erinnerung an den Traum und ich begann zu zittern. Ich konnte mir selbst nicht erklären, was der Traum zu bedeuten hatte. Ich fragte mich, was es mit diesen spitzen Zähnen und glühenden Augen auf sich hatte? Ich erinnerte mich, dass ich einmal in einem Buch über solche Wesen gelesen hatte. Sie nannten sich Vampire. Aber wieso träumte ich seit zwei Nächten, dass ich selbst zu einem wurde? Wahrscheinlich hatte ich in letzter Zeit zu viele Schauerromane in der Bibliothek gelesen.

Ich stand vom Bett auf, entledigte mich meines Kleides und des Korsetts. Endlich! Kein Wunder, dass ich noch mehr Unsinn geträumt hatte. Das Korsett musste wohl die Sauerstoffzufuhr zu meinem Gehirn abgeschnürt haben! Nachdem ich mein Nachthemd übergestreift hatte, legte ich mich ins Bett und versuchte wieder einzuschlafen.

Morgen bin ich frei, dachte ich entschlossen und schlief ein.

 

ξ

 

Am nächsten Tag kam Mina in mein Zimmer, um mich wie üblich zu wecken und mir beim Zurechtmachen zu helfen. Sie hatte mir immer gut gedient - und heute wahrscheinlich zum letzten Mal.

„Ihre Mutter möchte Sie gleich in ihrem Zimmer sehen, Herrin“, sagte Mina, als sie fertig mit allem war.

Ich antwortete mit einem Nicken.

„Danke Mina. Ich werde sie sofort in ihrem Zimmer aufsuchen.“

„Larissa!“, begrüßte mich meine Mutter freudig, als ich ihr Zimmer betrat. „Komm zu mir, mein Kind. Ich möchte dir etwas zeigen.“

Sie zog eine lange, weiße Schachtel unter dem Bett hervor und legte diese darauf. Als sie den Deckel abnahm, kam ein weißes Kleid darin zum Vorschein. Ein Hochzeitskleid!

Ich schluckte.

Mutter nahm das Kleid aus der Schachtel und hielt es vor ihren Körper.

„Ich habe dieses Kleid getragen, als ich deinen Vater heiratete“, sagte sie lächelnd.

Sie streichelte meine Wange und ich konnte Tränen in ihren Augen sehen.

„Es war immer mein größter Wunsch, meine Tochter dieses Kleid an ihrem Hochzeitstag tragen zu sehen. Jetzt gehört es dir, Tochter meines Herzens.“

Als sie die Worte aussprach, die auf meinem silbernen Armband eingraviert waren, schnürte sich mir die Kehle zu. Ich blickte sie sprachlos an und versuchte, die Tränen zu unterdrücken, die in mir aufstiegen. Wie sehr ich ihr diesen Wunsch erfüllen wollte. Meine Mutter schien so glücklich bei dem Gedanken, ihre Tochter in ihrem eigenen Hochzeitskleid vor dem Altar zu sehen. Doch das würde nie geschehen...

Oh, meine liebste Mutter...Es tut mir so leid, weil ich deinen Traum nicht wahr machen kann.

Das Herz in meiner Brust fühlte sich schwer wie Blei an und ich versuchte, den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken. Ich rang mich zu einem Lächeln durch und sagte:

„Das war auch immer mein Traum, Mama.“

Sie umarmte mich überglücklich.

„Keine Sorge, mein Kind. Ich weiß, du hast Angst, weil du deinen zukünftigen Ehemann nicht kennst. Aber du musst wissen, dass dein Vater und ich damals auf dieselbe Weise verheiratet wurden. Die Liebe wird eines Tages von alleine wachsen.“

Ich war schockiert. Das hatte sie mir nie erzählt!

„Du hast ihn noch nie zuvor getroffen?“, fragte ich sie ungläubig.

Sie verneinte und löste sich langsam von mir.

„Am Tag meiner Verlobung traf ich ihn zum ersten Mal und eine Woche später heirateten wir. Bis heute war mir dein Vater ein liebender Ehemann und ich könnte mich nicht glücklicher schätzen.“

Wieder traten mir Tränen in die Augen.

„In zwei Tagen wirst auch du heiraten“, sagte meine Mutter und begann zu weinen.

Ich drückte sie an mich.

„Mein kleines Mädchen wird uns verlassen.“

Ja, Mutter. Ich werde dich verlassen. Aber viel früher als geplant...

„Ich liebe dich, Mama.“, flüsterte ich.

Bitte trauere nicht um mich...Aber ich muss dich verlassen. Wenn ich hier bleibe, wird mein Leben zerstört. Ich muss mich selbst retten!

„Ich bin stolz auf dich“, sagte meine Mutter und küsste meine Stirn. „Komm und probiere das Kleid an.“

Ich sah mich selbst in dem großen Spiegel an. Es war das wunderschönste Kleid, das ich je gesehen hatte und es passte wie angegossen.

In meinem Herzen breitete sich eine Schwere aus. Konnte ich wirklich das Herz meiner Mutter brechen? Warum musste es eine arrangierte Ehe ein? Warum musste es ein alter Mann sein, den mein Vater für mich ausgesucht hatte?

„Du siehst wunderschön aus, Larissa!“, hörte ich meine Mutter hinter mir sagen.

Ich drehte mich zu ihr um und lächelte sie an – auch, wenn mir innerlich nach Schreien zumute war.

„Ja, es ist wirklich wunderschön.“

Als ich mich wieder zum Spiegel wandte, erstarrte ich innerlich. Hinter mir war ein schwarzer Schatten mit grünen, grell leuchtenden Augen! So schnell wie der Schatten erschienen war, verschwand er im nächsten Moment.

„Geht es dir gut?“, fragte meine Mutter besorgt.

Ich versuchte, die Fassung zurückzuerlangen und erwiderte schließlich:

„Ja, natürlich.“

Jetzt erschien die Silhouette schon am helllichten Tag! Was hatte das zu bedeuten? Ich zweifelte meinen Verstand an. Was passierte mit mir? Ich konnte es nicht erklären. Angst stieg in mir auf.

Während mir Mutter und Mina beim Umziehen halfen, ließ mich die Beklemmung noch immer nicht los.

„Du wirst so wunderschön aussehen am Samstag!“

Die Vorfreude und der Stolz in der Stimme meiner Mutter waren nicht zu überhören.

Es tat mir in der Seele weh und fühlte, wie sich mir die Kehle erneut zuschnürte.

Konnte ich wirklich so selbstsüchtig sein? Ich wusste, es brach ihr das Herz, wenn sie morgen erkannte, dass ich nicht mehr da war. Ich würde in Ungnade fallen und durfte nie wieder zurückkommen. Wollte ich überhaupt wieder kommen?

Nein! Es gab kein Zurück! Meine Entscheidung war gefallen. Ich würde heute Nacht von hier verschwinden, komme was wolle. Auch, wenn ich meine Mutter damit unendlich verletzte.

Plötzlich konnte ich nicht mehr länger an mich halten und brach weinend unter dem Gewicht meiner Scham zusammen.

„Kind, was hast du?“, fragte meine Mutter mit vor Schreck geweiteten Augen.

„Mama“, schluchzte ich. „Ich...ich...ich will ihn nicht heiraten!“

Meine Mutter sah mich ungläubig an.

„Weißt du, was du sagst?“

„Ja, ich will es nicht! Ich liebe ihn nicht!“

„Kind, du kannst dich deinem Vater nicht widersetzen!“ Die Stimme meiner Mutter war eindringlich.

„Wieso nicht?“, fragte ich sie. „Ist das nicht mein Leben? Sollte ich nicht entscheiden dürfen, wen und ob ich heirate? Warum müssen Frauen überhaupt heiraten? Sind wir ohne Mann denn nichts wert?“

„Dein Vater und ich konnten auch nicht entscheiden“, erwiderte sie. „Und hör auf, so einen Unsinn zu reden, Larissa! Es ist der Lebenssinn einer jeden Frau, gut zu heiraten und versorgt zu sein! Hast du alles vergessen, was ich dir von Kindheit an beigebracht habe? Wer hat dir diese Flausen in den Kopf gesetzt? All die Jahre warteten wir auf einen Antrag – und jetzt, wo wir endlich einen Bewerber haben, schlägst du diese Möglichkeit aus? Du bist bereits Zwanzig! Was soll aus dir werden, Kind? Du bringst Schande über uns!“

Da war sie: Die Angst einer jeden Mutter, dass ihre Tochter unverheiratet blieb. Denn mit jedem Jahr, das ohne Antrag verstrich, sank der Wert der Frau.

Ich kauerte am Boden, den Blick gesenkt. Ich wagte es nicht, ihr ins Gesicht zu sehen. Meine Stimme war voller Kälte, als ich sagte:

„Vater hat mich nie geliebt, weil ich kein Sohn bin. Und das ist nun seine Strafe für mich!“

Meine Augen waren hasserfüllt, als ich meine Mutter schließlich doch ansah.

„So ist es!“, krächzte ich. „Und du, Mutter, nicht einmal du, kannst erkennen, dass ihr mich ins Verderben schickt! Dass ihr mich innerlich tötet mit eurem Egoismus!“

Die Erkenntnis, dass sogar meine Mutter nicht auf meiner Seite stand, schockierte mich zutiefst. Doch was hatte ich erwartet? Mutter tat immer das, was von ihr verlangt wurde. Und dasselbe erwartete sie nun einmal von mir.

Dann muss mir das Herz auch nicht so schwer sein, weil ich dich verlasse. So kann ich reinen Gewissens von hier weggehen, dachte ich verbittert.

Aber wie sollte ich ganz auf mich alleine gestellt überleben? Wo sollte ich denn hingehen? Was musste ich denn von der Welt da draußen? Nur das, was ich aus Büchern kannte.

Ich musste es irgendwie schaffen!

Ich dachte wieder an Estelle und die Frauenbewegung, und wie sehr sie mich faszinierte. Ihre Adresse verwahrte ich noch immer in einem Schmuckkästchen in meiner Kommode. Vielleicht gewährte sie mir Unterschlupf.

Ich sah meine Mutter noch immer mit hasserfüllten Augen an. Sie stand ebenfalls da und war nicht fähig, etwas zu sagen. In ihren Augen blitzten Tränen auf. Ja, ich musste für sie in diesem Augenblick wohl die größte Enttäuschung ihres Lebens sein.

Aber ich brauchte weder ihre Gnade, noch ihr Mitgefühl.

Es half sowieso nichts.

"Du wirst heiraten, Larissa", betonte sie nochmals streng. "Daran führt kein Weg vorbei!"

Schweigend stand ich auf und verließ den Raum, ohne sie um Erlaubnis zu bitten.

 

ξ

 

Beim Abendessen redete Vater wie ein Wasserfall. Wie stolz er auf seine Tochter war, die Samstag heiraten würde und endlich einen Zweck erfüllte. Den Teil mit „Zweck“ erwähnte er zwar nicht, aber ich wusste, dass er darüber am Glücklichsten war.

Meine Mutter schwieg. Sie nickte nur ab und an leicht lächelnd. Ich tat es ihr gleich, obwohl mir innerlich nach Schreien Zumute war. Ich hörte überhaupt nicht zu, was Vater uns erzählte. Es interessierte mich nicht mehr. Alles, woran ich dachte, war meine Flucht. Mutter und ich hatten seit der Auseinandersetzung in ihrem Zimmer, kein Wort mehr miteinander geredet. Aber mein Vater bemerkte dies nicht ansatzweise. Er liebte es, sich selbst reden zu hören und dann bekam er nicht mit, was um ihn herum geschah.

„Mary-Anne. Wie hat Larissa das Kleid gefallen?“

Meine Mutter sah vom Essen auf und lächelte. Aber ich erkannte deutlich, dass sie sich innerlich sehr dabei anstrengte.

„Liebling, das musst du sie selbst fragen.“

Vater sah mich erwartungsvoll an.

„Larissa?“

„Es ist schön“, erwiderte ich tonlos.

„Fein!“, sagte er freudig. „Die Hochzeit kann kommen!“

Aber ohne mich!, dachte ich bitter.

Ich kann dir helfen!

Ein Schauer durchfuhr mich von Kopf bis Fuß und eine eisige Kälte ging mir durch Mark und Bein! Eine männliche, tiefe Stimme flüsterte plötzlich in meinem Kopf! Mir fiel fast die Gabel aus der Hand, als ich innerlich erzitterte. Was war das? Hatte ich mir das nur eingebildet?

Oh, mein Gott! Das ist nicht wahr! Ich werde verrückt!, dachte ich verzweifelt.

Hatte ich gerade wirklich eine Stimme in meinem Kopf sprechen gehört?

Unmöglich! Wieder eine Einbildung!

Nach dem Essen zog ich mich in mein Zimmer zurück und dachte über mein Verschwinden nach. Wenn alle eingeschlafen waren, würde ich mich aus dem Haus schleichen.

Draußen war es inzwischen dunkel, aber meine Eltern saßen noch unten im Wohnzimmer vor dem Kamin und tranken Tee.

Es wurde allmählich später...

Ich saß an meiner Frisierkommode und bürstete meine Haare, als Mina die Tür öffnete.

„Benötigen Sie noch irgendetwas, Herrin?“

Ich rang mich zu einem Lächeln durch, um mir meine Angespanntheit nicht anmerken zu lassen.

„Nein Danke, Mina. Geh schlafen.“

„Wie Sie wünschen.“

Dann fiel die Tür ins Schloß.

Ich bürstete weiter mein Haar und sah mich selbst im Spiegel an. Mein Frisiertisch befand sich direkt gegenüber des Balkons, dessen Türe offen stand. Die sanfte Brise des Windes wehte durch das Zimmer.

Plötzlich erregte eine huschende Bewegung meine Aufmerksamkeit. Mit weit aufgerissenen Augen fuhr ich herum.

War da etwas?

Mit klopfendem Herzen starrte ich die Balkontüre an. Doch ich konnte weit und breit nichts erkennen. Als ich mir sicher war, dass dort nichts Ungewöhnliches war, wandte ich mich wieder meinen Haaren zu.

Da! Wieder!

Ruckartig drehte ich mich um. Allmählich bekam ich Angst. Mein ganzer Körper zitterte, ohne genau zu wissen, weshalb mich eine solche Panik erfüllte. Oder vielleicht doch? Langsam und mit zitternden Knien, erhob ich mich von meinem Stuhl und lief zur Balkontüre. Vielleicht hatte sich eine Katze verirrt oder ein Vogel. Nein, was ich gesehen hatte, war definitiv zu groß für ein Tier dieser Größe gewesen. Mit wild klopfendem Herzen schritt ich hinaus, doch da war nichts. Mein Verstand schien mir in letzter Zeit üble Streiche zu spielen. Wahrscheinlich steigerte ich mich zu sehr in die Sache mit der Hochzeit hinein.

„Ich kann dir helfen“, flüsterte eine männliche Stimme hinter mir. Diese Stimme kam mir so bekannt vor! Ich hatte sie zuvor bereits einmal an diesem Abend vernommen. Und zwar in meinem Kopf! Ich fuhr erschrocken herum. Unfähig etwas zu sagen, geschweige denn zu schreien, stand ich da und starrte ich zu meinem Bett:

Da saß er. Der Mann aus meinen Albträumen! Auf meinem Bett!

Mein Körper versteifte sich und ich war nicht in der Lage, mich zu rühren. Wie war der Mann in mein Zimmer gekommen? Wie war es überhaupt möglich, dass er existierte, wenn er doch nichts weiter als eine Traumfigur war? Ich war mir sicher, dass mein Verstand mir dieses

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Stefania B.
Bildmaterialien: http://blacklady999.deviantart.com/art/Vampire-Lady-Lara-89413712
Cover: http://blacklady999.deviantart.com/art/Vampire-Lady-Lara-89413712
Tag der Veröffentlichung: 02.08.2017
ISBN: 978-3-7438-9927-8

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Coverbild by Stefania B. aka http://blacklady999.deviantart.com: https://www.deviantart.com/blacklady999/art/Vampires-of-New-York-BookCover-788232393 Quellen: Selene: http://www.artedea.net/selene-konigin-der-nacht/ Viktorianische Mode und Lebensweise: http://the-gaiety-girl.blogspot.de/p/inhaltsverzeichnis.html Mythen und Legenden: Wikipedia Geschichte New Yorks: Wikipedia

Nächste Seite
Seite 1 /