Cover

Deckblatt

Anya Omah

 

Erfüllte Sehnsucht

 

 

©Text Copyright 2014

 

 

A.P.P. Verlag

Deutsche Erstausgabe

Dezember 2014

 

 

 

 

Impressum

Kontaktieren Sie mich unter: anya.omah@gmx.de

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© Cover by Any Shaw & Julia Stepanova, 2014

unter Verwendung eines Motivs von www.gettyimages.de

 

Lektorat & Korrektorat: Anke Neuhäußer, Mandy Heskamp

Mitwirkende: Andrea Niemeyer, Mandy Reichelt, Heike Leifeling, Diana Falk

 

Erschienen unter:

A.P.P.-Verlag

Peter Neuhäußer

Gemeindegässle 05

89150 Laichingen

 

ISBN Mobi: 978-3-945786-00-0

ISBN epub: 978-3-945786-01-7

ISBN Taschenbuch: 978-3-945786-02-4

Eins - Hoffnung

In Filmen verlässt die Seele einfach den Körper, wenn Schmerz, Angst und Verzweiflung einen zu brechen drohen. Im wirklichen Leben gibt es keinen Ausweg, keinen Ort, der einen vor der Realität schützt: Steven und Ben schweben in Lebensgefahr und werden in diesem Moment notoperiert. Das ist meine Realität, seitdem das Schicksal von meinem Leben nichts als Asche übrig ließ.

Den Zeiger der Uhr erkenne ich nur noch verschwommen, aber er bewegt sich und erinnert mich daran, dass die Zeit nicht stehen geblieben ist. Dass ich seit einer Ewigkeit im Wartebereich der Notaufnahme sitze und keine Ahnung habe, was ich tun soll, falls dies hier schlecht ausgeht und irgendwann einer der Ärzte kommt, um uns mitzuteilen, dass sie es nicht geschafft haben.

Zum wiederholten Mal kämpfe ich die aufsteigende Panik in mir nieder und zwinge mich, daran zu glauben, dass alles gut werden wird.

»Hier mein Schatz.« Ich drehe den Kopf zu Linda, die mir einen dampfenden Becher hinhält, stumm verneinend wende ich mich ab und der Uhr wieder zu. Im Augenwinkel registriere ich, dass Peter ums Eck kommt und neben meiner Mutter Platz nimmt. »Frau Klingenthal ist … informiert«, sagt er in einem bedauernden Tonfall. Vermutlich dem gleichen, mit dem er Bens Mutter versucht hat, schonend beizubringen, dass ihr Sohn sterben könnte. Seine Worte machen mir – wie vorhin – bewusst, wie wenig ich von Ben weiß. Wie nutz- und hilflos ich mich fühlte, als man mir bei der Ankunft im Krankenhaus simple Fragen zu seiner Person stellte, von denen ich keine einzige beantworten konnte. Nicht mal sein Geburtsdatum ist mir bekannt. Mein Innerstes wird von dem grausamen Gefühl zerfressen, kostbare Zeit verschwendet zu haben. Zeit, in der ich, statt über mich zu reden, nach seinem Lieblingsgericht, seiner Lieblingsfarbe, seinen Träumen, Ängsten und seiner Kindheit hätte fragen sollen.

Was, wenn ich keine Gelegenheit mehr dazu bekomme, dieses Versäumnis nachzuholen?

Was, wenn Steven nicht zu mir zurückkehrt?

»Du zitterst ja! Soll ich eine Decke holen?«, erkundigt sich Linda. Sorge belegt ihre Stimme und ihre Augen schimmern feucht, als sie mir erneut das Heißgetränk reichen möchte. »Der Tee wird dich aufwärmen, Yaya. Bitte. Du … musst was trinken.«

Mir ist nicht kalt, will ich sagen, scheitere aber an dem Kloß, der in meiner Kehle wie Feuer brennt. Kopfschüttelnd lehne ich ab, lasse zu, dass sie meine Hand nimmt und sie drückt. Mit dem Daumen streicht sie über die Hautstelle, an der das getrocknete Blut der Männer haftet, die ich liebe.

»Sie schaffen es«, flüstert sie mit bebendem Kinn und nickt mir zu.

Ich lecke mir die Tränen von den Lippen und erwidere ihr Nicken – energisch –, weil ich daran glauben möchte, daran glauben muss. Denn das ist alles, was ich tun kann: Hoffen. Wird es genügen? Nana, Stevens Mutter und Patrick, sein Onkel, der für ihn wie ein Vater ist, befinden sich in der Kapelle und beten. Sie sind gläubig – so sehr, dass sie jeden Sonntag in die Kirche gehen. Und ich frage mich, woher sie die Zuversicht nehmen, Gott würde ihre Gebete erhören, nachdem er all das zugelassen hat. Trotzdem bin ich kurz davor, die Kapelle aufzusuchen, weil das Gefühl der Ohnmacht mich mit jeder weiteren Sekunde, die ich untätig hier sitze, zu ersticken droht. Da ich aber vor Ort sein will, wenn es Neuigkeiten gibt, schließe ich nur die Lider und bete – zum allerersten Mal in meinem Leben.

 

»Sind Sie die Angehörigen von Benedikt Klingenthal?«, dringt drei Atemzüge später eine weibliche Stimme an mein Ohr. Ich reiße die Augen auf und blicke in das mit Sommersprossen übersäte Gesicht einer Krankenschwester. Keine Ärztin – das ist ein gutes Zeichen, oder? Sie würden doch kein Pflegepersonal schicken, um uns mitzuteilen, dass Ben … dass sie ihn nicht retten konnten?

»Andernach.« Peter ist aufgestanden und reicht ihr die Hand, während meine von Lindas gedrückt wird. »Wir sind …« Er stockt und sieht in meine Richtung. »Unsere … Tochter ist seine Partnerin. Die Mutter ist informiert und müsste jeden Moment da sein.«

Das Tochter überhöre ich und konzentriere mich stattdessen darauf, nicht die Balance zu verlieren, als ich mich aufrichte. Er darf nicht tot sein. »Geht ... geht es ihm gut?« Meine Knie fühlen sich an wie Gelee und mein Herz setzt mindestens zwei Schläge aus.

»Herr Klingenthal hat die Operation gut überstanden und liegt zur Überwachung auf …«

‚Gut überstanden‘ hallt es so laut in mir nach, dass ich den Rest ihres Satzes nicht mehr mitbekomme. Die Sorge um ihn sowie die Anspannung der letzten Stunden entlädt sich in Tränen der Erleichterung, die mir heiß über die Wangen laufen. »K-kann … kann ich zu ihm?«

Bedauernd verzieht sie den Mund. »Er ist noch sehr schwach und braucht Ruhe …«

»Ich … will nur nach ihm sehen« … seine Hand halten und sagen, dass ich ihn liebe. »Bitte«, flüstere ich und bemerke, wie sie den Blick über mein Top und die Shorts schweifen lässt – beides voller Blutflecken.

»Ihre Eltern müssen aber hier warten«, sagt sie, als seien Mama und Peter nicht anwesend und lächelt. Nicht warmherzig oder mitfühlend, sondern routiniert und leicht unterkühlt, aber das ist mir egal.

»Wissen Sie etwas über den Zustand von …« Ich hole tief Luft. »Steven?«

»Sie müssen mir schon den vollen Namen nennen«, entgegnet sie so genervt, dass ich alle Mühe habe, sie nicht anzublaffen.

»Mensah. Steven Mensah«, antworte ich stattdessen und folge ihr ins Treppenhaus, wo wir vor dem Lift stehen bleiben. »Er ist zusammen mit Ben … äh … Benedikt Klingenthal eingeliefert worden und …«

»Nein, der Name sagt mir nichts«, fällt sie mir beinahe hastig ins Wort, entfernt sich zwei Schritte weit und ergänzt im Gehen »Erste Etage. Dort befindet sich die Intensivstation. Klingeln Sie und fragen sie nach ihrem Partner.«

 

***

 

Alles in mir zieht sich zusammen, als ich das Zimmer betrete, in dem Ben liegt.

Er ist blass – schrecklich blass – und sein großer Körper wirkt so kraftlos in dem Krankenbett, das mir viel zu klein für ihn erscheint. Unsicher nehme ich einen tiefen Atemzug dieses typischen Gemischs aus Desinfektionsmittel und Alkohol. Die angezeigten Vitalzeichen auf dem Monitor über ihm verschwimmen vor meinen Augen und ich unterdrücke nicht nur vor Erleichterung ein Schluchzen. Denn Schuld nagt an mir und frisst sich wie Säure durch mein Herz, weil Ben ohne mich nicht hier läge. Was ich die ganze Zeit über verdrängt habe, sickert nun schmerzlich in mein Bewusstsein:

Meinetwegen ist er in die Schusslinie geraten.

Meinetwegen wollte er abhauen, mich in Sicherheit bringen.

Meinetwegen hat er sich gestern Abend ins Studio begeben und ist in eine Falle getappt – die gleiche, in die vermutlich auch Steven …

Bens unvermitteltes Räuspern stoppt meine Gedanken. Die Lider sind leicht geöffnet, aber ich merke, wie schwer es ihm fällt, sie nicht wieder zu schließen. Den Blick lässt er über mich hinweggleiten, ganz langsam, als inspiziere er mich. Rasch wische ich mir die Feuchtigkeit von den Wangen, weil ich mir einbilde, mein Gesicht sähe dadurch weniger aufgequollen aus. Dabei sind Äußerlichkeiten gerade genauso unwichtig, wie das leicht schief hängende Stillleben an der gegenüberliegenden Wand.

»Wie geht es dir?«, will Ben mit heiserer Stimme wissen und ich lache kurz auf. Eher unfreiwillig und ungläubig, weil ich nicht fassen kann, dass er sich in seinem Zustand um mich sorgt. Dabei liege nicht ich, sondern er da – unter anderem mit vier Drainagen, aus denen Wundsekret abläuft. Mein Magen verknotet sich bei der Vorstellung, wie übel sie ihn zugerichtet haben. Die Nazis! Sie müssen es gewesen sein, eine andere Erklärung gibt es nicht, und eine, die mir mehr Angst macht auch nicht. Ich will ihn fragen, was vergangene Nacht geschehen, was ihm und Steven angetan worden ist, aber meine Lippen beginnen zu beben. Blinzeln, schlucken und Luft zufächeln können nicht verhindern, dass eine Heulattacke meinen Körper erschüttert.

»Sch ... Sch …«, versucht er mich zu beruhigen und hustet auf. »Ich … ich werd schon wieder. Mir fehlt nichts«, behauptet er mit dünner Stimme, doch Schmerz verzerrt seinen Ausdruck und straft seine Worte Lügen.

Er sieht gar nicht gut aus und wirkt so schwach, beinahe benommen. »Soll … soll ich jemanden rufen?«, frage ich, obwohl ich weiß, dass sein Zustand der Narkose geschuldet ist.

»Es geht schon«, stöhnt er und die Manschette um seinen Arm plustert sich auf. »Mach dir um mich keine Sorgen. Gib … gib mir einfach nur deine Hand.«

Darauf bedacht, nicht mit der Infusionsnadel in Berührung zu kommen, gehorche ich. Über das Blut, das an meiner Haut haftet, verliert er kein Wort. Vorsichtig schiebt er unsere Finger ineinander, stoppt auf diese Weise mein Zittern und nach einer Weile auch das Schluchzen.

»Geht’s wieder?«

Ein heiser klingendes »Ja« verlässt meinen verlogenen Mund, während sein Daumen zärtlich über meinen Handrücken streicht.

»Tut mir leid, dass …« Er schluckt, als strenge ihn das furchtbar an. »Dass ich nicht, wie versprochen, zurückgekommen bin. Ich …«

»Gott, Ben!« Energisch schüttele ich den Kopf. »Mir tut es leid. Es ist meine Schuld … Alles.«

»Nein«, keucht er und verstärkt den Druck um meine Finger. »Denk … so was nicht. Hörst du?«

Obwohl ich es besser weiß, nicke ich, um ihn nicht noch mehr aufzuregen.

»Gut.« Sein Atem geht schwer. »Und jetzt hör mir zu.«

Die Art, wie er mich dabei fixiert sowie der ernste Tonfall versetzen mich in Unbehagen. Wird er mir nun mitteilen, dass es Komplikationen gab und er irreparable Schäden davongetragen hat? Automatisch wandert mein Blick über die Decke, die seine Wunde verdeckt. Oder hat er mehrere? In Gedanken an das viele Blut würge ich die Furcht hinunter und frage: »Was ... ist denn los?«

»Ich möchte, dass du eine der Schwestern um meine Sachen bittest. Da müsste auch meine Geldbörse bei sein. Dort findest du meine Kreditkarte.«

Was zum …?

»Nimm sie an dich und verlasse die Stadt. Heute noch!«

»Nein!«, stoße ich hervor und reiße ebenso entsetzt wie panisch die Augen auf.

»Du musst!«

»Nein, Ben! Ich …«

»Sieh unter das Laken!«

Mit klopfendem Herzen begegne ich der Strenge in seinem Blick, mit welcher er seine Anordnung unterstreicht. Soll ich ihr nachkommen? Will ich sehen, was ihm meinetwegen angetan worden ist?

»Sie haben zugestochen, Yaya.«

Was? Oh Gott!

Mit vorgehaltener Hand unterdrücke ich ein Schluchzen – keine Chance.

»Die waren zu fünft. Ich … hatte verdammtes Glück, dass …« Er stockt, als sei ihm ein Einfall gekommen. »Was … ist mit Steven? Plötzlich war er da, wollte mir helfen …«

Sorge, Angst und Schuld, vereinen sich zu einem einzigen Gefühl, das sich wie eine Schlinge um meinen Hals legt. Sie ist eng, verflucht eng, und ich ringe nach Luft, die immer knapper zu werden scheint.

»Scheiße! Ist er …?«

»Sie … o-operieren ihn n-noch.«

Ben nickt kaum merklich und die flüchtige, wenn auch aufrichtige, Bestürzung währt nicht lange. »Du musst hier weg.«

»Ich … kann nicht.«

»Doch!« Schweißperlen glänzen auf seiner Stirn und die Gesichtsfarbe ähnelt immer mehr den weißen Wänden dieses Zimmers.

»Bitte, Ben«, flehe ich weinend. »Du … du musst wieder gesund werden und ... und dann sehen wir weiter, ja? Jetzt brauchst du erst mal Ruhe.«

»Yaya.« Die Augen schließend ringt er um Fassung. »So komme ich aber verdammt noch mal nicht zur Ruhe«, presst er hervor und klingt als hätte er Schmerzen. »Hier drin kann ich dich nicht beschützen und die Vorstellung, dass dir was zustößt …« Ein Hustenanfall erschüttert seinen Körper und der Monitor beginnt zu piepen. Hilflos sehe ich mich um und bin kurz davor die Klingel zu betätigen, doch Ben schüttelt den Kopf. Er will weitersprechen, aber ein Pfleger, der Sekunden später die Tür öffnet, hält ihn davon ab – zum Glück.

»Jetzt nicht!«, wird dieser angeknurrt.

»Ihr Blutdruck sieht das aber anders«, kommt als Konter. »Und die Besuchszeit ist jetzt auch vorbei. Sie brauchen Ruhe.«

Vorsichtig entziehe ich Ben meine Hand, weil ich einsehen muss, dass der Mann Recht hat.

»Yaya … warte!«

»Was soll das denn werden?«, fragt der Intensivpfleger und verhindert mit gekonntem Griff Bens zum Scheitern verurteilten Versuch, sich aufzurichten. »Aufgestanden wird noch lange nicht!«

»Bitte, Yaya!«, keucht er. »Lass … lass dir meine Sachen geben.« Kopfschüttelnd wische ich mir die Tränen fort und begebe mich schweren Herzens Richtung Tür. Denn der warnende Blick des Pflegers ist unmissverständlich und lässt mir keine Wahl.

Ich will nicht gehen. »Bis … später«, flüstere ich, ziehe die Tür ins Schloss und höre, dass Ben flucht und schimpft. Am liebsten möchte ich zurück, um ihn zu beruhigen. Dabei ist mir klar, dass es nur einen Weg gibt, der ihn besänftigen könnte. Einen, den ich nicht einschlagen kann und will.

Verlasse die Stadt!

Ausgeschlossen! Nicht ohne ihn und nicht, ohne zu wissen, ob … ob Steven durchkommen wird.

 

***

 

Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Durch die Glastür im Untergeschoss sehe ich, wie Stevens Mutter in der Notaufnahme vor den Augen einer Ärztin in Tränen ausbricht.

»Bitte nicht«, höre ich mich flüstern und fasse mir an die Brust, weil Nanas Körpersprache mir gerade das Herz bricht. Was auch immer ihr mitgeteilt wurde, führt dazu, dass sie sich von der Ärztin abwendet, um sich von Linda trösten zu lassen. Zitternd und weinend halten die beiden Frauen einander fest.

Steven!

Gott, nein!

Die Arme um meinen Bauch geschlungen taumele ich mehrere Schritte nach hinten. Mein Rücken prallt gegen einen Gegenstand – nein, es ist ein Mann –, in dessen Arme ich sinke, da meine Beine nachgegeben haben. Nach Luft schnappend habe ich das Gefühl zu ersticken und mein Herz … Es rast, pumpt viel zu schnell, braucht dringend den Sauerstoff, welchen meine Lungen nicht aufnehmen wollen. Panik rammt ihre Klauen tief in mich hinein, während Hände nach mir greifen, die ich nicht spüre, da der Schmerz meine Sinne betäubt.

Steven … mein bester Freund … ist tot!

Tot!

Ich fühle Feuchtigkeit über meine Wangen rinnen und bin mir nicht sicher, ob es Tränen sind oder Schweiß, der aus allen Poren schießt. Vermutlich beides. Denn die Umrisse meiner Umgebung zerfließen immer mehr zu einer einzigen Fläche – wie Wasserfarbe, die ineinander läuft. Blinzelnd erkenne ich die Umrisse einer Person über mir und Lippen, die sich bewegen.

»Hööööööreeeeeeensiiiiie miiiich«, dringt es an meine Ohren, in denen das Blut rauscht als stünde ich unter einem Wasserfall. Dann hüllt Dunkelheit mich ein wie Nebel und es wird still.

 

***

 

»Der Überfall … jetzt Steven und Ben. Das war einfach zu viel für sie, Linda.«

»Ich hätte für sie da sein müssen … Sie auffangen sollen.«

»Komm her! Tu dir das nicht an! Yaya ist erwachsen, darauf hatten wir keinen Einfluss.«

Langsam öffne ich die Augen und erkenne aus halb gesenkten Lidern, wie Peter meine Mutter an seine Brust drückt. »Ich hatte ihr meine Hilfe angeboten, als sie in meinem Büro die Panikattacke bekam, aber …«

»Was?« Linda windet sich aus seinen Armen. »Und das sagst du mir erst jetzt?«

»Weil ich dich nicht beunruhigen wollte …«

»Ich fasse es nicht! Das hättest du mir sagen …«

Aus irgendeinem Grund – vermutlich ist es mein Räuspern – hört sie auf zu sprechen, fährt herum und kommt auf mich zu.

Erst in diesem Moment wird mir bewusst, dass ich liege.

Weshalb?

Wo bin ich?

Auf der Suche nach Antworten scanne ich den kleinen Raum und spüre ein Brennen in meinem Handrücken. Eine Infusionsnadel.

Was ist hier los?

»Yaya? Hol einen Arzt, Peter!« Über mich gebeugt sieht meine Mutter zu mir herunter und ihr Mund verzieht sich zu einem seligen Lächeln. »Gott sei Dank! Was machst du denn nur für Sachen, Liebes? Hm? Wie fühlst du dich?«, werde ich mit ihren Fragen bombardiert, bevor sie neben mir auf dem Krankenbett Platz nimmt.

Immer noch ratlos rücke ich zur Seite, als die Erinnerung mich erfasst und wie ein Güterzug über mich hinweg rollt.

Steven!

Nein! Nein, nein, nein!

Zitternd fülle ich meine Lungen mit Luft und schließe die Augen, in der Hoffnung aus diesem Albtraum zu erwachen, wenn ich sie wieder öffne.

»Yaya? YAYA!« Die panische Stimme meiner Mutter zwingt mich, der bitteren Realität ins Gesicht zu sehen.

»Steven … Ist … ist er tot?«, frage ich schluchzend und breche ohne ihre Erwiderung abzuwarten in Tränen aus, weil ich die Antwort bereits kenne.

»Tot? Nein Schatz! Er lebt …«

»Aber … Ich … ich …« … bin mir nicht sicher, sie richtig verstanden zu haben und sehe sie aus verheulten Augen fragend an.

Energisch schüttelt sie den Kopf. »Steven lebt! Er lebt!«

»Er lebt?«

»Ja!«

Unbändige Freude verdrängt die Trauer, die augenblicklich in Erleichterung umschlägt. Und das Bild von Nana in den Armen meiner Mutter ergibt plötzlich einen ganz anderen Sinn. Ich höre mich gleichzeitig lachen und weinen – laut, fast hysterisch, aber das ist mir egal. Linda stimmt ein – nur kurz –, bevor Sorge ihre Züge hart werden und mich verstummen lässt.

»Schatz?« Die Hand, in der keine Nadel steckt, legt sie in ihre. »Er hat … sehr schwere Kopfverletzungen davongetragen.«

Ich zwinge mich weiter zu atmen und nehme eine aufrechte Position ein.

»Deshalb …« Ihre Musterung wird nun eindringlich und ich schlucke. »… mussten sie ihn ins künstliche Koma versetzen, damit … damit er sich davon erholt. Verstehst du? Allerdings kann es gut sein, dass er morgen aufwacht« … oder gar nicht mehr, schwingt in ihren Worten unheilvoll mit.

»Aber … er lebt«, mache ich mir selbst Mut und Hoffnung.

Zustimmend streicht sie mir eine Locke aus dem Gesicht. »Ja, das tut er.«

Hastig entziehe ich ihr die Finger. »Ich muss zu ihm!«

»Du musst jetzt erst mal zu Kräften kommen!«, mischt sich Peter ein, der gerade im Schlepptau einer Pflegerin zurückkehrt.

»Wie ich sehe, sind Sie wieder wohlauf«, bemerkt diese und hantiert mit der Blutdruckmanschette herum.

»Aber sie braucht doch sicherlich noch Ruhe, oder?«, will Mutter wissen und steht auf, um der Krankenschwester Platz zu machen.

Ohne Linda zu antworten, verlangt sie wortlos nach meinem Arm, den ich schnaubend ausstrecke.

»Neunzig zu sechzig ist ein bisschen wenig. Wie ist Ihr Blutdruck sonst? Wissen Sie das?«, werde ich gefragt, während sie, auf ihre Armbanduhr schauend, meinen Puls misst.

»Weiß nicht«, entgegne ich, statt zu behaupten, dass er immer etwas niedrig sei. Gott, wie dämlich! Ich drehe durch, sollte meine Antwort mich an dieses Bett fesseln.

»Hmmm …« Sie notiert die Werte auf einem Blatt Papier. »Also Ihr Puls könnte ein wenig höher sein«, fährt sie altklug fort und wendet sich nicht mir, sondern Peter und Mutter zu, obwohl ich die Patientin bin.

Hallo? Dem Drang sie schnippend und winkend darauf aufmerksam zu machen, widerstehe ich nur knapp.

»Die Visite ist gegen elf. Der Doktor wird Ihnen mehr sagen können, weil dann auch die Laborergebnisse da sind.«

»Gut. Bis dahin bin ich wieder zurück«, melde ich mich zu Wort und kassiere von Mama einen bösen Blick.

»Yaya, bitte! Du warst ohnmächtig! Damit ist nicht zu spaßen. Außerdem … gibt es nichts, was du jetzt für Steven tun könntest.«

Ihre Worte lassen mich innerlich zusammenzucken. Trotzdem bin ich wild entschlossen, sie zu ignorieren und sitze bereits auf der Bettkante – wankend. Denn der Boden unter meinen Füßen dreht sich bei dem Versuch, mich hinzustellen. Mist!

»Siehst du?« Meine Mutter klingt, als hätte sie eine Wette abgeschlossen und gewonnen. »Du brauchst Ruhe.«

Ich brauche Steven und … er mich, aber leider spielt mein blöder Kreislauf da nicht mit. Mir bleibt nichts anderes übrig, als dem sanften Druck nachzugeben, mit dem Linda mich zurück ins Bett befördert. Widerwillig, aber hoffnungsvoll.

Ben und Steven leben!

Zwei – Ein guter Junge

 

Das Klingeln meines Handys katapultiert mich aus dem Schlaf.

Wer ruft denn mitten in der Nacht an?

Oh Gott! Ist was mit Steven?

Angst und Hoffnung jagen zu gleichen Teilen durch meinen Körper, der wie auf Kommando hochschnellt. Ich brauche einen Moment, um mich zu orientieren, weil ich vorübergehend bei Peter und Mutter eingezogen bin. Das Handy muss ich zum Glück nicht lange suchen, da es, wie in den letzten Nächten, griffbereit auf dem Nachttisch liegt.

Kurz darauf starre ich mit wild klopfendem Herzen auf das Display. Nummer unbekannt.

Bitte! Bitte mach, dass es ihm gut geht!, wiederhole ich stumm vor mich hin.

Dann hebe ich ab – atemlos und hellwach. »Hallo?« Oh bitte, lass es …

»Yaya? Hier ist Laura.«

Diiiie? Überrascht reiße ich die Augen auf. Was will denn meine ehemalige Arbeitskollegin von mir?

»Hab ich dich geweckt?«

»Äh … ja«, entgegne ich zunächst entgeistert, merke aber die Erleichterung in mir hochsteigen. Denn keine Neuigkeiten sind besser als schlechte.

»Ich … wollte dich fragen, ob du was von Steven gehört hast?«

Warum will sie das wissen?

»Er und ich … wir sind. Also wir … haben uns ein paar Mal getroffen und jetzt erreiche ich ihn nicht mehr. Gemeldet hat er sich auch schon seit Tagen nicht. Ich hatte keine Ahnung, … was ich machen soll. Und du bist doch so gut mit ihm befreundet.«

Schweigen –, weil ich erst mal verdauen muss, dass ausgerechnet sie anscheinend etwas mit meinem besten Freund hat. Auf diese Weise davon zu erfahren, versetzt mir einen Stich. Doch ihr gleich mitteilen zu müssen, dass Steven im künstlichen Koma liegt, fühlt sich tausendmal schlimmer an. Mein Hals entscheidet spontan, zuzuschwellen.

»Yaya?« Sie klingt besorgt. »Hat … Hat er dir gegenüber Andeutungen gemacht, wie … wie er zu mir steht? Also … also, ich mein … würde er sich einfach aus dem Staub machen, ohne ein Wort? Ist Steven so einer?«

Scheiße, sie hat ihn gern! Sehr sogar und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als ihre Befürchtung bestätigen zu können. Stattdessen spiele ich mit dem Gedanken eine Störung in der Leitung vorzutäuschen, nur um auflegen zu können. Ich habe nämlich keine Ahnung, wie und wo ich beginnen soll. »Steven liegt im Koma«, entscheide ich mich eine gefühlte Ewigkeit später für die direkte Art.

Die einkehrende Stille ist drückend, und ich nutze sie, um meine Atmung in den Griff zu bekommen, doch die Tränen sind bereits im Anmarsch. Erfolgreich dränge ich sie zurück und will fortfahren, da fällt Laura mir schluchzend ins Wort und steckt mich damit an.

»Warum? Was … was ist denn passiert?«

Ich erzähle ihr alles und erfahre, dass Steven am besagten Abend ihretwegen ins Studio gefahren ist. Sie hatte ihm die Schlüssel fürs Do-Well gegeben und ihn gebeten, ihre – und jetzt kommts – Tasche zu holen.

TASCHE! Welche halbwegs normale Frau – in diesem Fall sogar Tussi – vergisst denn bitte ihre Tasche?

Fassungslos und innerlich nach Luft schnappend presse ich die Lippen aufeinander. Fest, denn ich bin kurz davor lautstark zu äußern, was ich davon halte, würge dann allerdings alle Vorwürfe mühsam hinunter.

»Das w-wäre nie passiert, wenn ich … ihn nicht losgeschickt hätte«, flüstert sie und heult ins Telefon.

Nein, du bist nicht schuld, hätte ich erwidern sollen – dessen bin ich mir bewusst. Aber der wütende und unfaire Teil in mir sieht das anders und will sie anschreien. Daher lege ich lieber auf und presse mein Gesicht ins Kissen, damit Linda und Peter nicht mitbekommen, wie ich mich wieder in den Schlaf weine.

 

***

 

Tags darauf lasse ich mich um zehn in der Früh von Peter ins Krankenhaus fahren. Inzwischen wissen er und die Polizei von der Morddrohung und schließen nicht aus, dass Ben und Steven den gleichen Tätern zum Opfer gefallen sind. Da Ben die Gesichter nicht richtig gesehen hat, lässt seine Täterbeschreibung zu wünschen übrig. Nun hängt vieles von Steven ab, der noch immer im Koma liegt. Kurzum: Diese Nazis sind auf freiem Fuß und könnten ihre Drohung jederzeit wahr machen. Wie der Freund meiner Mutter es im Ernstfall mit ihnen aufnehmen will, ist mir schleierhaft. Dennoch bin ich genauso froh wie dankbar, von ihm überall hingefahren und abgeholt zu werden.

 

Vor der Tür zu Stevens Zimmer verharre ich. Er hat bereits Besuch, und zwar nicht von Nana oder Patrick, sondern Laura. Obwohl das nach unserem nächtlichen Telefonat zu erwarten war, habe ich nicht damit gerechnet. Unschlüssig, ob ich dazu stoßen soll, beobachte ich, wie sie seine Hand hält und streichelt.

Ist ihm das überhaupt recht? Er ist nicht gerade in der Verfassung, sich dagegen zu wehren. Ihre Lippen bewegen sich und sie lässt den besorgten Blick über sein Gesicht gleiten – so zärtlich, als hätte sie das schon öfter getan. Instinktiv lasse ich die Klinke los, weil mich das Gefühl beschleicht zu stören. Also beschließe ich später wiederzukommen und mache mich auf den Weg zu Ben. Im Fahrstuhl fällt mir auf, Steven noch nie so … vertraut mit einer Frau gesehen zu haben.

Was läuft da?

Den Impuls kehrtzumachen, um Laura auszufragen, schiebe ich beiseite und trete aus dem Lift. Eine Glastür und drei Zimmer weiter liegt Ben, den ich gleich in meine Arme schließen werde. So fest, wie die Wunde an seinem Bauch es zulässt. Das Flattern in meiner Magengrube wird mit jedem Schritt, der mich näher zu ihm bringt, intensiver.

Laura ist vergessen.

An seiner Tür angekommen, unternehme ich den lächerlichen Versuch, meine Locken zu richten und – kollidiere fast mit einer Frau. Mitte fünfzig, maximal Anfang sechzig, groß und schlank, blondes zu einem strengen Dutt nach hinten drapiertes Haar und blaue Augen, die mich vom Scheitel bis zur Sohle mustert. Ausgiebig, interessiert aber vor allem neugierig. Mir ist klar, wem ich hier gegenüberstehe, noch bevor sie die Stille zwischen uns bricht.

»Sie müssen Yaya sein. Ich bin Benedikts Mutter.« Ein Kranz aus feinen Fältchen breitet sich um ihre Augen aus und die Mundwinkel wandern nach oben. Jetzt weiß ich, woher Ben seine Grübchen hat. »Ich freue mich so sehr, Sie kennenzulernen«, eröffnet sie mir derart überschwänglich, dass es mir im ersten Moment die Sprache verschlägt. Irritiert betrachte ich ihre Hände, die über meine Oberarme streichen und sie drücken. Dass sie mich nicht hochhebt und wie ein Kleinkind durch die Gegend wirbelt, hab ich vermutlich dem Umstand zu verdanken, etwas zu groß und zu schwer dafür zu sein. Wieder in ihr Gesicht schauend, fällt mir auf, dass sie meinem Blick gefolgt ist.

»Verzeihen Sie. Ich wollte nicht …« Abrupt lässt sie von mir ab, wodurch sich meine Schockstarre löst.

»Mich … freut es auch, Sie kennenzulernen, Frau Klingenthal. Ich bin hier, um Ihren Sohn zu besuchen«, erkläre ich, als sei das nicht offensichtlich, weil mir nichts anderes einfällt. Hinter einem Grinsen versuche ich die plötzlich auftretende Unsicherheit zu kaschieren, denn sie starrt mich immer noch an. Kopfschüttelnd und mit vorgehaltener Hand scheint sie mit Tränen zu kämpfen.

Etwa meinetwegen? Das ergibt doch gar keinen Sinn.

»Kein Wunder …«, beginnt sie lächelnd. »Sie … sind ganz bezaubernd.«

Kein Wunder … was?

Meine Güte! Ihre Reaktionen auf mich sind verwirrender als die mendelschen Regeln der Vererbungslehre.

Ein »Dankeschön« murmelnd merke ich, wie mir Blut in die Wangen schießt. Verlegen begegne ich ihrem nun ernsten Blick. »Es gibt da etwas, was ich Ihnen sagen möchte. Haben Sie kurz Zeit?«

Ich schlucke. Hörbar. »Äh … ja.«

Sie tritt näher und zieht die Tür des Krankenzimmers ihres Sohnes zu, bis sie nur noch einen Spaltbreit anlehnt. Meine Hände nimmt sie zwischen ihre und sagt beinahe beschwörend: »Egal, was er in der Vergangenheit getan hat ... Ben ist ein guter Junge. Und wir machen alle mal Fehler.«

Ihre Worte erinnern mich an seine.

»Vertrau mir!«

»Ich werde dir Rede und Antwort stehen.«

»Nicht wahr?«, fordert Frau Klingenthal meine Zustimmung ein und erhöht leicht den Druck um meine Finger.

Ich nicke.

»Aus seinen hat er gelernt und ...« Ihre Augen quellen beinahe über vor Mutterliebe. »Mein Sohn ist ein so wundervoller Mensch«, fährt sie fort, als wolle sie mich davon überzeugen. Dabei ist das gar nicht nötig. Er hat mich gerettet, sich meinetwegen mehrmals in Gefahr begeben, ist liebevoll, aufmerksam und fürsorglich. Mir ist mehr als bewusst, was ich an ihm habe und … vor vier Tagen um ein Haar für immer verloren hätte.

Ist es das?

Zweifelt sie womöglich an der Aufrichtigkeit meiner Absichten?

Und von welchen Fehlern, aus denen er gelernt hat, spricht sie denn nur?

Noch bevor diese Fragen über meine Lippen kommen können steht Ben in der Tür. Mit einem Blick, den ich nicht verstehe, bringt er seine Mutter dazu, die Hände von mir zu nehmen und sich mit den Worten »Ich … lasse euch zwei jetzt allein« zu verabschieden.

Ihr Gang ist aufrecht, stolz, zeugt von Stärke und einer Spur Verletzlichkeit, als ich ihr nachsehe.

»Was machst du hier?«, unterbricht Ben meine Inspektion und führt mich an der Hand in sein Krankenzimmer. Die Tür zieht er hinter mir ins Schloss und mustert mich mit finsterer Miene. Er ist noch etwas blass um die Nase und zu Fuß ein wenig wackelig, was vermutlich nur Leuten auffällt, die ihn besser kennen. Dennoch erstaunt es mich, wie schnell er sich von der Stichverletzung erholt hat. Körperlich. Denn wie es mental in ihm aussieht, vermag ich nicht zu beurteilen, weil es bei meinen Besuchen nur um mich geht – so wie jetzt.

»Ich will dich hier nicht sehen! Das ist viel zu gefährlich. Wann begreifst du das endlich?«, weist er meinen Versuch mich ihm zu nähern zurück und versetzt mir damit einen Stich. Enttäuscht lasse ich die Arme sinken, die ich ihm um den Hals legen wollte. »Du willst mich nicht sehen? Ist … das dein Ernst?«

Ben atmet geräuschvoll aus. »Du weißt, dass ich das so nicht gemeint habe, Yaya.«

»Das ändert aber nichts daran, dass es mich verletzt, wenn …« Der Satz bleibt unbeendet, da ich keinen Streit will und … weil er mich auf eine Weise ansieht, die keinen Zweifel daran lässt, dass seine Worte allein der Sorge um mich geschuldet waren.

»Ich hab keine Ahnung, was ich tun soll, falls …« Ein hartes Schlucken unterbricht ihn, mit seinem Blick hält er mich fest, bevor seine Arme dies übernehmen. Warm und stark – und ich schmiege mich an seine Brust. Vorsichtig, da seine Wunde längst nicht verheilt ist.

»Verdammt, Yaya«, brummt er in meine Locken. »Ich hab einfach eine Scheißangst, dass dir was passiert. Kannst du das nicht verstehen?«

»Ja«, hauche ich, spüre wie sich seine Hände um meinen Nacken schließen und sein Mund mein Ohr findet, in das er raunt: »Dann schalte deinen Sturkopf aus und bring dich in Sicherheit.« Sein heißer Atem und das heiser klingende »Mir zuliebe« lassen mich erschaudern.

»Das geht nicht«, entgegne ich flüsternd. »Nicht ohne dich.«

»Ich komme nach. Versprochen.«

»Und Steven …«, beginne ich, wissend, dass dies nicht gerade zu seinen Lieblingsthemen zählt. »Er liegt noch im Koma. Ich kann ihn nicht …«

Mit einem Kuss auf meine Lippen fällt Ben mir ins Wort. Er wartet nicht ab, gleitet in meinen Mund, meine Zunge entlang, umkreist sie und saugt an ihr. Zunächst sanft, dann fester – nicht weniger zärtlich, dafür aber fordernder und mit einer Leidenschaft, die mir den Atem raubt. Ein leises Stöhnen kann ich genauso wenig zurückhalten wie er und klammere mich an ihn. Noch enger, noch verlangender, weil ich genau das brauche: ihn. Den Geschmack seiner Lippen, den Druck seiner Hände, die Geborgenheit seiner Arme, die Wärme seiner Haut …

»Ben …«, hauche ich und spüre die Tür im Rücken sowie seine Erektion an meinem Bauch. Ein Schauer durchfährt mich und hinterlässt eine Gänsehaut. Auf Zehenspitzen erwidere ich seine Zungenschläge, die so gefühlvoll sind, dass ich einen Moment lang vergesse, wo ich bin und weshalb. Dass ich daran glaube – nein mit Sicherheit weiß –, dass alles gut werden wird, weil ich ihn habe. Weil wir einander haben.

»Danke«, entkommt mir leise, als sich unsere Lippen ganz langsam voneinander lösen. Seine schimmern feucht, sind leicht geschwollen von dem Kuss und verziehen sich zu einem schiefen Grinsen, das meine geliebten Grübchen zum Vorschein bringt.

»Gerne. Auch wenn du das nicht verdient hast.«

»Warum nicht?«, frage ich und blicke treuherzig zu ihm hoch.

»Weil du nicht gehorchst, wenn man dir was sagt.«

»Das liegt daran, dass ich kein Hund bin.«

»Aber mein Mädchen!« Besitzergreifend nimmt er mein Gesicht zwischen seine Hände und gleitet mit den Lippen meine Stirn entlang bis zur Schläfe. »Ich bin für dich verantwortlich, Yaya. Wie soll ich für deine Sicherheit sorgen, wenn du nicht auf mich hörst, hm?«

»Aber …«

»Nichts aber!«, erhebt er so unerwartet die Stimme, dass ich beinahe erschrocken zusammenzucke. »Hier kannst du nicht bleiben! Wir müssen beide hier weg.« Sein Ausdruck ist beschwörend und zwischen seine Augen hat sich eine tiefe Furche gegraben – er wird nicht lockerlassen. Unter dieser Erkenntnis entferne ich schnaubend seine Finger von meinem Gesicht und schiebe mich an ihm vorbei, um das Fenster am Ende des Raumes anzusteuern. Dort angekommen bleibe ich stehen und sehe in den angrenzenden Park hinaus. Als ich herumfahre, kommt er mit prüfendem Blick auf mich zu. »Du vertraust mir doch noch, oder?«

Vertrau mir!

Ich werde dir Rede und Antwort stehen.

Egal, was er in der Vergangenheit getan hat ... Ben ist ein guter Junge.

»Willst … willst du wirklich nur wegen der Nazis weg, oder …?«

Sein Gang verlangsamt sich und seine Miene wird wachsam. »Oder was?«

»Du hast gesagt, es gäbe Dinge aus deiner Vergangenheit, über die du jetzt noch nicht sprechen könntest. Und deine Mutter meinte vorhin …«

Abrupt bleibt er stehen und schluckt so hart, dass ich es hören kann. »Was … hat sie dir erzählt?«

»Dass du Fehler begangen hättest …«

Ich kann förmlich dabei zusehen, wie sich seine markanten, wunderschönen Züge verhärten. Als sei ihm dies bewusst, wendet er sich ab, kehrt mir den Rücken zu und hakt nach: »Fehler?«

»Aus denen du gelernt hättest.«

»Und weiter?«

Wieso kann er mir nicht in die Augen sehen?

Kurz spiele ich mit dem Gedanken, ihn im Unklaren zu lassen, entscheide mich aber dagegen. »Mehr hat sie nicht gesagt, weil … du sie unterbrochen hast«, antworte ich auf sein breites Kreuz starrend und erkenne unter dem dunklen T-Shirt, wie angespannt seine Muskeln sind.

»Ben? Du kannst mir alles sagen. Alles«, versichere ich mit fester Stimme, gehe um ihn herum und treffe auf braune Augen, in denen Zweifel aufblitzen. Gott, wie gerne würde ich sie ihm nehmen, ihn wissen lassen, dass ich immer für ihn da bin, weil … ich ihn liebe und …

Scheiße!

Blut schießt mir in die Wangen – denn all das, inklusive der drei Worte, habe ich nicht bloß gedacht, sondern laut ausgesprochen. Hier. Vor Ben, der mich mit hochgezogenen Brauen mustert. Schweigend.

Mein Blick wandert beschämt zu Boden, in dem ich versinken möchte, wenn ich schon nicht unsichtbar werden kann.

»Yaya … ich … will dich nicht verlieren«, lautet seine Reaktion auf meine unfreiwillige Liebeserklärung.

Oh Gott!

Das ist fast so schlimm, wie »Lass uns Freunde bleiben« und mein Herz krampft sich zusammen. Daran kann auch die Mitleidsumarmung, in die er mich zieht, nichts ändern. Sein Oberkörper dehnt sich zu einem tiefen Atemzug, den ich auf meiner Kopfhaut spüre. »Übermorgen entlassen sie mich und dann werde ich dir alles beantworten. Gib mir zwei Tage, okay?«

Nickend kämpfe ich dagegen an, nicht in Tränen auszubrechen. Denn ich will nicht bedauert, sondern geliebt werden. Von ihm!

»Du bist mir wichtig, Yaya. Sehr sogar!« Damit küsst er mein Haar und presst mich so lange und fest an sich, bis der enttäuschte Knoten in meiner Brust fast verschwunden ist.

Doch die Fragen sind geblieben …

 

***

 

Schlaflos wälze ich mich im Bett von rechts nach links und wieder zurück. Nicht etwa, weil mein Mund Ben ohne Einverständnis meines Gehirns »Ich liebe dich« gesagt hat. Und es ist auch nicht die Angst um Steven, die mich wachhält. Jedenfalls nicht ausschließlich. Es ist die Begegnung mit Frau Klingenthal, welche mich einfach nicht loslässt.

Egal, was er in der Vergangenheit getan hat ... Ben ist ein guter Junge. Und wir machen alle mal Fehler.

Was für welche?

Dinge … über die ich jetzt nicht mit dir sprechen kann. Noch nicht.

Du hast keine Ahnung, worauf du dich einlässt.

Glaub mir, so einen wie mich willst du nicht.

Vertrau mir!

Ich werde dir Rede und Antwort stehen.

Ben ist ein guter Junge.

Vertrau mir!

Und wir machen alle mal Fehler.

Fehler ...

Vergangenheit …

Fehler …

»Scheiße Ben, was verheimlichst du mir?«, zerreiße ich flüsternd die Stille der Nacht und beschließe nicht nur sprichwörtlich Licht ins Dunkel zu bringen.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.12.2014

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