Die Waise von Schloss Waldenburg
Ellen Gaber
1. Kapitel
„Meinen Sie nicht, Herr Manger, dass ich Aisha jetzt zureiten kann?" fragte die sechzehnjährige Komtesse Sita den Verwalter von Waldenburg.
Sita von Waldenburg wippte mit ihren langen Beinen, die in Jeans steckten, auf den Zehenspitzen hin und her. Es war ihre typische Haltung, wenn sie sehr gespannt war.
Herr Manger, der schon zu den Zeiten von Sitas Vater das Schloss Waldenburg verwaltet hatte, galt für Sita als Respektsperson. Er war ein ausgezeichneter Pferdekenner. Von seinem Urteil hing es ab, ob Sita die eben dem Fohlenalter entwachsene Araberstute nun endlich zureiten durfte.
„Wir können es ja mal probieren", schmunzelte Herr Manger und schob seine Pfeife in den anderen Mundwinkel. Lachend ließ er eine stürmische Umarmung der jungen Komtesse über sich ergehen.
„Herr Manger, Sie sind ein Engel!" rief Sita. Es fehlte nicht viel, da hätte sie dem biederen Mann einen Kuss auf die Backe gedrückt. Dann aber rannte Sita in den Stall zu Aishas Box. Der Verwalter sah den wippenden blonden Pferdeschwanz um die Ecke biegen und folgte gemächlich.
„Aisha, gleich darfst du mit mir hinaus. Wirst du dich auch gut benehmen und mich nicht abwerfen?" flüsterte Sita und streichelte das glänzend gepflegte, seidige Fell des Tieres. Aisha war das letzte Überbleibsel aus der ehemals berühmten Araberzucht des Grafen Waldenburg. Seit seinem tragischen Tod vor fünf Jahren ging es mit Schloss Waldenburg langsam bergab. Ein Pferd nach dem anderen wurde verkauft. Nur Aisha blieb auf Sitas inständiges Bitten.
„Stell dir vor, wie es Papa schmerzen würde, wenn du Aisha verkauftest!" hatte Sita zu ihrer Großmutter, der achtzigjährigen Gräfin Waldenburg, gesagt.
„Als Aisha geboren wurde, hat Papa sie schon für mich bestimmt!"
„Du hast Recht, Kind", hatte Gräfin Waldenburg zugegeben. „Lieber verkaufe ich etwas von meinem Brillantschmuck. Dafür wirst du doch nie Interesse haben!"
„Was soll ich mit dem Flitterkram!" hatte Sita verächtlich gerufen. „Aisha ist mir tausend-, nein Millionen Mal lieber."
Und nun saß Sita auf der widerstrebenden Stute und presste eisern die Schenkel an den Leib des Tieres.
Manger stand am Rand des kleinen Reitplatzes und auch andere Zuschauer hatten sich eingefunden, Leute vom Gut, die jetzt im Winter nicht viel zu tun hatten.
„Wenn das der Graf gesehen hätte!" sagte der alte Schmied, der nun fast arbeitslos geworden war.
„Seine Tochter kann doch ihren Vater, den berühmten Turnierreiter, nicht verleugnen." Stolz klang aus der Stimme des Schmiedes. Es war, als gehöre Sita zu seiner eigenen Familie.
„Ja, es ist ein Jammer, dass unser Graf damals mit seiner Frau in Südamerika ums Leben kam. Wäre er noch bei uns, dann ginge es mit Waldenburg nicht so bergab", seufzte Manger und klatschte gleichzeitig in die Hände. Sita hatte eben einen Abwurf geschickt vermieden. Es war ungeheuer, welche Energie in diesem zarten Persönchen steckte.
„Habt ihr das gesehen?" jubelte die Komtess. „Ich glaube, jetzt habe ich sie soweit!"
Doch kaum hatte Sita ausgeredet, da flog sie in hohem Bogen herab und landete im Sägemehl zu Mangers Füßen.
„Verdammt!" zischte die Komtess zwischen den Lippen. Sie nahm sich keine Zeit, das Sägemehl abzuklopfen, sondern lief dem Pferd nach, das selig ob seiner neu gewonnenen Freiheit davon galoppierte. Doch Aisha kam nicht weit, der kleine Platz war sicher eingezäunt. Bald hatte Manger das Tier am Halfter und Sita saß wieder auf.
Diesmal wagte Aisha keine Kapriolen mehr und nach einer weiteren halben Stunde wurde sie von einer triumphierenden Sita in den Stall geführt.
„Das haben Sie prima gemacht, Komtesse. Ihr Vater wäre stolz auf Sie gewesen!" lobte Manger.
Sita strahlte über das Lob, aber danach glitt ein Schatten über ihr Gesicht. Sie hatten ihren Vater sehr gern gehabt. Jede Erinnerung an ihn schmerzte sie aufs Neue.
„Soll ich Aisha nicht abreiben?" fragte Manger, um Sita abzulenken. Das junge Mädchen aber schüttelte den Kopf und fuhr fort, Aishas schweißglänzenden Körper mit Tuch und Bürste zu bearbeiten. „Bitte, das muss ich selbst tun, Manger. Wer seine Pferde nicht pflegt, ist es nicht wert, sie zu reiten!" Das hatte der Vater einmal zu seiner kleinen Tochter gesagt, als sie vergessen hatte, ein Pferd abzureiben.
Erst in der Halle des alten Schlosses Waldenburg bemerkte Sita, dass sie immer noch vom Sägemehl beschmutzt war. Sorglos klopfte sie die Jeans ab und wusch sich dann in dem kleinen Waschraum die Hände — ein Zugeständnis an ihre Großmutter. Dann betrat sie das gemütliche Wohnzimmer mit den uralten Eichenmöbeln.
„Sita, willst du etwa so zum Tee kommen?" rief die alte Gräfin aus ihrem Sessel am Kamin und musterte das junge Mädchen kopfschüttelnd.
„Entschuldige, Großmutter", stieß Sita hervor, ließ sich aber bereits in einem tiefen Sessel nieder und streckte die langen Beine aus. „Es ist so spät geworden heute, weil ich Aisha zugeritten habe. Da kam ich nicht mehr zum Umziehen."
Gräfin Waldenburg beugte sich weit über den Teetisch. Sie nahm das Lorgnon, das an einem Goldkettchen um ihren Hals hing, vor ihre kurzsichtigen Augen und starrte das junge Mädchen fassungslos an.
„Du hast Aisha geritten? Mein Gott, Kind! Was hätte da alles passieren können. Du bist aber auch zu wagemutig!"
„Keine Angst, Großmama. Ich bin noch heil", rief Sita lachend, streckte die Hände über das wärmende Feuer aus und rieb sie.
In dem Moment trat Lisbeth ein und brachte auf silbernem Tablett den Tee.
„Haben Sie es schon gehört, Lisbeth?" wandte sich die Gräfin an das Dienstmädchen. „Meine Enkelin hat heute die Araberstute zugeritten!" Ein klein wenig Stolz lag in der Stimme der alten Gräfin.
„Das habe ich gerade in der Küche gehört", nickte Lisbeth. „Es ist schon im ganzen Dorf herum, dass unsere Komtess reiten kann wie ihr seliger Vater!" Bei den letzten Worten nahm Lisbeth ihre weiße Schürze hoch und rieb sich die Augen.
„Ein so schöner und kluger Mann, der Herr Graf!" schluchzte sie.
Auch die Augen der Gräfin waren feucht geworden. „Ja, wenn er das noch erlebt hätte, mein armer Diederich!"
„Großmama, hier ist dein Taschentuch!" Sita war aufgesprungen und zog das Spitzentuch aus dem bestickten Pompadour der Gräfin.
„Danke, Kind!" flüsterte die Gräfin und tupfte sich die Augen trocken.
„Sie können den Tee eingießen, Lisbeth!" sagte sie dann mit ihrer normalen Stimme.
Obwohl Sita ihren Vater sehr gern gehabt hatte, zeigte sie bei dieser Szene wenig Rührung. Dafür wiederholte sie sich zu oft. Fast jeden Tag sah sie Großmutter und Lisbeth gemeinsam um den jungen Herrn schluchzen. Niemand aber erwähnte jemals, dass auch Mama bei diesem Autounfall in den Anden ums Leben gekommen war.
„Hat Mama eigentlich auch Pferde gemocht?" fragte Sita und sah die alte Gräfin gespannt an.
Diese setzte mit einem Ruck die zarte Porzellantasse auf ihren Unterteller zurück.
„Gewiss, Kind. Jedenfalls hat sie so getan. Sonst hätte sie mein Diederich ja auch niemals geheiratet!"
„Ich glaube, dass er sie auch so geheiratet hätte", sagte Sita und blickte entschlossen. „Mama soll eine sehr schöne Frau gewesen sein. Und sehr klug dazu."
„Das stimmt Kind. Nur leider war sie von niedrigem Adel. Das war sehr bedauerlich für deinen Vater, den Grafen. Prinzessinnen haben ihm zu Füßen gelegen und er brachte deine Mama, eine arme Waise ohne Familie."
Abermals hielt die Gräfin das Spitzentaschentuch an die Augen.
„Ich meine, dass Klugheit und Schönheit eine Frau begehrenswerter machen als ein leerer Titel. Heute sind Titel sowieso lächerlich!"
Sita erhob sich und schickte sich an, nach diesem schockierenden Satz das Zimmer zu verlassen.
Ein leiser Aufschrei der Großmutter ließ sie zusammenfahren und zurückblicken.
„Sita! Wie kannst du nur so etwas äußern! Du weißt nicht, was du redest! In fast allem bist du deinem Vater ähnlich, aber in diesem nicht. Das hast du von ihr!"
Da Sita merkte, dass die alte Dame aufs Äußerste erregt war, setzte sie sich wieder hin.
„Ich habe es ja nicht so gemeint, Großmutter!" begütigte sie ihre raschen Worte. „Wollen wir nicht eine Streitpatience miteinander legen?"
Es kam nicht oft vor, dass die Enkelin ein solches Angebot machte. Sita war ein Mensch, der sich am wohlsten draußen in der frischen Luft fühlte. Alle Beschäftigungen im Hause waren ihr zuwider. Und nicht besonders angenehm waren ihr die Streitpatiencen, die sich oft vom Tee bis zum Abendbrot hinzogen. Aber jetzt hatte sie die Möglichkeit, die höchst erregte alte Dame zu beruhigen. Bald beugten sich der blonde junge Kopf und der alte weißhaarige einträchtig über die Spielkarten.
Erst als die alte Standuhr auf der Diele die siebente Abendstunde schlug, fegte die alte Gräfin die Spielkarten zusammen und nickte der Enkelin zu.
„Du kannst noch eine halbe Stunde hinaus, bis es Abendbrot gibt. Zieh dir aber etwas über, es ist sehr kalt!"
Dankbar erhob sich Sita von ihrem Martersitz und stelzte mit hohen schlanken Beinen in die Halle hinaus. Dort nahm sie einen alten Pelzmantel vom Garderobenhaken und warf ihn über.
Draußen war es dunkel geworden und es hatte begonnen zu schneien. Sachte fielen die Flocken und deckten Waldenburg zu. Die Steinmauer, die sich um das Schloss und seinen Park zog, leuchtete in der Dunkelheit mit ihrem weißen, kalten Belag und die alten Bäume standen wie verzauberte Gestalten im Schnee.
Sita hatte jetzt keinen Blick für die Schönheit ihrer Heimat. Sie eilte zu den Ställen.
„Aisha, meine Aisha!" Zärtlich kraulte das junge Mädchen den Kopf des Pferdes. Wiehernd warf die Stute die blonde Mähne in die Luft. Dann rieb sie die Nase an Sitas Ärmel.
„Du magst mich gern, nicht wahr?" flüsterte Sita in das Pferdeohr. Dann drückte sie einen Kuß auf den weißen Fleck über der Nase des Tieres.
„Passen Sie auf, Komtess, mit Aisha werden Sie noch gewaltige Erfolge auf den Turnieren erringen. In der Stute steckt etwas, das habe ich immer gesehen."
Verwalter Manger war hinzugetreten und nahm sogar die Pfeife aus dem Mund, als er Sita ansprach.
„Ja, meine Aisha ist in Ordnung", sagte das junge Mädchen. „Aber ob ich mit ihr Turniere reiten kann, ist noch sehr fraglich."
„Ja aber warum denn nicht?" wunderte sich Manger. „Sie haben doch selbst immer davon gesprochen, Komtesse?"
„Ich muss ja weg von hier!" klang es mit Grabesstimme von den Lippen des jungen Mädchens. „Mein Vormund möchte, dass ich ein Internat besuche!"
Über diese Auskunft war Manger ehrlich erschrocken. „Ich wusste ja gar nicht, dass Sie einen Vormund haben, Komtesse. Dachte immer, die Gräfin sei Ihr Vormund. Und in ein Internat will er Sie stecken? Der hat Sie bestimmt noch niemals gesehen, wie Sie auf einem Pferd über unsere Felder geritten sind. Sonst würde er Sie nicht einsperren wollen."
„Nein, er kennt mich nicht. Er wohnt ja auch in Amerika!" sagte Sita traurig.
„So weit weg? Ist er verwandt mit Ihnen, Komtesse?"
Sita schüttelte den Kopf. „Nein, verwandt nicht. Er ist der beste Freund meines Vaters. Meine Großmutter hat ihm geschrieben und ihn gebeten, die Vormundschaft für mich zu übernehmen, weil sie ja nicht mehr ewig leben wird."
„Will er Sie denn gar nicht mal besuchen? Er kann doch nicht einfach anordnen, Sie wegzuschicken, wenn er Sie gar nicht kennt?"
„Sicher will er einmal kommen. Er hat aber so viele Bücher zu schreiben, dass er es nie schafft Er ist ein bekannter Schriftsteller, wissen Sie!"
„Ja. ich verstehe", nickte Manger traurig, obwohl er gar nicht alles verstand. Dann klopfte er der jungen Komtess beruhigend auf die Schulter.
„Es wird sich alles noch finden, Komtess. Regen Sie sich man gar nicht vorher auf."
„Tu ich auch nicht!" Sita lachte schon wieder.
„Es ist nur so ärgerlich, wenn jemand, den man überhaupt nicht kennt, einem in sein Leben hineinpfuschen will."
Aisha wurde ein letztes Mal gestreichelt, dann verließ Sita den Stall und trat hinaus in das Schneetreiben.
„Tschüss, Herr Manger", rief sie und rannte hinüber zum Schloss.
„Armes Ding!" sagte der Verwalter vor sich hin und schickte sich an, den Stall für die Nacht fertig zu machen.
Sita lief hinauf in ihr Erkerstübchen und zog sich zum Abendessen um. Sie vertauschte Jeans und Pullover mit einem schmucklosen Wollkleid, das jede herrschende Mode verleugnete. Dann strich sie ein paar Mal mit der Bürste über das glänzende blonde Haar und war fertig.
„Wir müssen dir unbedingt noch eine neue Garderobe machen lassen, Kind!" sagte die Großmutter nach einem kritischen Blick auf Sitas altes Kleid.
„Wieso, dies ist doch gut genug. Ich trage es nur zu den Mahlzeiten. Sonst habe ich doch immer meine Hosen an."
„Die werden in dem Internat wohl unbrauchbar sein, Sita." Gräfin Uhlenburg sah von ihrem Fasanenbraten auf und seufzte. Es fiel ihr so schwer, das Kind zu entbehren. Aber Jan von Selba, Sitas Vormund, hatte Recht. Sita musste noch etwas dazulernen. Sie konnte sich nur mangelhaft in einer Fremdsprache ausdrücken und mit Mathematik sah es ganz trübe aus.
„Großmama!"
Sita legte mit einer flehenden Gebärde die Hand auf den Arm der Großmutter.
„Großmama, du darfst es nicht zulassen, dass ich in dem Internat eingesperrt werde. Du weißt, es würde mir das Herz brechen!"
„Unsinn, ich war auch in einem Internat für höhere Töchter. Es hat mir nichts geschadet, es war im Gegenteil sehr lustig. Du wirst endlich einmal Altersgenossinnen haben, mit denen du reden kannst!"
Energisch rückte nun die Gräfin dem Braten zuleibe und zerteilte ihn beinahe wütend. Wenn das Kind noch ein Wort sagte, würde sie weich werden und an Jan von Selba schreiben, das ahnte sie.
„Der Fasan ist wunderbar zart, der Oberst hat ihn uns gebracht“, lenkte sie vom Thema ab.
Aber Sita sagte gar nichts mehr. Lustlos stocherte sie in dem köstlichen Essen herum. Einmal fiel eine Träne mitten auf den Teller. Die Gräfin schien es nicht zu bemerken.
Dann brachte Lisbeth den Nachtisch, eingemachte Mirabellen.
„Nein, ist das ein Schneetreiben heute", bemerkte sie und hielt erschrocken inne. In den Augen der jungen Komtess standen ja Tränen. Sicher war wieder von diesem unseligen Internat die Rede. Aber sie, Lisbeth, wollte sich hier nicht einmischen. Die alte Gräfin musste selbst wissen, dass Sita für so etwas nicht geeignet war.
Sita aß ein paar Mirabellen und schob dann den Kristallteller von sich fort.
„Darf ich jetzt nach oben gehen, Großmama?" bat sie.
Die Gräfin nickte. „Ja, leg dich nur schlafen, Kind. Du hast einen anstrengenden Tag hinter dir."
Sita hauchte einen Gutenachtkuss auf die Stirn der Gräfin und ging hinaus.
Als Sita oben in ihrem weißen Jungmädchenbett lag, konnte sie lange nicht einschlafen.
„Wenn sie mich in das Internat stecken, breche ich aus und laufe davon!" nahm sie sich vor. Was danach werden sollte, darüber machte sie sich in ihrem sechzehnjährigen Köpfchen keine Gedanken. Vor ihrem inneren Auge gaukelten lockende Bilder von internationalen Turnieren, aus denen sie immer als Siegerin hervorging. Schließlich schlief Sita von Waldenburg ein. Auf ihren Lippen lag ein zuversichtliches Lächeln.
In das Frühstückszimmer schien am anderen Morgen die helle Wintersonne. Sie gleißte auf der silbernen Kaffeekanne und auf dem weißen Haar der alten Dame.
„Guten Morgen, Großmama!" sagte Sita und ließ sich am appetitlich gedeckten Frühstückstisch nieder.
„Du riechst so frisch nach Winterluft, Kind. Warst du schon draußen?"
„Aber klar, ich musste doch Aisha bewegen. Wir waren bis zur alten Mühle!" sagte Sita und schnitt sich ein Brötchen auf.
„Es ist herrlich draußen, ich wollte ich könnte auch einen Spaziergang machen", seufzte die Gräfin und sah sehnsüchtig auf das glitzernde Weiß vor den Fenstern, das den Rasen bedeckte.
„Ich nehme dich nachher unter den Arm, Großmama. Pass auf, wie die Luft dir guttun wird!" versprach Sita.
„An einem solchen Tag habe ich mir den Oberschenkel gebrochen", meinte die Gräfin misstrauisch.
„Da war auch niemand bei dir. Ich weiß noch, wie du im Schnee lagst, Großmama, es war schrecklich." Sita sah die alte Dame mitleidig an.
„Gottlob bin ich aber sonst gesund. Das können nicht viele in meinem Alter sagen", bemerkte die Gräfin stolz.
Sita nickte. „Darum musst du auch hinaus, es gibt nichts Gesünderes als frische Luft!"
Lisbeth erschien und brachte auf silbernem Teller die Morgenpost.
Es war nicht viel, was Gut Waldenburg an Post erhielt. Meist waren es nur Reklamesendungen, die die alte Gräfin ungelesen fortwarf. Aber heute war ein Luftpostbrief dabei. Sita reckte neugierig den Hals.
„Ah, Jan von Selba schreibt mir!" sagte die Gräfin befriedigt und nahm den Brieföffner zur Hand.
Sitas Herz hörte einen Augenblick zu schlagen auf. Was würde sich ihr
Vormund wieder an neuen Quälereien für sie ausgedacht haben?"
Nach, wie es Sita schien, endloser Zeit ließ die Gräfin das Briefblatt sinken.
„Jan von Selba besucht uns in der nächsten Woche!" sagte sie. Über ihr Gesicht ging ein Leuchten. „Ich freue mich so, ihn zu sehen. Er war zuletzt mit deinem Vater zusammen. Wie werden wir plaudern können!"
„Und schreibt er nichts von dem Internat?" Ängstlich schielten Sitas grüne Augen nach dem Brief.
Die alte Gräfin lächelte. „Er will dich erst kennen lernen, bevor er Entscheidungen über deine Zukunft trifft. Er schreibt, er ist es Diederich schuldig, dass er sich von jetzt an sehr viel mehr um dich kümmert."
„Das könnte er meinetwegen ruhig bleiben lassen", meinte Sita ungezogen.
„Du wirst dich sehr höflich und nett gegen Jan von Selba betragen, Kind. Willst du mir das versprechen?“
Gräfin Waldenburg legte ihre alte Hand beschwörend auf die ihrer blutjungen Enkelin und sah diese an.
„Wenn er sich fair gegen mich verhält, wird er über schlechte Behandlung nicht zu klagen haben", meinte Sita und zog ihre Hand fort.
„Ich will jetzt deinen Mantel holen, Großmama. Das Wetter ist zu verlockend. Nachher soll es wieder schneien, meint Manger!" Sita hatte sich erhoben und verließ auf ein Nicken der Gräfin hin das Frühstückszimmer.
Bald darauf sah man Großmutter und Enkelin einträchtig im Park spazieren gehen. Gräfin Waldenburg sprach von dem zu erwartenden Besuch und Sita hörte höflich zu, obwohl Jan von Selba ihr herzlich gleichgültig war.
„Dein Vater hat ihn in Südamerika kennen gelernt", plauderte die Gräfin. „Jan von Selba war zu Gast auf der gleichen Ranch wie deine Eltern. Es hat mich immer gewundert, dass eine Freundschaft zwischen deinem doch immerhin sehr viel älteren Vater und diesem Schriftsteller zustande kam. Er muss ein sehr interessanter und anregender Mann sein, Sita. Auf Waldenburg wird es nicht langweilig sein, wenn er da ist."
„Wie lange will er denn bleiben? Hoffentlich nicht monatelang?" fragte Sita ungastlich.
„Solange wie er Zeit hat, Kind. Ich habe ihm angeboten, Waldenburg als seine zweite Heimat zu betrachten."
„Na denn Prost!" meinte Sita.
In der folgenden Woche wurde Schloss Waldenburg auf Hochglanz gebracht. Obwohl der Weihnachtsputz gerade erst vorbei war, wurden aufs Neue die Spitzenvorhänge im Wohnzimmer gewaschen, die alten, fadenscheinig gewordenen Teppiche geklopft. Sita musste mit Lisbeth zusammen das Familiensilber putzen, von dem nicht mehr viel übrig war. Die Großmutter hatte das meiste zu ihrem großen Schmerz veräußern müssen, um dringende Rechnungen zu bezahlen.
Es blieb ihr kaum noch Zeit für ihre Ausritte, denn das Personal auf Waldenburg war knapp. Dies alles verbesserte nicht gerade ihre Gefühle gegen den unerwünschten Gast.
„Meinst du, dass er diese Bücher alle zu sehen wünscht?" fragte Sita skeptisch ihre Großmutter. Nach dem Silberputzen wurde sie in der Bibliothek zum Abstauben gebraucht.
„Als Schriftsteller wird er großes Interesse haben an Diederichs Sammlung. Da nimm mal die botanischen Werke vor Kind. Mit dem Pinsel lassen sich diese Bücher sehr gut reinigen."
Die alte Gräfin war in ihrem Element. Wie lange hatte man keinen Gast mehr auf Waldenburg gehabt! Eifrig humpelte sie an ihren Krücken hin und her und sah überall nach dem Rechten.
Endlich kam der von Sita mit ängstlicher Spannung, von der Gräfin mit freudiger Erwartung ersehnte Tag.
Gräfin Waldenburg trug ihr allerbestes Seidenkleid. Es war silbergrau und den Kragen bildete ein cremefarbenes Spitzengeriesel auf dem ein goldenes Medallion funkelte. Sehr würdig sah sie aus, die alte Dame, als sie sich von Jan von Selba mit einem Handkuss im Wohnzimmer begrüßen ließ.
Sita stand in einer Nische am Fenster, als Jan hereingeführt wurde. Misstrauisch musterte sie den Freund ihres Vaters. Er sah viel jünger aus als
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 03.06.2020
ISBN: 978-3-7487-4431-3
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