Cover

1

„Fahr doch! Grüner wird’s nicht!“, tobte Mateo“, tastete eilig das Lenkrad ab, fand die Hupe aber nicht. „Verdammt! Nie findet man die Hupe, wenn man sie braucht“, beschwerte er sich.

„Warum regst du dich so auf? Wir liegen gut in der Zeit“, versuchte Anastasia ihn zu beschwichtigen.

„Ach, du kennst mich doch“, sagte Mateo. „Ich kann es nicht leiden, wenn die Leute vergessen, dass in ihrem Auto ein Gaspedal eingebaut ist.“

Anastasia konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Sie kannte Mateo nur zu gut, ihn und seinen teilweise rücksichtslosen Fahrstil, seine Ungeduld. Es ging ihm nie schnell genug und nach fast einer Stunde konstanten über 100 km/h auf der Autobahn, kamen ihm die 50 km/h, an die er sich nun halten musste, wie Schneckentempo vor.

Der Verkehr rollte wieder an und Mateo fädelte sich in die Fahrspur ein, die zum Terminal 1 am Flughafen führte.

„Du kannst mich auch hier raus werfen. Dann musst du erst gar nicht ins Parkhaus fahren.“

„Nix da! Ich komme mit! Du weißt, wie sehr ich Flughäfen mag.“

Tatsächlich wusste das niemand besser als sie. Anastasia brauchte bloß an die vielen Erlebnisse denken, die Mateo ihr von seiner Zeit als Flugbegleiter erzählt hatte. Was er in wenigen Jahren alles erlebt hatte, reichte für ein ganzes Leben. Mateo hatte sich damit sein Studium finanziert, bis ihm jemand die Visitenkarte einer Modelagentur zugesteckt hatte. Anfangs hatte er noch versucht Studium, fliegen und modeln unter einen Hut zu bekommen, doch die Modeljobs wurden rasch mehr, weshalb er das Fliegen schweren Herzens auf Eis gelegt hatte.

Nun lenkte Mateo den Wagen ins Parkhaus, das wendeltreppenartig in die Tiefe führte. Anastasia empfand sofort ein beklemmendes Gefühl. Die Wege waren schmal und die Parkbuchten nach ihrem Empfinden viel zu klein. Doch Mateo machte das alles nichts aus. Er lenkte das Auto geschickt um alle Hindernisse herum und fand schnell einen Parkplatz.

„Mit dem Parkhaus werde ich mich wohl nie anfreunden“, meinte Anastasia.

Mateo quittierte ihre Aussage mit einem Lachen. „Dann nichts wie raus hier und auf ins Getümmel.“

Sie stiegen aus dem Auto, sammelten Anastasias Gepäck ein und machten sich auf den Weg. Anastasia fühlte sich orientierungslos und war froh Mateo an ihrer Seite zu haben, der den Flughafen beinahe wie sein Wohnzimmer kannte.

Als sie den Eingang passierten, sog Mateo tief die Luft ein.

„Ich liebe diesen Duft“, seufzte er. „Den Duft der vielen Menschen, den Duft nach Freiheit und Abenteuerlust, die exotischen Düfte der ganzen Welt, die sich an diesem Ort vereinen.“ Er geriet richtig ins Schwärmen.

Sie steuerten auf den Check-In zu, wo sich bereits eine lange Schlange gebildet hatte.

„Ich muss zugeben, ich bin ein wenig neidisch“, gestand Mateo. „So ein paar Tage oder Wochen Fuerteventura, das hat schon was.“

„Ich mache ja nicht nur Urlaub oder hast du vergessen, dass ich arbeiten muss?“

„Du musst doch bloß ein paar Fotos knipsen und das ist für dich ein Kinderspiel.“

„Auch die paar Fotos knipsen ist Arbeit“, verteidigte sich Anastasia. „Das dürftest du ja wohl wissen.“

„Bisher hatte ich immer meinen Spaß vor der Kamera“, foppte Mateo sie.

„Du ganz bestimmt und dafür hast du unzählige Fotografen in den Wahnsinn getrieben.“ „Was soll das denn heißen?“, tat Mateo empört.

„Willst du etwa behaupten, dass ich Unrecht habe?“

„Lassen wir das. Jedenfalls würden mir drei Wochen Sonne, Strand und Meer auch gut tun. Das wäre genau das Richtige, aber ich bin gut gebucht in den nächsten Wochen. Na ja.“ Er zuckte mit den Schultern. „Man kann nicht alles haben und meinen Geldbeutel freut es.“

Die Warteschlange setzte sich in Bewegung, Anastasia und Mateo rückten auf.

„Das ewige Warten am Flughafen ist echt ätzend“, seufzte Anastasia.

„Schätzchen, das ist erst der Anfang“, erwiderte Mateo lachend.

„Ich weiß.“ Anastasia zog eine Grimasse.

„Stell dir einfach vor, dass du in wenigen Stunden am Meer bist. Das hilft.“

„Man müsste sich hin beamen können“, meinte Anastasia. „Das ginge nicht nur schneller, sondern wäre auch noch umweltfreundlich.“

„Wer weiß, was in Zukunft noch alles möglich sein wird.“

„Na ja, heute muss es nochmal auf die herkömmliche Tour gehen“, seufzte Anastasia.

„Ist es nicht toll, die Menschen am Flughafen zu beobachten“, sprach Mateo seine Gedanken aus und ließ seinen Blick schweifen.

„Erstaunlich, dass du, obwohl du ein Mann bist, multitaskingfähig bist. Auf der einen Seite unterhältst du dich mit mir und andererseits beobachtest du deine Mitmenschen.“

„Wahrscheinlich sind wir schwulen Männer einfach anders gestrickt.“

„Daran wird’s liegen“, sagte Anastasia lachend.

„Nein, jetzt mal im Ernst. Findest du es nicht spannend inmitten all dieser Menschen? Jeder von ihnen hat seine ganz eigene Geschichte.“

„Doch, natürlich ist das spannend. Ich versuche schon die ganze Zeit dem Drang zu widerstehen meine Kamera auszupacken und die Stimmungen festzuhalten.“

„Alles andere hätte mich auch gewundert.“

Inzwischen waren sie so weit vorgerückt, dass nur noch eine Person vor ihnen war.

„Gleich geht’s los.“ Mateo war aufgeregter als Anastasia, obwohl nicht er es war, der in Urlaub flog.

Kurz darauf hievte Mateo den Koffer auf das Gepäckband, während Anastasia ihre Reiseunterlagen vorzeigte.

„Mein Gott, was hast du im Koffer? Steine?“

„Na logisch“, bestätigte Anastasia. „Ich bin gestern Abend extra noch los gezogen und habe ein paar Steine eingepackt, damit du dich beschweren kannst.“

Die Dame am Check-In konnte ein Schmunzeln nicht verbergen, obwohl sie ähnliche Szenen vermutlich öfter erlebte. Nachdem sie den Koffer losgeworden waren, teilten sie das Handgepäck unter sich auf. Anastasia schleppte auf Reisen immer ihre gesamte Fotoausrüstung mit.

Sie schlenderten durch die endlosen Weiten des Flughafengebäudes und kamen irgendwann zu einer Buchhandlung.

„Ich brauche noch was zu lesen für den Flug“, sagte Anastasia und war auch schon auf dem Weg ins Paradies für alle Leseratten. Mateo folgte ihr auf dem Fuß, denn er teilte Anastasias Leidenschaft für Bücher.

„Was ist mit deinem E-Book-Reader? So wie ich dich kenne, hast du hunderte ungelesene E-Books drauf.“

„Stimmt, aber mir ist vorhin eingefallen, dass ich ihn aus Versehen in den Koffer gepackt habe und da komme ich jetzt nicht mehr dran.“

„Wie konntest du nur?“, tadelte Mateo.

„Ja, Schande über mein Haupt. Na ja, in ein paar Stunden sind wir wieder vereint und ich kann mich all meinen ungelesenen E-Books widmen.“

„Vorausgesetzt dein Koffer geht nicht verloren“, meinte Mateo. „Du weißt, wie oft mir das passiert ist.“

„Bitte, hör auf mit deinen Horrorgeschichten.“

Kurz darauf durchstöberten sie andächtig Seite an Seite die Regale der Buchhandlung, überflogen flüchtig mit den Augen die Titel, zogen hin und wieder ein Buch aus dem Regal, um den Klappentext zu lesen und machten sich gegenseitig auf neue Bücher aufmerksam.

„Hier, wie wär’s damit?“, sagte Mateo und reichte Anastasia ein Buch.

„Todesengel“, las Anastasia laut den Titel vor.

„Ein Krimi und die Kommissarin steht sogar auf Frauen. Also genau das richtige für dich.“

„Klingt gut“, meinte Anastasia anerkennend. „Du weißt genau, was ich mag.“

„Klar, ich bin der geborene Frauenversteher. Leider hilft mir das bei den Männern nicht weiter.“ Er zog einen Schmollmund.

Anastasia ging auf das Spiel ein und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. „Du Armer. Fast kannst du einem leidtun.“

„Warum nur fast? Ich bin gefälligst zutiefst zu bedauern.“ Mateo tat empört und brachte Anastasia damit zum Lachen.

„Du findest schon noch den Richtigen - irgendwann. Was ist eigentlich mit dem süßen Maskenbildner, von dem du mir vorgeschwärmt hast?“

„Hat Frau und Kinder“, knurrte Mateo.

„Ups, das ist saublöd.“

„Ja, und wie. Ich war mir so sicher, dass er auf Männer steht.“ Er zuckte mit den Schultern.

„Na ja, manchmal deutet man die Zeichen falsch. Wie hast du so schön gesagt: Irgendwann finde ich den Richtigen.“

Sie durchstöberten weiter die Bücherregale.

„Was ist eigentlich aus dieser Laura geworden, von der du mir erzählt hast“, fragte Mateo nach einer Weile.

„Nichts. Wir waren nur einmal zusammen was essen und das war aus beruflichen Gründen.“

„Hm, das ist ja blöd. Wir sollten einen Club gründen, den Club der verschmähten Herzen.“

„Gar keine schlechte Idee“, stimmte Anastasia zu.

„Vielleicht findest du ja auf Fuerteventura deine Traumfrau“, meinte Mateo.

„Das wäre aber ein sehr großer Zufall. Findest du nicht?“

Mateo zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Es könnte doch sein.“

„Eher unwahrscheinlich. Außerdem, was nützt es mir, wenn meine Angebetete am anderen Ende der Welt wohnt. Auf eine Fernbeziehung habe ich keinen Bock. Viel zu kompliziert.“

„Das ist der Liebe aber egal“, gab Mateo zu bedenken.

„Kann schon sein.“ Um Mateo abzulenken, reichte sie ihm ein Buch. „Sieh mal, ist das nichts für dich?“

„Ich hatte mir eigentlich vorgenommen erstmal keine neuen Bücher zu kaufen, weil der Stapel ungelesener Bücher neben meinem Bett immer weiter anwächst.“

Anastasia lachte. „Geht mir genauso, aber auf der anderen Seite gibt es noch so viele herrenlose Bücher, die verzweifelt ein neues Zuhause suchen.“

Anastasias Argumente verfehlten ihre Wirkung nicht, sodass Mateo das Buch an sich nahm und sich dem Klappentext widmete.

Mit einer beträchtlichen Ausbeute begaben sie sich schließlich auf den Weg zur Kasse. Nachdem sie bezahlt hatten, sah Anastasia auf die Uhr.

„Ui, jetzt muss ich aber los, sonst fliegt das Flugzeug ohne mich.“

„Na dann, ab mit dir.“ Er reichte Anastasia den Rucksack, den er die ganze Zeit für sie getragen hatte und hängte ihr die Kamera um den Hals.

„Geht das so?“, fragte er und betrachtete Anastasia zweifelnd.

„Das muss gehen.“

Mateo umarmte Anastasia. „Ich werde dich vermissen und ich wünsche dir ganz viel Spaß. Lass es ordentlich krachen.“

„Ich lasse höchstens ordentlich die Kamera klicken.“

„Na gut, aber etwas Spaß wird ja wohl auch drin sein, oder?“

„Klar. Ganz bestimmt.“

Mateo sah Anastasia nach, bis sie durch die Sicherheitskontrolle war. Sie winkten sich noch ein letztes Mal zu, bevor sie in entgegengesetzte Richtungen liefen. Mateo kehrte in seinen gewohnten Alltag zurück, während Anastasia in ein unbekanntes Abenteuer startete.

2

Während der Landung klebte Anastasia geradezu am Fenster und betrachtete die Landschaft tief unter sich durch das Kameraobjektiv. Sie wollte den Moment für ein gutes Foto keineswegs verpassen. Noch befand sich das Flugzeug über dem Meer, aber ganz in der Nähe sah sie bereits das Festland, lange weiße Strände, Hotelanlagen, die nahe der Strände errichtet worden waren, sowie immer wieder kleine weiße Häuser, die wie helle Farbtupfer in der kargen Landschaft wirkten und sich bis ins Landesinnere ausbreiteten. Die glühende Abendsonne spiegelte sich im Wasser und tauchte alles in orangefarbenes Licht.

Das Flugzeug beschrieb eine Kurve in der Luft und hielt anschließend geradewegs auf das Festland zu. Die Landung stand kurz bevor. Sie sanken immer tiefer und beinahe konnte man denken, das Flugzeug berührte jeden Moment das Wasser. Anastasia hielt alles mit der Kamera fest, während ihr Herz vor Vorfreude ein wenig schneller schlug. Gleich war sie am Ziel, ein neues Abenteuer wartete auf sie.

Kurz darauf setzte das Flugzeug auf der Landebahn auf. Die Landung verlief sanft, sodass sie das Aufsetzen der Räder kaum spürte. Offensichtlich schien der Pilot sehr erfahren zu sein, denn sie erinnerte sich an Landungen, bei denen das Flugzeug regelrecht heruntergekracht war und sie ordentlich durchgeschüttelt worden war. Nun hatte sie wieder festen Boden unter den Füßen beziehungsweise Rädern. Es war ein unglaubliches Gefühl nach der stundenlangen Schwerelosigkeit.

Sobald das Flugzeug seine Parkposition erreicht hatte, begann geschäftiges Treiben um sie herum. Die Passagiere sammelten eilig ihre Sachen zusammen, denn jeder wollte als erster das Flugzeug verlassen und doch ging es wie immer der Reihe nach.

Anastasia blieb entspannt sitzen und schloss sich der Geschäftigkeit nicht an. Sie mochte das Gerangel und Gedränge nicht und wartete lieber bis der größte Andrang vorbei war. Raus mussten sie ja alle und auf ein paar Minuten mehr oder weniger kam es nicht an.

Nach einer Weile ging es los und die Passagiere schoben sich dicht gedrängt in einer Reihe durch den Gang des Flugzeuges gen Ausgang. Anastasia beobachtete das Geschehen schmunzelnd.

Nach einer gewissen Zeit wurde es deutlich leerer im Flugzeug und so nahm auch Anastasia ihr Handgepäck an sich und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Sie verließ das Flugzeug über eine Stahltreppe. Draußen wurde sie von einem heißen Luftstrom empfangen, den ein kräftiger Wind mit sich brachte.

Am Ende der Treppe wartete ein Bus, in dem die Menschen dicht gedrängt standen. Anastasia quetschte sich hinein und fühlte sich sofort unwohl. Das war der Nachteil des Reisens. Obwohl der Bus bereits brechend voll war, kamen immer noch Leute nach, sodass sie noch enger zusammenrücken mussten, Körper an Körper gepresst. Die Luft war stickig und es verschlimmerte sich noch, sobald die Türen geschlossen wurden und sie in halsbrecherischem Tempo über das Gelände heizten. Der Busfahrer nahm die Kurven so rasant, dass die Fahrgäste womöglich umgefallen wären, wenn sie nicht so dicht aneinander gedrängt gewesen wären.

Auch am Gepäckband herrschte dichtes Gedränge. Anastasia quetschte sich in eine winzige Lücke, um etwas sehen zu können. Ihre Drängelei brachte ihr einige böse Blicke ein, doch sie kümmerte sich nicht darum. Vermutlich sah sie keinen dieser Menschen je wieder. Sie waren nichts weiter als flüchtige Begegnungen.

Nun begann wieder das lästige Warten. Es war der Nachteil jeder Reise. Je länger sie wartete, umso leerer wurde es um sie herum. Einer nach dem anderen nahm sein Gepäck vom Band und setzte seine Reise fort. Nach einer Weile standen außer ihr nur noch zehn andere Leute am Gepäckband, aber es erschienen keine weiteren Koffer mehr. Anastasia sah noch einmal auf die Anzeigentafel am Band. Vielleicht hatte sie die Zahlen verwechselt, aber die Überprüfung ergab, dass alles seine Richtigkeit hatte. Im selben Moment kam das Gepäckband zum Stillstand.

„Was ist denn jetzt los?“, wunderte sich ein Mann, der in Anastasias Nähe stand.

„Wo bleibt unser Gepäck? Das darf ja wohl nicht wahr sein“, stimmte seine Frau ein.

„Vielleicht ist es nur eine technische Störung“, sagte ein anderer.

Anastasia glaubte nicht daran. Wenn das Band abgestellt wurde, war die Gepäckausgabe zu Ende, so einfach war das. Aber wo war ihr Gepäck abgeblieben? Wie sollte sie drei Wochen ohne Gepäck auskommen? Sie ermahnte sich selbst Ruhe zu bewahren. Bestimmt war ihr Gepäck da. Es konnten nicht so viele Koffer auf einmal verschwinden.

„Was machen wir denn jetzt?“, zeterte eine Frau. Sie schien der Verzweiflung nahe zu sein, während ihr Mann nur ratlos mit den Schultern zuckte.

Anastasia wusste auch nicht, was sie machen sollte. Bisher war ihr so etwas noch nicht passiert. Ratlos sah sie sich um und ging dann auf einen der Schalter zu. Einige ihrer Mitwartenden schlossen sich ihr an und gemeinsam brachten sie ihr Anliegen vor. Die Dame am Schalter konnte ihnen zunächst auch nicht weiter helfen, vertiefte sich aber in ihren PC, die Tastatur klapperte, sie griff zum Telefon, telefonierte auf Spanisch, anschließend auf Englisch, während die Umstehenden immer ungeduldiger wurden.

Nach einer Weile richtete sie das Wort an die Wartenden. „Es tut mir sehr leid, aber Ihr Gepäck ist versehentlich falsch verladen worden.“

„Wie kann das denn sein?“

„Was passiert denn nun?“

„Ich will mein Geld zurück!“

Alle redeten wild durcheinander, nur Anastasia schwieg. Vorwürfe und Wut änderten nichts, dennoch war auch bei ihr die Verzweiflung groß.

„Wann bekommen wir unser Gepäck?“

„Ihre Koffer kommen mit der nächsten Maschine“, erklärte die Frau. Sie blieb erstaunlich ruhig und ließ sich von den wütenden Entgegnungen scheinbar nicht beeinflussen.

„Wie lange wird das dauern?“, fragte ein Mann.

„Die Maschine wird in etwa zwei Stunden hier sein.“

„Wir haben eine lange Reise hinter uns“, ereiferte sich eine ältere Dame. „Wir möchten uns ausruhen.“

„Ich kann Ihren Unmut verstehen und es tut mir auch sehr leid, aber mehr kann ich im Augenblick nicht tun. Ich kann Ihnen gerne anbieten im Bistro eine Stärkung zu sich zu nehmen, während Sie warten. Ich stelle Ihnen Gutscheine aus.“

Mit ihren Worten beruhigte sie die Gemüter. Sie widmete sich erneut ihrem PC und verteilte im Anschluss die Gutscheine.

„Melden Sie sich in etwa zwei Stunden noch einmal hier. Dann kann ich Ihnen weitere Auskünfte geben.“

Die Menschentraube setzte sich grummelnd in Bewegung. Anstatt dankbar zu sein, dass die Koffer bald kamen und sie die Wartezeit halbwegs angenehm verbringen konnten, herrschte allgemeine Unzufriedenheit. Anastasia konnte darüber nur den Kopf schütteln. Die meisten Menschen waren echt undankbar. Natürlich war es blöd gelaufen, aber im Moment eben auch nicht zu ändern.

Anastasia steckte den Gutschein in ihre Tasche. Sie hatte nicht vor ihn zu benutzen. Während des Fluges hatte sie sich etwas zu trinken gekauft, die Flasche war noch halb voll und Hunger verspürte sie nicht. Außerdem hatte sie keine Lust sich ihren Mitreisenden anzuschließen, um sich gegenseitig zu bedauern. Stattdessen sah sie sich ein wenig am Flughafen um, beobachtete die Menschen, lauschte ihren Gesprächen und kam schließlich zu einer Art Terrasse, von der sie die startenden Flugzeuge beobachten konnte. Sie zückte ihre Kamera, um noch einige schöne Aufnahmen zu machen, bevor die Sonne endgültig am Horizont verschwand und alles in undurchdringliche Dunkelheit gehüllt wurde.

 

Draußen gab es so viel zu sehen, dass Anastasia beinahe die Zeit vergaß und so schlenderte sie erst kurz vor Ende der Frist zurück zum verabredeten Treffpunkt.

Auf einmal raste wie aus dem Nichts ein großer braun-schwarzer Hund auf sie zu, ihm folgte in einigen Metern Entfernung eine Frau.

„Halten Sie den Hund fest!“, rief sie Anastasia aufgeregt zu.

Anastasia zögerte nicht lange. Sie stellte sich dem Hund in den Weg. Da sie im Vorfeld bedacht hatte, dass er ihr ausweichen würde, war sie vorbereitet, warf sich regelrecht auf den Hund und bekam ihn am Halsband zu fassen. Er gebärdete sich wild und wollte sich los reißen, aber gegen Anastasia hatte er keine Chance, deshalb gab er recht schnell auf und ließ sich bereitwillig kraulen.

Atemlos langte die Frau bei ihnen an. „Ich danke Ihnen“, japste sie.

„Kein Problem. Hunde einfangen gehört zu meinen leichtesten Übungen“, scherzte Anastasia.

Die Frau lachte. „Das war nicht zu übersehen. Nochmals vielen Dank. „Wir, also mein Mann und ich sind vor kurzem hierher ausgewandert. Nun haben wir endlich unseren Hund nachholen können. Ich wollte ihm nach dem langen Flug bloß etwas Wasser geben, beim Öffnen der Box ist er mir entwischt. Eine Katastrophe.“

„Es ist ja zum Glück alles gut gegangen“, entgegnete Anastasia.

„Ja, ein Glück, dass Sie gerade zur Stelle waren. Also dann, ich muss weiter.“ Fröhlich winkend verließ sie Anastasia, die kurz darauf ihren Weg fortsetzte.

„Was für ein Tag“, sprach sie leise zu sich selbst. „Und das gleich an meinem ersten Tag.“

 

Anastasia traf als letzte am Schalter ein und spürte sofort, dass die Stimmung nicht gut war. Hoffentlich war nicht erneut etwas schief gelaufen und das Gepäck nun endgültig verschollen.

„Was habe ich verpasst?“, wandte sich Anastasia an eine Frau, die ihr am Nächsten stand.

„Die Warterei war für die Katz. Niemand weiß wo sich unser Gepäck befindet.“

„Darf ich kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten“, versuchte die Dame am Schalter das Stimmengewirr zu durchdringen. Augenblicklich waren alle Augen auf sie gerichtet und die Stimmen verstummten.

„Ich habe nochmal nachgefragt und darf Ihnen mitteilen, dass Ihre Koffer soeben angekommen sind. Die Maschine wird in wenigen Minuten entladen und Ihre Koffer kommen über das Gepäckband 4. Bitte entschuldigen Sie die Ihnen entstandenen Unannehmlichkeiten.“

„Warum nicht gleich so?“, knurrte ein Mann.

Als Gruppe zogen sie von dannen und erreichten noch vor den anderen Passagieren das Gepäckband, das ihnen leer und bewegungslos entgegen starrte.

„Wenn unsere Koffer diesmal nicht dabei sind, kann ich für nichts garantieren“, sagte eine Frau neben Anastasia.

„Dann rappelt es richtig im Karton“, stimmte ihr Mann zu.

Anastasia hoffte, dass es nicht so weit kam. Die bisherigen Aufregungen des Tages reichten ihr erstmal. Voller Anspannung wartete sie darauf, dass sich das Gepäckband in Bewegung setzte und ihr Koffer auftauchte. Als es endlich so weit war, hätte sie vor Erleichterung einen Freudentanz aufführen können, wenn sie nicht so müde gewesen wäre. Stattdessen stiefelte sie erleichtert mit ihrem Gepäck zum Ausgang. Doch was nun? Der Bus, der sie zum Hotel hätte bringen sollen, war seit Stunden weg und auf weitere Diskussionen hatte sie keine Lust. Da fiel ihr Blick auf den Taxistand. Das war die Lösung und ein paar Minuten später sank sie erschöpft auf den Rücksitz des Fahrzeugs.

 

3

Mitten in der Nacht erreichte Anastasia ihr Ziel. Sie war müde und sehnte sich nach einem gemütlichen Bett. Während der ganzen Fahrt im Taxi, waren ihr immer wieder die Augen zu gefallen.

Der Hoteleingang war hell erleuchtet. Als sie begann ihren Koffer die Eingangstreppe hoch zu schleppen, eilte ihr jemand von der Rezeption zu Hilfe und nahm ihr das Gepäck  ab. Erleichtert folgte sie dem jungen Mann.

Er stellte den Koffer an der Rezeption ab und kehrte hinter die Rezeption zurück.

„Willkommen bei uns im Hotel Jandia Resort. Hatten Sie eine angenehme Anreise?“

„Eher nicht“, gestand Anastasia. „Mein Koffer war nicht in derselben Maschine wie ich, deshalb musste ich länger warten.“

„Das tut mir sehr leid.“ Er reichte Anastasia ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber. „Füllen Sie das bitte aus und ich benötige noch Ihre Reiseunterlagen, sowie Personalausweis oder Reisepass.“

Anastasia übergab ihm die gewünschten Unterlagen und füllte das Formular aus.

Eine Weile herrschte Schweigen, viel zu lange, fand Anastasia und dann nahm erneut die Katastrophe ihren Lauf.

„Das ist mir jetzt wirklich unangenehm“, begann der Rezeptionist, „aber es gab einen Fehler bei den Buchungen, deshalb ist aktuell kein Zimmer frei.“

Die Worte waren für Anastasia wie ein Schlag ins Gesicht, sie zogen ihr den Boden unter den Füßen weg. Das konnte ja wohl nicht wahr sein. Sie kam von so weit her und musste dann erfahren, dass das Hotel ausgebucht war.

„Das kann doch nur ein schlechter Scherz sein“, sagte Anastasia.

„Leider nein. Ich wünschte, es wäre so.“

„Und was heißt das jetzt? Soll ich auf dem Boden schlafen oder in einem der Sessel?“ Sie deutete auf die Sitzgelegenheiten nahe der Rezeption.

„Nein, natürlich nicht. Schauen Sie! Gleich hier gegenüber haben wir eine Pension. Dort gibt es noch freie Zimmer.“

„Ich möchte nicht in eine Pension.“ Anastasia kam die Sache sehr suspekt vor. Was wurde hier gespielt? War es von langer Hand geplant? Womöglich wollte man sie ausrauben oder entführen. Wenn sie erst in der Pension war, krähte kein Hahn mehr nach ihr. Sie spielte mit dem Gedanken Mateo anzurufen, aber wahrscheinlich würde er bloß sagen, dass ihre Fantasie mal wieder mit ihr durchging und sie zu viele Krimis gelesen hatte.

„Die Pension gehört zum Hotel“, versicherte ihr der Rezeptionist.

„Davon stand aber nichts im Internet“, erwiderte Anastasia.

„Normalerweise vermieten wir die Pensionszimmer nicht an Gäste.“

Das wurde ja immer besser.

„Bitte, schauen Sie noch einmal nach. Vielleicht ist ja doch noch ein Zimmer frei und Sie haben es bloß übersehen.“

„Es tut mir leid, aber wir sind voll belegt.“

„Das kann doch nicht sein.“

„Ich habe keinen Grund Sie anzulügen.“

„Ich möchte Ihren Chef sprechen.“

„Bedaure, er ist erst morgen wieder im Haus. Nehmen Sie nun das Pensionszimmer?“

„Ganz ehrlich, so habe ich mir meinen Urlaub nicht vorgestellt.“

„Sie haben mein vollstes Verständnis und ich versichere Ihnen, es ist nur für eine Nacht. Morgen reisen einige Gäste ab, sodass Sie gleich morgen ein anderes Zimmer beziehen können.“

„Und das ist wirklich die einzige Möglichkeit?“

„Leider ja.“

„Glauben Sie bloß nicht, dass ich damit einverstanden bin“, sagte Anastasia.

„Ich verstehe Sie. Als Entschädigung kann ich Ihnen einen Gutschein für unseren Wellnessbereich ausstellen.“

„Ein Hotelzimmer wäre mir lieber.“ So schnell wollte Anastasia nicht aufgeben, obwohl längst klar war, dass sie verloren hatte.

„Morgen, nach dem Mittagessen, bekommen Sie ein anderes Zimmer. Es tut mir wirklich sehr leid. So etwas sollte nicht passieren.“

Die ganze Zeit waren sie allein gewesen in der Lobby, doch auf einmal tauchte noch jemand auf.

„Cari, kommst du mal bitte“, richtete der Rezeptionist das Wort an sie.

„Klar, was gibt’s?“

Anastasia musterte Cari. Sie schien kaum älter als sie selbst zu sein, trug ein weißes T-Shirt, eine neongrüne Shorts und weise Sneakers. Ihre langen blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden und ihr fröhliches Lächeln wirkte ansteckend. Anastasia fand sie gleich sympathisch.

„Könntest du unseren Gast mit hinüber in die Pension nehmen?“

Cari zog fragend die Augenbrauen hoch. „Ähm, wieso?“

„Es gab ein technisches Problem, deshalb ist bei den Buchungen etwas durcheinander geraten und wir haben gerade kein Zimmer frei.“

„Blöd gelaufen“, sagte Cari.

„So richtig blöd“, bestätigte Anastasia.

„Es ist nur für eine Nacht“, wiederholte der Rezeptionist.

„Das macht es auch nicht besser“, ereiferte sich Anastasia.

„Die Pension ist auch ganz gemütlich“, meinte Cari.

Anastasia bekam den Schlüssel ausgehändigt. „Zimmer 17“, wurde Cari informiert.

„Dann machen wir uns mal auf den Weg“, sagte Cari. „Soll ich dir mit dem Gepäck helfen?“

„Nein, das geht schon“, versicherte Anastasia schnell. Wäre Cari ein Mann gewesen, hätte sie ihm den Koffer aufs Auge gedrückt, aber nun musste sie selbst ran.

„Die Pension ist nicht so schlimm, wie du denkst“, sagte Cari, als sie gemeinsam das Hotel verließen.

„Wohnst du dort?“, wollte Anastasia wissen.

„Ja, zusammen mit vielen anderen, die im Hotel arbeiten. Ich arbeite im Animationsteam und bin für die Kinderbetreuung zuständig.“

„Der Job ist bestimmt sehr abwechslungsreich und anstrengend“, stellte Anastasia fest.

„Das stimmt. Und du machst wahrscheinlich Urlaub hier.“

„Ja, überwiegend.“

„Überwiegend? Wie darf ich das verstehen?“

„Ich bin Fotografin und habe hier einen Auftrag zu erledigen, aber die Erholung kommt, glaube ich, dennoch nicht zu kurz.“

„Das klingt interessant. Machst du so eine Art Reisereportage?“

„Ja, genau. Ich mache die Fotos für einen Reiseführer.“

„Cool. Falls du den einen oder anderen Tipp brauchst, kann ich dir bestimmt weiter helfen. Ich bin schon ein paar Jahre auf der Insel.“

„Danke, das ist lieb. Ich komme bestimmt mal auf dein Angebot zurück.“

Inzwischen hatten sie die Straße überquert und die Pension betreten. Cari lotste Anastasia zielsicher die Flure entlang. Die Pension war nicht so luxuriös wie das Hotel, aber alles wirkte sauber und aufgeräumt. Eine Nacht würde sie an diesem Ort wohl überstehen und ein eigenes Zimmer mit Bett und Bad war immer noch besser, als die Nacht in einem Sessel in der Lobby zu verbringen.

„Wie heißt du eigentlich?“, fragte Cari.

„Anastasia.“

„Ein schöner Name und selten. Man hört ihn nicht so oft.“

„Danke. Cari ist aber auch ein seltener Name. Ich habe ihn noch nie gehört.“

„Cari ist bloß die Abkürzung von Catharina, aber sag´s niemandem“, gestand sie lachend.

„Keine Sorge, dein Geheimnis ist bei mir sicher.“

„Ich wusste, dass ich dir vertrauen kann. Das wusste ich vom ersten Moment an.“

„Vielen Dank. Die gute Menschenkenntnis hast du wahrscheinlich durch den Animationsjob erlangt.“

„Stimmt, man kommt mit vielen Menschen zusammen. Ich mag das sehr.“

Anastasia mochte beides gleichermaßen, den engen Kontakt mit Menschen, den das Fotografieren mit sich brachte, aber auch die Einsamkeit, wenn sie Naturaufnahmen in unberührter Natur, an einsamen Orten auf der ganzen Welt machte.

„So, da wären wir“, sagte Cari und blieb vor einem Zimmer stehen, an dessen Tür eine silberne 17 angebracht war.

„Danke, fürs her bringen.“

„Kein Ding! Wir hatten ja denselben Weg.“ Sie zwinkerte Anastasia zu. „Ich wünsche dir eine angenehme Nacht.“

„Danke, ich dir ebenso.“

„Wenn was ist, klingel durch. Ich wohne in der 22.“

„Ich denke, ich komme klar. Ich bin schon ein großes Mädchen“, versicherte Anastasia.

„Gut zu wissen. Also dann, man sieht sich.“

Während Cari von dannen ging, betrat Anastasia ihr provisorisches Zimmer. Sie knipste das Licht an und sah sich erstmal um. Der Raum war spartanisch, nur mit dem Notwendigsten eingerichtet, aber alles wirkte gepflegt und das Bett sah gemütlich und einladend aus. Nach der langen Reise wollte sie sowieso nichts weiter als duschen und schlafen.

 

4

Nach einem tiefen, traumlosen Schlaf erwachte Anastasia am nächsten Morgen in aller Frühe. Sie brauchte einen Moment, um zu realisieren wo sie sich befand. Nur langsam sickerten die Erlebnisse des vergangenen Tages in ihr Bewusstsein und ihr wurde klar, dass sie Urlaub hatte. Sie seufzte genüsslich, rekelte sich im Bett und gähnte dabei herzhaft. Sie schloss nochmal kurz die Augen und schickte ihre Gedanken auf eine Traumreise, doch die Sonne, die von draußen ihre leuchtenden Strahlen ins Zimmer schickte, sorgte dafür, dass es sie nicht länger im Bett hielt. Voller Tatendrang startete sie in einen neuen Tag.

 

Nach einem längeren Abstecher im Bad, verließ sie gut gelaunt ihr Pensionszimmer und freute sich auf ein ausgedehntes Frühstück, das sie ausnahmsweise nicht selbst zubereiten musste.

Als sie aus dem Zimmer trat, stieß sie beinahe mit jemandem zusammen.

„So schnell sieht man sich wieder“, sagte Cari mit einem Lächeln auf den Lippen.

„Guten Morgen“, grüßte Anastasia.

„Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?“

„Ja, sehr gut sogar. Das hätte ich nicht erwartet.“

„Warum nicht?“

„Vorurteile, du weißt schon…“

„Auch eine Pension kann gemütlich sein“, meinte Cari.

„Stimmt genau.“

Auf einmal vernahmen sie Schritte und sahen sich beide um.

„Morgen“, grüßte ein junger, braun gebrannter Mann. Er blieb neben Cari stehen. „Na Mädels, was geht?“

„Wir gehen jetzt zum Frühstück“, sagte Cari. „Du kommst doch mit?“, richtete sie das Wort an Anastasia.

„Ähm…, ja klar.“ Sie fühlte sich ein wenig überrumpelt.

„Ich bin übrigens Ibo“, stellte sich der junge Mann vor.

„Freut mich. Ich bin Anastasia.“

„Also dann, nichts wie ab zum Buffet“, forderte Ibo sie auf.

Sie verließen die Pension, überquerten die Straße und betraten die Hotelhalle. Dort herrschte bereits reges Treiben, Hotelgäste eilten hin und her, einige saßen auf gepackten Koffern und warteten auf ihre Abreise. Anastasia folgte Cari und Ibo. Im Gegensatz zu ihr kannten sie den Weg zum Speisesaal. Als Neuankömmling brauchte man immer eine Weile, um sich in einem Hotel zurechtzufinden. Da war es von Vorteil, wenn man jemanden kannte, der diese Phase bereits hinter sich hatte.

Ibo stand sofort im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, von allen Seiten wurde er gerufen.

„Ihr entschuldigt mich, Mädels“, sagte Ibo, eilte zum Buffet und lud seinen Teller so voll, wie es nur ging.

„Und weg isser“, kommentierte Cari seinen Abgang.

„Er scheint sehr beliebt zu sein“, stellte Anastasia fest, während sie mit Cari zum Buffet schlenderte.

„Oh ja, die Mädels stehen auf ihn“, sagte Cari und verdrehte die Augen.

Sie nahmen sich einen Teller und begannen mit ihrer Essensauswahl. Ibo hatte es sich inzwischen an einem Tisch mit zwei jungen weiblichen Gästen gemütlich gemacht.

„Er geht aber ganz schön ran“, meinte Anastasia und deutete mit ihrem Blick Richtung Ibo.

„Sagen wir mal so, er lässt nichts anbrennen. Das Drama ist jedes Mal vorprogrammiert. Ich sage nur, gebrochene Herzen bei den Mädels. Im Herzen brechen ist er Weltmeister und das obwohl wir offiziell mit den Gästen nichts anfangen dürfen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Na ja, was der Chef nicht weiß, macht ihn nicht heiß.“

Sie suchten sich einen freien Tisch und ließen sich gemeinsam nieder.

„Ach, ist das schön, wenn man das Frühstück mal nicht selbst machen muss“, sagte Anastasia.

„Stimmt, das ist toll. Ich darf diesen Luxus schon seit über zwei Jahren genießen.“

„Seitdem arbeitest du hier?“

Cari nickte. „Ich war vorher ein halbes Jahr in einem anderen Hotel und nun bin ich hier.“

Ein kleines Mädchen trat an den Tisch und begrüßte Cari mit einer Umarmung. „Ich hab dich vermisst“, sagte die Kleine.

„Ich hab dich auch vermisst, Laura.“

Anastasia beobachtete die Szene gerührt. Kinder waren einfach von Grund auf ehrlich, sprachen aus, was sie dachten und fühlten ohne lange darüber nachzudenken. Je älter man wurde umso mehr schien diese Fähigkeit verloren zu gehen.

„Die Kinder lieben dich wohl sehr“, stellte Anastasia fest, als Laura zu ihren Eltern zurückgekehrt war.

„Ich mag die Kinder auch und das spüren sie. Wenn es anders wäre, könnte ich den Job auch nicht machen. Ich bin von morgens bis abends mit den Kids zusammen.“

Sie verfielen in Schweigen und widmeten sich ihrem Essen. Immer wieder kamen Gäste an den Tisch, um Cari zu begrüßen. Anastasia fühlte sich unwohl und in ihrer Ruhe gestört, Cari hingegen schien es nicht das Geringste auszumachen. Sie plauderte mit allen nett und wirkte zufrieden, aber wahrscheinlich gehörte das dazu, wenn man als Animateurin arbeitete, dieses ständige im Mittelpunkt stehen und präsent sein.

„Beginnst du heute schon mit deiner Arbeit oder gönnst du dir erstmal etwas Ruhe und Erholung?“, fragte Cari.

„Heute steht erstmal faulenzen auf dem Programm und morgen fahre ich zu einigen Stränden, um Fotos zu machen.“

„Klingt nach einem guten Plan. Ich habe übermorgen frei. Wenn du magst, kann ich dir einige schöne Ecken auf der Insel zeigen.“

„Gerne. Weißt du vielleicht wo ich hier in der Nähe ein Auto mieten kann?“

„Wenn du aus dem Hotel raus gehst und dann rechts die Straße runter, kommst du nach ein paar hundert Metern zu einer kleinen Autovermietung. Der Betreiber ist nett und die Preise sind fair.“

„Dann werde ich da gleich mal vorbei schauen.“

„Mach das.“ Cari sah auf ihre Armbanduhr. „Ich muss jetzt auch los. Der Miniclub öffnet gleich.“

„Ich wünsche dir einen angenehmen Arbeitstag.“

„Danke, und ich dir gute Erholung.“

Cari stand auf. „Wir sehen uns.“ Sie schenkte Anastasia ein Lächeln zum Abschied, dann schlängelte sie sich zwischen den Tischen hindurch zum Ausgang. Anastasia sah ihr nach und bemerkte, dass sie Cari ungern gehen ließ. Sie hätte gerne noch länger mit ihr geredet, aber sie waren verabredet und wenn sie allein unterwegs waren, wurden sie nicht zwischendurch von Gästen unterbrochen und gestört.

Cari frühstückte in Ruhe zu Ende, bevor sie sich auf den Weg machte. Sie beherzigte Caris Tipp und schlug den Weg zur Autovermietung ein. Es war ein winziger Laden, einzig eine kleine Theke passte hinein, hinter der ein Mann saß und auf Kundschaft wartete. An den Wänden hingen Plakate, die verschiedene Autos zeigten und Preislisten.

„Guten Morgen“, grüßte Anastasia.

„Guten Morgen, schöne Frau. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich brauche ein Auto.“

„Da sind Sie bei mir richtig. Woran haben Sie denn genau gedacht? Soll es ein großes Auto sein oder lieber ein Kleinwagen?“

„Ein Kleinwagen wäre gut.“

Anastasias Gegenüber legte ihr eine Liste vor. „Das sind die Fahrzeuge, die ich Ihnen aktuell anbieten kann.“

Anastasia überflog die Liste. Sie hatte noch nie eine bestimmte Automarke bevorzugt. Vier Reifen musste es haben und fahrtüchtig sein, alles andere war egal. Spontan entschied sie sich für einen weißen Ford Ka.

„Wie lange möchten Sie das Fahrzeug mieten?“

„Eine Woche, ab morgen.“

„Alles klar. Dann mache ich Ihnen den Vertrag fertig. Das Auto steht ab morgen für Sie bereit.“

„Kann ich den Vertrag bei Bedarf verlängern?“

„Natürlich, das ist kein Problem. Geben Sie mir einfach einen Abend vorher Bescheid. Ich brauche dann noch Ihren Ausweis und Führerschein.“

Anastasia händigte ihm das Gewünschte aus. Er fertigte eine Kopie an und gab Anastasia die Dokumente zurück. „So, das war’s auch schon. Alles Weitere dann morgen.“ Er lächelte Anastasia kurz zu.

„Vielen Dank“, sagte Anastasia und verließ den Laden.

Gemächlich schlenderte sie zum Hotel zurück, genoss die warmen, frühmorgendlichen Sonnenstrahlen und die Stille, die rings um sie noch herrschte. Zurück im Hotel legte sie einen Zwischenstopp an der Rezeption ein. An diesem Morgen saß dort eine ältere Dame. Sie hatte ihre Haare streng nach hinten gekämmt und zu einem Dutt gewickelt, was ihr ein strenges Aussehen verlieh.

„Guten Morgen“, grüßte Anastasia freundlich.

„Guten Morgen. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

„Ich bin gestern angekommen und habe kein Zimmer mehr bekommen. Nun wollte ich fragen, ob inzwischen ein Zimmer frei geworden ist.“

„Einen Moment, bitte. Ich schaue nach.“ Ihre Stimme klang freundlich, obwohl sie äußerlich so streng wirkte. Das äußere und innere Erscheinungsbild eines Menschen konnte oftmals nicht gegensätzlicher sein.

Sie tippte auf der Tastatur ihres PCs herum und schenkte kurz darauf wieder Anastasia ihre Aufmerksamkeit.

„Inzwischen haben wir wieder freie Zimmer. Ich frage kurz nach wie weit die Reinigungskräfte sind.“ Sie griff zum Telefon und sprach auf Spanisch in den Hörer, sodass Anastasia kein Wort verstand. Das Gespräch dauerte nicht lange und sie wandte sich gleich wieder an Anastasia. „Ich habe gute Nachrichten. Sie können sofort ein Zimmer beziehen.“

„Vielen Dank. Das freut mich sehr.“

Kurz darauf übergab die Dame Anastasia die Zimmerkarte. „Die Zimmernummer steht auf der Karte. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt und bitte entschuldigen Sie vielmals die Unannehmlichkeiten.“

Anastasia nickte der Frau hinter dem Tresen zum Abschied zu und machte sich auf den Weg zur Pension. Gespenstische Ruhe empfing sie. Alle waren ausgeflogen. Anastasia lief suchend durch die Gänge, bis sie ihr Zimmer gefunden hatte. Sie packte die wenigen Sachen zusammen, die sie über Nacht im Zimmer verteilt hatte. Innerlich war sie voller Vorfreude. Nun konnte ihr Urlaub so richtig starten. Nachdem am gestrigen Tag alles schief gelaufen war, lief es heute wie am Schnürchen.

Zwischen ihrem Pensionszimmer und ihrem Hotelzimmer lag ein himmelweiter Unterschied. Dennoch wollte sie keine Minute länger darin verbringen als notwendig. Sie wollte raus, die Sonne genießen, einen entspannten Tag erleben.

Sie öffnete ihren Koffer und wühlte so lange darin herum, bis sie ihre Badesachen gefunden hatte. Sie zog sich um, packte Sonnenmilch, Handtuch und ihren E-Book-Reader in eine kleine Tasche und machte sich wieder auf den Weg. Ihrem Instinkt folgend schlug sie sich bis zum Pool durch. Auf dem Weg dorthin kam sie zufällig am Miniclub vorbei, einer großen Spielelandschaft, wo die Kinder betreut wurden und mit Gleichgesinnten Abenteuer erleben konnten. Unbewusst hielt Anastasia Ausschau nach Cari und entdeckte sie nach einer Weile. Sie spielte mit einer Gruppe Kinder und war so vertieft, dass sie Anastasia nicht bemerkte. Anastasia hielt am Zaun kurz inne und beobachtete die Szenen, die sich ihr boten. Die Sorglosigkeit und Lebensfreude der Kinder wirkte ansteckend und es war eine Freude ihnen zuzusehen.

Als Cari Anastasia entdeckte, kam sie freudig lächelnd auf sie zu.

„Na.“

„Hi. So schnell sieht man sich wieder.“

„Stimmt, aber im Miniclub willst du wahrscheinlich nicht einchecken, oder?“

Anastasia lachte. „Nein, ich bin auf dem Weg zum Pool.“

„Warum gehst du nicht zum Strand? Das Meer ist doch viel schöner, als das gechlorte Wasser.“

„Später vielleicht. Erstmal steht Erholung auf dem Programm. Der Strand läuft mir ja nicht weg.“

„Guter Plan. Ich gehe nach dem Mittagessen mit den Kids an den Strand. Vielleicht sieht man sich ja.“

„Bestimmt. Wie komme ich denn zum Strand?“

„Du gehst einfach hier den Weg runter.“ Cari deutete in die entsprechende Richtung. „Nach einigen hundert Metern kommst du zu einer kleinen Holzbrücke. Über die musst du drüber, dann siehst du das Meer schon.“

„Das müsste zu finden sein. Danke, für die super Wegbeschreibung.“

„Gerne.“ Sie schenkte Anastasia ein Lächeln.

„Cari, wann spielen wir weiter?“, riefen die Kinder durcheinander.

„Ich muss zurück zu den Kids.“ Cari schien es zu bedauern, zumindest hatte Anastasia den Eindruck.

„Okay, dann bis später.“

Nach diesen Worten trennten sie sich. Cari widmete sich wieder den Kindern, während Anastasia die Poollandschaft in Augenschein nahm, auf der Suche nach einer freien Liege. Das Gedränge war so früh am Morgen noch nicht so groß und Anastasia sicherte sich einen Liegestuhl mit eigenem Sonnenschirm. Die Sonne brannte bereits ordentlich vom Himmel und sie wollte sich nicht gleich am ersten Tag einen Sonnenbrand holen.

Sie streckte sich wohlig auf der Liege aus, schaltete ihren E-Book-Reader ein und wählte ein E-Book der zahlreichen ungelesenen Exemplare aus, die sich im Laufe der Zeit angesammelt hatten. Gerade wollte sie in ihre Lektüre abtauchen, da setzte laute Musik ein, die eher zum Mittanzen anregte, als eine entspannende Wirkung zu haben. Im selben Moment tauchte Ibo auf.

„Frühsport! Wasserball! Aquagym! Kommt Leute! Los geht’s! Yeah!“ Er versprühte Energie und Fröhlichkeit in rauen Mengen, klatschte zum Takt der Musik in die Hände, um die Gäste zu motivieren.

Einige Menschen erhoben sich von ihren Liegestühlen und schlossen sich Ibo an. Als er Anastasia entdeckte, trat er entschlossen auf sie zu.

„Anastasia, hast du Lust auf eine Runde Wasserball im Pool?“

„Ehrlich gesagt nicht“, entgegnete Anastasia.

„Warum?“

„Sport ist nicht mein Ding. Außerdem lese ich gerade.“ Sie deutete auf ihren E-Book-Reader. „Das ist sozusagen Sport fürs Gehirn“, fügte sie hinzu.

„Schade, schade“, sagte Ibo. Dann zuckte er mit den Schultern und ließ glücklicherweise von ihr ab. Während er weiter auf Gästefang ging, konnte Anastasia sich endlich ihrer Lektüre widmen. Als die wilde Wasserschlacht im Pool jedoch begann, konnte sie sich dem Spektakel nicht entziehen. Die überwiegend männlichen Teilnehmer schossen durchs Wasser, sodass es nur so spritzte. Es ging wild zu, schäumende Wellen bäumten sich auf und ein Tor jagte das Nächste. Die Frauen der Spielenden jubelten ihren Männern zu und feuerten sie kräftig an.

Nach dem wilden Spiel wurden die Rollen getauscht. Während die Männer auf ihre Liegestühle zurückkehrten, stiegen die Frauen in den Pool. Ibo verteilte Schwimmnudeln, alles wirkte wie einstudiert, jeder schien zu wissen, was zu tun war.

Ibo blieb am Beckenrand stehen und machte die Übungen vor. Nach dem vorangegangenen Wasserballspiel wirkte er kein bisschen erschöpft. Er strotzte nur so vor Energie und Anastasia bewunderte ihn dafür.

Ein wenig mehr Sport würde dir auch nicht schaden, dachte Anastasia und fasste insgeheim den Entschluss wenigstens einmal bei der Wassergymnastik mitzumachen. Zunächst einmal begnügte sie sich jedoch mit zuschauen, schließlich war es ihr erster Urlaubstag und man musste es ja nicht gleich übertreiben.

Nach der Wassergymnastik kehrte etwas Ruhe ein. Ibo stellte die Musik leiser und Anastasia widmete sich nun endgültig ihrer Lektüre.

 

Die folgenden Stunden flogen an ihr vorbei, währenddessen sie zusammen mit den Protagonisten ihres Romans Abenteuer erlebte. Erst als sich ihr leerer Magen zu Wort meldete, spürte sie, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Sie schaltete ihren E-Book-Reader aus und machte sich auf den Weg zum Restaurant. Das war das tolle am Urlaub, man musste sich um fast nichts kümmern und konnte einfach so in den Tag hinein leben.

Beinahe automatisch ließ sie ihren Blick über die besetzten Tische schweifen, konnte Cari aber nicht entdecken.

Vielleicht isst sie mittags nichts oder sie isst zusammen mit den Kindern im Miniclub.

Anastasia platzierte sich so, dass sie den Eingang im Blick hatte und schüttelte über sich selbst den Kopf. Was war bloß los mit ihr? War es Cari in so kurzer Zeit gelungen ihr den Kopf zu verdrehen? Unsinn! Das konnte nicht sein. Vermutlich war ihr der Klimawechsel nicht bekommen oder sie war immer noch etwas angeschlagen von der Reise. Was immer es auch war, sie durfte der Geschichte keine größere Bedeutung beimessen.

Als ihr Blick nach einer Weile wieder zum Eingang wanderte, verschluckte sie sich beinahe an ihrem Essen. Cari betrat das Restaurant. Bildete Anastasia es sich bloß ein oder sah sich Cari ebenfalls suchend um? Als sie Anastasia entdeckte, lächelte sie und schlug den Weg zum Buffet ein. Anastasia spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Sie konnte nichts dagegen tun, es ließ sich nicht steuern oder unterdrücken. Sie sah Cari nach, beobachtete jede ihrer Bewegungen und konnte sich nur schwer losreißen. Sie bemerkte zu spät, dass Cari sich ihr wieder zuwandte. Peinlich berührt starrte Anastasia auf ihren Teller und spürte wie sich ihre Wangen röteten.

„Darf ich mich zu dir setzen?“, hörte sie da Caris Stimme neben sich.

Anastasia sah auf. „J-Ja, klar“, stammelte sie und wurde noch ein wenig röter.

Jetzt reiß dich zusammen! , rief sie sich innerlich zur Ordnung. Es gibt keinen Grund nervös zu sein.

„Wie war dein Vormittag? Konntest du dich ein wenig erholen?“

„Ja, nachdem Ibo mit seinem Sportprogramm fertig war.“

„Hat er nicht versucht dich zum Mitmachen zu bewegen?“

„Doch, aber bei einem Sportmuffel wie mir, hat er keine Chance.“

„Das sieht man dir aber nicht an, dass du keinen Sport machst.“

„Danke, wahrscheinlich habe ich gute Gene. Wie war denn dein Vormittag?“

„Laut und chaotisch, also wie immer, aber die Kinder sind glücklich und das ist das Wichtigste.“ Sie lächelte und zog Anastasia damit in ihren Bann. „Heute Nachmittag geht es an den Strand, da können die Kids buddeln und Sandburgen bauen.“

„Klingt gut. Als Kind habe ich das auch gerne gemacht.“

„Du kannst dich uns gerne anschließen, wenn du magst.“

„Ich denke drüber nach“, sagte Anastasia, obwohl sie bereits wusste, dass es für sie nicht infrage kam. Auf keinen Fall wollte sie sich vor Cari zum Affen machen.

„Du kannst auch am Strand mit Ibo Volleyball spielen, wenn dir das lieber ist“, schlug Cari vor.

„Nee, dann bau ich lieber Sandburgen.“

Cari musste sich das Lachen verkneifen und widmete sich danach ihrem Essen.

„Schaust du dir heute Abend die Show an?“, fragte sie. „Wir führen heute Abend das Musical Grease auf.“

„Klingt super. Ich denke, da bin ich dabei.“

Erneut strahlte Cari sie an. „Du wirst es nicht bereuen.“

Cari sah auf ihre Armbanduhr. „Ui, ich muss mich beeilen. Gleich geht es weiter.“ Sie aß etwas schneller. Anastasia pickte ebenfalls einige Salatblätter mit ihrer Gabel auf, obwohl sie keinen Appetit mehr hatte. Ihr Herz flatterte aufgeregt und sie empfand eine leichte Übelkeit in der Magengegend. Cari schien zum Glück nichts davon zu merken.

„Ich muss wieder los“, sagte sie entschuldigend, als sie aufgegessen hatte. „Wir sehen uns.“ Und schon eilte sie davon, noch bevor Anastasia etwas erwidern konnte. Anastasia sah Cari so lange nach, bis sie sie nicht mehr sehen konnte, dann schob sie den Teller von sich weg, denn sie brachte beim besten Willen keinen Bissen mehr hinunter.

 

5

Zurück am Pool packte Anastasia ihre wenigen Sachen zusammen und schlug den Weg zum Strand ein. Der Weg war von blühenden Hecken gesäumt. Die bunten Blüten verströmten einen süßlichen Duft, der zahlreiche Schmetterlinge anlockte und Anastasias Geruchsnerven auf angenehme Weise berührte. Irgendwann vermischten sich die süßlichen Gerüche mit der salzigen Luft des Meeres. Anastasia konnte den Ozean bereits in der Ferne sehen. Sie betrat die Holzbrücke, von der Cari ihr erzählt hatte und stellte fest, dass sie über einen künstlich angelegten Teich führte. Sie blieb stehen, legte die Arme aufs Geländer und sah hinunter ins Wasser. Riesige Goldfische glitten schwerelos durchs Wasser, tauchten hin und wieder auf und schickten Blubberblasen an die Wasseroberfläche, wodurch kreisförmige Wellen auf dem Wasser entstanden.

Nachdem sie eine Weile dem Treiben im Wasser zugesehen hatte, entdeckte sie einige Schildkröten, die durch den Teich zu schweben schienen, eine von ihnen mühte sich damit ab auf einen Stein am Rande des Teichs zu klettern. Ein paar Mal rutschte sie ab, schaffte es dann aber und blieb regungslos auf dem Stein hocken, genoss die Wärme des Steins an Bauchpanzer und Füßen und tankte UV Licht, das von oben auf sie herab schien.

Ein paar Minuten später versuchte eine weitere Schildkröte ihr Glück und machte sich daran den warmen Stein zu erobern. Diesmal zückte Anastasia ihre Kamera, richtete sie auf die beiden Schildkröten und startete die Aufnahme.

„Ich dachte, du wolltest dich heute erholen und nicht arbeiten“, hörte Anastasia eine Stimme neben sich, die ihr nur allzu bekannt vorkam.

Lächelnd und mit klopfendem Herzen wandte sie sich der Stimme zu und blickte genau in Caris graue Augen.

„Ich war so fasziniert von den Schildkröten, dass ich sie einfach für die Ewigkeit festhalten musste.“

„Es gibt viele Schildkröten auf der Insel“, erklärte Cari.

„Ach ja?“, tat Anastasia unwissend. Sie hatte sich im Vorfeld über die Insel informiert, wollte jedoch keineswegs neunmalklug wirken. Außerdem genoss sie jedes Gespräch mit Cari.

„Ja, es gibt sogar eine Aufzuchtstation für Meeresschildkröten.“

„Interessant. Warst du schon mal dort?“, fragte Anastasia.

„Nein. Leider hab ich es bisher nicht geschafft. Freizeit ist bei uns Animateuren Mangelware und wenn wir mal frei haben, nutzen wir die Zeit meistens zum Ausruhen.“

Und dennoch hatte sich Cari bereit erklärt ihren nächsten freien Tag mit ihr zu verbringen, wurde Anastasia klar. Warum? Was steckte dahinter? Beinahe war sie versucht Cari zu fragen, entschied sich jedoch dagegen, weil sie Cari nicht in Verlegenheit bringen wollte. Sicher hatte sie ihre Gründe und vielleicht erzählte Cari ihr von sich aus davon.

Cari hatte es geschafft Anastasia so sehr in ihren Bann zu ziehen, dass sie die Kinderschar um sie herum erst später bemerkte. Mit riesiger Begeisterung warfen sie Futter für die Fische von der Brücke hinunter und sahen fasziniert zu wie die Fische danach schnappten und die Futterstücke in ihren Mäulern verschwanden.

„So, ich ziehe jetzt mal weiter mit meiner Rasselbande“, sagte Cari. „Kinder, kommt ihr!“

Sofort schlossen sich die Kinder Cari begeistert an. Sie konnte es ihnen nicht verdenken. Leider war sie kein Kind mehr und konnte sich Cari nicht einfach so anschließen, zumindest nicht auf dieselbe Weise wie die Kinder.

Der Strand war gut besucht, die Urlauber lagen dicht an dicht und aalten sich in der Sonne.

„Das wird eng“, bemerkte Cari.

„Gruppenkuscheln“, sagte Anastasia und entlockte Cari damit ein Lächeln.

„Na dann, viel Spaß“, wünschte Cari ihr. „Ich muss jetzt mal der Rasselbande hinterher, damit niemand verloren geht.“

Nach diesen Worten eilte sie davon und den Kindern hinterher, die bereits ohne sie Richtung Meer gestürmt waren. Anastasia beneidete sie nicht. Kinder hüten war ungefähr so schwer wie einen Sack Flöhe unter Kontrolle zu halten, aber Cari schien die Aufgabe Spaß zu machen. Anastasia machte sich unterdessen auf die Suche nach einem freien Plätzchen und wurde am Ende sogar fündig. Sie machte es sich gemütlich, packte wieder ihren E-Book-Reader aus und versuchte zurück in die Geschichte zu finden. Vergeblich! Immer wieder wanderte ihr Blick zu Cari. Sie hockte mit den Kindern im Sand und beteiligte sich an der Erbauung einer überdimensionalen Sandburg. Sie lachte und scherzte mit den Kindern und strich sich zwischendurch immer wieder einzelne Haarsträhnen aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten und der raue Wind als sein Spielzeug auserkoren hatte.

Anastasia konnte ihren Blick nicht von ihr abwenden und jedes Mal, wenn sie es versuchte, wanderten ihre Augen wie ferngesteuert zu Cari zurück.

Dir ist eindeutig die Hitze zu Kopf gestiegen, sprach ihre innere Stimme mit ihr. Sie bekommt dir nicht. So musste es sein, pflichtete Anastasia ihr bei. Es konnte gar nicht anders sein. Unmöglich! Auf einmal bemerkte sie, dass Cari ihren Blick über die Liegestuhlreihen schweifen ließ, so als suchte sie etwas oder jemanden. Bildete sie es sich bloß ein oder versuchte Cari ihren Aufenthaltsort herauszufinden? Ihre Blicke trafen sich, Anastasia wurde warm. Lag es an der Sonne oder hatte Caris Blick diese Wirkung auf sie? Cari lächelte. Anastasia erwiderte ihr Lächeln, dann sah Cari schnell wieder weg. Kurz darauf sah sie wieder zu Anastasia, als hätte sie die Blicke gespürt, die Anastasia nicht von ihr lassen konnte.

Jetzt reicht’s aber! , schimpfte sie mit sich selbst. Du bist nicht hier, um gleich mit der ersten Frau zu flirten, die dir über den Weg läuft. Wahrscheinlich war es bloß Zufall, dass Cari zu dir hin geschaut hat. Entschlossen widmete sie sich wieder ihrer Lektüre. Sie las einige Sätze, erfasste jedoch nicht deren Sinn. Es war aussichtslos, weil Cari sich immer wieder in ihre Gedanken drängelte.

Mein Gott, du kennst sie gerade mal wenige Stunden und weißt so gut wie nichts über sie.

Deshalb kann man einen Menschen ja trotzdem toll finden.

Ihr Blick wanderte erneut zu Cari und wieder begegneten sich ihre Augen. Allmählich glaubte Anastasia nicht mehr an einen Zufall. Hatte sie Caris Interesse geweckt?

Unsinn! Das bildest du dir ein. Wahrscheinlich findet sie dich bloß sympathisch, so wie tausende Gäste vor dir. So musste es sein. Das war die einzige logische Erklärung.

Anastasia startete einen letzten Versuch zurück in ihre Lektüre abzutauchen und scheiterte erneut kläglich. Seufzend schaltete sie ihren E-Book-Reader aus und beschloss eine Runde schwimmen zu gehen. Wenn es schon mit dem Lesen nicht klappen wollte, dann vielleicht mit einem Bad im Meer und vielleicht konnte das kühle Nass ihre Gefühlswelt ein wenig abkühlen. Sie streifte sich das luftige Sommerkleid über den Kopf und genau in dem Moment, wo sie im knappen Bikini da stand, wanderte Caris Blick erneut zu ihr. In dem Moment war sich Anastasia fast sicher, dass Cari nicht alle ihre Gäste auf diese Art ansah.

Anastasia schlängelte sich zwischen den Liegestühlen hindurch Richtung Meer und kam dabei automatisch an Cari vorbei, die noch immer mit den Kindern im Sand hockte und die Sandburg mit Muscheln und Steinen verzierte.

„Na, möchtest du uns helfen?“, fragte Cari herausfordernd und sah von unten zu Anastasia auf.

„Eigentlich wollte ich eine Runde schwimmen gehen.“

„Auch nicht schlecht.“

Anastasia änderte spontan ihren Plan und hockte sich zu Cari in den Sand. Kurz sah Cari verdutzt drein, dann verwandelte sich ihre Verblüffung in ein verstohlenes Lächeln.

„Was sagst du zu unserer Burg?“, fragte sie.

„Sie sieht toll aus. Ich würde sofort einziehen.“

„Der Wassergraben fehlt noch!“, rief ein kleiner Junge dazwischen und machte sich daran einen tiefen Graben um die Burg zu ziehen. Dafür fand er sofort einige Unterstützer, die ihm eifrig zur Hand gingen.

„Das ist wahre Baukunst, echte Maßarbeit“, scherzte Cari. „Die schönste Sandburg weit und breit.“

„Wie viele davon hast du bisher schon gebaut?“

„Das willst du nicht wissen. Unzählige! Ich baue mehrere pro Woche.“

Das konnte sich Anastasia nur zu gut vorstellen.

„Volleyball!“, rief plötzlich jemand. „Beach Volleyball!“ Anastasia sah in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ibo stolzierte zwischen den Sonnenanbetern hindurch, einen Volleyball unter den Arm geklemmt und auf der Suche nach Sportbegeisterten. Ein paar wenige hatte er bereits gefunden.

Grinsend trat er auf Anastasia zu. „Lust auf eine Partie Volleyball?“

„Nee, lieber nicht“, lehnte Anastasia ab.

„Zwei Absagen an einem Tag. Das kannst du mir echt nicht antun. Das macht meine ganze Statistik kaputt.“ Er griff sich theatralisch ans Herz. „Du brichst mein Herz entzwei.“

Anastasia, Cari und alle Umstehenden lachten.

„Das ist nicht lustig. Es ist ernst“, spielte Ibo sein Spiel weiter.

„Glaub mir, mich willst du in deiner Mannschaft nicht haben. Frag meine ehemalige Sportlehrerin, wenn du mir nicht glaubst.“

„Wir spielen bloß zum Spaß“, sagte Ibo, nun wieder ganz ernst.

„Ich möchte echt nicht“, sagte Anastasia nachdrücklich.

„Schade, aber ich krieg dich schon noch rum“, sagte Ibo und zwinkerte ihr zu.

„Sicher nicht.“

Ibo und seine Mitstreiter zogen von dannen.

„Ibo kann ganz schön hartnäckig sein“, meinte Cari.

„Ich aber auch. Mit jeglicher Art von Sport stand ich schon immer auf Kriegsfuß und daran wird Ibo nichts ändern.“

„Na ja, schwimmen ist ja auch Sport“, meinte Cari.

„Schon, aber dabei merkt man nicht, dass man Sport treibt.“

„Eine Abkühlung im Meer würde mir jetzt auch gefallen“, sagte Cari. „Leider komme ich viel zu selten dazu.“

„Und dabei bist du so nah dran. Das ist bestimmt nicht immer leicht.“

Cari zuckte mit den Schultern. „Augen auf bei der Berufswahl. Ich wusste ja worauf ich mich einlasse.“

„Wir können ja übermorgen eine Runde schwimmen gehen, wenn wir von unserem Ausflug zurückkommen.“

„Ja, das ist eine gute Idee.“

Anastasia nahm mit der Hand etwas trockenen Sand auf und ließ ihn langsam wieder aus ihrer Hand rieseln, sah zu, wie er sich zu einem kleinen Hügel auftürmte.

„Konntest du inzwischen in ein anderes Zimmer umziehen?“, fragte Cari.

„Ja, es ging problemlos vonstatten.“

„Ein Glück, dann kann dein Urlaub jetzt so richtig starten.“

„Stimmt, aber so schlimm war die Nacht in der Pension auch nicht“, gab Anastasia zu.

Bevor Cari etwas darauf erwidern konnte, hockte sich ein kleines Mädchen neben sie. „Cari, ich hab Durst.“ Ein kleiner Junge klinkte sich in das Gespräch ein. „Ich auch.“

„Dann müssen wir zurück zum Miniclub gehen“, sagte Cari zu den Kindern.

„Nein!“

„Ich mag aber nicht!“

„Ich will noch hier bleiben!“, kam es vielstimmig von einigen anderen Kindern.

„Schaut mal, die Sandburg ist fertig. Wir haben unsere heutige Mission erfüllt“, erklärte Cari geduldig.

„Wir können noch eine zweite bauen“, schlug ein kleiner Junge vor.

„Heute nicht mehr, aber morgen bauen wir eine noch größere Sandburg. Also los, wir packen alles zusammen und dann gehen wir zurück.“

Cari ging mit gutem Beispiel voran und packte einige Sandförmchen in einen Eimer. Die Kinder folgten ihrem Beispiel und sammelten das weit verstreute Spielzeug auf.

„Und schon endet unser Gespräch wieder“, wandte sich Cari an Anastasia.

Lag Bedauern in ihrer Stimme oder bildete Anastasia sich das bloß ein?

„Wir werden bestimmt noch öfter die Gelegenheit haben miteinander zu reden“, versicherte Anastasia ihr.

„Wie lange hast du Urlaub?“

„Drei Wochen.“

Caris Gesicht leuchtete auf. Es schien ihr zu gefallen Anastasia so lange um sich zu haben.

Anastasia und Cari standen gleichzeitig auf, sahen sich kurz an und lächelten sich zu, bevor Cari die Kinder um sich versammelte.

„Wir sehen uns später. Viel Spaß bei deinem Bad im Meer.“

„Danke.“

Während Cari mit den Kindern aufbrach, schlenderte Anastasia zum Wasser. Immer wieder trafen raue Wellen schäumend auf den Strand. Anastasia hielt einen Moment inne, das Meerwasser umspülte ihre Füße und wenn es sich zurückzog, nahm es jedes Mal einen Teil des Sandes unter ihren Füßen mit, um ihn kurz darauf wieder zurückzubringen, sodass ihre Füße immer tiefer im Sand versanken. Die immer wieder gleichen Vorgänge in der Natur hatten Anastasia schon immer fasziniert. Sie liebte das Meer, seine Kraft, die Unberechenbarkeit. Die Menschheit glaubte, das Meer bezwingen zu können, aber es war ein Trugschluss, ein gewaltiger Irrtum. Den Kräften der Natur hatte der Mensch nichts entgegenzusetzen.

Nach und nach ging sie weiter ins Meer hinein, zuerst bis zu den Knien, dann bis zum Po. Das Wasser war kühl und ihr erhitzter Körper musste sich erst langsam daran gewöhnen. Sie benetzte ihre Arme mit Wasser,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Michelle Zerwas
Cover: Michelle Zerwas
Lektorat: Michelle Zerwas
Tag der Veröffentlichung: 20.11.2020
ISBN: 978-3-7487-6517-2

Alle Rechte vorbehalten

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