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Kleiner Bruder



Wir waren kinderreich. So nannte man das damals. Mir war es immer etwas peinlich, mit der ganzen Bande den Wochenendausflug machen zu müssen. Meist warteten wir auf der Strasse eine Weile, ehe wir uns alle in das Auto drängeln konnten. Auf irgend jemanden mussten wir immer warten. Eingestiegen, kamen wir uns ziemlich nahe. Doch hatten wir kaum etwas miteinander zu tun. Mein kleiner Bruder und ich.
Ich bin 2 ½ Jahre älter als er. Das ist für Kinder ein großer Unterschied. Da hat man andere Freunde, ist unterschiedlich schnell beim Rennen, ist schon viel größer oder kommt noch nirgends ran, viel klüger oder noch so dumm, viel mutiger oder immer noch so ängstlich.
Ich denke wir haben uns nicht einmal geprügelt. Weil er schon immer einer von den Kleinen war. Mein älterer Bruder hatte bei mir keine Skrupel. Von dem bekam ich mal ein blaues Auge verpasst oder eine aufgeplatzte Lippe. Vielleicht weil ich ein besserer Gegner war und es ihm auch mal heimzahlen konnte.
Meine erste Erinnerung ist, mein kleiner Bruder war das weiße Bündel, das meine Eltern immer trugen und herum gezeigt haben. Sie waren wohl mächtig stolz, oder einfach nur froh, noch einen Sohn zu haben. Vielleicht nicht so froh wie 2 Jahre später, als meine Schwester geboren wurde. Endlich ein Mädchen. Aber es kann sein, da bekam ich schon viel mehr mit. Von dem ganzen Rummel nach einer Geburt.
Als zweites fällt mir ein, dass ich nicht zu seiner Einschulung ging. Ich hatte Kopfschmerzen und wollte nicht. Da halfen auch die Vorhaltungen der Eltern nichts. Nur die Treppen runter für das Familienfoto ging ich noch mit. Oben, dann alleine, war ich stinkig, dass es so schwierig gewesen war, mich durchzusetzen. Und dazu noch der Kopf. Richtig genießen konnte ich das nicht.
Wir haben auch gemeinsam getobt, gespielt, und ein Haufen Zeug zusammen gemacht, was man eben zusammen anstellt als Kinder. Aber sich mit ihm verabreden für einen Spaß, fürs Runtergehen, für ein kindliches Abenteuer, nein, das kam nicht vor.
Irgendwie hatte er immer Probleme. Los ging es mit dem Pullermann. Phimose, da musste der Chirurg schneiden. Es hatte mich schon beeindruckt, wie er beim Pinkeln immer schrie. Er sah dabei so winzig aus, wirkte so hilflos, mitleiderregend.
Als nächstes dann der Blinddarm. Das war dadurch interessant, dass es ein harmloser Eingriff war, wie die Erwachsenen sagten, und doch hörte ich zum ersten Mal, dass sogar Allerweltskrankheiten lebensbedrohlich sein können.
Von da an hörte er nicht mehr auf, stückchenweise zu gehen. Gleich nach der Ausbildung verlor er ein paar Finger. An der Fräse, die fürs Holz da war. Und dann die großen Schnitte später. Ob je einer die Länge all seiner Narben maß?
Auch in der Schule hatte er Schwierigkeiten. Und weil das nicht reichte wurde er deshalb zu Hause noch gequält. Unvergessen ist der Anblick wie er am Tisch saß und mit Mutter Hausaufgaben machen musste. Die reinste Folter. Für beide glaube ich. Und ob es im half? Die Schule gewann er jedenfalls nicht lieb dadurch.
Was wir eigentlich für ein Verhältnis zueinander hatten, fragte die Pastorin beim Beerdigungsgespräch. Und eigentlich hatten wir kein Verhältnis zueinander.
Kennengelernt habe ich ihn erst als er mit dem Sterben begann.
Obwohl er kein langweiliges Leben hatte. Als er groß genug war, hielt es ihn nicht mehr zu Hause. Er schlug sich zur Botschaft durch, nach Warschau. So kam er in das größere Deutschland und nach West Berlin. Was ihn dazu trieb, ich weiß nicht. Kam er mit den Kommunisten nicht klar, oder nur nicht mit sich selbst. Dachte er, sein Glück liegt ganz woanders?
Meist wollte er einfach mehr als er gerade hatte. Mehr können als er konnte, mehr leisten, als zu schaffen war. Er hatte immer hochfliegende Pläne. Bei der Arbeit im Labor und dann als Fotoausrüstungsverkäufer, war er in Gedanken längst der Fotograf. Als Tischler dann der Meister und Kunsthandwerker, als Lehrer fürs Werken der Schulreformer, als Sozialarbeiter, was weiß ich. Dieses Verlangen nach immer mehr bewirken wollen, trieb ihn um. Es brachte ihn nach Norwegen und zurück. Aufs Land, verschiedene Orte, raus aus der Stadt. Dann, auf dem Bau fühlte er sich als Restaurator.
Ja, er hatte ziemlich viel begonnen. Und sich jeweils ganz schön reingekniet. Und manche Projekte durchgezogen. So brachte er seinem Tauchklub das Ökowochenende und sich selbst etwas bei, über Gewässerchemie und wie man sie untersucht.
Doch mit sich selbst zufrieden, so ein Gefühl hielt bei ihm nie lange an. Vielleicht als er zu malen begann. Da fand er die Ergebnisse auch ganz okay. Und stellte sie aus, im Krankenhausflur. Das war schon Teil der Therapie. Als die ganze Krebsgeschichte das zweite Mal begann. Jahrelang lebte er zwar mit der Angst neuer Metastasen, doch ging es ihm gut dabei. Bis er das Taxi übersah. Als die Unfallärzte bei der lebensrettenden OP einen Einblick in seinen Körper bekamen, nähten sie ihn stumm wieder zu. Es war alles eine Täuschung. Davon erholte er sich nicht.
Wir haben ihn dann beerdigt. Liegt er in dieser Kiste, fragte unser Neffe. Ja sein verstrahlter, zerfressener, chemisch behandelter, so oft operierter, geschundener Körper. Der ihm so viel Leiden bescherte. So viel Schmerzen vor dem Tod. Vor dem er so einen Schiss hatte. Man soll positiv denken, sagen alle. Aber wie man das macht, dass weiß keiner, sagte er. Manchmal hatte er recht.
Ich traf ihn öfter während seiner Krankheit, während seines langsamen, qualvollen Sterbens. Öfter als die Jahre davor. Dann haben wir mal über seine Schulden gesprochen, mal über die Scheissinkontinenz und seine immer häufiger ausgerenkten Arme. Über Epilepsie durch Metastasen, die Schmerzen und dass Chemie und Strahlung so viel Nebenwirkungen haben. Laute Geräusche, Kindergetobe, selbst wenn ein Kind um den Tisch rannte im Cafe, alles wurde ihm unerträglich. Er hatte selten Laune, über schöne Dinge zu reden. Nur manchmal noch von netten Schwestern. Oder übers Walking bei Sonnenschein. Erstaunlich zu beobachten, wie locker er mit Freunden sprach, bei Besuchen im Krankenhaus. Und dann zu sehen, wie er regelrecht zusammenklappte als sie gingen. Wie sehr ihn jede Freundlichkeit, jede nette Geste und jedes gute Wort anstrengte.
Ich weiß nichts von seinen Frauen. Nicht, was ihm besonders gut gefiel. Und doch, an ihn denke ich immer noch viel häufiger als zu seiner Lebenszeit. Bei jedem kleinen Anlass fällt mir etwas zu ihm ein. Das ist nun auch nach all der Zeit so und immer noch nicht nur nett gedacht. Ich habe ihn schon immer scharf kritisiert. Auch mal ungerecht und überheblich. Eben aus meiner Sicht, in meiner Art.
Aber auch das spöttelnde an ihn denken hält die Erinnerung wach.
Ist das seine unsterbliche Seele? Die er uns immer wieder schickt? Die Seele, auf die wir keinen Stein legen konnten, nachdem wir ihn begruben? Die man nicht bepflanzen lassen kann mit den schönen Friedhofsblumen, auf einem Grab, das ich nicht brauche? Seltsam ist das schon, so mit dem kleinen Bruder.
Richtig kennengelernt habe ich ihn nie.


Wie gut kennt man seine Geschwister.
Wann lernt man sie richtig kennen.
Wieso fühlt man sich als Familie.


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Tag der Veröffentlichung: 25.07.2010

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