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1. Kapitel

„Er muss betrunken sein!“

Linda von Merlingen riss das Steuer ihres Kleinwagens herum. Aber die schmale, mit Apfelbäumen gesäumte Landstraße ließ es nicht zu, dass sie dem dunkelblauen Cabrio vor ihr völlig ausweichen konnte.

Das junge Mädchen schloss die Augen.

Dann erfolgte ein ohrenbetäubendes Knirschen von Blech, ein Stoß, der Linda erst vom Sitz riss und dann gegen das Lenkrad presste.

Danach war es still.

Linda öffnete die Augen und betastete vorsichtig ihre beiden Arme. Dann glitten ihre Hände über den himmelblauen Pullover in Rippenhöhe. Da tat es ein bisschen weh.

„Nichts passiert“ stellte sie erleichtert fest und versuchte, die Tür zu öffnen. Das gelang ihr nicht, die Tür bestand nur aus zusammengeschobenem Blech. Sie spähte über zerbrochene Scheiben zu dem anderen Wagen hinüber.

Das Cabrio stand halb im Straßengraben zwischen zwei Apfelbäumen. Sie konnte den Hinterkopf des Fahrers erkennen. Er bewegte sich nicht, starr schien der Mann geradeaus zu blicken.

„Hallo, sind Sie verletzt?“ rief Linda aus ihrem zertrümmerten Fenster.

Der Mann rührte sich nicht.

Linda krabbelte über den Beifahrersitz und öffnete die rechte Tür ihres Kleinwagens. Dann stand sie auf der sonnigen Landstraße und lief zu dem Cabrio hinüber. Über den dunkelblauen Lack liefen rote Spuren – Farbteilchen von Lindas Kleinwagen.

Als Linda in das Cabrio spähte, rührte sich der Mann.

„Was ist geschehen?“ fragte er benommen und fuhr sich mit der Hand zunächst über die Stirn, dann durch das dichte blonde Haar. Verwirrt blickte er in das hübsche Mädchengesicht, das sich über ihn beugte.

„Ich dachte, Sie seien betrunken!“ sagte Linda, „aber jetzt sehe ich, dass Sie es nicht sind. Warum nur fing Ihr Wagen plötzlich an zu schleudern? Die Straße hier ist weder nass und glatt noch hat sie eine Kurve!“ Sie schüttelte bekümmert den Kopf. „Sie haben meinen Wagen ganz schön zugerichtet!“ klagte sie.

Der Ausdruck seiner stahlblauen Augen wurde jetzt klarer. Er schien zu sich zu kommen. Schließlich schwang er seine langen Beine über die Tür des Cabrios und stand neben Linda auf der Landstraße.

„Kommen Sie hier an den Rand, damit Sie nicht überfahren werden!“ sagte er im Befehlston und zog sie mit einer Hand unter die Apfelbäume.

Linda blickte ihn erstaunt an. Er überragte sie um mindestens einen Kopf und er war der am besten aussehende Mann, den sie jemals zu Gesicht bekommen hatte. Sein Gesicht war gut geschnitten mit der hohen Stirn, der kühnen Nase und seine Augen waren unglaublich blau.

Sein hellgrauer Sommeranzug verriet einen erstklassigen Schneider. Lindas Augen flogen von ihm zu seinem Wagen hinüber. Das Nummernschild wies ihn als Hamburger aus. Hamburg war ungefähr einhundert Kilometer entfernt von diesem kleinen Heidenest, dessen Kirchturm Linda in der Ferne sehen konnte.

Der Mann neben ihr hatte dasselbe getan wie sie.

„Sie sind aus München?“bemerkte er nach einem Blick auf ihren böse zugerichteten Wagen.

Sie nickte und konnte plötzlich nicht verhindern, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Verstohlen wischte sie sie weg. Aber er hatte es bemerkt.

„Tut Ihnen etwas weh?“ fragte er erschrocken.

Sie schüttelte den Kopf mit den blonden langen Haaren.

„Mir ist wirklich nichts passiert, versicherte sie ihm mit gepresster Stimme. „Ich weine nur um Otto. Ich habe ihn noch nicht sehr lange.“

„Otto? Um Himmels Willen, wo ist er? In ihrem Wagen ist doch niemand mehr. Er spurtete mit seinen langen Beinen auf die andere Straßenseite.

Da brach Linda unerwartet in helles Gelächter aus, so dass er verdutzt zu ihr hinüber schaute. Hatte sie etwa einen Schock erlitten?

„Otto heißt doch mein neuer Wagen“, erklärte Linda. „Es ist die erste längere Fahrt, die ich mit ihm mache und nun ist er schon kaputt!“

Er lachte erleichtert und kam wieder zu ihr herüber.

„Da nun fest steht, dass niemand von uns ernstlich verletzt ist, möchte ich mich zunächst mit Ihnen bekannt machen. Mein Name ist Deutze, Dirk Deutze.“ Er machte eine förmliche Verbeugung vor ihr.

„Ich bin Linda von Merlingen.“ Sie gab ihm die Hand, die er freudig ergriff.

Es freut mich sehr, Sie kennen zu lernen, Fräulein von Merlingen. Wenn auch die Umstände etwas, nun sagen wir, ungewöhnlich sind!“

Dann wurde er ernst.

„Es tut mir sehr leid, Fräulein von Merlingen. Ich habe überhaupt keine Erklärung dafür, wie das passieren konnte.“

„Vielleicht waren Sie sehr müde?“ fragte Linda und suchte vergeblich in seinem gebräunten Gesicht nach Spuren von Überanstrengung und Müdigkeit.

Er verneinte es sofort. „Ich bin im Urlaub, habe also keinen Grund, müde zu sein. Mein Haus ist übrigens knapp einen Kilometer von hier. Ich mache Ihnen den Vorschlag, dorthin mit zu kommen. Dann können wir dort eine Werkstatt anrufen.“

„Und die Polizei“, sagte Linda.

„Die Polizei brauchen wir nicht. Alle Kosten, die Ihnen entstehen, übernehme ich selbstverständlich. Wollen Sie nicht einsteigen?“

Er hielt seine Tür offen.

„Erst muss ich sehen, ob Otto noch fährt. Ich kann ihn doch nicht einfach so zurück lassen.“

Sie lief über die Straße und kletterte durch die Beifahrertür zu ihrem Sitz. Sie drehte den Zündschlüssel herum und trat auf die Kupplung.

Otto rührte sich nicht.

Er stand neben ihr und beobachtet ihre vergeblichen Versuche, Otto in Gang zu bringen, halb amüsiert, halb ungeduldig.

„Ich glaube, es hat wirklich keinen Zweck“, sagte sie und kletterte wieder heraus.

„Otto wird wie neu werden, das verspreche ich Ihnen. So und nun nehmen wir noch Ihr Reisegepäck aus dem Kofferraum, das werden Sie brauchen.“

„Ja, natürlich, das kann ja nicht hier drin bleiben!“

Sie wollte ihm helfen, doch er hatte schon den kleinen Gepäckraum geöffnet und ihren Koffer herausgenommen.

Dann saß sie neben ihm im Cabrio und warf einen Blick auf den immer kleiner werdenden Otto.

„Meine Mutter wird sich freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen“, sagte Dirk Deutze als sie durch das Heidedorf fuhren.

„Sie haben Ihre Mutter mit in den Urlaub genommen?“ erkundigte sich Linda höflich, obwohl sie es seltsam fand. Hatte dieser blendend aussehende Mann keine Frau oder wenigstens eine Freundin?

„Mutter lebt ständig in unserem Landhaus hier. Ich besuche sie oft an den Wochenenden, wenn ich mich in Hamburg frei machen kann. Es ist ja nicht weit.“

Er bog mit Schwung in eine breite Auffahrt ein, die von dicht stehenden Lindenbäumen überschattet war. Dann hielten sie vor einem Landhaus, das diesen Namen eigentlich nicht verdiente. Es war eher ein Schlösschen, das da, eingebettet in weite grüne Rasenflächen, in der Sonne lag. Der imposante Bau war aus rotem Backstein wie fast alle Heidehöfe hier. Weiße Sprossenfenster, die sich bis zum Boden zogen, gaben ihm ein heimeliges Aussehen. Die Schlossähnlichkeit wurde durch zwei Türme erreicht, die sich zu beiden Seiten des Eingangportals erhoben

„Das ist der Deutzehof“, erklärte Dirk. Meine Vorfahren stammen von hier. Vor zweihundert Jahren war das ein schlichter Bauernhof. Dann kam ein Deutze zu Geld und ließ ihn erweitern. Gefällt es Ihnen?“

„Es ist wunderschön!“ sagte Linda und ließ sich von ihm aus dem Wagen helfen.

Er führte sie über einen weißen Kiesweg, vorbei an Blumenrabatten zur Tür des Mittelflügels.

Durch eine Halle, die schachbrettartig mit schwarzen und weißen Fliesen ausgelegt war, kamen sie zu einer hohen dunklen Eichentür, die Dirk Deutze öffnete.

In einem sonnendurchfluteten eindrucksvoll großen Raum stand eine ausladende Sitzgruppe in der Mitte. Auf dem Sofa, das zum Garten gerichtet war, saß eine Frauengestalt, die sich beim Eintritt der beiden erhob.

„Bist du schon wieder da, Dirk?“ fragte sie und blickte dann Linda an. Diese kam sich in ihren zerknitterten Leinenhosen und dem blauen Pullover etwas schäbig vor, angesichts der eleganten Erscheinung von Dirks Mutter.

„Darf ich dir Linda von Merlingen vorstellen, Mutter?“ sagte Dirk. „Wir haben auf eine etwas merkwürdige Art Bekanntschaft miteinander geschlossen.“

„So?“ Die alte Dame reichte Linda die Hand und sah sie dabei prüfend an.

„Wir hatten auf der Landstraße durch meine Schuld einen Zusammenstoß. Dabei ist Fräulein von Merlingens Kleinwagen ziemlich beschädigt worden...“

„Um Gottes Willen, Dirk. Du sagst, durch deine Schuld? Das musst du mir erklären, du bist doch immer ein guter Fahrer gewesen!“ unterbrach ihn die alte Dame. Sie wurde ganz bleich. „Ist dir wirklich nichts passiert?“ Sie beobachtete angstvoll seinen Gesichtsausdruck und suchte nach möglichen Verletzungen.

„Mama, wie du siehst, bin ich noch ganz heil!“ Dirk hob lachend die Arme.

Dann besann Frau Deutze sich auf ihre Gastgeberinnenpflicht und bat Linda, auf einem der tiefen, mit gestreiftem Leinen bezogenen Sofas Platz zu nehmen.

Sie und Dirk setzten sich ebenfalls und Dirk berichtete.

„Es war sehr merkwürdig. Ich war plötzlich wie abwesend. Dann hörte ich ein Krachen und kam langsam zu mir wie aus tiefem Schlaf...“

Dirk verstummte und schien über etwas nach zu grübeln.

„Das kann passieren, mach dir darüber keine Gedanken, Dirk!“

Frau Deutze unterbrach seine Grübeleien und wandte sich dann liebenswürdig an Linda.

„Sie können sicher sein, dass mein Sohn alles tun wird, um Ihnen Ihren Schaden zu ersetzen“, Fräulein von Merlingen. Kommen Sie von weit her?“

„Aus München“, erklärte Linda. „Ich war auf dem Weg durch die Heide. Irgendwo wollte ich mir ein hübsches Plätzchen suchen, um Urlaub zu machen.“

„Warum machen Sie Ihren Urlaub nicht auf dem Deutzehof?“ schlug Dirk vor, nachdem er einen Blick mit seiner Mutter gewechselt hatte.

„Eine großartige Idee“, stimmte Frau Deutze zu. „Wir haben eine Menge Gästezimmer hier, die meistens leer stehen. Antje wird Ihnen gleich ein Turmzimmer zeigen. Sie werden sehen, die Aussicht ist wunderschön!“

„Aber ich kann doch nicht...“ Linda hielt verlegen inne.

„Natürlich können Sie, sagte Dirk nun herzlich. „Sie müssen sogar, denn wir haben einiges miteinander zu regeln. Und Mutter und ich freuen uns, wenn wir einen so reizenden Gast beherbergen dürfen. Wir werden alles tun, um Sie zufrieden zu stellen, nicht wahr, Mama?“

Frau Deutze nickte lebhaft und erhob sich.

„Ich werde gleich veranlassen, dass man Ihnen ein Zimmer herrichtet, Fräulein von Merlingen.“

Bevor Linda noch protestieren konnte, hatte Frau Deutze den Raum verlassen. Linda blieb allein mit Dirk Deutze zurück.

„Meinen Sie wirklich, ich störe hier nicht, Herr Deutze? Schließlich bin ich Ihnen völlig fremd!“

Er lachte und nahm ihre kleine Hand in seine große.

„Wir müssen uns ja nicht fremd bleiben, Fräulein von Merlingen. Sie müssen mir sehr viel aus Ihrem Leben erzählen. Sicher haben Sie einen interessanten Beruf?“

„Gar nicht!“ Sie schüttelte den Kopf und zog ihre Hand zurück. Dabei stieg eine jähe Röte in ihr hübsches Gesicht.

„Ich bin Lehrerin.“

„Oh, und es macht Ihnen wenig Freude?“ fragte Dirk interessiert.

„Manchmal schon. Aber die Kinder sind oft so unartig, ich kann mich nicht besonders gut durchsetzen, fürchte ich. Nein, ich wäre niemals Lehrerin geworden, wenn nicht...“

Sie hielt inne. Warum erzählte sie ihm das alles? Was konnte ihn ihr Leben interessieren?

„Warum sprechen Sie nicht weiter?“ mahnte er sie und in seinem Gesicht lag eine solche Anteilnahme an ihrem Schicksal, dass sie fortfuhr: „Mein Vater starb vor drei Jahren. Da musste ich mein Kunststudium abbrechen. Es war kein Geld mehr da, verstehen Sie?“

Natürlich kann er das nicht verstehen, dachte Linda innerlich seufzend. Er ist steinreich. Habe ich nicht einmal von einer Reederei Deutze gehört?

Dirk nickte voller Anteilnahme. „Es tut mir leid, dass Sie in einem ungeliebten Beruf arbeiten müssen. Ich werde mir Mühe geben, damit Sie Ihre Ferien hier ganz besonders genießen können!“

Frau Deutze betrat das Zimmer wieder, gefolgt von einem Mädchen mit weißem Häubchen. Es setzte das Teetablett auf Frau Deutzes Geheiß auf den niedrigen Tisch am Fenster.

Linda bemerkte die belegten Sandwiches und verspürte plötzlich kräftigen Hunger. Seit der Abfahrt von München hatte sie nur ein Butterbrot und einen Apfel zu sich genommen.

„Nehmen Sie Zucker und Sahne, Fräulein von Merlingen?“ fragte Frau Deutze und setzte zwei Tassen aus zartem Porzellan vor ihren Gast und ihren Sohn.

„Nur Zucker, danke!“ Linda bediente sich und reichte den Zucker an Dirk weiter. Frau Deutze hatte für sich keine Tasse gefüllt.

„Ich habe meine Teestunde gerade hinter mir“, erklärte sie. „Deshalb lasse ich Sie jetzt wieder allein. Mein Sohn hat sicher einiges mit Ihnen zu besprechen.“

„Oh, da gibt es nichts weiter!“ Linda hob die Schultern und lächelte Frau Deutze zu. „Erst muss eine Werkstatt den Schaden untersuchen.“

„Wahrscheinlich werde ich Ihnen ein neues Auto kaufen müssen, Fräulein von Merlingen“, sagte Dirk. „Da Sie aber mindestens vier Wochen hier bleiben, haben wir ja viel Zeit dafür. Inzwischen steht Ihnen mein Wagen zur Verfügung. Mit Chauffeur, wenn Sie wollen!“

Linda bedankte sich.

„Gehört Ihnen die Deutze-Reederei?“ fragte sie dann geradeheraus.

Er nickte und lachte. „Man kann es auch so ausdrücken:Ich gehöre der Deutze-Reederei. Aber nun ist für mindestens vier Wochen Schluss damit. Ich freue mich so, die Wochen mit Ihnen zu verbringen, Fräulein von Merlingen“

Er sah sie bedeutsam an.

„Aber Sie kennen mich doch kaum. Vermutlich werden Sie sich sehr langweilen!“ wunderte sich Linda.

Das werde ich ganz bestimmt nicht. Haben Sie Ihren Tee ausgetrunken? Möchten Sie noch ein Sandwich?“

Linda war gesättigt und erfrischt und dankte ihm.

„Dann können wir hinausgehen und ich zeige Ihnen das Gut. Oder möchten Sie sich erst auf Ihrem Zimmer etwas frisch machen?“

„Wenn Sie inzwischen die Werkstatt anrufen, damit sie meinen armen Otto abschleppt, dann gehe ich für einen Moment nach oben und ziehe mir schnell etwas anderes an.“

„Gut, abgemacht!“ lachte er. „Ich will mir Mühe geben, damit Ihr Otto nicht die Nacht auf der Landstraße verbringen muss. Helga, zeigen Sie bitte Fräulein von Merlingen ihr Zimmer!“ wandte er sich an ein Dienstmädchen in der großen Halle.

Linda stieg hinter dem Mädchen erst die breite Treppe empor und noch eine schmalere. Das Mädchen öffnete eine Tür und ließ Linda eintreten.

Bedingt durch die Turmform, war das Zimmer fast kreisrund. Eine Flut von Licht drang durch die Sprossenfenster, die einen grandiosen Ausblick auf die Landschaft boten.

Lindas Gepäck stand schon bereit und sie öffnete schnell den Koffer und hängte einige Sachen auf Kleiderbügel, die sie in einem Einbauschrank fand.

„Wenn ich Ihnen etwas aufbügeln soll, dann legen Sie es bitte hier über den Stuhl“, sagte das Mädchen Helga und blickte auf Lindas arg zerknüllte Leinenhosen.“

Ein Service wie im Grandhotel, dachte Linda und bedankte sich. Das Mädchen verließ den Raum und Linda zog schnell Pulli und Hose aus und schlüpfte in ein bunt kariertes Leinenkleid, das ihr besonders gut stand. Ihre Turnschuhe vertauschte sie mit Sandalen und setzte einen Sonnenhut aus hellem Geflecht auf.

Dirk erwartete sie am Fuß der breiten Treppe in der Halle. Auch er hatte sich umgezogen, trug legere Hosen und ein weites Leinenhemd.

Seine Augen leuchteten bewundernd auf, als sie die Treppe herunterstieg. Linda bemerkte es mit Herzklopfen. Denn auch sie fand, dass Dirk ein außerordentlich interessanter Mann war.

Lebhaft plaudernd wanderten sie auf den Wegen des wunderschön angelegten Parks umher, der sich um einen kleinen See herumzog.

Dann öffnete Dirk ein schmiedeeisernes Tor.

„Jetzt betreten wir meinen Lieblingsort. In dem Wäldchen hier habe ich schon als Junge Indianer gespielt.“

Linda betrat den moosigen Waldweg und schnupperte den Duft der Tannen.

„Haben Sie allein gespielt oder hatten Sie Geschwister, Herr Deutze?“ erkundigte sie sich.

„Leider war ich immer ganz allein“, entgegnete Dirk. „Vielleicht bin ich deshalb zum Einzelgänger geworden.“

„Sie ein Einzelgänger?“Linda konnte es nicht glauben.

„Ich habe selten jemanden spannender erzählen hören als Sie. Da kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie sich nichts aus menschlicher Gesellschaft machen!“

„Doch, es ist aber so!“ beharrte Dirk lächelnd. „Allerdings mache ich Ausnahmen. Sie zum Beispiel! Von Ihrer Gesellschaft kann ich gar nicht genug bekommen. Ich freue mich sehr, mit Ihnen hier meinen Urlaub zu verbringen!“

Bei diesen Worten war er vor ihr stehen geblieben und hatte ihre beiden Hände gefasst.

Sie wurde gezwungen, ihn anzusehen. Sie fühlte, wie eine leichte Röte ihr Gesicht erglühen ließ. Aber hier war es schattig und er merkte es hoffentlich nicht.

Ich bin schon verliebt in ihn, stellte sie mit Verwunderung fest. Dabei war Linda in ihrem Leben noch nie ernsthaft verliebt gewesen. Es gab einmal eine Schwärmerei für einen Mitschüler, aber die wurde im Keim

erstickt, als Linda mit ihrem Vater nach München zog.

„Erzählen Sie mir mehr von sich, Linda. Ich darf Sie doch ab jetzt so nennen? Und Sie nennen mich Dirk?“

Sie nickte und als er ihre Hand wieder fasste, überließ sie sie ihm gern.

So schritten sie auf dem Waldweg dahin.

„Ich lebte früher auf einem Gut in Ostholstein,“ begann sie. „Es war nicht so prächtig und groß wie der Deutzehof, aber es war auch wunderschön. Es lag nahe der Ostsee, ich hatte ein Pferd und ein wundervolles, ungebundenes Leben. Vater kümmerte sich nicht viel um das Gut, er hatte wenig Ahnung von der Landwirtschaft. Er war gegen den Willen seiner Eltern Maler geworden. Mit Geld konnte er schlecht umgehen. So kam es, dass das Gut immer mehr verschuldete. Dann starb meine Mutter und wir zogen nach München, wo Vater an einer Akademie lehrte. Auch ich studierte Malerei und Kunstgeschichte. Drei Jahre später wurde Vater von einem Auto überfahren und ich blieb allein zurück.“

„Und Sie wurden dadurch gezwungen, schnell Geld zu verdienen und wurden Lehrerin?“ ergänzte Dirk, als sie schwieg.

Linda nickte. „Ich gebe nun Kunstunterricht an einer Privatschule und verdiene recht gut.“

„Aber es macht Ihnen wenig Freude?“ forschte Dirk.

Linda hob die schmalen Schultern. „Nicht viel“, gab sie zu. Aber ich mache sehr viel aus meiner Freizeit. München ist eine unterhaltsame Stadt. Man kann jeden Abend ein anderes Theaterstück ansehen, wenn man mag. Außerdem gibt es Konzerte, Ausstellungen, Museen. Und am Wochenende die Berge. Aber das wissen Sie ja.“

„Haben Sie Freunde dort gewonnen?“ fragte Dirk und hielt den Atem an. Ganz gewiss war dieses entzückende Mädchen sehr begehrt. Vielleicht war sie schon verlobt?

„Nicht viele“, erklärte Linda. „ich habe eine gute Freundin, Constanze von Stetten. Mit ihr unternehme ich vieles gemeinsam.“

Dirk atmete auf. Von einer Verlobung war nicht die Rede. Plötzlich stand es für ihn fest, dass er dieses bezaubernde Geschöpf für sich gewinnen musste.

 

*****

 

 

Es folgten wunderschöne Tage für Linda. Ein Tag war erlebnisreicher als der andere. Dirk brachte ihr das Golfspielen bei. Linda genoss dieses Spiel auf dem samtigen Rasen mit dem Duft des frisch gemähten Grases und für eine Anfängerin stellte sie sich gar nicht mal schlecht an.

Wenn es heiß war, schwammen sie in dem blau gekachelten großen Pool im Park und lagen danach faul in der Sonne.

Das Schönste für Linda aber waren die Ausritte ins Gelände, die sie mit Dirk unternahm. Seit ihrer Jugend war sie nicht mehr geritten und stellte beglückt fest, dass sie es nicht verlernt hatte.

Dirks Mutter sah sie nur zu den Mahlzeiten. Die alte Dame schien leidend zu sein, denn sie hielt sich selten draußen im Freien auf.

Da es keine anderen Gäste auf dem Deutzehof gab, war Linda ganz auf die Gesellschaft von Dirk angewiesen. Und sie verliebte sich von Tag zu Tag mehr in ihn.

„In einer Woche muss ich fort!“ sagte Linda, faul auf dem Liegestuhl ausgestreckt, zu Dirk und sah dabei in den blauen Himmel.

Wassertropfen glitzerten noch auf ihrer gebräunten Haut. Da sah sie plötzlich statt der weißen ziehenden Wolken Dirks Gesicht ganz nah über sich gebeugt.

„Ich lasse dich nicht fort, Linda! Bleib bei mir! Für immer!“

Sein Gesicht war ernst und voller Liebe. Sein Mund war ganz dicht an ihrem Ohr.

„Hast du mich lieb, Linda?“ flüsterte er.

Sie lag ganz still und schloss die Augen.

Jetzt hatte er sie ausgesprochen, die Frage, die sie ersehnt und gefürchtet hatte.

Irgendetwas hinderte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 07.05.2020
ISBN: 978-3-7487-3989-0

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