Auf der Plattform, über dem alten Transportschacht standen zwei schlanke Gestalten. Ihre Haut schien fahl und grau. Ein vergleichsweise großer Kopf saß auf schmalen Schultern. Unter der hohen Stirn blickten zwei große dunkle Augen in Richtung Horizont. Das Haupt wurde von feinem dunklem Haar bedeckt, das im Licht der Dämmerung in einem dunklen Violett schimmerte. Die Gestalten wirkten sehr grazil und ungewöhnlich groß. Sie hielten sich fest an den Händen, die vier lange schmale Finger hatten. Wehmut und Trauer lagen in ihrem Blick, gleichzeitig aber auch Hoffnung. Hoffnung auf einen neuen Anfang, auf ein neues Leben in einer neuen Welt, fernab der Heimat. Der karminrote Himmel über ihnen strahlte in der Dämmerung fast rostfarben. Am Horizont versank gerade die sterbende Sonne dieser fernen Welt. Der Boden unterhalb der Plattform hatte nichts mehr von der satten blauen Farbe aus vergangenen Zeiten. Er war grau, ja fast schwarz und die wenigen sandbraunen trockenen Grashalme, die sich im lauen Wind bewegten, gaben der ganzen Szenerie einen trostlosen Anstrich.
Der Mann, Hur-Ak, war einer der besten Ingenieure seiner Welt. Er hatte maßgeblich an der Entwicklung der Raumfahrtechnik mitgewirkt. Seine Gefährtin, Isch-Tel, war eine der führenden Gentechnikerinnen. Durch die Entwicklung der Kälteschlaftechnik waren weite Reisen zu fernen Galaxien erst möglich geworden. Beide befanden sich in der Blütezeit ihres Lebens. Hur-Ak hatte gerade seinen 306. Geburtstag gefeiert. Isch-Tel war vor zwei Zeitzyklen 298 Jahre alt geworden. Nun standen Sie zum letzen Mal Seite an Seite auf der Plattform und blickten in den Sonnenuntergang. Keines der beiden Wesen schien die Stille brechen zu wollen. Dennoch hatte man den Eindruck, dass sie ihre Gedanken austauschten.
Die Erinnerung an vergangene Zeiten überwältigte die Beiden. Erinnerungen an eine Zeit, als die Sonne noch kraftvoll über dem Planeten schien, der Himmel noch zartrosa und das Gras unterhalb der Plattform noch kräftig blau gefärbt war. Damals waren sie noch Kinder, die sorglos über die Wiesen liefen und sich an der heimischen Natur erfreuten. Die Bäume auf der Ebene reckten ihre Äste hoch in den Himmel. Ihr Laub leuchtete in zartem Blau in der Sonne. Einige hatten wunderbar duftende Blüten, die zum Träumen einluden. Andere wiederum trugen süße Früchte. Die Vögel am Himmel zwitscherten fröhlich. Auf der Wiese tanzten Insekten um duftende Kräuter und Blumen.
Zu jener Zeit wussten nur die Alten, dass dies alles dem Untergang geweiht war. Als sie selbst schon fast Erwachsene waren, wurden die Veränderungen in der Umwelt so stark, das die Älteren das Ende nicht mehr verschweigen konnten. Es wurden immer weniger Kinder auf natürlichem Weg geboren. Die Missbildungen bei Neugeborenen nahmen zu. Die Mediziner versuchten alles, um die Entwicklung in stabilen Bahnen zu halten. Doch bei allem medizinischen Fortschritt gelang es nicht, die Fortpflanzung auf normalem Weg zu sichern. Schließlich begannen die Wissenschaftler, das Überleben der Spezies durch Klone zu sichern. Doch dadurch wurde die Degeneration begünstigt. Bald war es nicht mehr möglich, neues Leben zu erzeugen. Auch die Tiere und Pflanzen waren davon betroffen.
Schließlich entschlossen die Bewohner sich, Zuflucht unter der Oberfläche des Planeten zu suchen. Man hatte damit begonnen, unter der Planetenoberfläche riesige Höhlen anzulegen. In diese Höhlen wurden zunächst die wichtigsten Produktionsstätten und später selbst Wohnbereiche gebaut. Immer mehr zog sich die Bevölkerung unter die Planetenoberfläche zurück.
Die Bedingungen auf der Oberfläche wurden immer lebensfeindlicher. Mit einem neu entwickelten Energiestrahl, der das Gestein förmlich verdampfen ließ, wurde der Planet ausgehöhlt wie ein Käse. Zum Schluss wurden ganze Städte und riesige Fabriken in den felsigen Boden gebaut. Die Stadt, in der Hur-Ak und Isch-Tel lebten, bestand aus mehreren Ebenen, die untereinander durch Röhren verbunden waren. Jede Ebene diente einem anderen Zweck. In den unteren Ebenen befanden sich die Produktionsstätten und Industrieanlagen, die für die Versorgung der Bevölkerung benötigt wurden. Auf den oberen Ebenen befanden sich die Wohneinheiten, dazwischen gab es Vergnügungs- und Freizeiteinrichtungen. Sie bildeten das Zentrum der Stadt. Hier entstanden auch große Parkanlagen aus den wenigen gesunden Pflanzen, die von der Oberfläche gerettet werden konnten.
Auch ein paar Tiere konnten vor den tödlichen Strahlen der Sonne gerettet werden. Sie wurden in großen Gehegen innerhalb der Parkflächen untergebracht. Für sie war es besonders schwer, sich an die veränderten Umweltbedingungen anzupassen. Das künstliche Licht wirkte sich vor allem auf die Säugetiere negativ aus. Bald zeigten sich bei den Jungtieren erste Missbildungen. Die Wissenschaftler bemühten sich, negativen Umwelteinflüssen entgegen zu wirken, doch sie waren machtlos. Zum Schluss konnten sie nur noch Genmaterial sichern, in der Hoffnung, später neue Exemplare züchten zu können. Die Pflanzen schienen sich besser an das künstliche Licht anzupassen. Dennoch wurden auch hier ausreichend Samen gesichert. Auf einer neuen Welt wurden diese wichtiger als lebende Pflanzen.
An den Randzonen der mittleren Ebene befanden sich auch die Forschungseinrichtungen. Hier suchten die Wissenschaftler nach Möglichkeiten, ihre Welt zu schützen und zu erhalten. Auch Hur-Ak und Isch-Tel hatten hier ihre Forschungslabore.
Die Entfernungen auf den einzelnen Ebenen wurden durch Fahrzeuge zurückgelegt, die an das Leben unter der Oberfläche angepasst werden mussten. Sie wurden mit Gravitationsenergie betrieben, genau wie die liftartigen Röhren, die die einzelnen Ebenen miteinander verbanden. Hur-Ak hatte diese Lifte mitentwickelt und war einer der Ersten gewesen, die sie testen durften. Er würde das Gefühl, das er beim ersten Betreten eines Gravitationsliftes empfand, nie vergessen. Niemals danach war das Gefühl des Schwebens so intensiv wie beim ersten Mal. Es kostete ihn etwas Überwindung den Lift zu betreten, denn er hatte keinen Boden. Die Gravitation trug die Person nach oben oder unten.
Nur für Fracht, die bis zur Oberfläche transportiert werden musste, wurden herkömmliche Lifte benutzt. Die Verbindung zu den anderen unterirdischen Städten wurde nach wie vor über die Oberfläche abgewickelt. Die Kommunikation erfolgte über Lasertechnik.
Der Transport von Gütern wurde mit Gleitern bewältigt. Da diese noch mit herkömmlichen Kraftstoffen betrieben wurden, konnten sie nur von der Oberfläche aus starten. Sie wurden hauptsächlich für Frachttransorte verwendet. Hin und wieder flogen aber auch Personen zu einer der anderen Städte, um Verwandte zu besuchen, an Kongressen oder an Ratsversammlungen teilzunehmen. Die zehn führenden Wissenschaftlicher jeder Stadt bildeten das planetarische Führungsgremium. Das wiederum wählte aus ihrer Mitte den planetarischen Rat, der ebenfalls aus zehn Mitgliedern bestand. Er entschied über alle Belange der Bewohner.
Das Leben auf dem Planeten wurde immer mehr vom Zerfall gezeichnet. Die Alten konnten es nur schwer ertragen, die Planetenoberfläche nicht mehr betreten zu dürfen. Nur mit Schutzanzug konnte man für längere Zeit an die Oberfläche. Ungeschützt waren die schädlichen Strahlen der sterbenden Sonne unweigerlich tödlich. Es kam zu mehreren Todesfällen, weil sich ein paar sehr alte Bewohner nicht damit abfinden konnten, nur noch eine begrenzte Zeit und mit Schutzanzug an die Oberfläche zu gehen. Sie setzten sich einfach über die Ratschläge des Großen Rates hinweg und wollten weiter an der Oberfläche leben.
Suchmannschaften fanden sie in ihren Häusern. Ihre toten Körper zeigten deutlich die Spuren der Sonnenstrahlen. Sie wiesen überall Verbrennungen auf. Zu Beginn dieser Zeit wurden solche Fälle noch geheim gehalten. Man wollte die Bevölkerung nicht unnötig beunruhigen. Nachdem es jedoch immer häufiger zu derart tragischen Todesfällen kam, musste der Rat handeln. Die Bevölkerung wurde mit der Wahrheit konfrontiert. Damals reifte in Hur-Ak und auch in Isch-Tel der Entschluss, für den Fortbestand der eigenen Spezies zu kämpfen.
Beide hatten sich für einen gemeinsamen Lebensweg entschieden. Ihr Glück wurde vollkommen, als Isch-Tel ganz entgegen allen Prognosen, einem gesunden Sohn das Leben schenkte. Sie nannten ihn Chat-Kun, das bedeutete so viel wie Leben.
Chat-Kun sollte das letzte Kind sein, das auf diesem Planeten geboren wurde. Ihr Sohn festigte sie in ihrem Bestreben, den Fortbestand der eigenen Spezies zu sichern. Hur-Ak war ein herausragender Techniker, der hohes Ansehen im globalen Rat genoss. Er war es auch, der die Entwicklung der Raumfahrt in hohem Tempo vorantrieb. Er wurde später der Vater der Raumfahrt genannt, obwohl es bereits erste Versuche, den Weltraum zu erkunden, gab. Ihm war es zu verdanken, dass sie nun über genügend Raumschiffe verfügten, um ihren sterbenden Planeten heute verlassen zu können.
Isch-Tels Spezialgebiet war die Genforschung. Sie war die letzte Frau, die auf dem Planeten auf natürlichen Weg zur Welt kam. Diese Tatsache spornte sie immer wieder zu neuen Forschungen an. Doch trotz hoch entwickelter Medizintechnik konnte sie nichts gegen die Missbildung der Neugeborenen tun. Die Bevölkerungszahlen sanken rapide. Deshalb konzentrierte sie ihre Forschungen auf das Überleben im Weltraum. Um ihre Spezies zu retten, blieb nur die Suche nach einer neuen Heimat.
Im näheren Umkreis ihrer Sonne gab es keine weiteren bewohnbaren Sonnensysteme. Alle in Frage kommenden Sterne waren viele Lichtjahre entfernt. Die Entfernungen ließen sich nicht in einem normalen Lebenszyklus bewältigen. Die Raumschiffe würden weite Strecken zurücklegen müssen, es könnte Jahrhunderte dauern, bis ein geeigneter Planet für eine Neuansiedlung gefunden wurde. Isch-Tel verband ihre Forschungen fortan mit denen von Hur-Ak. Beide gehörten seit Kurzem dem planetaren Rat an.
Die Wissenschaftler und Ingenieure konzentrierten sich darauf, den Planeten zu verlassen und ihr Leben auf einer neuen Welt fortzusetzen. Die Ingenieure um Hur-Ak bauten immer bessere Raumschiffe, mit denen sie den Weltraum erkundeten. Doch um eine ganze Zivilisation umzusiedeln wurden noch größere Raumschiffe benötigt. Die Wissenschaftler konzentrierten sich auf die Erforschung des Kälteschlafes. Dadurch hoffte man, große Entfernungen zurücklegen zu können, ohne dass die Reisenden alterten.
Seit einiger Zeit litten immer wieder Bewohner in den unterirdischen Städten an einer rätselhaften Krankheit. Auch ihr Sohn Chat-Kun erkrankte an dieser Krankheit, die Dunkelsyndrom genannt wurde, weil sie durch fehlendes gesundes Sonnenlicht hervorgerufen wurde. Der ständige Aufenthalt unter der Oberfläche führte zu Überempfindlichkeit gegenüber synthetischen Produkten. Jede Berührung mit künstlich hergestellten Stoffen oder Nahrungsmitteln wurde für die Betroffenen zur Qual. Da es aber immer seltener gelang, natürliche Lebensmittel herzustellen, konnten die Kranken nur mit Medikamenten gegen die Schmerzen behandelt werden.
Die Bevölkerung war nahe daran zu resignieren und den Kampf ums Überleben aufzugeben. Nur dem Elan einiger weniger Optimisten war es zu verdanken, dass man heute den größten Schritt wagen konnte, den je ein Bewohner dieser Welt getan hatte.
Die beiden Wesen auf der Plattform hielten sich noch immer an den Händen. Ihre Gedanken hatten sich auf der gemeinsamen Ebene der Erinnerung verbunden. Sie hatten nicht bemerkt, dass es inzwischen dunkel geworden war. Die sterbende Sonne war nun ganz hinter dem Horizont verschwunden, doch noch immer kreisten die gemeinsamen Gedanken um ein langes erfülltes Leben, dass nun, nach fast drei Jahrhunderten an einem Punkt angelangt war, welcher einen Wendepunkt in der Existenz der gesamten Spezies darstellte.
Inzwischen herrschte unter der Oberfläche geschäftiges Treiben. Leute liefen aufgeregt hin und her, schwere Kisten wurden auf Transporter verladen und abtransportiert.
Einhundert Schiffe, jedes so groß wie eine Stadt, sollten die letzten Bewohner in neue Welten bringen. Um ein Überleben der Spezies zu sichern wurde jedes der Schiffe mit einem anderen Kurs programmiert. An Bord jedes Schiffes befanden sich ca. 10.000 Bewohner, die gleich nach Verlassen des Sonnensystems in den Kälteschlaf versetzt werden mussten, damit sie den möglicherweise Jahrhunderte dauernden Flug überleben konnten. Sie mussten sich vollkommen auf die Bordcomputer verlassen können. Die Wissenschaftler und Ingenieure hatten alles Erdenkliche getan, um die vorhandenen Technologien weiter zu entwickeln und so sicher wie möglich zu bauen.
Hur-Ak und Isch-Tel standen auf der Plattform und sahen zum Horizont, der sich jetzt ganz plötzlich erhellte. Das erste Raumschiff war gestartet. Bald würden weitere folgen. Die nur noch spärlich vorhandene Atmosphäre würde bald zu brodeln beginnen. Die dünnen Schutzanzüge boten dagegen keinen Schutz mehr. Da schlug der integrierte Alarmgeber in ihren Schutzanzügen an. Es wurde höchste Zeit die Oberfläche wieder zu verlassen. Mit einem letzten Blick zum Himmel, der inzwischen tief schwarz gefärbt war und an dem die Sterne wie eh und je erstrahlten, verließen die beiden Gestalten die alte Plattform.
Längst waren auch die Vorbereitungen für ihren Abflug abgeschlossen. Der Zentrallift brachte sie zum bereit stehenden Gleiter. Vorbei an leeren Geschäften und Wohnungen ging es zum Startplatz. Isch-Tel blieb nur noch eine Aufgabe zu erledigen bevor sie das Raumschiff betrat. Auf dem Zentralplatz einer jeden Stadt hatten Ingenieure eine Informationssäule errichtet. In diese Säule setzte Isch-Tel einen Kristall ein, der Aufzeichnungen über die Bewohner und das Leben auf dem Planeten enthielt. Auch die Gründe für das Fortgehen enthielt der Kristall. Sie waren nicht so arrogant zu glauben, sie seien die einzigen intelligenten Wesen im All.
Sollten einmal fremde Wesen auf ihren Planeten gelangen, würden sie so Hinweise über das Leben und die Kultur der Bewohner erhalten. Der Computer wurde so programmiert, dass die Aufzeichnung aktiviert werden würde, sobald fremde Wesen den Platz betreten. Die eingesetzte Energiequelle lieferte genug Energie für mehrere tausend Jahre.
Die letzten Bewohner waren längst an Bord des Schiffes. Hur-Ak und Isch-Tel waren die letzen, die das Raumschiff betraten. Ihr Schiff war auch das letzte, das den sterbenden Planeten verließ. Die Startvorbereitungen waren bereits abgeschlossen. Chat-Kun saß im Steuerraum und überprüfte am Zentralcomputer noch einmal die einprogrammierten Daten, als Isch-Tel durch die Tür trat. Wenige Sekunden später begann das Raumschiff leicht zu vibrieren. Ein leises Rumoren war in den Gängen und Kammern zu hören. Dann kam die Meldung über das Kommunikationssystem, dass der Start erfolgt sei.
Die nächsten zwei Wochen wurden für letzte Berechnungen und Kurskorrekturen benötigt. Hur-Ak und Chat-Kun hatten damit alle Hände voll zu tun. Isch-Tel war damit beschäftigt, die Besatzung auf den Kälteschlaf vorzubereiten. In großen Räumen waren Kapseln dicht an dicht aufrecht nebeneinander aufgereiht. Bis zur endgültigen Übergabe des Schiffes an die Computerkontrolle hielten sie den Kontakt zu den anderen Schiffen.
Als der Kontakt zu den ersten Schiffen abriss näherte man sich bereits der Grenze des Sonnensystems. Die meisten Passagiere und Besatzungsmitglieder befanden sich bereits im Tiefschlaf. Der Computer war so programmiert, dass er, sobald es Abweichungen zum Kurs gab, die Steuercrew aus dem Tiefschlaf wecken würde. Isch-Tel war die letzte, die ihre Tiefschlafkapsel aufsuchte. Mit einem letzen Blick auf die Kapseln, in denen Hur-Ak und Chat-Kun bereits schliefen, betrat sie ihre Kapsel. Würden sie jemals wieder erwachen? Wie viele ihres Volkes würden den Flug überleben? Würde es überhaupt Überlebende geben oder würde das Schiff zu einem riesigen fliegenden Sarg werden?
Die ersten gravierenden Probleme traten auf, nachdem das Raumschiff bereits viele hundert Jahre unterwegs war. Als die Steuercrew, bis auf zwei Mitglieder, das Kommandodeck betrat, näherte es sich einem Sonnensystem, dessen dritter Planet eine lebensfähige Atmosphäre aufwies.
Ein Schicksalsschlag
Leipzig im Jahr 2003. Es war ein kalter regnerischer Oktoberabend. Laura Winter stand in ihrem Schlafzimmer. Auf dem Bett lagen zwei geöffnete dunkelrote Hartschalenkoffer. Aus dem Schrank nahm sie beschwingt stapelweise T-Shirts und Tops. Jeans, Shorts und Röcke waren bereits verstaut, ebenso Schuhe und Hygieneartikel. Gutgelaunt packte sie weitere ausgewählte T-Shirts und Tops, dann noch die Dessous und Nachtwäsche ein. Sie freute sich auf den gemeinsamen Urlaub mit Paul, ihrem Verlobten. Endlich hatte sie ihn zu dieser Reise überreden können. Lange hatte er sich gesträubt; zu gefährlich, keine Zeit, zu langer Flug – waren nur einige seiner Ausreden.
Paul hasste Reisen. In seinem Job als IT-Experte arbeitete er vor allem für wohltätige Vereine und Einrichtungen, bundesweit. Selbst über die Grenzen der Republik hinaus war er ein gefragter Mann. Da blieben längere Dienstreisen nicht aus. Er war immer froh, wenn er wieder zu Hause sein konnte. Laura hingegen würde am liebsten so oft wie möglich verreisen.
Endlich hatte er zugestimmt. Es sollte ein vorgezogenes Geburtstagsgeschenk für sie werden. Im Dezember würde sie ihren vierundzwanzigsten Geburtstag feiern. Sie freute sich auf den gemeinsamen Urlaub. Auch wenn das Reiseziel ein Kompromiss war.
Eigentlich hatte sie nach Guatemala und Belize gewollt. Doch Paul wollte da nicht zustimmen, zu gefährlich sein Einwand. Schließlich hatten sie sich auf Mexico geeinigt. Laura war schon als Kind von der Kultur und Geschichte der Maya fasziniert und wollte nun endlich die Originalschauplätze besuchen. Sie hatte schon spanisch gelernt und sich mit der Sprache und Schrift der Maya beschäftigt.
Paul fand das alles unnütz, schließlich gab es ja eine kompetente Reiseleitung. Aber Laura wollte nicht nur wissen was der Reiseleiter zu erzählen hatte, sondern auch die Einheimischen kennenlernen. Und das ging am besten, wenn man sich in der Landessprache verständigen konnte.
Sie verstaute weiter T-Shirts und Wäsche im Koffer. Im Vorbeigehen blickte sie in den Spiegel. Ihr Spiegelbild lächelte ihr entgegen. Sie trug eine cremefarbene Jogginghose, dazu ein auberginefarbenes Shirt. Beides unterstrich noch ihre schlanke Figur. Ihre roten Locken wurden von einem Band zusammen gehalten. Ihre grünen Augen leuchteten. Das Glück ließ sie förmlich erstrahlen.
Schließlich steckte sie ihrem Spiegelbild die Zunge heraus und verstaute noch ein paar Kleinigkeiten in den Koffern. So alles drin. Sie verschloss die Koffer sorgfältig und hob sie vom Bett. Jetzt war alles bereit. In der Küche war der Tisch für das Abendessen gedeckt.
Langsam könnte Paul kommen. Er war schon ziemlich lange weg. Seine Schwester Rebecca wohnte mit ihrer Familie auf dem Land. Sie sollte für die Dauer der Reise auf seine Katze aufpassen. Ein Blick aus dem Fenster; es regnete immer noch. Es war ungewöhnlich kalt für Oktober. Der Winter griff bereits mit eisigen Fingern nach dem Land. Laura war froh, dem winterlichen Wetter entfliehen zu können. Auch wenn in Mexico gerade Regenzeit herrschte, war es doch tropisch warm. Sie legte noch die Pässe und Flugtickets bereit. Da klingelte es an der Wohnungstür.
Beschwingt schritt sie zur Tür und noch im öffnen fragte sie: „Na, wieder mal den Schlüssel …“
Sie brach mitten im Satz ab. Vor ihr standen zwei Polizisten und nicht Paul.
„Frau Winter?“, fragte der Kleinere von beiden.
“Ja“, antwortete sie etwas unsicher.
„Hauptwachtmeister Schmid, das ist Wachtmeister Kalik.“ Er deutete auf seinen Kollegen. „Es tut uns leid, aber wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Herr Fester einen Autounfall hatte.“
„Paul, einen Unfall?“ Jemand schien ihr den Boden unter den Füssen wegzuziehen. Sie taumelte. „Ist er…“ Sie wagte nicht, die Frage zu Ende zu stellen. Krampfhaft hielt sie sich am Gardarobenschrank fest.
„Tod?“ Der größere der beiden Polizisten schüttelte den Kopf. „Nein. Aber er ist sehr schwer verletzt. Wir können Sie ins Krankenhaus bringen. Wenn Sie ein paar Sachen zusammenpacken wollen warten wir auf Sie.“
Sie nickte: „Ja natürlich. Ich werde mich beeilen.“ Sie rang mit ihrer Fassung. Den Tränen nahe, ging sie ins Schafzimmer und packte hastig ein paar Sachen zusammen. Dann schlüpfte sie aus ihrer Jogginghose und zog sich eine Jeans über. Das Shirt musste einem schwarzen Rollkragenpulli weichen. Im Flur schlüpfte sie in ihre Boots und zog sich die Regenjacke über. Noch ein Blick, dann löschte sie das Licht und folgte den beiden Polizisten.
Wachtmeister Kalik wollte ihr die Tasche abnehmen, doch sie lehnte dankend ab. Sie brauchte jetzt etwas woran sie sich festhalten konnte. Auch wenn es nur die Tasche mit Pauls Sachen war. Schweigend fuhren sie los.
Irgendwann fragte Laura: „Was ist denn eigentlich passiert?“
Hauptwachtmeister Schmid drehte sich zu ihr um: „Ein entgegenkommendes Auto wollte einen vor ihm fahrenden LKW überholen und hatte wohl die Entfernung zum Wagen Ihres Verlobten und die Geschwindigkeit des LKWs falsch eingeschätzt. Die Fahrerin hat es nicht mehr geschafft, sich rechtzeitig wieder einzuordnen. Trotz Vollbremsung konnte Herr Fester seinen Wagen nicht mehr rechtzeitig zum Stehen bringen. Ein Frontalzusammenstoß war nicht mehr zu vermeiden. Die Fahrerin des unfallverursachenden Wagens ist ebenfalls schwer verletzt worden. Auch ein nachfolgendes Auto wurde noch in Mitleidenschaft gezogen. Der LKW-Fahrer erlitt einen Schock. In den Papieren von Herrn Fester fanden wir einen Vermerk, das Sie im Falle eines Unfalls zu informieren sind.“
Laura nickte stumm. Diesen Vermerk kannte sie. Er hatte ihn gemacht, nachdem ein Kollege einmal schwer verletzt im Krankenhaus gelegen und niemand seine Lebensgefährtin verständigt hatte.
Am Krankenhaus angekommen bedankte sie sich bei den beiden Polizisten, nahm die Tasche und ging zur Eingangstür. Ihr Schritt stockte kurz, dann trat sie entschlossen durch die Tür und ging zur Rezeption.
„Guten Abend, mein Name ist Laura Winter. Mein Verlobter Paul Fester ist hier nach einem Autounfall eingeliefert worden. Können Sie mir sagen, wo ich ihn finde?“
„Guten Abend Frau Winter. Bitte haben Sie noch ein klein wenig Geduld, ich werde sofort nachschauen.“
Die Finger der Empfangsdame flogen förmlich über die Tastatur: „Ah, da haben wir es ja schon. Herr Fester liegt noch auf der Intensivstation. Ich werden Sie sofort hinbringen lassen.“
Mit diesen Worten winkte sie einem vorbeigehenden Pfleger. „Marc, bitte bringen Sie Frau Winter auf die Intensivstation. Sie möchte zu Herrn Fester.“
Der Pfleger nickte. „Wenn Sie mir bitte fogen wollen.“
Er griff nach der Tasche. Wieder schüttelte Laura den Kopf. Sie folgte ihm still. Die Gänge, durch die sie schritten schienen kein Ende zu nehmen. Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen sie endlich auf der Intensivstation an.
„Bitte warten Sie hier einen Augenblick. Ich verständige den zuständigen Arzt. Er wird Sie dann zu Herrn Fester begleiten.“ Mit diesen Worten verschwand der Pfleger in einem Zimmer.
„Danke“, murmelte Laura.
Sie blickte sich um. An einer der Wände stand ein Kaffeeautomat. Sie betrachtete die Stühle im Warteraum. Sie sahen gemütlich aus. Aber sie wollte sich nicht setzen. Sie wollte endlich zu Paul. Als sich die Tür zum Arztzimmer wieder öffnete, trat ein junger Mann im weißen Kittel auf sie zu und reichte ihr die Hand.
„Guten Abend Frau Winter, ich bin Dr. Gräulich, der diensthabende Arzt. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“
„Wo ist Paul? Was ist mit ihm? Kann ich ihn endlich sehen?“ Laura schien die Ungewissheit nicht mehr ertragen zu können.
„Bitte Frau Winter, ich werde Sie sofort zu ihm bringen. Bevor wir das Zimmer betreten, muss ich Ihnen allerdings noch sagen, dass es nicht gut aussieht. Er hat sehr viel Blut verloren und schwere innere Verletzungen. Wir haben ihn in ein künstliches Koma versetzt. Wir hoffen, dass das die Heilungschancen verbessert.“
Laura griff nach seinem Arm: „Aber er wird doch überleben?“ Auf diese Frage erhielt sie keine Antwort, nur einen traurigen Blick des Arztes. Laura schluckte. Ein dicker Kloss in ihrem Hals schien ihr die Luft zu nehmen. Bevor sie dem Arzt in das Zimmer folgte, holte sie noch einmal tief Luft. Sie musste jetzt tapfer sein.
Paul lag in einem kleinen Zimmer, umrahmt von Monitoren und medizinischen Geräten. Die weiße Bettdecke machte sein Gesicht noch blasser, als es ohnehin schon war. Er lag da, bleich und kaum atmend, so dass sie im ersten Moment dachte, sie wäre zu spät gekommen. Der Arzt kontrollierte noch einmal die Monitore.
„Wenn Sie noch eine Frage haben, ich bin in meinem Bereitschaftzimmer am anderen Ende des Ganges.“ Mit diesen Worten wandte er sich zur Tür.
Bevor er das Zimmer endgültig verließ, stellte er ihr noch einen Stuhl neben das Bett. Schweigend nahm Laura Platz. Eine Träne drängte sich aus ihrem Augenwinkel. Dann eine zweite und dritte. Sie wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte. Stimmen im Nebenraum weckten sie aus ihrer Lethargie. Sie fühlte sich wie erschlagen. Ein prüfender Blick auf Paul. Sein Zustand hatte sich nicht verändert. Die Linien auf den Monitoren zuckten gleichmäßig dahin.
Sie erhob sich, um sich einen Kaffee zu holen. Als sie aus der Tür trat, stieß sie mit einem Mann zusammen, der gerade aus dem Nachbarzimmer kam.
„Oh, verzeihen Sie“, entschuldigte sich Laura.
„Das ist schon in Ordnung“, antwortete er. „Ich wollte mir gerade einen Kaffee holen. Möchten Sie auch einen?“
„Ja gern, danke“, sagte Laura.
Die kleine gemütliche Sitzgruppe neben dem Kaffeeautomaten lud zum Vwrweilen ein. Sie setzten sich. Die Kaffeetasse in der Hand saßen sie schweigend da.
„Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Arthur, Arthur Becker. Meine Frau hatte einen Unfall.“
„Ich bin Laura Winter. Mein Verlobter hatte ebenfalls einen Unfall.“
Er nickte. „Ich weiß, meine Frau ist die Unfallverursacherin.“
„Oh!“ Laura drehte unentschlossen die Tasse in ihren Händen. „Ich … es tut mir leid, ich muss wieder zurück zu Paul.“
„Natürlich. Das verstehe ich.“
Laura erhob sich, ging aber nicht sofort in Paul Zimmer zurück, sondern zum Schwesternzimmer.
„Entschuldigung, kann ich hier irgendwo telefonieren. Mit dem Handy geht das hier ja nicht. Ich muss Pauls Schwester anrufen. Sie wird sich schon Sorgen machen.“
Die Schwester zeigte auf die Ausgangstür. „Direkt hinter der Tür ist ein öffentliches Telefon. Von dort aus können Sie unbesorgt telefonieren.“
Laura nickte: „Danke.“
Als sie gerade die Tür öffnen wollte, kam ihr von draußen eine junge Frau entgegen. „Rebecca, ich wollte dich gerade anrufen. Was tust du denn hier? Weißt du, dass Paul hier ist?“
Rebecca nickte. Die beiden Frauen umarmten sich. „Die Feuerwehr hat mir Pauls Katze gebracht. Sie hat den Unfall fast unbeschadet überstanden. Einer der Feuerwehrmänner, ein Schulfreund von mir, hatte die Box in Pauls Wagen gesehen und am Straßenrand eine verstört wirkende Katze. Sie ließ sich widerstandslos einfangen und wieder in die Box sperren. Von der Polizei hatte er den Namen des Unfallopfers erfahren. Da du ja bereits unterwegs zum Krankenhaus warst brachte er die Katze zu mir. Sie wird jetzt von den Kindern verhätschelt. Ich denke sie wird sich wieder erholen. Doch wie geht es Paul? Kann ich zu ihm?“
Laura hatte Rebecca zum Krankenzimmer geführt. „Es geht ihm nicht sehr gut. Die Ärzte haben Paul in ein künstliches Koma versetzt. Sie hoffen, dass das den Heilungsprozess verbessert.“
Laura öffnete leise die Tür. Rebecca trat ein und erschrak. Paul war so bleich wie ein Gespenst. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Laura, selbst den Tränen nahe, legte ihren Arm um Rebeccas Schulter.
“Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.“
„Du hast recht, es ist nur … wie er so daliegt, sieht er aus wie Vater kurz vor seinem Tod.“
„Ich weiß“, seufzte Laura. Der Gedanke war ihr auch gekommen, als sie Paul das erste Mal so in seinem Bett liegen sah.
„Es tut mir leid Laura, ich kann nicht lange bleiben, die Kinder sind allein. Robert ist mal wieder auf Dienstreise. Aber ich werde morgen wiederkommen.“
„Das ist schon okay. Mach dir keine Sorgen, ich halte euch auf dem Laufenden.“
Nachdem Rebecca wieder gegangen war, gönnte sich Laura noch einen Kaffee. Bevor sie sich wieder an Pauls Bett setzte zog sie noch die Bettdecke glatt und strich Paul sanft über die Stirn.
Sie hatte völlig das Zeitgefühl verloren. Wie spät es wohl war? In Gedanken versunken schlief sie ein. Lautes Piepen ließ sie erschrocken auffahren. Schwestern und Ärzte drängten an Pauls Bett. Hastig machte sie Platz. Als sie aufstand fiel eine Decke von ihren Knien. Wo kam die her? Sie erinnerte sich nicht, sich zugedeckt zu haben. Hastig hantierten die Ärzte an den Geräten, prüften den Puls und regulierten den Tropf.
„Herzstillstand!“, hörte Laura.
Der Defibrillator wurde heran gerollt. Einmal, zweimal dann schlug das Herz wieder. Paul öffnete sogar die Augen.
„Laura?“, flüstere er.
„Ich bin hier Paul.“ Laura war sofort da und hielt Pauls Hand. Unbemerkt war Arthur in der Tür erschienen.
„Laura, ich konnte nicht bremsen, ich …“, dann erstarb Pauls Stimme.
Seine Augen schlossen sich, sein Atem setzte aus. Wieder kam der Defibrillator zum Einsatz. Doch diesmal vergebens.
„Es tut mir leid Frau Winter. Wir konnten nichts mehr für ihn tun.“
Langsam begriff Laura, dass Paul tot war. „Paul“, schluchzte sie. Dann sank sie zusammen. Mit wenigen Schritten war Arthur bei ihr und fing sie auf.
Als sie wieder zu sich kam, saß sie wieder auf dem Stuhl. Ein weißes Laken bedeckte Paul. Ihr wurde bewusst, dass das alles kein Traum gewesen war.
Die Schwester kauerte neben ihr. „Frau Winter ist alles in Ordnung? Sie sollten erst mal nach Hause fahren. Schlafen Sie sich aus. Wir werden uns hier um alles kümmern. Wenn Sie sich erholt haben, können wir alles Weitere regeln.“
Laura nickte. Doch sie wirkte wie in weite Ferne entrückt.
„Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?“, hörte sie die Schwester fragen. Wieder nickte sie.
„Das ist nicht nötig. Meine Frau schläft im Moment. Ich werde Frau Winter nach Hause fahren. Es ist mir lieber, ich weiß dass sie gut zu Hause ankommt“, mischte sich Arthur ein. Er fühlte sich irgendwie verantwortlich für sie.
Die Schwester sah ihn überrascht an, hob dann aber die Schultern „Wie Sie wollen. Wenn das für Sie okay ist Frau Winter?“
Abermals nickte Laura nur. Arthur half ihr in die Jacke, reichte ihr die Handtasche und nahm sie dann am Arm. Wie in Trance ließ Laura sich nach draußen führen. Sie tat Arthur unendlich leid. Sein Wagen stand nicht weit vom Eingang entfernt. Als sie im Auto saßen, fragte Arthur nach ihrer Adresse. Laura nannte sie. Die Fahrt verlief schweigend. Vor Lauras Haus angekommen, dankte sie Arthur und stieg aus.
„Ist alles in Ordnung Laura. Geht es Ihnen gut?“, fragte Arthur.
„Ja, alles gut. Ich komme schon klar. Noch mal, vielen Dank fürs bringen.“
Mit diesen Worten schloss sie die Autotür und ging ins Haus. Vor ihrer Wohnungstür blieb sie unschlüssig stehen. Drinnen erwartete sie Stille und die gepackten Koffer. Sie konnte jetzt nicht allein sein. Den Schlüssel bereits in der Hand drehte sie sich um und verließ das Haus wieder.
Nicht weit entfernt war eine Straßenbahnhaltestelle. Sie stieg in die nächste Bahn und fuhr zu ihrer jüngeren Schwester Helene. Es wurde bereits hell. Es musste so gegen sieben Uhr sein. Helene war schon immer ein Frühaufsteher. Sie schlief bestimmt nicht mehr.
Nach wenigen Minuten klingelte sie an Helenes Wohnungstür. Als Helene endlich die Tür öffnete, hatte Laura schon wieder Tränen in den Augen. Helene war etwas kleiner als Laura. Die blonden, schulterlangen Locken hatte sie zu zwei frechen Zöpfen geflochten. Ihre blauen Augen blickten verschlafen.
„Laura, was tust du hier? Ich denke, du bist mit Paul in Mexico?“
Helene sah die Tränen und zog ihre Schwester zur Tür herein. Als die Tür ins Schloss gefallen war, sagte Laura leise: „Paul ist tot, Helene.“
„Wie tot, was meinst du?“
„Er ist tot“, schluchzte Laura. „Paul hatte einen Unfall.“
„Oh mein Gott. Der schwere Unfall vorgestern Abend. Komm setz dich. Ich mache uns einen Tee.“ Mit diesen Worten drückte sie ihre Schwester auf einen Stuhl und füllte den Wasserkocher.
„Ich kann jetzt nicht zu Hause sein. Allein.“
„Du bleibst jetzt erst einmal hier. Komm leg dich aufs Sofa und ruh dich aus. Du hast bestimmt nicht viel geschlafen.“
Helene nahm das Tablett mit den Teetassen und ging voran. Laura ließ sich wortlos auf dem Sofa nieder.
„Komm trink, das wird dir guttun. Und dann schläfst du dich erst einmal richtig aus.“
„Ich kann nicht schlafen. Immer wenn ich die Augen schließe, sehe ich Pauls bleiches Gesicht.“
„Das wird schon. Du wirst sehen.“
Helene goss ein Glas Wasser ein und gab ein paar Tropfen eines leichten Beruhigungsmittels hinein. Sie reichte Laura das Glas.
„Trink, du wirst sehen, es geht dir dann gleich besser.“
Laura trank ohne Widerrede. Es dauerte nicht lange und sie war eingeschlafen. Helene deckte ihre Schwester mit einer leichten Wolldecke zu. Leise verließ sie das Wohnzimmer.
Helene, die immer noch den Schlafanzug trug, kleidete sich rasch an. Dann frühstückte sie schnell. Laura würde jetzt bestimmt vier bis fünf Stunden schlafen. Das gab ihr Zeit, ein paar Sachen aus Lauras Wohnung zu holen. Sie zog sich die Jacke über und schlüpfte in warme Boots. Es war empfindlich kalt draußen. Helene griff nach dem Wohnungsschlüssel, doch bevor sie die Wohnung verließ warf sie noch einen Blick ins Wohnzimmer. Laura schlief ruhig und fest.
Helene öffnete die Tür zu Lauras Wohnung. Im Flur standen zwei große gepackte Koffer. Auf dem Garderobenschränkchen lagen die Tickets und die Pässe. Im Schlafzimmer öffnete sie den Schrank und griff nach einer kleinen Reisetasche. Sie packte ein paar Sachen zusammen, von denen sie glaubte, dass Laura sie brauchen würde. In eine zweite Tasche packte sie ein paar Lebensmittel, die noch im Kühlschrank standen. Der Küchentisch war noch gedeckt. Helene räumte das unbenutzte Geschirr in den Schrank.
Der angerichtete Salat und das vorbereitete Abendessen waren nicht mehr zu retten. Das wanderte in den Mülleimer. Sie wusch das wenige schmutzige Geschirr noch schnell ab. Aus dem Bad wanderte noch die Zahnbürste in die Tasche. Zum Schluss steckte Helene noch die Tickets ein. Sie wollte versuchen, wenigsten einen Teil der Reisekosten zurückzubekommen.
Nach einer halben Stunde verließ sie die Wohnung wieder. Im Vorbeigehen kontrollierte sie noch schnell den Briefkasten. Kein Mensch begegnete ihr im Treppenhaus.
Eine Stunde nachdem sie die Wohnung verlassen hatte war Helene zurück. Laura schlief noch. Es war inzwischen zehn Uhr vorbei. Laura erwachte gegen zwölf Uhr. Sie fühlte sich schon viel besser. Frisch geduscht betrat sie das Wohnzimmer, als es an Helenes Tür klingelte.
Sie hörte leise Stimmen im Flur. Die Wohnzimmertür öffnete sich und herein trat Philip, ein Kollege von Paul.
Er umarmte Laura und flüsterte: „Oh Laura, es tut mir so leid. Helene hat mir schon erzählt, was passiert ist.“
„Danke“, flüstere Laura. Verwirrt sah sie ihre Schwester an. Die war ein wenig verlegen.
„Ich hätte dir wohl schon längst erzählen sollen, dass Philip und ich ein Paar sind?“, fragte sie verschämt.
„Helene, das ist ja wunderbar. Ich freue mich so für euch.“ Ihre traurigen Augen leuchteten kurz auf.
Philip war ein wenig größer als Helene. Mit seinen dunkelblonden kurzen Haaren und der Nickelbrille wirkte er unheimlich jugendlich.
Helene und Philip hatten sich auf dem letzten Betriebsfest von Pauls Firma kennengelernt. Laura hatte sie damals überredet, mitzugehen.
„Komm doch mit, Helene. Paul unterhält sich wieder nur den ganzen Abend mit langweiligen Leuten. Dann bin ich wenigsten nicht so allein. Ich kann mit den anderen Frauen nichts anfangen“, hatte sie damals zu Helene gesagt.
Nach langem Bitten hatte sie schließlich eingewilligt. Zwischen Helene und Philip hatte es sofort gefunkt. Sie waren den ganzen Abend unzertrennlich. Dass da wirklich etwas Festes daraus geworden war, freute Laura aufrichtig.
„Laura wird ein paar Tage bei mir wohnen. Du hast hoffentlich kein Problem damit?“, fragte Helene.
„Natürlich nicht. Laura kann solange bleiben wie sie will. Das ist doch selbstverständlich.“
An Laura gewandt sagte er: „Laura, wenn du irgendwie Hilfe benötigst, dann sag es frei heraus. Jeder in der Firma wird dir sicher gerne zur Seite stehen.“
„Danke Philip, ich weiß das wirklich zu schätzen. Vielleicht komme ich darauf zurück. Aber jetzt muss ich erst mal selbst zurechtkommen.“
Laura bezog das Gästezimmer, das Helene bereits für sie hergerichtet hatte.
Am nächsten Tag fuhr Laura nachmittags ins Krankenhaus. Sie wollte Pauls Sachen abholen und die weiteren Schritte bis zur Beisetzung klären. In der Cafeteria saß Arthur. Sie wollte schon weitergehen, da winkte er ihr zu.
Sie wandte sich in seine Richtung und ging zu ihm. Er erhob sich und reichte ihr die Hand.
„Hallo Laura, wollen Sie sich nicht einen Moment zu mir setzen?“
Laura wollte nicht unhöflich sein und ablehnen. Also setzte sie sich.
„Wie geht es Ihnen heute?“, fragte er.
„Danke es geht schon besser. Wie geht es Ihrer Frau?“
„Es geht ihr schon wieder erstaunlich gut. Wenn sich ihr Zustand weiter so bessert, kann sie bald in ein normales Krankenzimmer verlegt werden.“
„Das freut mich“, antwortete Laura. Nach einer kurzen Pause fügte sie an: „Es tut mir leid aber ich muss los. Ich habe noch so viel zu regeln. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Frau alles Gute.“
„Sie macht sich große Vorwürfe“, sagte Arthur.
„Bitte richten Sie ihr aus, dass ich ihr keine Schuld gebe. Sie hat den Unfall ja nicht absichtlich herbeigeführt.“
Mit diesen Worten erhob sich Laura und ging in die Verwaltung. Als sie eine Stunde später das Krankenhaus wieder verließ, stand plötzlich Maurice vor ihr. Er war Pauls bester Freund noch aus Studientagen.
„Hallo Laura, es tut mir so leid was passiert ist. Kann ich irgendetwas für dich tun?“
„Oh Maurice, dich hätte ich jetzt nicht hier erwartet. Paul sagte, du seiest in Afrika.“
„Ach, das habe ich abgesagt. Es ist mir eine persönliche Angelegenheit dazwischen gekommen.“
„Oh“, meine Laura kurz.
„Kann ich dich irgendwo hin fahren? Soll ich etwas für dich besorgen? Sag wenn ich dir helfen kann.“
„Danke Maurice, das ist sehr nett von dir. Aber ich komme schon zurecht. Ich muss jetzt auch weiter.“
„Ich kann dich fahren wohin du willst.“
„Das ist nicht nötig, ich bin mit meinem eigenen Wagen hier. Auf Wiedersehen Maurice, es war nett dass du da warst.“
Mit diesen Worten ließ sie ihn einfach stehen und eilte zu ihrem Wagen. Sie verstaute die Tasche im Kofferraum und fuhr davon. Maurice starrte ihr hinterher. Das hatte er sich anders vorgestellt.
Zwei Wochen später traf sie Arthur erneut im Krankenhaus. Sie wollte nur noch ein paar Papiere abholen. Laura sah sofort dass etwas nicht in Ordnung war. Diesmal war sie es, die ihn bat, einen Kaffee mit ihr zu trinken.
Als der Kaffee dampfend vor ihnen stand, erzählte ihr Arthur, dass seine Frau an diesem Morgen gestorben war. Ihr Herz hatte versagt. Spontan nahm Laura Arthur in die Arme. Sie spürte seine Tränen auf ihrer Schulter.
„Danke dass du für mich da warst“, sagte Arthur, als sie sich von ihm verabschiedete. Sie reichte ihm ein Kärtchen.
„Meine Handynummer, falls dir mal nach reden zu Mute ist.“
Ohne es zu merken, waren sie zum Du übergegangen.
Ein paar Tage später, rief Arthur sie tatsächlich an.
„Hast du Zeit Laura. Können wir uns treffen. Ich kann nicht alleine zu Hause sitzen. Hier werde ich noch verrückt“, hörte sie Arthurs verzweifelte Stimme am anderen Ende.
Laura blickte auf die Uhr. „Ich habe in einer halben Stunde Mittagspause. Wir könnten uns im Bistro an der Ecke treffen.“
„Gut ich werde da sein. Ich freue mich auf das Wiedersehen.“
Laura blickte verdutzt auf ihr Handy. Er freute sich? Als sie das Bistro erreichte, wartete er bereits auf sie. Er erhob sich. Zum ersten Mal betrachtete sie ihn auf-merksam. Er war groß, so um die 1,85. Selbst durch den dicken Pullover, den er trug, konnte sie seinen muskulösen Oberkörper erkennen. Der kurze Haarschnitt stand ihm gut. Er hatte ihr erzählt, dass er als Detektiv arbeitete. Das konnte sie sich gut vorstellen.
Das Ende einer Liebe?
Von diesem Tag an trafen sie sich regelmäßig zur Mittagszeit. Dann begann Arthur sie vom Dienst abzuholen. Sie gingen ins Kino und Theater. Etwa neun Monate nach Pauls Beerdigung verbrachten sie die erste Nacht miteinander. Am nächsten Morgen war Laura bedrückt.
„Was ist los? Hat es dir keinen Spaß gemacht?“, fragte Arthur.
Typisch Mann, dachte Laura. Immer müssen sie nur an das Eine denken.
„Doch, es war eine wunderbare Nacht“, sagte Laura. „Aber genau das ist es, was mich bedrückt. Ging das nicht zu schnell. Deine Frau und Paul sind noch nicht mal ein Jahr tot. Und wir vergnügen uns hier fröhlich. Ist das wirklich richtig?“
Arthur nahm sie zärtlich in die Arme. „Oh Süße. Ich denke, unsere Partner wären froh, wenn sie wüssten, dass wir nicht mehr allein sind. Oder hätte Paul gewollt, das du dich irgendwo vergräbst und jahrelang um ihn trauerst?“
Laura blickte ihn nachdenklich an: „Ich glaube nicht. Er hätte sicher gewollt, das ich mich neu verliebe.“
Und sie war verliebt. Mehr als je zuvor. Und genau das war es, was ihr ein schlechtes Gewissen bereitete. Doch das brauchte Arthur nicht zu wissen.
Die nächsten vier Jahre waren wunderbar. Helene war inzwischen nach Berlin gezogen. Philip hatte dort einen neuen Job. Er arbeitete in der Forschung. Arthur hatte seine eigene Detektei eröffnet. Er hatte gut zu tun, so dass Laura sich manchmal schon beschwerte, dass er kaum noch Zeit für sie hatte.
Dann nahm er sich zwischen seinen Aufträgen besonders viel Zeit für sie. Sie verbrachten wundervolle Weihnachtstage bei Helene und Philip in Berlin.
Die Winterferien verbrachten sie immer in den Bergen. Arthur mietete dann immer eine einsame Hütte. Einmal waren
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Nelly Cornelius
Bildmaterialien: Pixabay
Lektorat: Stefanie Wieja, Denise Wieja
Tag der Veröffentlichung: 22.09.2013
ISBN: 978-3-7309-5085-2
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