Der erste Zahn
Es ist immer ein besonderes Ereignis, wenn ein Kind seinen ersten Zahn verliert.
Ich denke dabei gar nicht an die Zeit, wenn die Kleinen sich freuen, dass sie bald in die Schule kommen. Tagelang mit dem losen Zahn angeben, ihn mit der Zunge in die unmöglichsten Lagen schieben. Ihre Omas und Opas und die Freunde im Kindergarten erschrecken, indem sie ihn fast waagerecht vorne aus dem Mund raus stehen lassen. Und dabei ständig kichern, rumhopsen, albern und immer fröhlich sind.
Ich denke so zehn, zwölf Jahre weiter. An die brutale Art. Wenn die Kinder endlich groß sind. Sie abends mit den Freunden ins Konzert, zum Tanz oder einfach so in die Bar gehen. Wir sie am Wochenende sehen, wenn wir vormittags aufstehen und sie gerade nach Hause kommen.
Irgendwann taucht dann auf einer Party so ein Idiot auf. Der hat zuviel getrunken, ist zugedröhnt oder auf einem ganz anderen Trip. Er sucht mit jedem Streit. Und es geht alles ganz schnell. Ein falscher Blick, ein Rempler aus Versehen, eine schnoddrige Bemerkung, achtlos fallengelassen, kein Anlass ist zu gering, er schlägt sofort zu. Im Rausch, ohne Kontrolle, prügelt er immer weiter. Als längst alle Freunde auf ihm liegen und ihn am Boden halten, schafft er noch einen Tritt. Und noch einen. Mitten ins Gesicht.
Uns bleibt der Schreck. Morgens beim frühen Gang aufs Klo. Erst sehen wir das Blut auf dem Fußboden, im Waschbecken, an der Wand. Eigentlich überall. Dann erst sehen wir ihn, unseren Jungen.
Irgendwie nach Hause gekommen, schaffte er es nicht mehr ins Bett. Betäubt von Schmerz, vom Kiffen und vom Bier, liegt er zusammengekrümmt vor seiner Tür. Blut läuft aus dem Auge - zum Glück nur ein Riss im Lid, aus der Nase - das Nasenbein gebrochen. Und Blut rinnt langsam aus dem Mund. Den man kaum erkennen kann. Die Lippen sind so dick und aufgeplatzt. Dazu diese großen Lücken vorne!
Keiner kann sagen, wann er nach Hause kam. Nach den Schlägen zog er los. Als die Party weiterging. Ohne ihn.
Der Notarzt sagt, das ist normal. Viele können sich an erlittene Gewalt nicht mehr erinnern. Er sieht so etwas täglich.
Aber für uns, für uns ist es fast unerträglich.
Es ist immer ein besonderes Ereignis, wenn ein Kind seinen ersten Zahn verliert.
Tag der Veröffentlichung: 14.08.2010
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