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Scham



Mist. Nun ist es doch passiert. Ich habe extra gewartet, bis die Nachbarin mit den Kindern raus ist. Erst dann ging ich los.
Und nun kommt sie noch einmal zurück und wir begegnen uns im Treppenhaus. Zum Glück hat sie keine Zeit, nur etwas vergessen, und eilt an mir vorbei.
Am liebsten hätte ich gar keinen gesehen, heute Morgen. Nach diesem Aufruhr in der Nacht.
Als wenn es nicht genug gewesen wäre, dass mein lieber Mann es wieder nicht lassen konnte. Zu Hause angekommen war er so laut, dass alle mitbekommen mussten, wie betrunken er war. Sein Gebrüll hat jeder in der Nachbarschaft gehört. Bis er endlich in sein übliches Rausch-Koma fiel.
Doch dann, mitten in der Nacht die Polizei. Nicht still und diskret. Nein, mit zwei großen Fahrzeugen kamen sie, Mannschaftswagen nennt man das wohl. Voll besetzt. Und schön das Blaulicht an. Das flackert nachts doch in alle Fenster. Da hat jeder geguckt, was da los ist, bei uns. Und alle konnten sehen, wie sie ihn mitgenommen haben. Abgeführt!
Was soll ich bloß sagen, wenn mich jemand fragt? Dass er, volltrunken wie er war, ein Mädchen anfuhr? Und danach nach Hause kam wie immer? Es wissen sowieso bald alle. Solche Neuigkeiten verbreiten sich schnell. Jetzt gleich, die Frauen im Büro. Sie werden sich das Maul zerreißen, solange ich nicht da bin. Wenn ich ihre aufgesetzte Freundlichkeit sehe! Nette Kolleginnen waren wir mal. Bis ich mit dem blauen Auge auf Arbeit kam. Mein Gott, war mir das peinlich. Aber die wissen ja nicht, wie das ist, mit einem Trinker verheiratet zu sein.
Wenn ich könnte, würde ich einfach wegfahren. In die Berge, wo ich die Einsamkeit so liebe. Wo man niemanden trifft. Aber das geht nicht. Das Leben muss ja weiter gehen.
Das habe ich schon so oft gedacht. Und immer habe ich ihm geglaubt. Wenn er tränenreich geschworen hat, er würde sich ändern. Keinen Alkohol mehr, keine Schläge. Nicht mehr diese Wutausbrüche. Er würde das schaffen. Mir zu liebe.
Und nun das. Ein Schulkind auf dem Nachhauseweg. Einfach liegen gelassen. Und nicht einmal gemerkt, dass sich ihr Fahrrad in der Stoßstange verfing und er es bis zur nächsten Ecke mitschliff. Wie soll ich den Leuten wieder in die Augen sehen können. Ein Glück für das Kind, dass es genug Zeugen gab. Aber warum hat es so lange gedauert, bis die Polizei ihn fand. Hätten sie ihn doch einfach angehalten.
Ob ich mich heute krank melde? Ach, besser nicht. Ich müsste doch irgendwann wieder hin. Und ich kann den Chef nicht hängen lassen, mit der ganzen Arbeit. Der tratscht auch nicht. Der ist immer korrekt und seine Freundlichkeit ist echt. Ich werde gleich mal zu ihm reingehen.
Was sagen Sie? Der Chef ist noch nicht da? Seine Tochter kam gestern nach der Schule nicht nach Hause? Er ist bei ihr im Krankenhaus?

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Tag der Veröffentlichung: 14.09.2010

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