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Lou ist weg

 

 

„Komisch, wie ein bestimmter Tag im Jahr, der vorher so gar keine Bedeutung hatte, auf einmal so viel Bedeutung bekommen konnte“, dachte Jan.

 

Weder er, noch seine Eltern, würden jemals wieder den 08. Oktober des Jahres vergessen, dem Tag, an dem Lou verschwunden war. Verschwunden! Als ob jemand so einfach verschwinden, sich praktisch in Luft auflösen könnte. Für alle anderen, na ja fast alle anderen, war dieser Tag ein ganz normaler gewesen. So wie für ihn auch, bis zu dem Moment, in dem sein Vater in sein Zimmer gekommen war. Seitdem wusste Jan, was das Wort „leichenblass“ zu bedeuten hatte. Bis er den Gesichtsausdruck seines Vaters bemerkte, hatte Jan befürchtet, sein alter Herr würde ihn zur Schnecke machen, weil er so spät noch am PC saß und spielte. Aber sein Vater schien gar nicht wahrzunehmen, was Jan gerade machte. „Lou ist verschwunden“, hatte er gesagt. Nur diese drei Worte. Als ob es sonst nichts zu sagen geben würde.

 

Zuerst hatte Jan gar nicht begriffen, was das bedeuten sollte. Wie konnte Lou verschwinden? Lou war doch in Berlin, bei ihrer Mutter. Seit fast zwei Jahren lebten Lou und sie dort, führten ihr eigenes Leben, wohnten nicht mehr in dem Haus, in dem nun nur noch sei Vater und er lebten. In den Ferien sahen sie sich manchmal, wenn er nach Berlin fuhr oder Lou nach Neustadt kam. Aber Jan war zwei Jahre älter als seine jetzt fünfzehnjährige Schwester, da hatte man unterschiedliche Interessen, hatte man andere Freunde. Langsam drangen die Worte seines Vaters in Jans Bewusstsein, reagierte sein Gehirn. „Was – was meinst du mit „verschwunden?“ – stammelte er.

 

Sein Vater suchte nach Worten. „Sie ist nicht nach Hause gekommen. Deine Mutter hat schon alle Freundinnen angerufen. Alle Krankenhäuser. Und schließlich die Polizei.“ Polizei? Was hatte denn Lou mit der Polizei zu schaffen? Sie hatte doch nichts ausgefressen, sie war doch nicht verunglückt! Sie war – sie war nicht nach Hause gekommen. Verdammt! Es war fast Mitternacht und niemand wusste, wo seine kleine Schwester steckte. Lou hing doch nicht einfach mit irgendwelchen Typen ab, ohne ihre Mutter zu informieren.

 

Am nächsten Morgen waren sie nach Berlin gefahren, sein Vater und er. Obwohl keine Ferien waren. Aber zur Schule zu gehen, als ob nichts passiert wäre, das wäre sowieso unmöglich gewesen. Die nächsten Tage verschwammen in einem seltsamen Nebel. Das war nicht das Leben seiner Familie. So etwas passierte anderen, aber doch nicht ihnen! Verteilen von Plakaten. Immer wieder die Polizei, die keine Erfolge bei der Suche nach Lou verbuchen konnte. Lous Name in Zeitungen, im Fernsehen. „Seit dem 08. Oktober vermisst wird die fünfzehnjährige Louise W.“ Niemand nannte Lou sonst Louise, außer den Lehrern natürlich. Lous Foto, das überall gezeigt wurde und vielleicht das letzte Foto war, das es von ihr gab. Die Beschreibung der Kleidung, die Lou an diesem Tag getragen hatte. Jan war froh, dass sie in diesen Tagen nicht in Neustadt waren. Er hätte die Blicke der anderen nicht ertragen. Auch nicht die seiner Freunde.

 

Es war auch später noch schlimm genug gewesen, wie die Leute einen anschauten oder wie sie wegschauten, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. Das gemurmelte Mitgefühl seiner Freunde, die nicht wussten, was sie sagen sollten. Das hätte sich hier in Neustadt doch keiner vorstellen können, dass so etwas geschehen konnte. Wobei immer noch niemand wusste, was „so etwas“ in Wirklichkeit gewesen war.

 

Jan konnte sich noch immer nicht vorstellen, dass Lou tot war. Er konnte das einfach nicht. Aber er konnte sich auch nichts anderes vorstellen. Manchmal, wenn er mitten in der Nacht oder auch morgens aufwachte, kam ihm alles wie ein Traum vor. Ein Albtraum. Dann war er für einige Minuten fest davon überzeugt, Lou würde jetzt in ihrem Bett liegen oder gerade aufstehen, um sich für die Schule zu richten. Aber er musste nur einen Blick in das Gesicht seines Vaters werfen, und er wusste sofort, dass es kein Traum gewesen war. Dass niemand in Lous Bett in Berlin lag. Oder schlief seine Mutter jetzt dort, um ihrer vermissten Tochter näher zu sein? Konnte seine Mutter überhaupt wieder schlafen? In den ersten Tagen nach Lous Verschwinden war an Schlafen überhaupt nicht zu denken gewesen, waren sie wie Zombies durch die Gegend gewandelt. Wie betäubt.

 

Jan hatte nicht gewusst, wie viele Menschen allein in Deutschland als vermisst gemeldet waren. Er hatte nicht gewusst, dass es im Internet Listen mit vermissten Personen gab. Mit Personen, die manchmal seit Jahren vermisst wurden! Wie lebten die Familien solcher Personen? Führten sie wieder ein ganz normales Leben wie vor der Katastrophe? Hofften sie immer noch, dass das vermisste Kind, der vermisste Bruder, die vermisste Schwester, plötzlich gesund und munter wieder auftauchten? Oder hatten sie sich damit abgefunden, nie wieder etwas von ihnen zu sehen und zu hören? Für Jan war das unvorstellbar. Wenn er an Lou dachte, stellte er sie sich unwillkürlich in ihrem Zimmer in Berlin vor. Irgendetwas in ihm sperrte sich dagegen, sich etwas anderes vorzustellen. Schon gar nicht Lous irgendwo verwesende Leiche. Lou lebte! Sie musste am Leben sein! Lou konnte doch gar nicht tot sein. Sie war doch noch so jung, sie war gesund. Sie war fast immer gut drauf.

 

Der Typ, der die Fahndung leitete, war natürlich anderer Ansicht gewesen. Mit jedem Tag, praktisch mit jeder Stunde, sank die Wahrscheinlichkeit, dass Lou noch am Leben war, egal, ob man nun ihre Leiche fand oder nicht. Es war ein komisches Gefühl, dass Lou höchstwahrscheinlich nie älter werden würde, geschweige denn jemals alt. Jan selbst würde – wenn nichts dazwischenkam – irgendwann einmal so alt sein wie sein Vater jetzt. Vielleicht würde er verheiratet sein und Kinder haben. Obwohl – das mit den Kindern war so eine Sache. Was, wenn einem dieser Kinder etwas zustieß, ein Unfall, eine Krankheit, so etwas wie das, was seiner Schwester zugestoßen war. Früher hatte er sich über solche Sachen keine Gedanken gemacht. Nicht einmal, wenn in den Medien wieder einmal über ein vermisstes Kind berichtet wurde. Eine Zeitlang erregte so ein Fall die Gemüter, dann geriet er in Vergessenheit. Für alle, außer den Betroffenen, wie er jetzt wusste. Für die geriet gar nichts in Vergessenheit. Die dachten immer daran. Manchmal vergaß er es für ein paar Minuten, für eine Stunde, in der er abgelenkt war, wodurch auch immer. Manchmal vertiefte er sich stundenlang in Computerspiele, nicht wie früher, weil er einfach Lust dazu hatte, sondern, um für ein paar Stunden jeden Gedanken an Lou auszuschalten.

 

Jan fragte sich, ob es für Lous Freundinnen, für ihre Klassenkameradinnen auch so schwierig war, ein nach außen hin scheinbar wieder normales Leben zu führen. Seine Freunde konnten mit seinem veränderten Verhalten nichts mehr anfangen. Wenn er, was selten genug vorkam, einmal über einen Witz lachte, bekam er sofort ein schlechtes Gewissen. Wie konnte er es wagen, zu lachen, wenn doch über Lous Schicksal immer noch Ungewissheit lag! Erinnerte ihr leerer Platz im Klassenzimmer die anderen daran, dass niemand wusste, was mit Lou geschehen war oder saß inzwischen jemand anderer auf ihrem Platz? Jan konnte sich dieses Klassenzimmer, das er nie gesehen hatte, nicht vorstellen. Wäre Lou, so wie er selbst, hier in Neustadt geblieben, wäre das natürlich anders gewesen. Vielleicht, nein ganz bestimmt, wäre Lou hier auch nicht verschwunden. In Gedanken benutzte er in Zusammenhang mit Lou immer das Wort „verschwinden“. Er wollte nicht Worte denken, wie „ermordet worden“ oder „entführt worden“ oder „sexuell missbraucht worden“. Auf andere Mädchen mochten solche Worte zutreffen, aber doch nicht auf Lou. Wie konnte jemand seiner Schwester gegenüber so grausam sein. Lou war doch noch ein Kind. Allerdings musste er zugeben, dass sie sich, als er sie in den Sommerferien das letzte Mal gesehen hatte, äußerlich verändert hatte. Bestimmt interessierten sich inzwischen einige Jungen für sie. Er hatte sie nicht danach gefragt. Sie verbrachten sowieso nicht viel Zeit miteinander. Er kannte ihre Berliner Freunde nicht. Kannte ihre Nachbarn nur flüchtig vom Sehen. Steckte einer von Ihnen dahinter? Nie, niemals wäre Lou mit einem Fremden mitgegangen oder ins Auto gestiegen. Hatte sie demjenigen, der ihr das – was auch immer es war - angetan hatte, vertraut?

 

Plötzlich merkte Jan, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Lou war weg. Weg für immer? Wann würde das jemals aufhören, dieser Schmerz? Diese Wut? Diese Ungewissheit? Und was würde sein, wenn die Ungewissheit zur Gewissheit würde? Würde er dann daran denken, unter welchen Umständen Lou gestorben war? Und wenn sie nicht tot war? Wenn eines dieser seltenen Wunder eintreten würde, auf die sich die Medien stürzten? Dieser Fahndungsleiter hatte davon gesprochen, dass sie sich keine großen Hoffnungen machen sollten, dass Lou noch am Leben war, davon, wie gering die Wahrscheinlichkeit war, sie könnte gesund und unversehrt zurückkommen.

 

Jan träumte, dass Lou von Aliens entführt worden ist, die ihr nichts antaten, sie nur kennen lernen wollten. Wie Menschen so tickten. Und Lou war ein ganz netter Mensch. Warum nur haben sie sich so oft gefetzt. Warum ist sie ihm manchmal auf die Nerven gegangen. Als er aufwachte, war sein Gesicht immer noch tränennass .

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.10.2019

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die an sich glauben.

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