Elke Gravert
Johanna und der Fürst
„Wirklich große Kunst steht über dem wechselnden Tagesgeschmack und wirkt auf uns Betrachter ungeachtet ihres Alters, ihrer Herkunft und ihres Gegenstandes. - Ich wünsche Ihnen allen erholsame Semesterferien!“
Professor Braun, der von den Kunststudenten allseits geliebte Meister, verließ unter lautem Beifall den Hörsaal.
„Was machst du in den Ferien, Johanna? Fährst du nach Hause auf euer Schloss?“
Johanna von Moorburg schreckte aus ihren Gedanken auf, denn sie träumte von dem, was jetzt vor ihr lag. Sie nahm ihre Mappe unter den Arm und warf die blonden Locken zurück.
„Petra, komm doch noch mit auf einen Kaffee, dann erzähle ich dir von meinen Plänen.“
Das kleine Schwabinger Cafe war brechend voll, doch in einer Ecke wurden gerade zwei Plätze frei.
„Ich darf jetzt endlich nach Italien reisen – zuerst Florenz, dann Venedig“, vertraute Johanna der Freundin an. „Es war nicht leicht, die Erlaubnis von meinen Eltern zu bekommen. Mutter malt sich die schrecklichsten Dinge aus, die mir auf der Reise passieren könnten. Aber Tante Amalie hat sich für mich eingesetzt.“
„Ja, deine Tante ist ein toller Typ, uralter Adel und trotzdem so modern eingestellt“, begeisterte sich Petra.
„Sie ist eben mehr Künstlerin als Gräfin. Ich bin so froh, dass ich bei ihr wohnen kann“, stimmte Johanna zu. „Ich habe dadurch eine Menge Geld gespart und kann das, was ich in der Galerie Marx verdient habe, für meine Reise ausgeben. Und was machst du in den Ferien?“
„Da mein Hausarbeitsthema die Impressionisten sind, fahre ich natürlich nach Paris.
Zum Glück muss ich meine Eltern nicht um Erlaubnis fragen. Das ist der Vorteil einer bürgerlichen Geburt“, neckte Petra.
Als Tochter eines Industriellen hatte sie keine Geldprobleme. Trotzdem beneidete sie
die nicht mit weltlichen Gütern gesegnete Baronesse Johanna, die dafür in einem Barockschloss in Ostholstein zu Hause war.
Die Freundinnen zahlten ihren Kaffee und liefen noch ein wenig durch das vorfrühlingshaft-sonnige Schwabing. Vor der Galerie Marx trennten sie sich. Hier war Johanna als Aushilfe tätig, wann immer ihr Studium ihr Zeit dazu ließ.
Herr Marx freute sich heute besonders, Johanna zu sehen.
„Wir haben den Mondrian verkauft!“ strahlte er. „Und da Sie an diesem Verkauf nicht ganz unbeteiligt waren – schließlich haben Sie die Vorverhandlungen geführt – bekommen Sie eine nette kleine Prämie, Baroness!“
Er überreichte Johanna einen Umschlag. „Ihr Gehalt plus Prämie. Ich hoffe, es ist genug für Ihre Italienreise! Und noch eins, Baroness, darf ich Ihnen als alter Mann sagen: Seien Sie ein bisschen vorsichtig mit den Italienern. Die sind anders als die deutschen Männer!“
„Keine Sorge, Herr Marx!“ Johanna lachte. „Mit den italienischen Männern werde ich schon fertig, die werden mich nicht belästigen!“
Herr Marx bezweifelte das insgeheim, denn Johanna von Moorburg war eine Schönheit, die man nicht übersah. Eine dunkelblonde Lockenpracht, in der helle Lichtreflexe spielten, umgab das vornehme schmale Gesicht mit den intensiv türkisfarbenen Augen. Dazu besaß sie eine hinreißende Figur und bewegte sich mit natürlicher Anmut. Ja, Johanna von Moorburg war ein Glückstreffer für die Galerie Marx, denn sie war nicht nur bildschön, sondern auch intelligent und geschäftstüchtig.
Für eine gerade Zwanzigjährige besaß sie beachtlichen Kunstverstand.
Die Kunden der Galerie liebten sie und Herr Marx dachte bereits daran, ihr nach dem Studium eine Festanstellung anzubieten.
Eine Stunde später betrat Johanna das Vestibül der alten Villa, in der sie für die Dauer ihres Studiums bei ihrer Tante, der Gräfin Amalie von Bodenburg, wohnte.
Es war eine Villa aus der Gründerzeit, eigentlich ein schreckliches Monstrum, wie sie und Tante Amalie fanden, zusammengesetzt aus den verschiedensten Baustilen der Jahrhunderte. Aber sie war geräumig und hatte genügend Platz für das Bildhaueratelier der Gräfin Amalie im Erdgeschoss.
Johanna bewohnte im zweiten Stock zwei Zimmer. Das größere hatte einen lauschigen Erkerplatz, von dem aus sie einen herrlichen Blick über den parkähnlichen Garten mit den uralten Bäumen hatte.
Doch vorerst kam Johanna nicht dazu, ihre Zimmer aufzusuchen. In der Diele stand Tante Amalie im grauen Arbeitskittel, Marmorstaub in den roten Haaren, den Meißel noch in der Hand.
„Guten Abend, Tantchen.“
Johanna gab der geliebten Tante einen angedeuteten Kuss
auf die staubige Wange und sah sie fragend an. Was hatte die Tante wohl dazu bewogen, schon aus ihrem Atelier zu kommen? Etwa eine schlechte Nachricht? Besorgt forschte Johanna in den Zügen der älteren Frau. Nein, es war nichts Schlimmes, denn Tante Amalie lächelte.
„Ich muss mit dir reden, Johanna, komm mit in den Salon!“
Achtlos wurde der Meißel auf der polierten Empirekommode abgelegt
Johanna folgte der Tante in den kleinen Empfangssalon, der rechts neben dem Eingang lag.
„Wir bekommen Besuch, Johanna. Ich wollte dich daher bitten, deine Abreise um einen Tag zu verschieben“, begann die Tante bedeutsam.
Aus dem silbernen Korb, in dem die Tagespost lag, fischte sie einen länglichen beigefarbenen Umschlag mit golden eingestanzter Fürstenkrone und zeigte ihn Johanna.
„Fürst Dietrich zu Marscheck hat seinen Besuch für übermorgen angekündigt. Du kennst ihn von früher, er ist ja euer Nachbar auf Moorburg. Er hat in den Vereinigten Staaten studiert und ist gerade erst zurückgekommen. Da er in München zu tun hat, bittet er, mir seine Aufwartung machen zu dürfen. Ich denke, ich sollte ein Abendessen für ihn geben.“
Vor Johannas innerem Auge tauchte das Bild des arroganten jungen Prinzen auf, mit dem sie als Kind gelegentliche zusammengetroffen war.
Obwohl Prinz Dietrich nur wenige Jahre älter war als sie, hatte er stets den Überlegenen gespielt und sie geärgert, wo er nur konnte.
Mit Schaudern dachte sie daran, wie er sie einmal in der Familiengruft der Fürsten von Marscheck eingesperrt hatte. Nur einem aufmerksamen Gärtner war es zu verdanken, dass sie schnell befreit wurde. Der Prinz selbst war einfach weggelaufen.
Danach hatte sie ihn nicht wiedergesehen. Er wurde in ein Internat nach Süddeutschland geschickt.
„Den Gefallen kann ich dir leider nicht tun, Tantchen. Meine Reise ist doch fest gebucht. Denk daran, welche Schwierigkeiten ich mit dem Hotelzimmer in Florenz hatte. Und das alles wegen dieses Fürsten, den ich kaum kenne, umstoßen? Nein, das tue ich unter gar keinen Umständen!“
Sie warf die Lockenmähne zurück und blickte die Tante so entschlossen an, dass diese die Waffen streckte.
„Schade“, meinte sie nur, wollte noch etwas hinzufügen, besann sich dann aber anders. Auf keinen Fall durfte sie durchblicken lassen, dass sie den begüterten Fürsten zu Marscheck als Heiratskandidaten für die Nichte in Erwägung gezogen hatte. Das würde Johannas Ablehnung noch verstärken.
Sie seufzte.
„Nun, da ist dann nichts zu machen. Hast du schon gepackt?“
„Nein, noch längst nicht alles“, entgegnete Johanna. „Du bist doch nicht böse, Tantchen? Ich finde den Prinzen einfach unsympathisch und bin froh, ihm nicht begegnen zu müssen.“
„Mach dir keine Gedanken, Liebling. Ich werde die von Dreesens einladen, damit der Fürst nicht mit mir alleine sein muss. Und jetzt geh packen. Wir sehen uns beim Abendessen!“
Am Abend des folgenden Tages verabschiedete sich Johanna am Münchener Hauptbahnhof von ihrer Tante und bestieg ihr Schlafwagenabteil im Zug nach Florenz.
In der Nacht konnte sie vor Aufregung kaum schlafen – ihre erste Reise allein! Sie nahm sich ihren Florenz-Reiseführer vor und schwelgte in kommenden Kunstgenüssen.
Und früh am nächsten Morgen war sie endliche da. Sie bezog ein einfaches, aber sauberes Pensionszimmer im Zentrum der uralten Stadt, in der die Renaissance sozusagen geboren worden war.
Mit Kofferauspacken hielt sie sich gar nicht erst auf. Nein, gleich musste sie losziehen, um alles zu sehen. Sie hatte ja nur fünf Tage Zeit für Florenz.
Ihr erster Gang führte sie in die Uffizien, die berühmte Gemäldegalerie, in der man so wunderbar den Übergang der Gotik in die Renaissance studieren konnte.
Johanna war überwältigt von Florenz, seinen Kirchen, Skulpturen, den trutzigen alten Palästen, den Gärten der Medici.
An der Universität hatte sie gleich zu Beginn ihres Studiums Italienisch gelernt. So konnte sie sich stolz ihr florentinisches Beefsteak in der Landessprache bestellen, ebenso den Chianti und den anschließenden Espresso.
War das Leben nicht wunderbar?
Nach fünf Tagen reiste sie weiter nach Venedig.
Der Bahnhof der Lagunenstadt lag direkt am berühmten Canale Grande.
Als Johanna den Bahnhofsvorplatz betrat, schloss sie einen Moment geblendet die Augen. Was war das für ein Gewimmel von Fahrzeugen auf dem in der Nachmittagssonne glitzernden Wasser!
„Signorina, möchten Sie eine Gondelfahrt machen?“ forderte ein Gondoliere ihr zu und wies mit einladender Handbewegung auf sein schwankendes Fahrzeug mit dem eigenartig geformten Heckteil.
„Danke, nein“, lachte Johanna. Sie wusste, eine Gondelfahrt war sehr teuer und nicht in ihrem Taschengeld vorgesehen.
„Möchten Sie ein Taxi zum Hotel?“ rief ihr ein Mann aus einem Motorboot zu.
Auch das lehnte Johanna ab. Sie hatte die Vaporetto-Station entdeckt.
Das Vaporetto war sozusagen der Bus in der Stadt mit den fast zweihundert Wasserstraßen. Deshalb war es das geeignete Verkehrsmittel für eine arme Studentin.
Sie löste eine Fahrkarte am Schalter und bestieg dann mit einer Menge anderer Passagiere – größtenteils waren es Touristen – das Schiff.
Am Bug ergatterte sie einen Aussichtsplatz und ließ die Kirchen und Paläste zu beiden Seiten des Kanals staunend an sich vorüberziehen.
„Gott, war das schön! Dicht an dicht standen die alten Palazzi, einer prächtiger als der andere, getrennt nur von einmündenden kleineren Wasserstraßen.
Indem sie abwechselnd in ihren Reiseführer und auf die Gebäude blickte, versuchte sie, sich die Namen der Palazzi einzuprägen. Nach einiger Zeit gab sie aber auf, es war zu mühsam.
Eine deutsche Dame hatte es wohl bemerkt, denn sie deutete auf den nächsten Palast.
„Das ist der Palazzo Vendramin, in dem Richard Wagner wohnte und starb. Sehen Sie die Gedenktafel?“
Ja, natürlich!“ Johanna schenkte der Dame ein dankbares Lächeln.
„Reinster lombardischer Stil“, murmelte sie hingerissen. „Und der Palazzo dort muss die Casa d'Oro sein!“ Johanna wie auf ein Gebäude, dessen phantasievolle venezianische Gotik eher einer Spitzenhandarbeit glich als robustem Mauerwerk.
„Richtig“, nickte die deutsche Dame. „Früher war die Fassade mit Gold überzogen, daher der Name Goldenes Haus“.
An der Rialto-Brücke, die Johanna viele Male auf Abbildungen und Filmen gesehen hatte, und die doch in Wirklichkeit viele viel schöner war, stieg die deutsche Dame aus. Johanna hatte noch wenige Stationen zu fahren bis zu ihrer kleinen Pension, zu der sie sich mit einiger Mühe durchfragte.
Dann stand sie in der winzigen engen Gasse vor einem schmalen Haus und läutete.
Zwei steile Treppen hoch folgte sie ihrer Wirtin in ein kleines, bescheiden eingerichtetes Zimmer.
Aber welche Überraschung bot der Ausblick!
Die Wirtin öffnete das Fenster und forderte Johann auf, sich hinauszulehnen.
Sie blickte auf einen großen Kanal hinaus und als sie sich noch weiter vorbeugte, sah sie links eine Insel liegen, auf der eine prachtvolle Kirche stand.
„Gefällt Ihnen das Zimmer?“ fragte die Wirtin stolz?
Und ob es Johanna gefiel! Es konnte gar nicht schöner sein.
Schnell verstaute sie ihre Sachen in dem kleinen Schrank und nahm dann ein ausgiebiges Duschbad.
Die Frage, was sie am ersten Abend in Venedig anziehen sollte, war schnell gelöst.
Beim Kofferpacken hatte sie eher Wert auf Kunst- und Reiseführer geachtet, als auf Garderobe.
So schlüpfte sie in weiße Jeans und zog die türkisfarbene Seidenbluse an, die so gut mit ihrer Augenfarbe harmonierte.
Das Pflaster in Venedig war holprig, deshalb ließ Johanna die silberfarbenen hochhackigen Sandaletten im Schrank und zog flache weiße Leinenschuhe an.
Nun noch den Stadtplan in die Umhängetasche und sie war fertig.
Der Abend war lau und frühlingshaft, als Johann auf das Gässchen trat. Jetzt war es hier schon merklich dunkler, als bei ihrer Ankunft.
Doch als sie nach ein paar Schritten auf dem markusplatz anlangte, lag dieser zu ihrer Begrüßung im Licht der untergehenden Sonne.
Staunend stand Johanna vor der Markuskirche und versuchte, das bizarre Durcheinander von Architektur, Skulptur und Ornamentik zu begreifen und in seine Stilepochen einzuordnen.
Da hört sie eine Männerstimme in gebrochenem Deutsch. Die Stimme sagte offensichtlich etwas zu ihr, denn niemand sonst war in ihrer Nähe.
„So schaut man doch nicht Basilika San Marco an, Signorina! Sie stehen ganz falsch!“
Johanna wandte sich nach dem Sprecher um und sah vor sich einen hoch gewachsenen, elegant gekleideten Italiener, der sie kopfschüttelnd und lachend musterte.
„Und wo sollte ich Ihrer Meinung nach stehen?“
Johanna versuchte, einen abweisenden hochmütigen Ton hinzukriegen, was ihr aber nur unzureichend gelang. Sie fühlte ärgerlicherweise sogar eine leichte Röte im Gesicht aufsteigen. Dieser ungewöhnlich schöne elegante Mann war sich seiner Wirkung derart bewusst, dass er sie gleichsam hypnotisiert hatte.
Fazit: Sie unterhielt sich mit einem Wildfremden und verstieß damit gegen alle gelernten Anstandsregeln!
„Wenn Sie einen richtigen Eindruck von San Marco haben wollen, müssen Sie viel weiter zurücktreten. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen!“
Er nahm sie einfach bei der Hand und sie ließ sich von ihm fortziehen.
„Hier ist der Platz!“ strahlte er nach ungefähr hundert Metern.
„Schauen Sie! Jetzt verschmelzen die romanischen Portale, die gotischen Spitzbogen, die klassischen Pfeiler, die Renaissancebalustraden und byzantinischen Kuppeln zu einer Einheit. Sieht es nicht aus wie eine Fata Morgana?“ fragte er so stolz, als gehöre ihm das Ganze.
Johanna musste ihm Recht geben.
„Sie haben Kunstverstand!“, nickte sie anerkennend.
Und damit war das Eis gebrochen. Was kümmerten sie Anstandsregeln! Dieser Mann war überaus gebildet und kultiviert. Im Nu hatte er sie in ein Gespräch über Baustile in Venedig verwickelt, so dass Johanna gar nicht merkte, dass sie mit ihm ging, fasziniert von seinem Wissen, das er ihr abwechselnd in gebrochenem Deutsch und Italienisch mitteilte.
Vor dem Café Florian machte er Halt.
„Darf ich Sie zu einem Aperitif zum Sonnenuntergang im schönsten Café der Welt einladen?“ fragte er so bittend und hoffnungsvoll, dass sie nicht Nein sagen konnte.
Es war immer noch warm, die Sonne verschwand und der Geiger des Cafés begleitete ihren Untergang mit Vivaldi-Musik.
Nach einer halben Stunde wusste Johanna, dass
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 09.06.2015
ISBN: 978-3-7368-9904-9
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