Es klingelte zur Pause. Ich sah auf und entdeckte, wie meine beste Freundin seit dem Kindergarten, Dana, sich bei Fiona einhakte und mit ihr aus dem Klassenzimmer verschwand. Ich spürte einen kleinen Stich und begann langsam meine Bücher in meine Tasche zu räumen.
Jetzt, in der 12. Klasse, gab es keine richtigen, festen Klassen mehr. Wir hatten jetzt verschiedene Kurse, in denen immer verschiedene Schüler des Jahrgangs zusammen saßen, je nachdem, welche Kurse man für das Abitur gewählt hatte. Fiona war früher in einer anderen Klasse gewesen und wir hatten nicht viel mit ihr zu tun gehabt. Seit ein paar Wochen saßen sie und Dana jedoch in einigen Kursen beieinander und seitdem war ich abgeschrieben. Es schmerzte, dass unsere langjährige Freundschaft nicht mehr zu zählen schien. In war schüchtern und hatte noch nie viele Freunde gehabt, da ich einfach nicht auf Leute zugehen konnte und auch nicht gerne im Mittelpunkt stand. Dana war eigentlich meine einzige gute Freundin gewesen. Jetzt hing sie anscheinend lieber mit Fiona zusammen, die gerne immer im Mittelpunkt stand. Sie war einfach nicht so langweilig wie ich.
Ich ließ mir besonders viel Zeit beim Einpacken. Ich wollte nicht wieder die ganze Pause draußen im Pausenhof allein in einer Ecke stehen. Es war mir peinlich, dass man mich dort so allein sah. Es reichte schon, dass alle wussten, wie unbeliebt ich war. Sie mussten es nicht auch noch mit eigenen Augen sehen. Vielleicht sollte ich noch aufs Klo gehen. Ich musste zwar nicht, aber dann wären wieder ein paar Minuten der Pause vorbei.
Gedankenverloren starrte ich mich im Spiegel an. Ich war gerade 18 geworden. Meine hellbraunen, gelockten Haare reichten mir bis auf die Schulterblätter. Grüngraue Augen blickten mir entgegen. Mit meinem 1,73 m und 60 Kilo war ich Durchschnitt. Auch wenn ich meine Oberschenkel viel zu dick fand. Auch in Röcken oder Kleidern hasste ich mich. Darin sahen meine Hüften immer so breit aus. Da waren Jeans und lange Pullis doch viel besser.
Eigentlich war die Schule immer in Ordnung gewesen. Ich war keine schlechte Schülerin und es machte sogar manchmal richtig Spaß, Neues zu lernen. Vielleicht machte mich das ja zu einem Freak.
Jetzt wäre ich am liebsten morgens gar nicht mehr aus dem Bett aufgestanden, um sie alle nicht mehr sehen zu müssen.
Als ich aus der Toilette kam und auf den Pausenhof trat, sah ich Dana und Fiona an der Ecke stehen. Sie sahen mich auch, tuschelten kurz, kicherten und verzogen sich dann um die Ecke.
OK, das war deutlich gewesen. Ich drehte mich um und ging in die andere Richtung davon. Aufdrängen würde ich mich niemanden. Ein bisschen Stolz hatte ich auch noch.
Endlich klingelte es und die Pause war zu Ende. Wir hatten jetzt eine Doppelstunde Kunst.
„Heute wollen wir uns mal mit Plastiken beschäftigen“, erklärte unser Lehrer. „Jeder sucht sich einen Partner. Ich habe hier Gips und Mullbinden, so dass ihr jeweils von eurem Partner einen Gipsabdruck seiner Hand fertigen könnt.“
Ich schluckte. „Na suuuper. Vom Regen in die Traufe. Wahrscheinlich hatte ich das Glück, dass wir eine ungerade Anzahl Schüler waren und ich als letzte übrig blieb. Verstohlen ließ ich meinen Blick durch den Raum schweifen und fing an zu zählen: „1, 2, 3, 4…“.
„Sollen wir zwei uns zusammentun, Katharina?“ überrascht blickte ich auf und sah Corinna lächelnd hinter mir stehen. „J-j-ja, g-gerne“ stotterte ich. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Kein demütigendes: „Katharina ist übrig. Welche Zweiergruppe will sie als fünftes – oder hier drittes – Rad am Wagen haben.“
Schüchtern lächelte ich zurück und atmete einmal tief durch. „Ja, können wir machen.“
„OK, cool. Ich hol uns gleich ein bisschen Gips.“ Und schon lief sie nach vorne zum Lehrerpult.
Corinna war wirklich nett. Sie erzählte mir von ihrer Familie und ihrem kleinen Hund, der es faustdick hinter den Ohren hatte, so dass wir viel lachten. Ich war froh, dass sie die ganze Zeit redete. So kam kein unangenehmes Schweigen auf und ich hätte auch nicht gewusst, was ich von mir erzählen sollte. Mein Leben war einfach ereignislos. Vor lauter Quatschen schafften wir es gerade so, den Abdruck meiner Hand fertig zu bekommen. Ich war fast schon etwas enttäuscht, als die Doppelstunde zu Ende war und die zweite Pause anfing. Aber ich freute mich schon auf die nächste Kunststunde mit ihr, in der ich ihren Abdruck anfertigen würde.
„Kommst du mit? Ich sitze in der Pause mit Clara und Michaela immer unter der großen Kastanie.“
Fragend sah sie mich an. Ich nickte nur.
„Ok, cool“, meinte sie fröhlich und zog mich an der Hand hinter sich her.
Clara und Michaela saßen schon im Schatten der riesigen Kastanie, als Corinna und ich dort ankamen. Etwas verlegen betrachtete ich meine Füße, während Corinna fröhlich rief: „Hi ihr, wie war eure Musikstunde? Katharina kennt ihr ja sicher!“ und sich neben sie ins Gras fallen ließ. Ich verlagerte mein Gewicht noch ein paar Mal unsicher von einem Fuß auf den anderen, bevor ich mich unter den musternden Blicken von Clara und Michaela ebenfalls ins Gras setzte.
„Hi“, kam es mit etwas Verspätung von den beiden. Dann wandten sie sich wieder Corinna zu und fingen an, darüber zu jammern, wie unglaublich einem Frau Furtner doch die Musik mit ihrem langweiligen Unterricht vermiesen konnte.
„Hattest du Frau Furtner auch schon mal in Musik?“ Clara hatte ihren Blick auf mich gerichtet. Kurz zuckte ich leicht zusammen. Ich war ganz in Gedanken versunken und hatte überlegt, wie es nur gekommen war, dass ich jetzt hier mit diesen 3 coolen und hübschen Mädchen saß.
Michaela hatte glänzend schwarze, kinnlange Haare, die ein eher vornehm blasses Gesicht einrahmten. So stellte ich mir Schneewittchen vor… so weiß wie Schnee, so rot wie Blut, so schwarz wie Ebenholz. Clara hingegen hatte wunderschöne, lange blonde Haare und blaue Augen. Ich hatte sie schon immer bewundert. Sie war nicht ganz so groß wie ich, eher zierlich, aber es gab nur wenige Jungs, die ihr keine Blicke hinterherwarfen. Trotzdem war sie mit niemandem an unserer Schule zusammen. Naja… ich konnte sie verstehen. Zwei oder drei nette Jungs gab es in unserer Jahrgangsstufe. Die anderen waren meiner Meinung nach einfach nur arrogante Idioten. Es gab einige, mit denen ich noch nie auch nur ein Wort gewechselt hatte, die nicht einmal grüßten, wenn sie einem in der Stadt mal begegneten.
„Ja, vorletztes Jahr. Sie ist wirklich unglaublich langweilig.“ stimmte ich ihr zu.
„Ich sag’s ja“, grinste sie mich an.
Am nächsten Tag kam ich etwas später in die Schule. Ich hatte an unserem gemeinsamen Treffpunkt, von wo aus wir immer zusammen mit dem Fahrrad in die Schule gefahren waren, auf Dana gewartet, aber sie war nicht aufgetaucht. Da sah ich sie wieder mit Fiona neben dem Eingang stehen und rumalbern. Ich drehte mich schnell weg. Sie sollte nicht sehen, wie sehr mich das verletzte.
„Hi Katharina, hier sind wir!“ Corinna saß wieder mit Clara und Michaela unter der Kastanie und winkte mir so wild zu, dass sie fast umkippte. Mit einem vorsichtigen Lächeln auf den Lippen lief ich zu ihnen. War das gestern nicht nur eine vorübergehende Anwandlung von Nettigkeit gewesen, weil wir Kunstpartner waren? Hatten sie nichts dagegen, wenn ich auch heute wieder bei ihnen saß?
„Du hättest vor fünf Minuten schon hier sein müssen“ kicherte Clara. „Vorhin ist Herr Kaiser mit dem Rad angekommen und hat sich vorne am Bordstein voll auf die Schnauze gelegt. Es ist ihm nichts passiert, aber es schien ihm doch ziemlich peinlich zu sein. Er ist ganz rot angelaufen.“
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich mir das im Kopf vorstellte.
Dieses Grinsen blieb auch die nächsten drei Wochen in meinem Gesicht. Corinna, Clara und Michaela behandelten mich, als hätte ich schon immer dazu gehört. So ganz langsam taute auch ich auf und traute mich, mich immer mehr an ihren Gesprächen zu beteiligen.
Dann war es wieder Freitag. So sehr wie früher freute ich mich gar nicht auf dieses Wochenende, denn es war schön mit meinen neuen Freundinnen.
Wir standen draußen vor der Schule und verabschiedeten uns. Da kam Clara nochmal zu mir und fragte: „Du, hättest du Lust, heute Abend mit mir wegzugehen. Ich treffe mich mit ein paar Freunden im ‚Bronx‘.“ Erst war ich etwas verwirrt und wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war noch nie dort gewesen. Das ‚Bronx‘ war eine Bar mit Tanzfläche, also so eine Art Discobar oder Bar mit Disco oder wie auch immer. „Und Corinna und Michaela? Kommen die auch mit?“ wollte ich wissen. „Nein, da darf man erst ab 18 rein, die Ausweiskontrollen sind ziemlich streng und die beiden sind ja erst 17.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Um wie viel Uhr denn?“ fragte ich etwas gedehnt. Ich war mir noch nicht ganz sicher, ob das eine gute Idee war. „Um 21 Uhr. Ich komm dich mit dem Auto abholen. Bis dann.“ Sie drehte sich um und verschwand in ihrem Auto. Ich stand immer noch am selben Platz und versuchte erst einmal, die Gedanken, die plötzlich in meinem Kopf schwirrten, zu ordnen. Eigentlich hatte ich ja gar nicht zugesagt und ich wusste auch nicht, ob ich das überhaupt wollte. Aber ich wollte ja auch meine neue Freundin nicht gleich vor den Kopf stoßen und als Trantüte dastehen.
Würden wir nur zu zweit genug Gesprächsstoff haben, so dass es nicht peinlich wurde. Es war irgendwie anders, als Clique zusammen zu sein (da gab es immer Gesprächsstoff), wie nur zu zweit zu sein. Und außerdem hatte sie etwas von Freunden gesagt, mit denen sie sich treffen wollte. Was das wohl für Freunde sein würden? Von unserer Schule schienen sie ja nicht zu sein. Sonst hätte sie Namen genannt und nicht nur ‚Freunde‘ gesagt.
Hm… wenn ich weiter darüber nachdachte, dann hatte sie auch ‚Freunde‘ und nicht ‚Freundinnen‘ gesagt.
Ich merkte, dass ich immer noch am gleichen Platz stand und Löcher in die Luft starrte. Hastig nahm ich meine Tasche und lief zu meinem Fahrrad.
Mir war ganz flau im Magen und ich sprang hibbelig vom Bad in mein Schlafzimmer, zum Fenster und wieder zurück. Jeden Moment würde Clara vor unserer Haustür stehen, um mich abzuholen. Ewig war ich vor meinem Kleiderschrank gestanden und wusste nicht, was ich anziehen sollte. Letztendlich war ich doch wieder bei einer einfachen Jeans und einem figurbetonten Top gelandet. Nicht zu auffällig, aber für mich doch mutig. Zwei Mal hatte ich es aus und wieder angezogen, bevor ich mich endgültig entschieden hatte. Im Schminken hatte ich nicht so wirklich Erfahrung, also hatte ich nur etwas Mascara verwendet.
„Ding-Dong“. Immer 2 Stufen auf einmal nehmend sprang ich nach unten zur Haustür. Clara grinste mir entgegen: „Ich freu mich schon. Das wird bestimmt toll heute Abend.“ Naja, wenn ich mir da doch auch so sicher sein könnte. „Das denk ich auch. Ich bin schon richtig gespannt“, antwortete ich trotzdem und zog schnell die Haustür hinter mir zu, bevor meine Eltern zur Tür kommen und wieder mit ihren guten Ratschlägen beginnen konnten, die ich mir am Nachmittag schon zur Genüge angehört hatte. „Fahrt vorsichtig, trinkt keinen Alkohol, lauf nicht allein im Dunkeln durch die Gegend…“. Eltern halt.
Lang dauerte die Fahrt nicht, vielleicht 15 Minuten. Aber ich merkte, dass auch Clara nicht so ruhig war wie sonst.
„Wen treffen wir denn im ‚Bronx‘“, traute ich mich zu fragen. „Ach, Mike, Tobi, Raphael und Alex werden da sein. Die sind jeden Freitag dort. Deshalb wollte auch ich unbedingt dort hin. Mike ist ja soooo süß und soooo sexy!“ schwärmte sie mir vor.
„Ah, das ist es also“, schmunzelte ich in mich hinein.
Dann waren wir da. Ich stieg aus dem Auto und betrachtete das Gebäude. Ins Innere konnte man nicht sehen, da die Fenster mit irgendeiner Folie abgeklebt waren. Nervös fuhr ich mir mit der Zunge über die Lippen, als Clara sich bei mir einhakte und energisch und selbstbewusst Richtung Eingangstür steuerte. Sie öffnete die Tür und wir befanden uns auf einer tropischen Insel. Die Bedienungen hatten Baströcke an, überall standen Palmen – allerdings nicht die echten, sondern Teile aus Kunststoff -, die Tische waren mit Muscheln und Kokosnüssen dekoriert und die Wände zierten Großaufnahmen von tropischen Tieren und Landschaften. Nur die laute Musik und die Unmengen an Menschen, die sich hier drängten, passten nicht so ganz zu einer einsamen Tropeninsel.
„Ah, da drüben sind sie“, kreischte Clara mir ins Ohr. Und schon zog sie mich wieder hinter sich her. Ich hatte gerade noch Zeit, meinen vor Staunen offenen Mund zu schließen.
„Hi Jungs, darf ich euch Katharina vorstellen?“
„Katharina, das sind Mike…“
Mike hätte ich mir nach Clara’s Beschreibung „soooo süß“ etwas anders vorgestellt. Er war groß – und damit meine ich wirklich groß -, breitschultrig und sehr muskulös. Eher so der Bodybildertyp, der mich aber charmant anlächelte und mir die Hand hinstreckte. „Hi Katharina, schön dich kennenzulernen.“
„Tobi…“
Tobi war eher so der Durchschnittstyp, der mir jetzt auf der Straße nicht weiter aufgefallen wäre, aber auch er hatte ein nettes Lächeln und kam mir sympathisch vor.
„Alex…“
Hm. Alex war wirklich gutaussehend, aber was ich von dem Blick halten sollte, mit dem er mich von oben bis unten musterte, wobei er auf manchen Stellen etwas länger verharrte, bevor er mich anzüglich angrinste, wusste ich nicht so recht. Ich windete mich etwas unter seinem Blick und überlegte kurz, ob ich vielleicht einen schnellen Schritt hinter die Palme, die neben mir stand, machen könnte oder ob das etwas komisch rüberkäme. Vielleicht hätte ich doch bei meinen Pullis bleiben sollen.
„Hi, hübsches Top“, bestätigte er meine Befürchtungen dann auch noch und seine Mundwinkel bewegten sich noch ein Stück nach oben. Ich spürte schon, dass ich rot wie eine Tomate anlief. Mir wurde ganz heiß und ich verkrampfte mich, so unwohl fühlte ich mich plötzlich in meiner Haut.
Clara warf ihm einen kritischen Blick zu und schlug ihm gegen die Schulter: „Lass das! Untersteh dich!“ … und ich war ihr wirklich dankbar dafür.
„Und das ist Raphael“, fuhr sie fort, indem sie auf den vierten Kerl zeigte. Beinahe wäre meine Kinnlade, die ich, nachdem wir das ‚Bronx‘ betreten hatten, so gekonnt wieder geschlossen hatte, wieder nach unten gefallen. Raphael war einfach der Hammer. Er hatte schokobraune Haare – nicht so vollmilchschokobraun, sondern eher zartbitterschokobraun - die so lang waren, dass ihm einzelne Strähnen fast in die ebenfalls schokobraunen Augen fielen. Das Gesicht war so makellos perfekt wie das der Männermodells in den Fernsehwerbungen. Er sah zwar muskulös aus, aber nicht so bodybildermäßig, sondern eher sportlich durchtrainiert. Raphael warf mir nur einen kurzen Seitenblick zu, ohne den Kopf auch nur zu heben oder mich irgendwie sonst zu grüßen, und konzentrierte sich dann, ohne eine Miene zu verziehen, wieder ganz auf sein Handy, mit dem er wohl gerade eine SMS schrieb. „Wahrscheinlich an seine superheiße Modellfreundin“, dachte ich bedauernd. So ein Typ hatte gar nicht genug Arme, um alle Modellfreundinnen halten zu können, die sich ihm wahrscheinlich an den Hals warfen.
Mike holte vom Nachbartisch noch schnell zwei Stühle. Clara setzte sich natürlich sofort neben Mike, so dass mir leider nur der Stuhl zwischen Clara und Alex blieb. Innerlich seufzend setzte ich mich und begann meine Hände zu kneten, da ich nicht so recht wusste, was ich damit anfangen sollte. Dann kam auch schon die Bedienung und fragte, was wir zu trinken wollen. Clara bestellte sich einen Cocktail. Da ich keine Ahnung hatte, was sich hinter den ganzen Namen „Coconut Island“, „Cuba Shake“, „Malediven Mix“ verbirgt und auch keine Zeit mehr, mir die Karte genauer durchzulesen, bestellte ich mir einfach dasselbe. Etwas einfallslos, ich weiß, aber besser als die Bedienung wegzuschicken, so dass sie wegen mir nochmals kommen müsste. Das wäre ja oooberpeinlich.
Clara fing sofort an, sich angeregt mit Mike zu unterhalten. Da die Musik ziemlich laut war, konnte ich jedoch nicht verstehen, was sie sprachen und tat deshalb so, als gäbe es auf meinem Handy irgendetwas superinteressantes zu sehen.
Als sich plötzlich Alex zu mir beugte, so dass seine Haare meine Backe streiften, musste ich mich zusammenreißen, nicht zusammenzuzucken. „Wo hat sich denn eine Schönheit wie du die ganzen Jahre versteckt“, flüsterte er mir ins Ohr.
Hilflos zuckte ich mit den Schultern. Was hätte ich denn sagen sollen? Dass ich bisher keine Freundin hatte, die mit mir abends ausgegangen wäre? Dass ich mich sonst lieber unter weiten Pullis versteckte und figurbetonte Kleidung eher hasste?
„Erzähl doch mal was von dir“, versuchte er mir doch noch etwas zu entlocken.
Na super. Das war ja wohl absolut dämlich. Diesen Satz hasste ich genau sehr wie den Satz „Sag doch auch mal was!“. Als ob einem da auf die Schnelle etwas einfallen würde… wenn man nicht gerade Corinna hieß. Hihi.
„Geht’s auch etwas konkreter?“ versuchte ich mich also aus der Affäre zu ziehen.
„Naja, wo wohnst du, wie alt bist du, woher kennst du Clara… hast du einen Freund?“ Bei der letzten Frage fing er wieder an, über beide Ohren zu grinsen.
„Ich wohne in Mühlhausen. Ich bin 18. Aus der Schule und nein.“ Bei meinem „nein“ sprangen seine Augenbrauen kurz nach oben und das Grinsen wurde noch breiter, wenn das überhaupt möglich war.
So. Fragen abgehandelt. Und was jetzt?
Da kam Gott sei Dank die Bedienung zurück und stellte meinen Cocktail vor mich. So konnte ich vorgeben, richtig Durst zu haben und mich erst einmal meinem Getränk widmen. Ich nahm einen tiefen Zug und hätte beinahe alles wieder in mein Glas gespuckt. Da war ja richtig viel Alkohol drin. Oh Gott. Wenn ich den austrinken würde, könnte ich wahrscheinlich nicht mehr aufrecht stehen. Ich war doch keinen Alkohol gewöhnt und hatte heute Abend noch extra kaum etwas gegessen… enganliegendes Top und so. Ihr versteht?
Clara stand auf. „Wir gehen etwas raus an die frische Luft, kommst du mit?“
„Ja“, erleichtert sprang ich auch auf und folgte ihr. Ich stolperte, da ich übersehen hatte, dass unser Tisch ja etwas erhöht stand und ich erst einmal eine Treppenstufe nach unten musste. Ich wäre sicher auch voll auf die Nase gefallen, wenn mich nicht plötzlich von hinten jemand um die Taille festgehalten hätte. Ruckartig drehte ich meinen Kopf nach hinten. Raphael! „Danke“ stammelte ich und spürte, wie mir schon wieder das Blut in den Kopf schoss. Dummer verräterischer Körper. Da hatte er mich aber auch schon wieder losgelassen und lief ohne irgendein Wort und ohne dass sein Gesicht irgendeine Reaktion zeigte, an mir vorbei. Was hatte der Kerl nur für ein Problem? Dabei kribbelte es an meiner Taille, an der seine Hand gelegen hatte, immer noch. Naja. Wahrscheinlich hatte er so fast zupacken müssen, um mein Gewicht zu halten, und die Blutzufuhr abgeschnürt. Was sollte denn sonst der Grund sein?
Raphael stellte sich zu zwei fremden Kerlen, die auch hier draußen standen, und unterhielt sich mit ihnen. Aha. Er konnte also doch reden. Er hatte einen braunen Ledermantel an. Voll cool. Ich schmolz gleich noch mehr dahin.
Hier draußen war es ziemlich kühl. Es war schon Dezember und gestern hatte es schon leichten Bodenfrost gegeben. Ich schüttelte mich und zog meine Jacke etwas enger um mich. Sofort legte sich ein Arm um meine Schulter und Alex zog mich ein Stück an sich. „Ist dir kalt? Soll ich dich wärmen?“
Hastig machte ich wieder einen Schritt weg von ihm. „Nein, nein, geht schon wieder. Ich mach meine Jacke zu.“
Ich blickte kurz zu Raphael und sah, dass er mich musterte. Als sich unsere Blicke trafen, wandte er sich ab und konzentrierte sich wieder auf seinen Gesprächspartner.
„Ich glaube, ich hab dich schon mal gesehen“, sprach mich Tobi da an. „Kennst du Dana? Ich glaub, ich hab dich schon mal mit ihr zusammen gesehen. Dana’s und meine Eltern sind befreundet. Ist aber schon eine ganze Weile her.“ „Ja, wir sind… Freunde.“ Hoffentlich hatte er mein kurzes Zögern nicht bemerkt. Waren wir wirklich noch Freunde oder hätte ich lieber in der Vergangenheit gesprochen?
„Sie hat glaub ich Biologie und Erdkunde als Leistungskurse, oder? Was hast du denn?“
„Ja, hat sie. Ich hab Deutsch und Englisch.“ Es fiel mir wirklich erstaunlich leicht, mich mit Tobi zu unterhalten und die Zeit verging anscheinend wie im Flug. Wir saßen wieder drinnen. Alex war verschwunden, worüber ich doch etwas erleichtert war. Der Kerl machte mich nervös. Und als ich irgendwann auf die Uhr sah, war es bereits halb Eins.
„Du Clara“, stupste ich sie an. „Ich hab meinen Eltern versprochen, um Eins zu Hause zu sein und es ist bereits halb Eins.“
„Oh, aber es läuft gerade so gut“, flüsterte sie mir verschwörerisch zu. „Ich würde so gerne noch etwas bleiben. Aber ein bisschen ist es ja noch bis Eins.“
Der Zeiger bewegte sich immer weiter auf Eins zu und ich bekam ein schlechtes Gewissen, als ich sah, dass Mike Clara’s Hand hielt. Für sie schien es ja wirklich gut zu laufen.
Da stand Raphael auf. „Leute, ich pack’s jetzt. Ich muss morgen früher raus.“
Clara’s Gesicht hellte sich auf. „Ah, perfekt. Dann kannst du Katharina ja schnell nach Hause bringen. Dann kann ich noch etwas hierbleiben.“
„Er frisst dich schon nicht, keine Angst“, flüsterte sie mir zu. Sie hatte wohl meinen skeptischen Gesichtsausdruck bemerkt. So ganz sicher war ich mir da ja nicht, wenn ich seine Miene betrachtete.
Er zuckte mit den Schultern. „Ok“. Dann drehte er sich um und lief los. Ich winkte Clara noch zu und hetzte dann hinter ihm her. Das war jetzt alles so schnell gegangen und ich war so überrumpelt, dass ich mir gar keine Gedanken darüber machen konnte.
Draußen vor der Tür schloss ich endlich zu ihm auf und lief stumm neben ihm her. Irgendwie war mein Mund ganz trocken. Selbst wenn mir etwas eingefallen wäre, hätte ich wahrscheinlich keinen Ton rausgebracht. Das Schweigen war wirklich unangenehm und ich hörte meinen Kopf auf der Suche nach irgendeinem Gesprächsstoff schon fast rattern. Aber alle Zahnräder schienen zu klemmen und die Glühlampe, die über meinem Kopf hing, blieb dunkel.
Er schloss einen nachtschwarzen Audi auf und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Ich packte die Beifahrertür, zog daran und nochmals etwas fester, bis sie aufsprang und ich einen Schritt nach hinten torkelte, als sie plötzlich nachgab. Er musste ja wirklich denken, dass ich des Gehens und Stehens nicht mächtig war.
Er startete den Motor und wir fuhren weiter schweigend los.
„Wohin?“ fragte er, ohne den Blick von der Straße zu wenden.
Wohin, wohin? Ach, ja, meine Adresse! „Mühlhausen, Rosenau 6, gleich am Ortseingang die erste Straße rechts.“
Wieder Schweigen. Unruhig rutschte ich auf meinem Sitz hin und her und beobachtete ihn verstohlen von der Seite. Er war so perfekt. Kein Wunder, dass ich ihn nicht im geringsten interessierte. Da er immer noch keine Anstalten machte, sich mit mir zu befassen, sondern stattdessen das Radio aufdrehte, wandte ich meinen Blick schließlich nach draußen und beobachtete die vorbeiziehenden Häuser. Irgendwann waren wir dann auch am Ziel. Er hielt an. „Danke“, nuschelte ich. „Bitte“, erwiderte er. Ich wandte mich Richtung Tür und wollte sie öffnen, aber es funktionierte nicht. Ich spürte, wie er sich an mir vorbeibeugte und dabei mit seinem Oberarm meine Seite streifte. Er fühlte sich wunderbar warm an und meine ganze Seite begann zu kribbeln. Ein Schwarm Schmetterlinge, deren Lebensraum wohl mein Bauch war, erhob sich in meinem Magen und schwirrte aufgeregt umher. „Die klemmt manchmal“, erklärte er und schob sie mit einem kräftigen Ruck auf. Ja, das hatte ich auch schon gemerkt. Wie erstarrt saß ich in meinem Sitz und starrte die offene Tür an. „Bis bald“, riss er mich aus meiner Starre. „Ja, bis bald“, erwiderte ich und verließ fast schon fluchtartig das Auto. Beinahe hätte ich noch vergessen, die Tür zuzuschlagen, bevor ich meine Flucht Richtung Haustür fortsetzte. Im Haus lehnte ich mich erst einmal von innen gegen die Tür und atmete einmal tief durch, bevor ich mich auf den Weg in mein Zimmer im erste Stock machte.
Als ich dann endlich in meinem Bett lag, konnte ich lange nicht einschlafen, so viel Adrenalin hatte ich noch in den Adern. Aber irgendwann übermannte mich dann doch die Müdigkeit.
Der Rest des Wochenendes verlief ereignislos mit Hausaufgaben, Lernen auf die nächste Schulaufgabe und ein paar niveaulosen Fernsehserien. Umso mehr freute ich mich, Montagmorgen meine 3 neuen Freundinnen, und vor allem Clara wiederzusehen. Corinna und Michaela wollten natürlich bis ins kleinste Detail wissen, wie es Freitagabend gelaufen war. Clara erzählte Ihnen bis über beide Ohren strahlend, dass sie jetzt mit Mike zusammen sei. Die beiden waren natürlich ganz aus dem Häuschen und freuten sich riesig für sie. Die ganze Pause war Mike Gesprächsthema Nummer Eins. Ich fand es schön, auch in gewisser Weise „Insider“ zu sein und ein paar Bemerkungen zum Abend einwerfen zu können, überlegte aber nebenbei die ganze Zeit verzweifelt, wie ich das Gespräch von Mike auf Raphael lenken könnte, denn ich wolle wirklich gerne etwas mehr über ihn wissen, vor allem, ob er eine Freundin hat. Aber ich wusste einfach nicht, wie ich das Gespräch auf ihn lenken sollte, ohne zu verraten, wie es um meine Gefühle stand. So musste ich leider dumm bleiben.
Nach einer endlosen Schulwoche kam das nächste Wochenende und Clara stellte endlich, endlich die Frage, auf die ich jede Sekunde der letzten Woche sehnsüchtig gewartet hatte.
„Willst du dieses Wochenende wieder mit?“ Na und ob ich wollte.
Diesmal war ich mit Fahren dran. Wir gingen wieder ins Bronx. Das war wohl ihre Stammkneipe. Diesmal war ich mindestens genauso aufgeregt wie das letzte Mal, aber zusätzlich noch aus einem anderen Grund. Ich freute mich, Raphael wieder zu sehen.
Als wir durch die Tür traten, huschte mein Blick sofort auf der Suche nach ihm über die Tische. Nur wenige Sekunden später drückte eine Faust mein Herz zusammen und ließ es einen Herzschlag aussetzen. Dort saß er… und auf seinem Schoß saß ein supersüßes Mädchen, das gerade ihren Blick nach oben in sein Gesicht richtete und ihn anlächelte. Am liebsten wäre ich sofort umgedreht und hätte das Bronx wieder verlassen. Aber Clara, die in meinen Arm eingehakt war, entdeckte im selben Moment den Tisch mit den Jungs und zog mich darauf zu. Ich richtete meinen Blick auf den Boden, um Raphael und das Mädchen nicht ansehen zu müssen. Gleichzeitig schimpfte ich mich in Gedanken. Es war doch klar, dass jemand wie er eine Freundin hatte. Das hatte ich mir doch gedacht. Und was hatte ich eigentlich erwartet? Dass jemand wie er sich für mich interessieren würde? Klar hatte er das letzte Mal draußen kurz in meine Richtung geschaut. Aber wahrscheinlich hatte er gar nicht zu mir geschaut. Ich stand da ja schließlich nicht mutterseelenallein. Wahrscheinlich hatte er jemanden neben oder hinter mir angesehen. Wenn letzte Woche in der Schule wenigstens mal das Gespräch auf Raphael gekommen wäre. Dann hätte ich vielleicht schon von seiner Freundin gewusst und mich seelisch darauf einstellen können. Und außerdem kannte ich ihn doch gar nicht. Ich hatte ihn einmal gesehen. Da konnte man doch noch gar nicht verliebt sein. Das war ein Hirngespinst und es war eh am besten, das gleich im Keim zu ersticken. Er war ja wohl nicht der einzige Junge auf der Welt und wahrscheinlich auch nicht der hübscheste oder coolste.
Clara wandte sich gleich zu Mark und gab ihm einen Begrüßungskuss. „Hi Jungs, hi Moni“, grüßte sie dann in die Runde. „Ach ja, ihr kennt euch ja noch gar nicht!“ Katharina, das ist Moni, Raphaels Freundin – Moni, das ist Katharina. Wir gehen zusammen aufs Gymmi.“ „Hi“, lächelte Moni mich an. „Hi“, grüßte ich etwas unsicher zurück und versuchte zurückzulächeln, was nicht so ganz gelingen wollte. Tobi saß auch am Tisch und ich setzte mich auf den Stuhl zwischen ihm und Clara. Er war schon angetrunken und redete wirklich lustiges Zeug. Irgendetwas von einem Kodiakbären… ich kam nicht ganz mit bei dem Wirrwarr, das er redete, musste aber mehrmals lachen, weil er ganz in seiner Erzählung aufging, und auch wenn ich nicht einmal wusste, ob es überhaupt einen Kodiakbären gab, weil seine Geschichten doch ziemlich übertrieben schienen. Auch die anderen hörten ihm zu und schmunzelten und lachten darüber. Alex sah ich zuerst nicht, entdeckte ihn aber dann doch am Eck vor dem Gang zu den Toiletten, wo er wild knutschend mit einem Mädchen stand. Ich stieß Clara an und flüsterte ihr zu: „Ähm… ist das Alex’s Freundin da drüben? Wie heißt sie?“ Clara sah kurz rüber und grinste dann: „Die ist neu. Hm… ich weiß nicht, ob Freundin das richtige Wort ist.“ Da hatte ich ihn ja ganz richtig eingeschätzt.
Kurz darauf schnappte sich Moni einen leeren Stuhl vom Nachbartisch und schob ihn zwischen Clara und mich. „So. Wird Zeit für ein paar Mädelsgespräche!“ lächelte sie. Eigentlich wollte ich sie hassen. Aber das fiel mir wirklich schwer. Sie war auf Anhieb sympathisch und wirklich, wirklich süß mit den Sommersprossen auf ihrer Nase. Sie schien auch gerne sehr viel zu reden, fast wie Clara. Sie fragte mich sofort aus nach allem, was man halt so fragt, wenn man jemanden neu kennenlernt. Wo ich wohnte, wie alt ich war, ob ich Geschwister hätte…
Dann erzählte sie begeistert von der Marathon-Shoppingtour, die sie mit einer Freundin letztes Wochenende gemacht hätte, und von all ihren klamottentechnischen Errungenschaften und den Geschenken, die sie für ihre Familie und Raphael gekauft hatte. Ach ja – es war ja bald Weihnachten. Nur noch 1 Woche. Es war nett und ungezwungen mit ihr und sie schien sich auch super mit Clara zu verstehen. „Ich kann sie nicht hassen“, dachte ich resigniert. Im Grunde war es wieder ein lustiger Abend – jedenfalls, solange ich nicht zu Raphael sah, denn da fuhr doch jedes Mal wieder ein kleiner Stich durch mein Herz. Aber solange ich alle Gedanken an ihn wegschob und mich auf die anderen konzentrierte, war es in Ordnung.
Tobi war an diesem Abend wirklich in seinem Element. Er unterhielt den ganzen Tisch und wurde immer betrunkener, so dass er sich schon an mir festhalten musste, um sich noch aufrecht halten zu können. Raphael musste ihn am Schluss schon fast aus dem Lokal tragen, weil er selbst nicht mehr laufen konnte. Nur gut, dass ich ihn nicht heimfahren musste, sondern nur Clara. Nicht dass er am Ende noch in das Auto meiner Eltern gekotzt hätte. Auf dem Heimweg sah Clara mich von der Seite an: „Ich glaube, Tobi steht auf dich!“ Ganz verwirrt sah ich sie an: „Wie kommst du denn auf sowas?“
„Naja, ich habe einen Blick dafür“, zwinkerte sie mir verschwörerisch zu.
Als ich in meinem Bett lag, konnte ich wieder nicht schlafen. Der Abend hatte mich mal wieder zu sehr aufgewühlt. Wenn das so weiter ging, würde ich am Wochenende immer schlaflos bleiben, aber nicht, weil ich so spät heimkam. Einerseits musste ich immer wieder an Raphael und Moni denken, andererseits fragte ich mich, ob Clara mit ihrer Prophezeiung, dass Tobi auf mich stehen würde, Recht hatte. Was sollte ich davon halten. Er war wirklich nett, klar. Ich mochte ihn. Er war sympathisch, witzig, selbstbewusst, zwar eher durchschnittlich, aber sicher auch nicht hässlich. Da ich ja auch nichts Besonderes war, passten wir so gesehen eigentlich gut zusammen. Raphael war ja eh nur Schwärmerei. Er war genauso unerreichbar wie ein Boyband-Star für seine ganzen Teenie-Kreisch-Fans. Und da ich noch nie zu diesen gehört hatte, würde ich auch nicht so werden. Genau. Das war ein guter Plan. Den Rest würde ich einfach auf mich zukommen lassen.
In der darauffolgenden Woche waren es nur noch 2 Schultage, dann begannen die Weihnachtsferien. Am 24.12. bekam ich eine SMS von Tobi, ob ich am 25.12. abends auch zum Weihnachtslagerfeuer kommen würde. Sofort rief ich Clara an, um sie zu fragen, was es mit diesem Lagerfeuer auf sich hat. Sie entschuldige sich zuerst, dass sie Tobi meine Handynummer gegeben hatte, ohne mich vorher um Erlaubnis zu fragen, aber sie sei davon ausgegangen, dass es mir nichts ausmachen würde. Das tat es auch nicht. Ich fand ihn ja wirklich nett. Immerhin hatte ich damit schon wieder eine Verabredung für den nächsten Tag.
Dann erzählte Clara mir, dass das Lagerfeuer am 1. Weihnachtsfeiertag Tradition wäre bei ihnen und dass sie zwar vorher bei Mike wäre, sie mich aber natürlich gerne mitnehmen würden.
So packte ich mich am nächsten Tag richtig warm ein und wartete auf Clara und Mike. Mike’s Auto war schon fast voll. Auf dem Rücksitz saßen zwei Jungs. Mike stellte sie mir als seinen kleinen Bruder Florian und dessen besten Freund Georg vor. Gott, so viele neue Leute wie ich in den letzten 3 Wochen kennengelernt hatte, hatte ich vorher ja gar nicht gekannt. Ok. Etwas übertrieben, aber es kam schon nah hin. Wenn es mir niemand gesagt hätte, wäre ich nie darauf gekommen, dass Florian und Mike Brüder sind. Sie sahen sich wirklich überhaupt nicht ähnlich.
Florian sah wirklich lustig aus. Er hatte Raster, die wirr vom Kopf abstanden und ein breites Grinsen im Gesicht, das wirklich von einem Ohr bis zum anderen ging, und war im Gegensatz zu seinem Bruder eher klein. Gut, die beiden waren erst 16, wie ich gleich darauf erfuhr. Vielleicht würde er ja noch etwas wachsen. Was aber am meisten auffiel, waren seine leuchtend blauen Augen. Ich hatte noch nie so leuchtend blaue Augen gesehen.
Und sie hatten es faustdick hinter den Ohren. Die ganze Fahrt brachten sie Mike fast zur Weißglut. Aber so war das nun mal mit kleinen Geschwistern. Ich hätte wirklich auch gerne einen kleinen Bruder gehabt, besonders wenn er so lustig gewesen wäre wie Florian. Es war wirklich lustig, so dass ich die ganze Fahrt vor mich hin grinsen musste, und auch wenn ich sie eigentlich gar nicht kannte, fühlte ich mich komischerweise überhaupt nicht unwohl, wie das normal bei fremden Leuten der Fall war.
Als wir ankamen, prasselte das Lagerfeuer bereits. Um das Feuer herum waren Campingstühle und eine Bierbank gestellt. Es war mehr los, als ich gedacht hatte. Es waren schon 12 weitere Leute da. Mike lief zum Kofferraum und holte zusammen mit Florian und Georg 2 Feldbetten heraus. Diese stellten sie dann an den noch freien Platz um das Lagerfeuer. Raphael und Tobi waren noch gar nicht da, wie ich mit einem schnellen Blick in die Runde feststellte. Mike, Clara und Georg saßen bereits auf dem ersten Feldbett, so dass ich mich auf die Seite Richtung Clara auf das Feldbett setzte, auf dem auch Florian saß.
Das Feuer wärmte wirklich schön von vorne, so dass es gar nicht so kalt war. Trotzdem lief meine Nase etwas. Ich machte den Reißverschluss meiner Tasche auf und kramte wild darin herum. So eine Scheiße. Ich fand kein Taschentuch. Naja… bis auf eine leere Taschentuch-Plastikhülle. Taschentücher hatte ich natürlich nicht nachgefüllt. Wer dachte schon an sowas. Hoffentlich sah niemand, wie meine Nase lief.
„Was suchst du denn?“, wollte Florian wissen. „Taschentücher“, antwortet ich und wurde dabei nicht einmal rot. Fühlte sich auf jeden Fall nicht so an. Ich war stolz auf mich. Naja. Er war ja auch ein kleiner Junge. Für ein 18-jähriges Mädchen war ein 16-jähriger Junge auf jeden Fall ein „kleiner Junge“. Da hatte man nicht so viele Hemmungen.
„Warte mal, Taschentücher habe ich bestimmt“, teilte er mir wieder fröhlich über beide Ohren grinsend mit und fing an, genauso wild in seinen Hosentaschen zu wühlen. Er hatte eine schwarze Bundeswehrhose mit Seitentaschen an den Oberschenkeln an. Die waren ziemlich groß. Und wie groß, merkte ich erst, als er anfing, diese auszuleeren: 1 Päckchen Kaugummis, 3 Feuerzeuge, 1 kleiner Block, 2 Stifte, 1 Taschenmesser, 1 Leatherman-Tool, 1 Handy, 1 GPS, 2 Brausetütchen, von denen er mir auch eines gleich hinhielt, was ich aber dankend ablehnte, und am Schluss tatsächlich 1 ganzes Päckchen Tempos. Wobei ich nicht denke, dass das schon alles war. Da war bestimmt noch was in den Taschen. Ich staunte nicht schlecht, was man mir wohl auch ansah. Florian zuckte immer noch grinsend mit den Schultern und meinte nur: „Man weiß nie, wozu man das alles mal dringend braucht.“ Ich konnte gar nicht anders, als zurück zu grinsen bei diesem ansteckenden Lächeln.
Es war wirklich schön im Schnee am wärmenden Lagerfeuer und irgendwie auch romantisch. Die Flammen prasselten, das Holz knackte unter der Hitze und Florian hatte mir netterweise sogar einen Teil seiner Decke überlassen, so dass es nicht nur von vorne, sondern auch am Rücken schön warm war.
Irgendwann kamen Scheinwerfer den Wiesenweg entlang und als das Auto abgestellt wurde, erkannte ich auch den schwarzen Audi von Raphael. Auch Tobi stieg mit aus. Ich spürte, wie meine Nervosität rapide anstieg, wie bei einer Sprudelflasche, die geschüttelt und dann geöffnet wurde. Meine Augen folgten ihnen, während die beiden sich erst einmal etwas zu trinken aus dem Kasten, der auch mit am Lagerfeuer stand, holten, sich mit ein paar Leuten unterhielten und dann auch zu uns kamen. Tobi setzte sich zwischen mich und Clara, Raphael neben Florian, mit dem er sich dann auch gleich über irgendwelche Böller für Silvester unterhielt. So wie sich das anhörte, waren sie beide Pyromanen. Naja, wer außer Florian hatte schon 3 Feuerzeuge gleichzeitig dabei.
„Schön, dass du auch gekommen bist“, grüßte Tobi mich. Das machte mich gleich etwas verlegen, besonders da ich sofort an Claras Verdacht denken musste, dass er auf mich stehen sollte. Irgendwie wusste ich immer noch nicht, was ich davon halten sollte. Sollte das wirklich stimmen? Bisher hatte noch kein Junge wirklich Interesse an mir gezeigt. Einen Freund hatte ich natürlich auch noch nie gehabt. Irgendwie gefiel mir der Gedanke schon.
„Ja, es ist auch wirklich schön hier“, antwortete ich.
Er erzählte mir dann, was er zu Weihnachten bekommen hätte und dass Weihnachten wirklich anstrengend gewesen sei. Er hätte zusammen mit seiner Mutter und Oma gefeiert. Sein Vater war nicht dabei, da seine Eltern ja geschieden seien.
Nebenbei hörte ich mit einem Ohr, wie Raphael mit dem Handy wohl Moni anrief und fragte, ob sie jetzt schon wüsste, ob sie auch kommen würde. Doch wie es aussah, hatte sie keine Zeit, da er am Ende meinte: „Ok, dann bis übermorgen.“
Danach stand er auf und lief zum Kofferraum seines Autos. Dort angekommen rief er: „Hey, Tobi.“
Der sprang sofort auf und gesellte sich zu ihm. Hervor zauberten sie eine ganze Handvoll Silvesterböller. Das war’s dann mit der romantischen Lagerfeueridylle, denn sie hatten sie nicht nur zum Anschauen dabei. Wo sie die wohl her hatten. Wurden die nicht erst kurz vor Silvester verkauft? Gott sei Dank waren es nur krachende Böller und keine, die farbenfroh am Himmel explodierten. Ich zuckte so schon bei jedem Knall zusammen und bekam Angst, dass irgendwann die Polizei hier stehen würde. Wie sollte ich das dann nur meinen Eltern erklären. Ihre brave Tochter abgeführt von der Polizei… naja… einsperren würden sie einen wegen so etwas wohl nicht, aber vielleicht doch verwarnen oder etwas ähnliches. Auf jeden Fall fühlte ich mich ab da sehr unwohl in meiner Haut, auch wenn es allen anderen nichts auszumachen schien.
Die Böller hielten eine gefühlte Ewigkeit. So viel konnten das doch nicht sein. Da bogen wieder Scheinwerfer in den Feldweg ein. Mein Herz rutschte mir sofort in die Hosentasche und ich hielt die Luft an. Ich bildete mir schon ein, die grünen Steifen des Polizeiwagens zu erkennen. Langsam kam es den holprigen Feldweg entlang und immer näher.
Tag der Veröffentlichung: 14.10.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für all meine Freunde und meine Familie, die meinen bisherigen Lebensweg begleitet haben, immer für mich da waren und mir zur Seite gestanden haben. Denn ohne seine Freunde und seine Familie wäre jeder von uns ein komplett anderer Mensch.