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Spuk unterm Reetdach

 

 

 

 

 

eine Sylt-Geschichte von Elke Gravert

 

 

Als Silke Petersen in den Kapitänswai bog, fiel sie beinahe vom Fahrrad. Da wurde doch tatsächlich das alte Kapitänshaus renoviert! Mit offenem Mund fuhr sie näher heran.

„Moin“, grüßte sie einen Arbeiter, der gerade einem Baukrahn half, in die Lücke vorm Kapitänshaus einzuparken.

„Was wird das hier?“

„Moin, Mutter Petersen“, sagte Piet nach einem kurzen Blick auf sie. Er hatte offensichtlich keine Zeit, ihre Fragen zu beantworten.

Silke Petersen lehnte ihr Fahrrad an den halb zerstörten Friesenwall und trat näher.

Vor dem Haus lagen große Bündel altes Reet. Sie schaute nach oben.

Vom Dach waren jetzt nur mehr die nackten verwitterten Balken zu sehen. Ein Arbeiter turnte darauf herum.

Jetzt kam ein Mann mit gelbem Helm aus dem Haus. Er hielt ein Reißbrett in der Hand , auf dem er eifrig etwas notierte. Mutter Petersen trat ihm in den Weg.

„Moin!“

„Moin! Würden Sie bitte aus dem Weg gehen. Das ist hier gefährlich!“

„So, das Kapitänshaus geht nun auch in fremde Hände über!“

Silke Petersen schüttelte bedauernd den Kopf. Bald würde hier kein Einheimischer mehr leben. Ihre Nachbarn im Kapitänswai waren fast alles Fremde. Sie und Peter Lüders hielten im Kapitänswai noch die Stellung und weigerten sich zu verkaufen.

Und nun hatte Peter Lüders doch verkauft! Das musste gewesen sein, als sie bei ihrem Sohn auf dem Festland war.

Na ja, sie konnte das noch halbwegs verstehen.

In dem Haus hatte seit Jahren keiner mehr gewohnt.

Es spukte dort. So sagte man wenigstens. Kein Sylter wäre dort eingezogen. Und als Peter Lüders den Schlaganfall bekam, war er mit seiner Frau ins Altenheim gezogen. Kurz darauf war seine Frau gestorben.

Was Peter Lüders wohl mit dem ganzen Geld machte? Und wer hatte das Haus gekauft? Sie würde Peter heute Nachmittag im Altenheim besuchen. Hier hatte doch keiner Zeit für ihre Fragen.

Sie lenkte das Fahrrad zu ihrem kleinen Häuschen an der Ecke des Kapitänswai und schloss es ab.

Hier kamen jetzt soviel Fremde. Auch die Haustür musste man abschließen.

Mutter Petersen seufzte.

 

 

 

Magnus Gravert parkte seinen SUV in der Einfahrt der Villa in Pöseldorf, aus der vor ein paar Jahren zwei geräumige Eigentumswohnungen entstanden waren.

Magnus und Iris hatten gleich gekauft, als sie von dem Projekt hörten. Die Familie wurde größer und nun hatten sie genügend Platz für sich, die dreijährige Maja und Baby Niclas, der gerade mal drei Monate alt war.

Immer wieder war Magnus begeistert, wenn er das Haus mit dem schwarz-weißen Fliesenboden betrat.

Große runde Sprossenfenster beleuchteten das eindrucksvolle Entree mit der Stuckdecke und der gewundenen Treppe, die Magnus nun empor eilte.

Er schloss die Tür zu seiner Wohnung im ersten Stock auf.

„Papi, Papi kommt!“

Maja lief aus dem Wohnzimmer herbei und umklammerte seine Knie.

Er strich ihr über den Blondschopf und hob sie dann hoch zu sich.

„Na meine Süße? Bekommt Papi einen Kuss?“

Sie schlang die Ärmchen um ihn, und er bekam einen nassen Kuss auf die Wange.

„Was hast du heute angestellt? Warst du mit Mami im neuen Kindergarten?“

wollte er wissen und ließ sie herunter.

Majas Gesicht verzog sich zu einem weinerlichen Schnütchen.

„Der Kindergarten ist doof!“ stellte sie fest. Da gehe ich nicht mehr hin!“

„Na, das wollen wir mal mit Mami besprechen. Wo steckt sie denn?“

„Bei Niclas, der ist wieder krank“. war die Auskunft.

Maja zog ihren Vater am Arm und versuchte, ihn in das geräumige Wohnzimmer zu zerren, in dem ein Fernsehapparat auf höchster Lautstärke Ernis Probleme aus der Sesamstraße verkündete.

„Maja, lass mich mal los und mach den Fernseher leise. Ich muss zu Mami und Niclas.“

„Haste Niclas lieber als mich?“ fragte seine Tochter mit großen, tränenfeuchten Augen. Dann begann sie zu husten und keuchend nach Luft zu schnappen.

Er nahm sie wieder auf den Arm und klopfte ihr beruhigend auf den Rücken.

„Ihr Asthma wird immer schlimmer“, sagte Iris von der Tür her. „Ich habe ihr Spray.“

Sie holte die kleine Dose aus ihrer Hosentasche und hielt sie Maja an den Mund.

„Einatmen, Schatz!“

Nach ein paar Stößen Cortisonspray beruhigte sich Maja langsam. Magnus setzte sie auf der Couch ab und wandte sich seiner Frau zu.

„Du hattest einen schweren Tag, Liebling?“ Er küsste sie und umschlang ihre zarte Figur mit beiden Armen. „Was ist mit Niclas, Maja hat...“

„Es geht ihm besser, er hatte wohl eine Kolik. Ich habe ihn ein wenig auf dem Arm hin und her getragen und dabei sein Bäuchlein massiert. Jetzt ist er eingeschlafen. Unsere neue Zugehfrau hat ihm, weil er weinte, etwas zerdrückte Banane gegeben, während ich mit Maja im Kindergarten war. Bananen verträgt Niclas nicht. Aber das konnte sie natürlich nicht wissen.“

Magnus Gravert betrachtete seine Frau wie immer mit Wohlgefallen. Trotz zweier Geburten hatte sie sich ihre Figur bewahrt. Sie trug heute zu den Jeans eine elegante weiße Seidenbluse statt des üblichen T-Shirts. Das lange blonde Haar hatte sie zu einem Zopf im Nacken geflochten. So wurde ihr schönes Gesicht betont. Doch ihre blauen Augen blickten verschleiert. Sie wirkte erschöpft.

„Und im Kindergarten war es auch nicht erfreulich?“ sagte er leise und zog sie in die Küche, wo Maja sie nicht hören konnte.

„Ganz und gar nicht, sie weigert sich strikt, noch einmal dahin zu gehen. Ich kann es ihr eigentlich auch nicht verdenken. Die Kindergärtnerin begrüßte sie gleich auf Englisch, was Maja wütend machte. Mich übrigens auch. Wir haben den bilingualen Kindergarten zwar ausgesucht, doch Maja war total verschreckt von der Begrüßung. Und sie hörte auch das Kauderwelsch, das die übrigen Kinder miteinander sprachen.

„Die sind alle doof“, war ihr Kommentar. „Die können noch gar nicht richtig sprechen!“

Magnus lachte. „Gesunde Reaktion unserer Tochter. Aber was machen wir nun?“

„Wir ziehen ja im Sommer um nach Sylt. Ich freue mich so sehr, Magnus. Dort wird es Maja bestimmt besser gehen und wenn nicht, muss ich mit den Kindern auch noch im Winter dableiben. Wir haben ja allen Komfort auch dort!“

Magnus nickte.

Für ihn würde es weniger schön werden, er musste sich in Hamburg um seine IT-Firma kümmern und könnte nur an den Wochenenden auf die Insel kommen.

„Der Umbau macht gute Fortschritte, der Bauleiter hat mich heute angerufen.

Hast du dich schon um ein Aupair bemüht?“

Iris nickte. „Morgen stellt sich ein Mädchen aus Irland vor, sie heißt Libby. Ich habe schon mit ihr telefoniert und sie scheint sehr nett zu sein!“

„Aus Irland? Ob Maja das gefällt?“

„Keine Angst, Libby spricht fließend Deutsch und hat selbst kleine Geschwister, die sie betreuen musste.“

„Wenn deine Mutter dann zusammen mit dem Aupair die Kinder hütet, können wir beide auf die Insel fahren und die Einrichtung der Räume besprechen.

Die Küche haben wir ja schon ausgesucht.“

„Und auch das Wohnzimmer ist halb fertig, die Regale sind eingebaut und die Sitzmöbel habe ich schon bestellt. Sie werden bei Einzug geliefert.

„Bleiben noch die Schlaf- und Kinderzimmer“, überlegte Magnus. „Schaffst du

das?“

„Es wird hart, wenn alles so schnell gehen muss. Aber auf der Insel gibt es fantastische Einrichtungshäuser“, überlegte Iris. „Das dürfte eigentlich keine Problem sein.“

„Wir könnten natürlich auch alle zusammen in unsere alte Pension nach Kampen ziehen, bis alles fertig ist.“

Iris schüttelte den Kopf.

„Das möchte ich nicht. Die Kinder sollen sich gleich an ihr neues Zuhause gewöhnen. Und mit dem Essen für Maja wird das schwierig. Sie braucht gesunde, selbst zubereitete Nahrung.“

„Ich hoffe nur, dass diese Libby wirklich in Ordnung ist“, sagte Magnus während er sich am Küchenwasserhahn gründlich die Hände wusch.

„Wir werden sehen!“ sagte seine Frau müde.

Der folgende Tag war grau und regnerisch.

Magnus verließ das Haus, bewaffnet mit seinem großen schwarzen Regenschirm. Auf dem Weg zu seiner Garage begegnete er einer Gestalt, die von einem über den Kopf gehaltenen Anorak fast verdeckt wurde.

„Wohnt hier die Familie Gravert?“ fragte eine weibliche Stimme mit dem leichtem Akzent eines angelsächsischen Landes.

„Richtig ;und Sie sind vermutlich Libby aus Irland?“ Er kam ihr mit seinem Schirm zur Hilfe und schloss die Haustür auf.

Libby schüttelte den klitschnassen Anorak über den schwarz-weißen Fliesen im Hausflur aus. Magnus sah in ein hübsches Mädchengesicht mit blauen Augen, umrahmt von einem schwarzen Lockenschopf, aus dem das Wasser tropfte.

„Meine Frau hat Sie nicht so früh erwartet“, sagte er als sie die gewundene Treppe emporstiegen.

Libby zuckte mit den Schultern. „Ich stand schon eine Weile vor Ihrer Haustür. Ich bin fast immer zu früh. Besser als zu spät, nicht wahr?“

Sie sagte das so allerliebst, dass er lachen musste.

An der Wohnungstür kam ihnen Iris im cremefarbenen Morgenmantel entgegen.

„Hast du etwas vergessen, Magnus?“

Dann erst gewahrte sie das Mädchen hinter Magnus.

„Ich habe dir Libby mitgebracht. Sie stand klatschnass vor der Haustür und traute sich nicht hinein, weil es noch so früh ist.“

Iris lachte und streckte dem Mädchen die Hand entgegen.

Das Mädchen sieht ein bisschen zu jung aus, dachte sie und bat sie herein.

„Ich lasse euch dann mal allein“, sagte Magnus, gab seiner Frau eine Kusshand und lief die Treppe wieder hinunter.

Im Gravertschen Flur wurde es lebendig.

Maja kam im Schlafanzug auf nackten Füßen herbeigerannt. Im Hintergrund hörte Libby ein Baby schreien.

„Wie siehst du denn aus?“ Maja stellte sich breitbeinig vor den Besuch und musterte ihn kritisch.

„Nass“, meinte Libby und lachte. „Hast du vielleicht ein Handtuch für meine Haare?“

„Klar“, sagte Maja und lief ins Badezimmer.

Das Babygeschrei wurde lauter.

„Ich muss zu Niclas“, entschuldigte sich Iris, als Maja für Libby ein Gästehandtuch brachte und interessiert zusah, wie sich diese abtrocknete.

„Du hast aber viele Haare“, stellte sie fest.

„Maja, führe Libby bitte in dein Kinderzimmer, ich komme gleich!“ ordnete Iris an.

Maja streckte ihr Händchen aus und zog den Gast hinter sich her.

„Ich zeig dir mein Bild, das hab ich ganz allein gemalt!“ Maja hielt Libby ein Blatt entgegen, das ein blaues Haus mit grünem Gartenzaun und einer großen gelben Sonne zeigte.

„Das ist unser neues Haus“, erklärte sie stolz.

„Euer Haus auf der Insel?“ fragte Libby. „Hast du es denn schon gesehen?“

Maja schüttelte den Kopf. „Nein, aber wir fahren bald hin und du kommst mit, damit ich nicht in den Kindergarten gehen muss!“

„So, du gehst also nicht gern in den Kindergarten?“

„Nee, die sprechen da alle so komisch.“

„Ich kann auch komisch sprechen, sagte Libby lachend. Aber jetzt unterhalten wir uns erst mal auf Deutsch!“

Als Iris das Kinderzimmer betrat, saß Libby auf Majas Bett und nahm nach und nach die Spielsachen in Augenschein, die Maja ihr brachte.

„Na, ihr versteht euch ja schon gut!“ sagte sie erleichtert. „Jetzt muss ich mal mit Libby allein sprechen, Maja. Wir gehen am besten ins Wohnzimmer, kommen Sie, Libby!“

Iris öffnete die Tür zu einem Raum, der Libby ehrfurchtsvoll staunen ließ. So einen schönen Raum hatte sie noch nie gesehen. Die seidenen Portieren an den hohen Fenstern, die antiken Möbel und die gemütliche Sitzgruppe. Libby versank fast in dem übergroßen Sessel, den Iris ihr zuwies.

„Schön haben Sie es hier!“

Iris nickte. „Ja, wir fühlen uns hier sehr wohl. Aber, wie ich Ihnen schon am Telefon sagte, wollen wir in unser Haus auf der Insel Sylt ziehen. Maja hat Asthma und wir erhoffen uns einiges von dem Inselklima. Hier müssen wir ständig ihr Spray bereit halten, sollte sie einen Anfall bekommen. Ich zeige Ihnen noch, wie Sie es anwenden müssen.“

„Nicht nötig“, meinte Libby. „Meine kleine Schwester hatte auch Asthma. Jetzt geht sie in die Schule und ist wieder kerngesund. Bei den meisten Kindern verwächst sich das!“

„Das hoffen wir!“ sagte Iris.

Während sie Libby weiter interviewte, stellte sie fest, dass sie eine gute Wahl getroffen hatte. Das Mädchen war zwar erst siebzehn, aber es kannte sich mit Kindern aus.

„Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt, Libby?“

„Meine Mutter ist Deutsche und hat uns von Anfang an zweisprachig erzogen“, erklärte Libby.

„Großartig. Ich möchte, dass Sie mit Maja dann auch Englisch reden, damit sie die Sprache gründlich lernt. Im Kindesalter lernt man am besten!“

„In Ordnung“, sagte Libby. „Vorerst findet Maja unsere Sprache noch doof, wie sie mir erzählte.“

Iris lachte. „Ich bin überzeugt, dass Sie das bald ändern werden, Libby. Von meiner Seite bestehen keine Bedenken, Sie einzustellen.“

„Aber nur, wenn Sie das „Sie“ weglassen, Frau Gravert. Ich bin ja erst siebzehn.“

„Gerne, Libby. Jetzt musst du noch Niclas kennenlernen. Er neigt leider zu Koliken und weint deshalb oft.“ Iris stand auf und Libby folgte ihr ins andere Kinderzimmer.

Niclas lag ausnahmsweise mal ruhig in seinem Bettchen und schlief.

„Wie alt ist Niclas? Ich schätze drei Monate?“

Iris nickte.

„Keine Sorge, Frau Gravert. Wenn Niclas vier oder fünf Monate alt ist, sind die Koliken vorbei. Das war bei meinem kleinen Bruder genauso.“

Iris starrte das Mädchen verblüfft an. Für eine Siebzehnjährige hatte sie eine erstaunliche Erfahrung mit kleinen Kindern. Sie beglückwünschte sich im Stillen zu ihrer Wahl.

„Ich hoffe, du hast Recht, Libby. Jetzt zeige ich dir dein Zimmer. Es ist nur klein, aber auf Sylt bekommst du ein größeres.“

 

Der Einzug der Familie Gravert in das Haus am Kapitänswai fand Anfang Juni statt.

Silke Petersen fuhr gerade mit ihrem Fahrrad vorbei, als der große schwarze SUV vor dem Haus anhielt und Koffer und Kinder ausgeladen wurden.

„Moin“, grüßte Silke , wollte bremsen und sich mit den neuen Nachbarn bekannt machen. Aber die waren im Moment zu beschäftigt.

Die blonde schöne Frau hielt einen weinenden Säugling im Arm. Eine jüngere, schwarzhaarige folgte einem kleinen Mädchen, das sie heftig an der Hand zum Eingang zog. Der Mann lud die Koffer aus. Er grüßte als einziger zurück.

Silke fuhr weiter zum Edeka und machte sich so ihre Gedanken. Ob das Gespenst die junge Familie wohl in Ruhe ließ?

Peter Lüders und seine verstorbene Frau hatten unter ihrem alten schadhaften Reetdach diese merkwürdigen, wehklagenden Geräusche gehört, die sie so

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 22.09.2015
ISBN: 978-3-7396-1512-7

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