Es war kaum noch als das zu erkennen, was es einmal gewesen war. Verkohltes Schwarz, vereinzelt durchbrochen von orangeroten Mustern, wo das Feuer noch glühte. Aus der Luft ein dunkler Fleck auf dem hellen Flickenteppich von Feldern, ein weiterer Makel auf einem Stoff, der ohnehin nicht der feinste war.
Mit einem dumpfen Aufprall landete Ke auf dem Boden, in sicherer Entfernung dessen, was vor kurzem noch ein Dorf gewesen war. Chaïr sprang vom Rücken des Drachen und blieb neben ihm stehen, fassungslos. Das kann nicht sein. Es darf einfach nicht sein!
Die Flammen hatten das Dorf so gründlich zerstört, dass es kein Unfall gewesen sein konnte, trotz des trockenen, fast schon wüstenhaften Klimas, das in der Region vorherrschte, trotz der strohgedeckten Dächer, die leicht Feuer fangen konnten, trotz der Tatsache, dasses, wie es aussah, seit Tagen, vielleicht Wochen nicht mehr geregnet hatte.
Sie waren vor ihr dagewesen, kein Zweifel.
Hoffnungslosigkeit stieg in ihr auf. Wie sollte sie es jemals schaffen, wenn sie immer zu spät kam?
Chaïr ballte stumm die Faust, schloss die Augen und holte Luft. Nicht daran denken! Weitermachen! Einen Moment verharrte sie, dann warf sie einen letzten Blick auf das niedergebrannte Dorf und wandte sich wieder zu ihrem Drachen um. „Wir gehen wieder“, teilte sie ihm mit. „Hat keinen Zweck, hier nach Überlebenden zu suchen, oder was meinst du?“
Ke schnaubte, sein Blick war so resigniert, wie sie sich fühlte. Die Elfe klopfte ihm mitfühlend auf die Schnauze und wollte schon um ihn herumgehen, um aufzusteigen, als sich seine Nüstern auf einmal weiteten, sein Kopf fuhr zum Dorf herum. Chaïr stutzte.
Langsam wandte auch sie sich um, doch – da war nichts. Nur schwarze, verkohlte Ruinen, Trümmerhaufen.
Wieder blickte sie zu Ke, der auffordernd schnaubte.
„Du weißt genau, dass ich nicht so gut höre oder rieche wie du. Außerdem, wer auch immer da gerade kommt, könnte genausogut ein Feind sein. Ist ja nicht so, dass wir keine hätten, was?“ Die Elfe schüttelte den Kopf und zog die schwarze Stoffmaske über ihr Gesicht, bis nur noch die Augen zu sehen waren, und rückte ihren Helm zurecht. „Pass auf, Vorschlag: Du ziehst dich nach da drüben“, sie deutete auf das nahe Arinasfeld, „zurück und greifst nur ein, wenn es nicht anders geht. Einverstanden?“
Der Drache wirkte nicht völlig überzeugt, das sah sie an der Art, wie er den Kopf schief legte.
„Ich hab immer noch meinen Bogen, schon vergessen? Und ich bin nicht mehr das wehrlose Mädchen, das ich mal war.“
Kes Augen wurden schmal. Chaïr brauchte einen Moment, um zu begreifen, dann warf sie den Kopf zurück, ein verzweifeltes Lachen entrang sich ihrer Kehle. „Ach, ich vergaß – du magst kein Arinas. Ich weiß, Ke, aber … siehst du hier vielleicht ein anderes Versteck für einen Drachen deiner Größe?“ Sie konnte nicht verhindern, dass ein sarkastischer Unterton in ihren Worten mitschwang.
Der echsenartige Kopf zuckte widerwillig, dann fuhr Ke herum. Es kostete ihn nur einen Flügelschlag, bevor er hinter den hohen, hellgrünen Stämmen verschwand und sie allein zurückließ.
Ein kurzes Lächeln gestattete sie sich, dann, schlagartig, war sie wieder ernst, ganz Kriegerin, ganz Drachenfängerin. Innerhalb von Sekunden lag der Bogen in ihrer Linken, ein Pfeil in der Rechten. Bereit, innerhalb von Sekunden zu schießen, aber, vom Standpunkt eines Laien aus gesehen, keine unmittelbare Bedrohung – noch nicht. Nun hieß es Warten.
Es dauerte nicht lange, vielleicht eine halbe Minute.
Leises Tappen, wie schnelle Schritte, jemand, der rannte. Davonrannte?
Eine Bewegung zwischen den Ruinen. Die Elfe kniff die Augen zusammen. Eine schmale, zerlumpte Gestalt, die zwischen den Häusern hervorgestürmt kam. Einer der Dorfbewohner, der das Inferno überlebt hatte? Es schien kaum möglich, aber dennoch war er da. Oder sie, wie auch immer. Sie konnte es nicht fassen.
Durchatmen, weitermachen. Wie immer. Chaïr holte Atem und umfasste ihren Bogen fester.
Es war pures Glück, dass der Überlebende – ein Junge, klein, mager, so viel erkannte sie inzwischen – direkt auf sie zulief. Den Blick hatte er auf den Boden gerichtet, um nicht zu stolpern, und weil sie in ihrem staubbedeckten, knielangen Ledermantel vor der Steppenlandschaft kaum auffiel, hatte er sie wohl auch noch nicht gesehen.
Einen Moment wartete sie noch, bis der Flüchtende nah genug war, dann trat sie einen Schritt vor.
„Wovor läufst du weg?“
Ihre Stimme durchschnitt die Stille, die sonst nur vom leisen Keuchen des Jungen und seinen Schritten durchbrochen wurde, wie ein Messer.
Die Reaktion folgte auf der Stelle. Stolpern, beinahe wäre er gefallen, fing sich gerade noch, starrte sie einen Moment lang an wie einen Geist, dann fuhr er herum.
Resigniert beobachtete Chaïr, wie er davonrannte. Eigentlich war es abzusehen gewesen – zum einen war sie ganz offensichtlich eine Drachenfängerin, zum anderen hätte sie ihren Bogen vermutlich besser wieder weggesteckt.
Nur wusste sie nun immer noch nicht, wovor er eigentlich geflüchtet war. Einfach vor dem Feuer? Unwahrscheinlich, das war fast aus.
Also doch Feinde. Es war jene fast schon paranoiaartige Stimme in ihrem Kopf, die seit dreieinhalb Jahren in jedem Schatten eine Gefahr sah, sie an jeder Ecke innehalten ließ, ob da nicht doch …
Es reicht! Erneut ballte sie die Faust. Viel zu oft musste sie sich selbst zur Ordnung rufen, sich zwingen, nicht nachzugeben.
Ein leises Gurren aus der anderen Richtung. Als sie sich umwandte, streckte Ke den Kopf über die meterhohen Arinasspitzen, die gelben Augen funkelten fragend.
Chaïr seufzte. „Du hast ja Recht, ich geh schon. Wartest du hier?“
Der Drache wirkte nicht unbedingt angetan. Einen Moment lang schien er zu überlegen, dann machte er einen Satz, breitete die Flügel aus und landete vor ihr.
Die Drachenfängerin schwieg. „Schön“, entgegnete sie schließlich. „Aber lass dich bloß nicht blicken, klar?“
Schnelle Schritte, unregelmäßig pochend auf dem harten Boden, kaum gedämpft durch die dünne Schicht aus losem Sand und Asche. Keuchen, das sich in seinen Ohren einen erbitterten Wettkampf mit seinem rasenden Herzschlag lieferte.
Sen spürte, dass er fast am Ende war, das einzige, was ihn noch weitertrieb, war die Angst. Der Mann von der Goldenen Garde war eigentlich schon schlimm genug gewesen, auch wenn er sich nicht sicher war, wieso der eigentlich hinter ihm her war. Immerhin betete er selbst genauso zur Nymphe wie jeder, der dem Orden angehörte. Dennoch – selbst bei einem religiösen Fanatiker bestanden mehr Chancen, heil aus der Angelegenheit herauszukommen, als bei einem Drachenfänger, der für genug Geld vermutlich so ziemlich alles tun würde.
Der Gardist war zurückgeblieben. Eigentlich. Bevor der Söldner plötzlich vor ihm gestanden hatte, wie aus dem Boden gewachsen.
„Bleib stehen, bei der Nymphe und all ihren silbernen Dienern!“
Da war er wieder. Nah, so nah.
Weiter, los!, trieb er sich selbst an. Noch bis zu der Ecke da vorne. Blut rauschte in seinen Ohren, als er in die kleine Straße einbog. Noch das dritte Haus, hinter dem eine enge Gasse begann, das wusste er. Wenn er schnell genug war, würde der Gardist vielleicht daran vorbeilaufen, diese verzweifelte Hoffnung spornte ihn zu einem letzten Sprint an, er wusste nicht, woher er überhaupt noch die Kraft nahm.
Er flog förmlich die Gasse entlang, nahm die leichte Krümmung mit schnellen Schritten – und prallte zurück.
Wo sich einmal ein Weg befunden hatte, eingeklemmt zwischen dem großen Arinasspeicher und einigen kleineren Hütten, war nun nur noch ein Trümmerhaufen. Der größere Lehmbau war zwar nicht niedergebrannt, aber die schon lange rissigen Ziegel hatten der Hitze des Feuers nicht länger standhalten können.
Verdammt. Und jetzt? Durch die Ruinen?
Sen zögerte, warf einen Blick hinter sich – und erstarrte.
Fußabdrücke. Teils kaum zu erkennen, aber wenn man darauf achtete, gut genug zu erahnen, um ihm folgen zu können. Und die Goldene Garde duldete keine Stümper, hieß es.
Die Verzweiflung drohte ihn wegzuschwemmen wie ein Platzregen in der Regenzeit, türmte sich über ihm auf und drohte ihn zu ertränken. Angst, solche Angst.
Die Schritte des Gardisten waren es schließlich, die ihm die Kraft zu einem letzten Atemzug verliehen. Er lief nach rechts, wo die Trümmer ihm nicht den Weg versperrten – und fuhr aufjaulend zurück. Der Boden war heiß, das Feuer noch nicht ganz aus.
Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen und ließ ihn keuchen.
Nicht aufgeben! Weitermachen! Er sah das Gesicht seines Bruders vor sich, der ihn immer angetrieben hatte. Den Schmerz ignorieren, er geht vorbei.
Sen holte Atem, versuchte, aufzutreten – und schrie erneut, hüpfte unbeholfen auf einem Bein auf und ab.
Den Tritt sah er nicht kommen, er traf ihn völlig unvorbereitet am Knie des unverletzten Beins und holte ihn von den Füßen.
Sen ächzte, als er auf dem Boden aufkam, er landete auf der Seite, versuchte, sich abzurollen – und erstarrte.
Unmittelbar über ihm hing ein Kurzschwert in der Luft. Der Drachenfänger!, war sein erster Gedanke, doch als er den Blick hob, war da ein silbriger Waffenrock, auf dem Brustpanzer prangte deutlich sichtbar der Goldene Quell, das Wappen der Goldenen Garde.
Das Gesicht des Mannes war ernst, die hellblauen Nordaugen blickten fast schon bedauernd. „Ich sage es dir gleich, wir werden um deinen Tod nicht herumkommen. Aber wenn du kooperierst, wird es schnell gehen, das verspreche ich dir.“
Sen starrte ihn an, sprachlos. „Wie … aber warum …“
Der Mann seufzte. „Es sind nur ein paar Fragen. Aber wenn du so davon überzeugt bist, dass Édhoan gut für Zhiël ist, kann ich leider nichts für dich tun, verstehst du?“
Sen schüttelte den Kopf, versuchte, rückwärts zu robben, fort von diesem Irren, doch der drückte ihm den Stahl an die Kehle. „Aber ich bete doch zur Nymphe! Was wollt Ihr denn?“
Der Gardist schüttelte bedauernd den Kopf. „Das kann jeder behaupten, vor allem, wenn es nur darum geht, sein elendes Leben zu retten. Aber wenn meine Oberen sagen, dass dieses Dorf voller Heiden ist – welchen Grund hätten sie, zu lügen? Sag mir das.“
„Ich weiß nicht …“
„ … aber du erwartest, dass ich dir glaube?“ Ein mildes, trauriges Lächeln glitt über das Gesicht des Mannes. „Schluss mit dem Unsinn. Neben dir haben noch andere überlebt, es hat keinen Zweck, das zu leugnen, ich habe noch andere Schritte gehört als nur deine. Wo versteckt ihr euch?“
Sen starrte den Mann überrascht an. Wer sollte überlebt haben? Im Feuer? Unmöglich – das war, als würde man einen Pflug zerbrechen und dann noch erwarten, dass man mit ihm arbeiten könne.
„Ich warte …“ Die Stimme des Gardisten war bedrohlich sanft.
„Ich weiß nicht, wovon Ihr redet!“ Sen hörte die Verzweiflung in seiner Stimme.
Ein Knurren entrang sich der Kehle des Gardisten, dann, plötzlich, versetzte er dem Jungen einen harten Tritt in die Seite.
Sen stöhnte und rollte sich zur Seite, versuchte, unauffällig Abstand zu gewinnen. „Aber wenn ich es Euch doch sage!“, gab er verzweifelt zurück, insgeheim bereits auf den nächsten Tritt gefasst – doch da kam nichts.
Stattdessen hörte er eine leise, raue Stimme gelassen sagen: „Ich denke, das reicht.“ Dann das Sirren einer Bogensehne, ein erstickter Aufschrei, ein harter Aufprall auf dem Boden. Schließlich Stille.
Nach einem Moment hob Sen unsicher den Kopf und spähte über seine Schulter hinweg. Was er sah, ließ ihn seine Deckung aufgeben.
Der Soldat lag bäuchlings auf dem Boden und rührte sich nicht, seine Augen starrten blicklos zur Seite, das Schwert war ihm aus der Hand geglitten. Aus seinem Rücken ragte ein Pfeil.
Leise, sich nähernde Schritte ließen ihn aufblicken. Nur wenige Meter von ihm entfernt stand der Drachenfänger, den Bogen noch in der Hand, die stechenden gelben Augen, das einzige, was von seinem Gesicht zu sehen war, fest auf Sen gerichtet.
Der junge Mann wich erneut zurück und drückte sich gegen die Wand. Der Drachenfänger musterte ihn einen Moment stumm, dann stellte er sachlich fest: „Ich schätze, ich habe dir gerade das Leben gerettet.“
Er hatte eine seltsame Stimme, heiser, als wäre sie lange nicht benutzt worden, aber da war noch etwas, was ihn irgendwie stutzig machte – oder besser stutzig gemacht hätte, wäre er nicht zu verängstigt gewesen, um darüber nachzudenken. Sen antwortete nicht. Es war ein Drachenfänger, was sollte er da schon sagen?!
Der Söldner hob leicht das Kinn, ging aber nicht auf Sens Schweigen ein, sondern fuhr fort: „Vielleicht solltest du dich irgendwie revanchieren, meinst du nicht?“
Sen schluckte. So etwas in der Art hatte er befürchtet. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde irgendwann demnächst der Satz „Ich habe dein Leben gerettet, also gehört es mir!“ auftauchen, oder zumindest etwas Ähnliches, und dann würde ihn wohl ein Leben in Sklaverei erwarten.
Doch nichts dergleichen geschah. „Zufällig gibt es da etwas, das du für mich tun könntest …“, erklärte der Drachenfänger und legte dabei den Kopf schief, auf eine … beinahe fragende Art.
Sen überlegte fieberhaft. War das jetzt ein Angebot an ihn oder würde der Drachenfänger ihn in jedem Fall zwingen, das zu tun, was er wollte? Und spielte das überhaupt eine Rolle?
„Was?“, fragte er nach einem Moment leise. In den gelben Augen spiegelte sich ein vages Lächeln. „Es gibt oder gab jemanden in diesem Dorf, zu dem ich ein paar Fragen hätte. Du kommst doch von hier, nicht?“
Sen nickte und versuchte, seine Erleichterung zu verbergen. Ein paar Fragen … das war weniger schlimm, als er gedacht hatte, viel weniger – wenn der Söldner denn vorhatte, es dabei zu belassen. „In Ordnung, ich bin dabei“, erwiderte er, mutiger geworden, aber weiter misstrauisch.
Der Drachenfänger nickte, offenbar befriedigt. „Gut. Es geht um einen jungen Mann, vielleicht etwas älter als du. Ich kann ihn nicht besonders genau beschreiben – ich weiß nur, dass er am rechten Arm eine Art bläuliche Zeichnung hat … sagt dir das was?“
Sen spürte, wie seine Gesichtszüge beinahe entgleisten. Erschrocken nickte er. Der Söldner konnte doch wohl nicht …?
„Hatte er irgendwelche außergewöhnlichen Fähigkeiten? Und weißt du, was mit ihm geschehen ist?“, fragte der Drachenfänger weiter. Sen presste die Lippen zusammen. „Ich kannte ihn ziemlich gut“, erklärte er nach einem Moment zögernd, „aber abgesehen von dieser seltsamen Zeichnung an seinem Arm … ich habe nie etwas Besonderes an ihm entdecken können. Die Leute haben ihn gemieden deswegen, er war ein Außenseiter, aber das ist auch schon alles.“
„Und was ist mit ihm geschehen? Du redest in der Vergangenheit von ihm, ist er …?“
„Tot“, sagte Sen und senkte den Kopf, damit der Söldner ihm die Lüge nicht ansah. Der Drachenfänger stieß deutlich hörbar die Luft aus. „Tot“, wiederholte er leise, wie für sich selbst. Sen blickte auf. Der Söldner lehnte an der Wand zu seiner Rechten, als hätte ihn alle Kraft verlassen. Es dauerte einen Moment, bis er weitersprach, und als er es dann tat, klang es müde. „Es spielt eigentlich keine Rolle mehr, ich bin mir fast sicher, dass er es war … aber kannst du mir dieses Mal an seinem Arm noch genauer beschreiben?“
Sen zögerte einen Moment. „Ich … ich könnte versuchen, es zu zeichnen, aber ich weiß nicht, wie gut ich das hinbekomme“, bot er unsicher an. Der Drachenfänger nickte. Sen beugte sich nach vorne, stützte sich mit einer Hand auf und begann, in der weichen, teils noch warmen Asche die komplexen Muster nachzubilden, die er so gut kannte. Einige Male zögerte er mit Absicht und zeichnete Fehler. Er wollte lieber nicht den Eindruck erwecken, die blauen Linien allzu gut zu kennen, auch wenn dem so war – bei einem Drachenfänger war es besser, kein Risiko einzugehen.
Als er fertig war, richtete er sich auf und musterte angespannt den Söldner, der sich von der Mauer abgestoßen und über die provisorische Skizze gebeugt hatte. Nach einem Moment nickte er kaum merklich. „Er war es, kein Zweifel.“ Er blickte auf und sah Sen direkt an. Die Maske ließ keine Regung erkennen, aber der junge Mann meinte, in den gelben Augen eine Resignation zu erkennen, die ihn erschreckte. Er wandte den Blick ab.
Eine ganze Weile herrschte Schweigen, dann fragte der Drachenfänger mit einem nachdenklichen Unterton: „Wo willst du jetzt eigentlich hingehen?“
Sen runzelte die Stirn, die Furcht kehrte zurück. „Wieso … wieso interessiert Euch das?“
Der Söldner neigte leicht den Kopf. „Ich kann jede Hilfe brauchen, die ich kriegen kann. Komm mit mir, wenn du willst.“
Ungläubig beugte Sen sich nach vorne. „Das meint Ihr doch nicht ernst!“
Der Drachenfänger hob eine Braue. „Doch, eigentlich schon. Was spricht dagegen?“
Sen wollte antworten, stockte dann aber. Kurz überlegte er, ob er lügen sollte, aber er wusste, dass er kein guter Lügner war – und wer konnte schon sagen, was der Söldner zu tun imstande war, wenn er merkte, dass er belogen wurde …
„Ich … ich will kein Drachenfänger sein, glaube ich“, entgegnete er also nach einem Moment leise, den Blick gesenkt aus Furcht vor der Reaktion des Drachenfängers. Der verschränkte die Arme. „So.“
Sen wagte es nicht, etwas zu erwidern.
Nach einem Moment lachte der Söldner leise. Es war ein seltsames Lachen, bitter, aber dabei irgendwie … hell, von der Tonlage her jedenfalls.
Der Drachenfänger verstummte abrupt. „Du hast zu viel Angst vor mir“, erklärte er nüchtern. „Und du musst kein Drachenfänger werden, wenn du mit mir kommst, nur, um das klarzustellen. Also, was ist?“
Sen zögerte. Du hast zu viel Angst vor mir … Hieß das, er sollte einfach ehrlich sagen, was er meinte? Er biss sich auf die Lippe, bevor er leise erklärte: „Ich glaube, es fällt mir schwer, jemandem wie Euch zu vertrauen.“
Der Drachenfänger legte den Kopf schief. „Das kommt der Sache schon näher, denke ich. Unsereins hat einen schlechten Ruf, das stimmt … aber heißt das notwendigerweise, dass ich genauso bin wie alle anderen?“
„Ich bin lieber einmal mehr zu vorsichtig als zu wenig“, entgegnete Sen, der zunehmend mutiger wurde. Der Söldner lachte leise auf. „Eine schöne Tugend. Aber hast du schon einmal darüber nachgedacht, was dir vielleicht bevorsteht, wenn du hierbleibst? Plünderer, Räuber – die, nebenbei bemerkt, wohl kaum davor zurückschrecken werden, dich in die Sklaverei zu verkaufen – außerdem werden Leute der Goldenen Garde zurückkommen, wenn sie nichts von ihrem Mann hören, und die werden dich kaltblütig töten. Schon vergessen, was der Typ gerade gesagt hat?“
Sen schluckte. „Nein, aber … woher weiß ich, dass Ihr nicht das Gleiche mit mir macht?“
Der Drachenfänger neigte bedächtig den Kopf. „Das“, sagte er leise, „ist eine gute Frage.“
Sen bemühte sich um eine entschlossene Miene. „Und wenn Ihr mir sie nicht beantworten könnt, komme ich nicht mit.“
Die gelben Augen funkelten. „Starke Worte.“
Sen erwiderte nichts. Der Drachenfänger lachte leise auf. „Das ist die Ironie an der ganzen Sache. Wir haben einen so schlechten Ruf, dass uns niemand mehr glaubt, wenn wir wirklich helfen wollen.“ Er schüttelte den Kopf. „Glaub mir, wenn ich dich in die Sklaverei verkaufen oder dich töten wollte, würden wir dieses Gespräch nicht führen. Hätte ich dir sonst das Leben gerettet? Würde ich dich nicht vielmehr sofort töten? Hier, in einem Dorf voller Leichen, fällt ein Toter mehr oder weniger kaum auf. Um auf das zurückzukommen, worauf ich eigentlich hinauswollte … hast du eine andere Wahl, wenn du auf Dauer überleben willst? Ganz allein den Pflug ziehen, die Felder bewirtschaften? Wovon willst du leben?“
„Ich …“ Auf diese Frage wusste Sen so schnell keine Antwort. „Mir fällt schon etwas ein“, entgegnete er nach einer kurzen Pause, bemüht, einen zuversichtlichen Unterton in seine Stimme zu legen.
Die gelben Augen des Söldners funkelten leicht. Ihm war mit Sicherheit klar, dass das eine Lüge war. „Nun, wir werden sehen. Ich schätze, bis die Goldene Garde zurückkommt, haben wir noch etwas Zeit, mindestens bis morgen, du hast also Zeit, deine Möglichkeiten zu überdenken. Bis dahin … gibt es hier einen Ort, der sich gut verteidigen lässt? Ein Haus, das halbwegs heil geblieben ist, oder etwas Ähnliches?“
Sen erwiderte nichts. Er wollte nicht mit dem Söldner kommen, der Mann war ein Drachenfänger. Sich mit ihm einzulassen wäre schlimmer als ein Pakt mit Édhoan persönlich … wovor ihn die Nymphe bewahren mochte. Überhaupt – warum schien der Söldner eigentlich so erpicht darauf, ihn zum Mitkommen zu bewegen? Mitgefühl oder etwas in der Art ganz sicher nicht, aber was war es dann? Solange er das nicht wusste, war es besser, auf nichts weiter einzugehen. Nein, er würde dem Drachenfänger nicht helfen.
Der Mann wartete einen Moment, dann lachte er erneut bitter auf. „Schön, dann eben nicht. Ich denke, ich finde auch so etwas.“ Damit wandte er sich um, der Mantel wehte leicht hinter ihm her, als er ebenso rasch verschwand, wie er aufgetaucht war.
Sen blickte ihm nach, bis er um die Ecke gebogen war, eine hohe, dunkle Gestalt vor den in der Abendsonne roten Ruinen, dann stieß er erleichtert die Luft aus. Obwohl er sich zuletzt sehr selbstsicher gegeben hatte mit seinem Schweigen, hatte er doch Angst gehabt.
Zeit, seinen eigenen Unterschlupf aufzusuchen, den er sich bereits ausgewählt hatte, dachte er – vielleicht war er dort ja sogar einigermaßen sicher.
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2015
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