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Vorwort

Irgendwann hat man im Leben den Punkt erreicht, wo einfach alles läuft. Das Leben verläuft in geregelten Bahnen, man hat einen guten Job, ist privat glücklich auch ohne in einer Beziehung zu sein. Man hat Pläne für die Zukunft geschmiedet und arbeitet Tag für Tag darauf hin diese Pläne zu verwirklichen. Es gibt keinen Grund unglücklich zu sein und man genießt sein Leben ganz genauso wie es ist. Vor allem hat man nicht die Absicht etwas zu ändern. Wer kennt das alles nicht? Irgendwann im Leben gibt es für jeden Menschen genau diesen Moment. Dabei vergisst man jedoch, dass es eine trügerische Sicherheit ist. Das Leben schreitet unaufhörlich voran, mal schneller mal langsamer… Wir befinden uns in ständigem Wandel. Wir sind nur ein Spielball des Schicksals und von heute auf morgen kann etwas geschehen, das alles verändert. Dann muss man sich entscheiden, ob man mit aller Macht versucht seinen gewohnten Weg weiter zu gehen oder sich auf die Veränderungen des Lebens einlässt.

Egal wie wir uns entscheiden, wir sollten bei jeder Entscheidung daran denken, dass eine völlige Veränderung in unserem Leben nicht deshalb geschieht, um es uns schwerer zu machen. Wir sollten es aus einer anderen Sicht sehen. Was ist, wenn das Schicksal etwas Gutes für uns vorgesehen hat und wir das Gute nur bekommen können, wenn wir uns auf die Veränderung einlassen?

Manchmal weiß man nicht, wohin der eingeschlagene Weg uns führt. Doch wenn man sich aus tiefstem Herzen für einen bestimmten Weg entscheidet, ist es der Richtige.

1. Kapitel

 

Urlaub, was gibt es schöneres im Leben? Genau das dachte sich auch Nele. Das Wetter war zwar nicht ideal für einen ersten Urlaubstag, denn es regnete in Strömen, aber für einen Tag im Kino mit ihrem besten Freund Damian war es natürlich perfekt. Wie sehr hatte sie das in den letzten Monaten vermisst. Seit einer Woche war er nun wieder zu Hause, nachdem er fast ein halbes Jahr als Schauspieler im Ausland gewesen war. Bisher hatten sie sich noch nicht gesehen, umso mehr freute sich Nele auf den heutigen Tag.

Doch nun räkelte sie sich erstmal ausgiebig im Bett. Was gab es schöneres an einem Urlaubstag, als lange auszuschlafen? Das regnerische Wetter lud sogar ganz besonders dazu ein. Dicke Regentropfen prasselten ans Fenster.

Gerade als sie nach einem Buch griff, das zuoberst auf dem Stapel der noch zu lesenden Bücher auf ihrem Nachttisch lag, klingelte es an der Tür.

Nele zog eine Grimasse. „Och nee, jetzt nicht.“

Sie beschloss das Klingeln zu ignorieren. Bestimmt war es nicht wichtig. Damian erwartete sie erst in drei Stunden und bestellt hatte sie nichts. Also konnte es unmöglich wichtig sein.

Ignorieren half jedoch meistens nicht sehr viel im Leben. Das musste auch Nele am eigenen Leib erfahren, denn das Klingeln an der Haustür wurde nun ausdauernder und zusätzlich dazu klopfte es an ihrer Wohnungstür.

Vielleicht ist ja doch etwas Wichtiges, dachte Nele. Zumindest hört es sich so an.

Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett und da sie keine Zeit mehr hatte sich umzuziehen, tapste sie im Schlafanzug zur Tür.

Als sie sie öffnete, stand der Briefträger vor ihr und reichte ihr einen Brief.

„Ein Einschreiben für Sie.“

Nele nahm den Brief entgegen, überprüfte die Adresse, um sicher zu gehen, dass der Brief an sie adressiert war und quittierte den Erhalt des Briefes mit ihrer Unterschrift.

Auf dem Weg zurück in ihr Bett starrte sie ungläubig den Brief an. Ein Einschreiben bedeutete normalerweise nichts Gutes und so sehr sie auch überlegte, ihr fiel nichts ein, was sie sich hatte zu Schulden kommen lassen.

Sobald sie wieder eingekuschelt in ihrem Bett lag, riss sie ungeduldig den Briefumschlag auf, entnahm ihm den Inhalt und begann zu lesen.

Je mehr sie las, umso mehr runzelte sie verwundert die Stirn. Der Brief kam von einem Notar, der sie zu einer Testamentseröffnung bat, weil ihr Onkel, Rudolf Steigendorf, gestorben war.

Zuerst dachte Nele es läge eine Verwechslung vor, weil sie sich nicht an einen Onkel Rudolf erinnern konnte, doch dann tauchte ein verschwommenes Bild aus Kindertagen vor ihren Augen auf. Sie verspürte allerdings keine Traurigkeit, obwohl jemand gestorben war, mit dem sie verwandt gewesen war. Eigentlich hatte sie ihn ja nicht gekannt und wenn man jemanden nicht wirklich kannte, trauerte man meistens nicht um ihn. Gleichzeitig fühlte sie sich aber auch schlecht, weil sie so dachte. Doch für seine Gedanken konnte man nichts. Im Brief stand allerdings nichts davon, was sie geerbt hatte. Sie las das Schreiben noch ein weiteres Mal ganz genau, um sicher zu gehen, dass sie nichts übersehen hatte, aber auch das zweite Lesen war nicht aufschlussreicher. Doch sie hatte geerbt, das war eine Tatsache. Sie wusste, dass sie sich keine großen Hoffnungen machen sollte, denn immerhin bestand die Möglichkeit, dass sie bloß unbrauchbare Dinge geerbt hatte oder im schlimmsten Fall sogar Schulden. Sie musste unbedingt so schnell wie möglich herausfinden, was es mit ihrem Erbe auf sich hatte.

Nach einer Weile legte sie den Brief zur Seite und kuschelte sich zurück ins Bett. Der Gedanke an ihr mögliches Erbe ließ sie allerdings nicht los. Sie sah schon ein gut gefülltes Bankkonto vor sich, wodurch alle ihre Träume in greifbare Nähe rückten. Es war egoistisch so zu denken und sie fühlte sich schlecht deswegen, aber Gedanken ließen sich nicht einfach abstellen. Sie waren da und verschwanden dann nicht mehr so schnell, auch nicht wenn man es mit aller Macht wollte.

 

Vertieft in ein spannendes Buch, verging die Zeit wie im Flug und als es ein weiteres Mal an der Tür klingelte, lag sie noch immer im Bett und umgezogen hatte sie sich auch noch nicht.

Kaum hatte Nele die Tür geöffnet, flog Damian ihr in die Arme und erdrückte sie fast. Dann hielt sie Nele von sich und betrachtete sie von oben bis unten.

„Du bist ja noch gar nicht umgezogen. Kaum hast du Urlaub mutierst du zum Faulpelz.“

„Ich freue mich auch dich zu sehen“, erwiderte Nele lachend.

„Unser Film fängt gleich an, deshalb schlage ich vor, du ziehst dich jetzt mal um.“

Damian fasste Nele an den Schultern und schob sie Richtung Schlafzimmer, wo er sofort begann in ihrem Kleiderschrank zu wühlen.

„Mir ist eigentlich gar nicht mehr danach ins Kino zu gehen.“

Damian schob die Unterlippe vor. „Och menno, ich habe mich so darauf gefreut nach so langer Zeit endlich mal wieder etwas mit dir zu unternehmen.“

„Ich hatte mich ja auch gefreut, aber…“ Nele brach mitten im Satz ab.

„Aber? Was ist passiert?“, wollte Damian wissen.

Nele ging die wenigen Schritte vom Schrank zu ihrem Nachttisch und übergab Damian den Brief vom Notar.

Er runzelte überrascht die Stirn. „Schlechte Nachrichten?“

„Eigentlich nicht, zumindest glaube ich das.“

„Muss ich das verstehen?“

„Lies den Brief, dann weißt du, was ich meine.“

Damian zog das Schreiben aus dem Umschlag und überflog es hastig.

„Du hast geerbt? Wie geil ist das denn!“ Damian war völlig aus dem Häuschen und kriegte sich kaum noch ein. Er besah sich die leere Rückseite des Schreibens und las dann noch einmal die Vorderseite.

„Hier steht nichts davon, was du geerbt hast.“

„Das erfahre ich ja bei der Testamentseröffnung.“

„Das heißt, du musst nach Oberwiesenthal?“

„Sieht ganz so aus. Hast du eine Ahnung, wo das ist?“

„Ja, ich war da mal wegen eines Drehs. Es ist nicht gerade um die Ecke.“

„Also am Arsch der Welt?“

„Na ja, nicht ganz, aber nicht mehr allzu weit davon entfernt.“

„Wie weit ist es?“ Allmählich wurde Nele das ganze Ausmaß bewusst.

„Genau weiß ich es nicht, aber 500 Kilometer sind es locker.“

„Das ist nicht dein Ernst?“

„Doch, wie gesagt, ich war schon mal dort und wir sind eine ganze Weile gefahren.“

„Da komme ich niemals an. Unmöglich! Wie soll das gehen? Du kennst doch meinen Orientierungssinn.“

Damian winkte ab. „Klar kommst du da an. Sogar du findest mit Navi jeden Weg. Das ist idiotensicher.“

„Wetten, dass ich es sogar damit schaffe mich zu verfahren?“

Damian schüttelte den Kopf. „Ausgeschlossen. Sobald du dich verfährst, sucht dein Navi eine neue Route. Da kann nichts schief gehen.“

„Musst du denn unbedingt zur Testamentseröffnung kommen? So weit ich weiß, kann dich niemand dazu zwingen. Warum lässt du dir nicht am Telefon sagen, was du geerbt hast?“

„Das geht? Warum sagst du das denn nicht gleich?“

„Sicher geht das.“ Damian zog sein Handy aus der Hosentasche und tippte in Höchstgeschwindigkeit die Telefonnummer des Notars ein. „Das haben wir gleich.“

Ehe Nele ihn aufhalten konnte, hatte er den Notar bereits am Telefon. Nele bemühte sich, das Gespräch zu verfolgen. Angespannt hing sie an Damians Lippen, wurde aber nicht wirklich schlau aus dem wenigen, was er sagte.

„Gut, ich gebe das dann so weiter, auf Wiederhören“, beendete Damian nach wenigen Minuten das Telefonat.

„Und, was hat er gesagt?“

„Ich habe schlechte Nachrichten für dich. Du musst unbedingt nach Oberwiesenthal kommen. Es scheint sehr wichtig zu sein, aber es war nicht raus zu kriegen worum es genau geht.“

Nele sank seufzend aufs Bett nieder. „Das war ja mal wieder klar. Es wäre auch zu schön gewesen. Was mache ich denn jetzt?“

„Hinfahren, was sonst?“

„Na toll, für dich ist das einfach. Du fährst gerne Auto und zwar überall auf der Welt. Ich hasse Auto fahren und mein Orientierungssinn ist unterirdisch. Wenn du mich dreimal im Kreis drehst, weiß ich nicht mehr wo ich bin.“

Damian brach in schallendes Gelächter aus. „Jetzt übertreibst du aber. So schlimm ist es ja auch nicht.“

„Doch, ist es. Am besten schlage ich das Erbe aus, das geht bestimmt am Telefon.“

„Das wirst du auf keinen Fall tun, solange du nicht weißt, worum es geht. Stell dir vor, du hast eine Million geerbt. Es wäre ziemlich bescheuert, wenn du dir das entgehen lassen würdest.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass es um ein Millionenerbe geht. Wenn mein Onkel Millionär gewesen wäre, hätte sich das in der Familie herumgesprochen.“

„Wie lange hast du schon nichts mehr von deinem Onkel gehört?“

„Ewig. Ich erinnere mich nur noch dunkel an ihn. Ich glaube, ich habe ihn als Kind zuletzt gesehen.“

„Siehst du! Du kannst nicht wissen, ob er nicht vielleicht doch einige Euros auf dem Konto hat. Du solltest auf jeden Fall in Erfahrung bringen, was du geerbt hast. Ablehnen kannst du das Erbe dann immer noch.“

Nele überlegte einen Moment, bevor sie weiter sprach. „Hast du keine Lust mich zu begleiten?“, fragte sie nicht ganz ohne Hintergedanken.

„Ja, ja, das käme dir gerade recht und ich würde dich natürlich nur zu gerne begleiten, aber nächste Woche fängt der Dreh für meinen neuen Film an, da kann ich unmöglich fehlen.“

„Na toll, ich bin komplett geliefert.“

„Nein, bist du nicht. Du nimmst einfach mein Navi mit und dann findet dein Auto den Weg von ganz allein.“

„Schön wär’s.“

„Das wird schon. So, und nun genug mit den trüben Gedanken. Du ziehst dir jetzt was Anständiges an, damit wir es wenigstens zur nächsten Vorstellung im Kino schaffen.“

„Muss das sein? Wir können doch auch hier bleiben und…“

„Damit du die ganze Zeit darüber jammerst, dass du nächste Woche nach Oberwiesenthal fahren musst. Nein, das kommt überhaupt nicht infrage. Ein wenig Ablenkung schadet dir nicht. Also los, anziehen! Wenn du in zehn Minuten immer noch nicht fertig bist, schleppe ich dich im Schlafanzug aus dem Haus.“ Damian zwinkerte ihr zu, während Nele lustlos zum Kleiderschrank schlurfte, um passende Klamotten raus zu suchen.

 

Damian genoss den Nachmittag im Kino in vollen Zügen. Für ihn waren Filme ganz besonders interessant, da er ununterbrochen genauestens seine Schauspielkollegen studierte, um von ihnen zu lernen.

Nele hingegen konnte sich nur schwer auf die Handlung des Films konzentrieren, dafür war ihre Sorge zu groß. Sie konnte es kaum erwarten, bis der Film endlich vorbei war und sie mit Damian weiterhin ihr Problem hin und her wälzen konnte.

2. Kapitel

Nele hielt am Straßenrand an und betrachtete das Haus, vor dem sie angehalten hatte. An der Hauswand war ein Messingschild angebracht. Falk Bäumer Notar, las Nele und jubelte innerlich. Sie hatte ihr Ziel nach 534 Kilometern endlich erreicht.

Sie nahm das Navi von ihrer Frontscheibe und steckte es ins Handschuhfach. Im Stillen bedankte sie sich bei dem elektronischen Gerät, denn ohne hätte sie ihr Ziel niemals erreicht. Vermutlich wäre sie in irgendeiner Einöde gelandet und hätte nie wieder nach Hause gefunden.

Beim Aussteigen gehorchten ihre Beine ihr nicht wirklich und sie lief ungelenk die Einfahrt hinauf zur Haustür. Viel lieber wäre sie vorher ins Hotel gefahren, um sich ein wenig frisch zu machen und kurz auszuruhen, aber dafür reichte die Zeit nicht mehr, wenn sie Falk Bäumer noch treffen wollte. Auf dem Weg hatte sie sich trotz Navi mehrmals verfahren und war deshalb völlig aus dem Zeitplan geraten.

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, drückte sie auf die Klingel.

Ein älterer Herr mit bereits leicht ergrautem Haar öffnete ihr die Tür.

„Guten Tag“, begrüßte er Nele.

„Guten Tag. Ich bin Nele Humboldt.“

„Ach ja, ich habe Sie schon erwartet.“

„Entschuldigen Sie bitte, dass ich zu spät bin. Ich habe mich auf dem Weg hierher ein paar Mal verfahren.“

„Das macht nichts. Sie kommen ja von weit her. Bitte kommen Sie doch herein.“ Er gab die Tür frei und Nele trat ein.

„Folgen Sie mir bitte in mein Büro.“

Nach wenigen Schritten durch den Flur traten sie in ein großzügiges Büro, in der Mitte befand sich ein großer schwarzer Schreibtisch, auf dem sich Akten stapelten und an der Wand entlang zogen sich Bücherregale mit Aktenordnern.

„Nehmen Sie doch bitte Platz.“ Falk Bäumer deutete auf einen der Stühle gegenüber seinem Schreibtisch. „Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Kaffee, Tee, Wasser?“

„Wasser wäre toll, danke.“

Er verließ den Raum und kehrte eine Minute später mit dem Gewünschten zurück. Nele bedankte sich bei ihm, als er das Glas vor ihr abstellte.

Falk Bäumer ließ sich ihr gegenüber nieder, griff nach einer Mappe und öffnete sie.

„Dann legen wir mal los“, leitete er die Testamentseröffnung ein.

„Was ist mit den anderen Erben?“

Der Notar sah von seinen Unterlagen auf und warf Nele einen überraschten Blick zu. „Es gibt keine anderen Erben. Sie sind Alleinerbin.“

Nele musste sich sehr zusammenreißen, damit ihr vor Verblüffung nicht der Mund aufklappte. In ihrem Kopf entstanden bereits wieder Bilder eines gut gefüllten Bankkontos und der Erfüllung all ihrer Träume.

Falk Bäumer blätterte in seinen Unterlagen und förderte ein Blatt Papier zutage, auf dem mit krakeliger Handschrift etwas geschrieben stand. Er räusperte sich kurz und begann das Dokument zu verlesen.

„Hiermit vermache ich, Rudolf Steigendorf, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, mein gesamtes Vermögen meiner Nichte Nele Humboldt. Es geht hierbei um mein Haus (Grubenweg 8, 09484 Oberwiesenthal) mit all seinen Wertgegenständen, meine Schlittenhunde sowie die gesamte Ausrüstung für den Schlittenhundesport, Bargeld (sofern vorhanden) sämtliche Transportmittel (Geländewagen und Quad) und alles, was mir gehört und an dieser Stelle vergessen wurde zu erwähnen. Meine einzige Bedingung, um das Erbe antreten zu können, besteht darin, zu jeder Zeit auf das Wohl meiner Hunde zu achten. Sie müssen entweder von meiner Nichte Nele Humboldt übernommen oder in andere gute Hände gegeben werden (auf keinen Fall ins Tierheim, das Rudel MUSS zusammen bleiben). Hochachtungsvoll Rudolf Steigendorf.“

Falk Bäumer ließ das Dokument sinken und betrachtete sein Gegenüber.

Nele musste das soeben Gehörte erstmal verarbeiten und war deshalb nicht in der Lage etwas zu sagen. Mit allem hatte sie gerechnet, die wildesten Sachen hatte sie sich in den letzten Tagen ausgemalt, aber dass in ihrem Erbe auch Hunde beinhaltet waren, daran hätte sie im Traum nicht gedacht.

„Das kommt sicherlich alles ziemlich überraschend für Sie“, meinte Falk Bäumer.

„Um wie viele Hunde geht es?“, war schließlich Neles erste Frage.

„Es geht um 13 Hunde.“

Nele wurde blass. „Das ist doch jetzt ein Scherz?!“

Falk Bäumer schüttelte den Kopf. „Ich sollte Ihnen vielleicht etwas mehr erzählen. Das Testament enthält nicht besonders viele Informationen.“

„Glauben Sie wirklich das macht die Sache besser?“ Nele war der Verzweiflung nahe und in dem Moment fest entschlossen das Erbe auszuschlagen. Es war ihr egal, um wie viel Geld es ging. Unmöglich konnte sie sich auf die Bedingung ihres Onkels einlassen. Was sollte sie mit 13 Hunden anfangen? Sie hatte keinerlei Erfahrung mit Hunden und war auch nicht scharf darauf daran etwas zu ändern.

Ein erneutes Räuspern des Notars unterbrach ihre Gedanken, ehe er das Wort erneut an sie richtete.

„Ich kannte Ihren Onkel sehr gut. Wir waren Freunde, umso mehr liegt mir sein letzter Wunsch am Herzen.“

„Ich kann das Erbe unmöglich annehmen“, platzte es aus Nele heraus. „Ich habe keine Ahnung von Hunden. Außerdem arbeite ich den ganzen Tag und habe nicht die Zeit mich um die Tiere zu kümmern. Ich habe nicht mal Platz, um so viele Hunde unterzubringen.“

„Sie sollten Ihre Entscheidung auf jeden Fall gut überdenken. Ich kann mir vorstellen, dass das jetzt alles etwas viel für Sie ist, aber gemeinsam werden wir sicher eine Lösung finden.“

„Das bezweifle ich.“

„Für Rudolf waren seine Hunde das Wichtigste. Er hat mit ihnen an vielen Schlittenhunderennen teilgenommen. Natürlich kann niemand von Ihnen verlangen, dass Sie die Hunde übernehmen. Es ist ja auch eine Kostenfrage, der Schlittenhundesport ist teuer und Geld sollten Sie bei Ihrem Erbe nicht allzu viel erwarten. Das Haus ist verschuldet, die Konten sind so gut wie leer. Es tut mir leid, ich hätte Ihnen gerne etwas Erfreulicheres mitgeteilt.“

Nele sank regelrecht auf ihrem Stuhl in sich zusammen. All ihre Träume vom großen Geld zerplatzten auf einen Schlag wie eine Seifenblase.

Falk Bäumer entging Neles Verzweiflung und Zerrissenheit nicht.

„Sie müssen das wahrscheinlich jetzt erstmal alles verdauen. Was halten Sie davon, wenn Sie eine Nacht über alles schlafen und wir fahren morgen gemeinsam zu Rudolfs Haus? Dann können Sie sich alles in Ruhe ansehen und die Hunde kennenlernen.“

„Habe ich eine Wahl?“, erwiderte Nele resigniert.

„Man hat immer eine Wahl.“

Er kramte erneut in einer Schreibtischschublade und förderte einen hellblauen Briefumschlag zutage, den er Nele übergab.

„Ich habe hier noch einen Brief von Rudolf. Vielleicht beeinflusst er Ihre Entscheidung.“

Nele nahm den Brief an sich, erwiderte aber nichts darauf. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Brief etwas an ihrer Meinung änderte. Sie erhob sich und machte Anstalten zu gehen. Falk Bäumer tat es ihr gleich und reichte ihr zum Abschied die Hand. „Wir sehen uns dann morgen. Kommen Sie zum Haus oder soll ich Sie abholen?“

„Mein Navi wird den Weg schon finden“, erklärte Nele und zum ersten Mal an diesem Tag gelang ihr ein schiefes Lächeln.

„Also gut, dann sehen wir uns morgen. Sie können mich jederzeit anrufen.“

 

Nele atmete erleichtert auf, sobald sie draußen in der Einfahrt stand und eilig auf ihr Auto zu lief.

Sie gab die Adresse ihres Hotels ins Navi ein. Für einen Moment hielt sie inne und dachte darüber nach allein zum Haus ihres Onkels zu fahren. Doch dann schüttelte sie kaum merklich den Kopf. Nein, es reichte, wenn sie das ganze Ausmaß am nächsten Tag sehen musste. Sie wollte nur noch ins Hotel und am besten schlafen, damit ihre Gedanken endlich Ruhe gaben.

 

Nach einem deftigen Essen und einem Entspannungsbad fühlte sie sich schon etwas besser. Sie verkroch sich im Bett, um sich vor dem Einschlafen noch ein wenig mit ihrem Handy zu beschäftigen. Man musste ja schließlich auf dem Laufenden bleiben und wenn man mal ein paar Stunden nicht auf sein Handy sah, hatte man das Gefühl, das Leben ging an einem vorbei.

Als sie sich die aktuellsten Meldungen bei Facebook ansah, klingelte ihr Handy. Natürlich war es Damian. Wer sonst? Die ganze Zeit hatte sie schon auf einen Anruf von ihm gewartet.

„Hi Damian“, meldete sie sich.

„Hi. Offensichtlich bist du gut angekommen. Du hast Handyempfang, das bedeutet, dass du nicht irgendwo in der Pampa stehst.“

Nele lachte. „Ja, du hattest Recht. Ein kleines schwarzes elektronisches Gerät ist in der Tat schlauer als ich.“

„Schätzchen, gegen die Elektronik wirst du nie eine Chance haben. Finde dich endlich damit ab.“

„Ja, ja, schon gut“, seufzte Nele. „Ich bin ja froh, dass es dieses Navi gibt.“

„Erzähl mal“, begann Damian. „Was hast du geerbt? Wie viele Millionen sind es? Du gibst mir doch etwas ab, oder? Ich will auch gar nicht viel.“

„Meinetwegen kannst du alles haben“, erklärte Nele.

Damian machte ein verwundertes Gesicht, was Nele natürlich nicht sehen konnte. Dann sprach er weiter. „Das bedeutet dann wohl, dass du einen Haufen Schrott geerbt hast.“

„So ähnlich… Du wirst es nicht glauben, aber mein Erbe besteht aus einem verschuldeten Haus und einem Rudel Schlittenhunde.“

Damian schnappte nach Luft und Nele war sich sicher, dass er die Hand vor den Mund schlug. „Das ist nicht dein Ernst?“

„Ich wünschte, es wäre so, aber leider stimmt es.“

„Und jetzt? Nimmst du das Erbe trotzdem an?“

Nele seufzte schwer. „Ich weiß es nicht. Im Moment tendiere ich dazu das Erbe auszuschlagen. Morgen werde ich mir das Haus und die Hunde ansehen, aber ich glaube nicht, dass das an meiner Entscheidung noch etwas ändert.“

„Tja, somit sind die Millionen also futsch“, sagte Damian bedauernd.

„Ich bin sowieso nicht davon ausgegangen, dass es um ein Millionenerbe geht“, meinte Nele. „Ein bisschen Bargeld wäre allerdings schön gewesen. Stattdessen habe ich 13 Hunde an der Backe, die Geld kosten, anstatt etwas einzubringen.“

„Schöner Mist, aber vielleicht tauchen ja doch noch unerwartet ein paar Schätze auf.“

„Das glaube ich nicht, aber falls ich morgen den Schatz berge, erfährst du es als erster.“

„Das will ich doch hoffen.“

„Erwarte aber nicht zu viel, sonst wirst du nur enttäuscht.“

„Abwarten. So, ich lasse dich jetzt in Ruhe. Du bist sicher müde nach der Fahrt.“

„Und wie.“ Nur mit Mühe konnte Nele ein Gähnen unterdrücken.

„Also dann, schlaf schön.“ Damian schickte einen schmatzenden Kuss durchs Telefon.

Nele tat es ihm gleich. „Schlaf du auch gut.“

Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, kuschelte sie sich wohlig seufzend ins Bett. Als sie gerade dabei war einzuschlafen, fiel ihr der Brief wieder ein, der noch immer ungelesen in ihrer Jackentasche steckte. Sofort begannen Müdigkeit und Neugier in ihr um die Oberhand zu kämpfen. Diesmal gewann die Neugier und Nele wälzte sich wieder aus dem Bett, wühlte in ihrer Jackentasche und schlurfte gähnend zu ihrem Bett zurück.

Vorsichtig öffnete sie den Briefumschlag und zog ein Blatt Papier heraus, das sie gespannt auseinander faltete. Wieder begegnete ihr die krakelige Handschrift, die sie bereits auf Rudolfs Testament gesehen hatte.

 

Liebe Nele,

 

ganz sicher bist du jetzt sehr überrascht. Du wirst unzählige Fragen haben und vermutlich hast du keine Ahnung, warum ich ausgerechnet dich als meine alleinige Erbin eingesetzt habe. Schließlich hatten wir zu Lebzeiten nie besonders engen Kontakt zueinander. Es hat natürlich einen Grund. Du bist die einzige Person aus der Familie, der ich zumindest ein bisschen vertraue, deshalb hoffe ich, dass mich mein Gefühl nicht trügt und du mich nicht enttäuschen wirst.

 

Ich weiß, es ist viel, was ich von dir verlange, aber der letzte Wille eines jeden Menschen ist zu akzeptieren. Ich hoffe, dass du dir diese (meine) Worte zu Herzen nimmst und in meinem Sinne handelst.

Die Hunde waren für mich immer das Wichtigste, sie sind meine Freunde, meine Familie… Ich habe alles für die Hunde gegeben und dies kein einziges Mal als Opfer empfunden. Vielleicht wirst du eines Tages selbst erfahren, wie gewaltig die Liebe eines Hundes zu seinem Menschen sein kann.

Es bricht mir das Herz meine Hunde zurück lassen zu müssen, während ich an einen unbekannten Ort gehe, von dem es keine Wiederkehr gibt.

Ich wünsche mir von dir, dass du dich in meinem Sinne um meine Hunde kümmerst. Wenn du sie gut behandelst, werden sie dir stets treu zur Seite stehen. Jeder einzelne meiner Hunde kommt aus einer erstklassigen Zucht und ist ein gut ausgebildeter Schlittenhund, bereit vor dem Schlitten zu arbeiten und bis ans andere Ende der Welt zu laufen. Wenn du dich auf das Abenteuer Schlittenhundesport einlässt, wirst du es weit bringen. Du findest alle Informationen und Unterlagen in meinem Büro.

Ich wünsche mir, dass alle Hunde bis zu ihrem natürlichen Tod in deiner Obhut verbleiben.

Solltest du dich dazu entschließen die Hunde abzugeben oder das Erbe gar nicht erst anzutreten (diese Möglichkeit besteht leider), sorge bitte dafür, dass sie in gute Hände kommen. Achte vor allem darauf, dass das Rudel nicht getrennt wird. Das ist wichtig! Das Rudel ist eine Familie. Ich könnte es nicht ertragen, wenn die Tiere getrennt werden.

 

Ich hoffe, du handelst in meinem Interesse.

Für deine Zukunft wünsche ich dir alles Gute, vor allem Gesundheit und ein langes glückliches Leben.

 

Dein Onkel

 

Rudolf

 

Nele ließ den Brief sinken, doch Rudolfs Worte schwirrten in ihrem Kopf. Sie wehrte sich innerlich dagegen, aber die Worte hatten sie keineswegs kalt gelassen. Bevor sie den Brief gelesen hatte, war es ihr noch leicht gefallen das Erbe auszuschlagen, doch nun war auf einen Schlag alles anders. Rudolf hatte Recht. Es ging schließlich um den letzten Wunsch eines verstorbenen Menschen. Den durfte man nicht ausschlagen.

Was denke ich da bloß? , dachte Nele schließlich. Das fehlte noch, dass ich nun anfange weich zu werden. Mein Entschluss steht fest. Ich muss an meine Zukunft denken. Ein Rudel Schlittenhunde stört da bloß.

Nele legte den Brief zur Seite, kroch unter die Bettdecke und schloss die Augen. Vermutlich war sie einfach zu müde, um einen klaren Gedanken zu fassen und wenn man nicht alle Sinne beisammen hatte, wurde man leicht sentimental. Ganz sicher sah die Welt nach einer ordentlichen Mütze Schlaf wieder ganz anders aus.

 

3. Kapitel

 

Als der Wecker am nächsten Morgen klingelte, fühlte Nele sich wie gerädert. Sie hatte sich die halbe Nacht ruhelos im Bett herum gewälzt und keinen Schlaf gefunden. Unzählige Gedanken waren in ihrem Kopf herum geschwirrt und immer wieder musste sie sich selbst sagen, dass es kein Traum war, denn in ihren Augen konnte es nichts anderes sein als ein Alptraum.

Der Brief ihres Onkels hatte sie sehr berührt, denn sie spürte ganz deutlich, dass er aus tiefstem Herzen geschrieben war. Trotzdem konnte sie sich nicht vorstellen in Zukunft die Verantwortung für ein Hunderudel zu übernehmen. Es ging dabei ja nicht bloß um die finanzielle Belastung. Ihr fehlte einfach die Zeit, um den Tieren ein artgerechtes Leben zu ermöglichen. Außerdem hatte sie von Hunden nicht die geringste Ahnung. Natürlich konnte man alles lernen, die Frage war nur, ob man dazu bereit war. Ihr fehlte diese Bereitschaft, das spürte sie. Sie war bereit ein gutes Zuhause für die Hunde zu finden, mehr aber auch nicht und genau das wollte sie Falk Bäumer später mitteilen. Es konnte ja nicht so schwer sein jemanden zu finden, der die Tiere aufnehmen konnte. Sie musste bloß jemanden finden, der mit dem Schlittenhundesport beginnen wollte, dann war sie alle Sorgen auf einen Schlag los und wenn sie Glück hatte, bekam sie sogar noch ein wenig Geld für die Hunde.

 

Nele wälzte sich aus dem Bett und schlurfte in Richtung Bad. Doch ihr Handy hatte etwas dagegen, denn es begann zu klingeln.

„Hi Damian“, begrüßte Nele ihren Freund.

„Hi Liebes. Wie geht’s dir?“

„Frag nicht. Ich habe die ganze Nacht gegrübelt.“

„Und zu welcher Entscheidung bist du gekommen?“

„Ich kann die Hunde auf keinen Fall behalten.“

„Ist das deine endgültige Entscheidung?“

„Ja, es geht einfach nicht. Die Hunde passen nicht in mein Leben.“

„Du willst die Hunde also abgeben?“

„Ich muss. Ich kann ihnen kein artgerechtes Leben bieten und ich werde auf keinen Fall meine ganzen Ersparnisse in ein Rudel Huskys investieren.“

„Bist du sicher, dass du deine Entscheidung nicht irgendwann bereuen wirst? Vielleicht hat das Schicksal einen anderen Lebensweg für dich vorgesehen und dies ist nun der Anfang dieses Weges.“

Nele schnaubte ungehalten. „Das meinst du doch jetzt nicht ernst?!“

„Du kennst mich. Alles, was ich sage, meine ich auch so.“

Nele schüttelte verständnislos den Kopf, was Damian natürlich nicht sehen konnte. „Wenn du an meiner Stelle wärst und für einen Haufen Hunde deinen beruflichen Traum aufgeben müsstest, würdest du dich genauso entscheiden wie ich.“

„Kann sein. Wann fährst du zu den Hunden?“

„Ich war gerade auf dem Weg ins Bad, um mich fertig zu machen.“

„Okay, dann mal los. Ich muss jetzt sowieso zur Arbeit. Halt mich auf dem Laufenden.“

„Ja, bis dann.“

Nele beendete das Gespräch, warf ihr Handy aufs Bett, gähnte ausgiebig und schlurfte ins Bad.

 

Die kühle Luft vertrieb Neles Müdigkeit. Sie schaltete das Navi ein und gab ihr Ziel ein. Innerlich bedankte sie sich bei ihrem elektronischen Helfer, denn ohne ihn wäre sie verloren gewesen. Laut Navi brauchte sie für die Strecke zwanzig Minuten.

Sie startete den Motor und es konnte losgehen. Dieses Mal verfuhr sie sich kein einziges Mal und erreichte planmäßig ihr Ziel.

Sie parkte ihr Auto am Straßenrand und betrachtete das Haus, das ihr gehören konnte, wenn sie das Erbe annahm. Es handelte sich um ein Holzhaus, mit einer Veranda, die um das ganze Haus herum ging. Damit erinnerte das Haus Nele an ein amerikanisches Farmhaus. Sobald sie aus dem Auto stieg, hörte sie das Heulen der Hunde. So viel wusste sie zumindest über Huskys. Sie heulten mehr, als dass sie bellten.

Von der Straße aus waren die Hunde nicht zu sehen und auch der Notar war offensichtlich noch nicht aufgetaucht, denn es war kein anderes Auto zu sehen. Nele wusste nicht, ob sie warten oder allein schon mal auf Erkundungstour gehen sollte. Eigentlich konnte niemand etwas dagegen haben, wenn sie sich umschaute, immerhin war es ihr Haus.

Noch ist es nicht dein Haus, sagte eine innere Stimme in ihr, aber Nele ignorierte sie.

Die Hunde machten immer noch Lärm. Rudolfs Nachbarn mussten sehr tolerante Menschen sein, wenn sie das so ohne weiteres duldeten. Das war alles andere als selbstverständlich. Nele musste an ihre eigenen Nachbarn denken, die sich an manchen Tagen schon beschwerten, wenn sie sich ganz normal in ihrer Wohnung bewegte oder zu oft an einem Tag durchs Treppenhaus ging… Nele betrachtete wieder das Haus. Hier hatte sie diese Probleme nicht. Die wenigen Nachbarn schienen sich mit dem Lärm der Hunde arrangiert zu haben und eigentlich war die Gegend ja auch ganz schön. Kaum ertappte Nele sich bei diesem Gedanken, rief sie sich selbst zur Ordnung. Auf keinen Fall durfte sie diesen Gedanken weiter spinnen. Sie war eine Stadtpflanze und brauchte den Trubel.

Die Hunde sorgen für genug Chaos, meldete sich wieder ihre innere Stimme.

„Genug jetzt“, knurrte Nele und schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. Sie sah noch einmal die Straße rauf und runter und da noch immer kein anderes Auto zu sehen war, machte sie sich zögernd auf den Weg. Sie lief ums Haus herum und das erste, was sie sah, war ein grauer Pick Up.

Das Auto könnte dir gehören. Ihre innere Stimme gab einfach keine Ruhe. Dafür waren die Hunde nun ruhig. Nele fragte sich, ob die Hunde sie gehört hatten und deshalb still waren.

Sie ging um das Auto herum und ihr Blick fiel auf eine weitläufige Zwingeranlage. Nun wurde ihr auch klar warum die Hunde still waren. Ein älterer Mann mit schneeweißen Haaren und ebensolchem Bart, kam humpelnd und etwas schwerfällig zum Tor des Zwingers, während die Hunde ihre Nasen in ihre Futterschüsseln steckten und gierig deren Inhalt hinunter schlangen.

Noch bevor Nele sich bemerkbar machen konnte, wurde sie von dem älteren Mann entdeckt. Sein Blick verdüsterte sich, als er sie sah. Er schloss sorgfältig das Tor hinter sich, damit die Hunde nicht entwischen konnten und humpelte auf sie zu.

„Was wollen Sie hier?“, bellte er sie an. „Sie haben hier nichts verloren.“

„Ich bin Nele Humboldt, Rudolfs Nichte.“

Der abweisende Gesichtsausdruck des Mannes wurde etwas freundlicher, dennoch blieb ein letzter Rest Misstrauen in seinem Blick.

„Entschuldigen Sie bitte. Ich dachte, Sie sind wieder jemand von der Presse oder vom Tierschutz oder weiß der Geier wer sich hier in den letzten Tagen die Klinke in die Hand gibt.“

„Das hört sich so an, als ob es hier ziemlich hoch her geht in der letzten Zeit.“

„Das können Sie annehmen. Die Presse schnüffelt hier rum, stellt Fragen… Kein Wunder, Rudolf war ein sehr bekannter Musher.“

Nele hatte keine Ahnung was ein Musher war, sie wollte aber auch nicht nachfragen. Womöglich blamierte sie sich dann bloß. Sicher konnte ihr dabei später das Internet weiter helfen.

„Und warum waren Leute vom Tierschutz hier?“, fragte sie stattdessen.

Er winkte ab. „Ach, das Übliche. Rudolf hatte schon immer Stress mit denen. Sie sehen einfach nicht ein, dass Huskys keine Schoßhunde sind, die man im Haus verhätschelt. Sie gehören nach draußen. So ist es am artgerechtesten. Vorausgesetzt man kümmert sich viel um die Tiere, aber das hat Rudolf immer gemacht.“

Nach diesen Worten streckte er Nele die Hand hin. „Ich bin übrigens Ferdinand Janek. Ich glaube, ich hatte mich noch nicht vorgestellt.“

Sie schüttelten sich schweigend die Hand.

„Ziehen Sie hierher?“, wollte er wissen und deutete auf Rudolfs Haus.

Nele schüttelte den Kopf. „Nein, das Haus wird verkauft.“

„Schade drum“, murmelte Ferdinand. „Und die Hunde, was passiert mit ihnen?“

„Ich kann sie auf keinen Fall behalten“, erklärte Nele.

„Sie kommen also auch weg.“

Ferdinand betrachtete traurig die Hunde, die inzwischen ihre Mahlzeit beendet hatten und die beiden Zweibeiner neugierig beäugten.

„Ich werde sie nur in gute Hände abgeben.“

„Sie sollen zusammen bleiben. Es war Rudolfs Wunsch.“

„Ich weiß.“

„Kennen Sie sich aus mit Schlittenhunden?“

„Nein“, antwortete Nele. „Ich hatte eigentlich noch nie mit Hunden zu tun.“

„Vielleicht wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, um das zu ändern.“

„Ich glaube nicht.“ Nele betrachtete die Hunde. „Ich würde mich nicht mal in den Zwinger hinein trauen.“

„Huskys sind dem Menschen sehr zugetan. Sie sind freundlich zu jedem. Ich wohne schon viele Jahre hier und kein einziges Mal ist Rudolf durch die Hunde zu Schaden gekommen. Sie sind unheimlich stur, aber sehr freundlich. Möchten Sie die Hunde mal begrüßen?“

Nele zögerte. Die Hunde waren ihr nicht geheuer. Glücklicherweise tauchte Falk Bäumer in diesem Moment auf, wodurch sie der unangenehmen Situation entfliehen konnte.

„Guten Morgen“, grüßte er in die Runde.

„Ich geh dann“, brummte Ferdinand und verschwand in Richtung seines Hauses.

„Warten Sie schon lange?“, fragte Falk Bäumer.

„Nein. Ich hoffe, es ist okay, dass ich mich schon mal ein wenig umgesehen habe?!“

Falk Bäumer lachte kurz auf. „Natürlich, als Erbin ist es Ihr gutes Recht. Ich schlage vor, wir schauen uns zunächst einmal das Haus an. Oder haben Sie Fragen zu den Hunden?“

Die Hunde waren Nele immer noch unheimlich, deshalb wollte sie so viel Abstand wie möglich zwischen sich und die Hunde bringen und entschied sich, erst einmal das Haus näher in Augenschein zu nehmen.

Falk Bäumer öffnete die Eingangstür und sie begannen mit ihrem Rundgang. Zuerst besichtigten sie das Untergeschoss. Es gab eine kleine Küche, die eher spartanisch eingerichtet war, dafür aber ein gemütliches Wohnzimmer und ein kleines Bad. Nele kam sich komisch dabei vor durch ein fremdes Haus zu laufen. Sie hatte ihren Onkel so wenig gekannt, dass er wie ein Fremder für sie war.

Im Obergeschoss gab es ein größeres Bad, sowie ein Schlafzimmer und ein Büro. Als sie das Büro betraten, fiel Neles Blick sofort auf ein Regal an der Wand, das vollgestopft war mit Preisen und Auszeichnungen. Andächtig trat sie näher und betrachtete alles ganz genau.

„Rudolf war sehr erfolgreich im Schlittenhundesport. Er hat viele Schlittenhunderennen gewonnen. Gezüchtet hat er auch. Er hat Zuchtschauen besucht und einige seiner Hunde sind sogar nach Amerika gegangen. Er war sehr bekannt und angesehen in der Branche.“

Es dauerte einen Moment, bis die Infos in ihr Bewusstsein vorgedrungen waren, denn sie konnte das alles gar nicht glauben. Ihr Onkel war sozusagen berühmt gewesen und sie hatte nichts davon gewusst. Falk Bäumer ging zum Schreibtisch hinüber und öffnete die Schubladen.

„Rudolf hat immer alles aufgeschrieben. Ich schätze mal, alles was Sie wissen müssen, finden Sie hier. Sie sollten sich die Unterlagen in Ruhe ansehen.“

Nele nahm die Worte nickend zur Kenntnis. Sie musste das alles nochmal in Ruhe überdenken, aber Falk Bäumer gönnte ihr keine Verschnaufpause.

„Kommen wir jetzt zu den Fakten.“ Er blätterte geschäftig in seinen Unterlagen, dann sprach er weiter. „Das Haus ist zurzeit mit 45.000 Euro Schulden belastet. Ich gehe allerdings davon aus, dass wir die Schulden durch den Verkauf decken können. Wenn Sie das Haus natürlich behalten wollen, müssen wir einen Termin mit der Bank vereinbaren und schauen, wie wir die Schulden tilgen können.“

Nele war fassungslos. Wie konnte er nur annehmen, dass sie das Haus behalten wollte? Unter diesen Umständen schon mal gar nicht. So viel Geld konnte sie gar nicht verdienen.

Doch das war nicht die einzige schlechte Nachricht.

„Wie ich gestern schon angedeutet hatte, sind Rudolfs Konten so gut wie leer. Zusätzlich zu den Schulden des Hauses kommt noch eine Futterrechnung in Höhe von etwa 800 Euro hinzu, sowie mehrere Rechnungen einer Autowerkstatt mit Gesamtkosten von etwa 3000 Euro und eine Tierarztrechnung in Höhe von 1.780 Euro.“

Nele wurde von Minute zu Minute komischer zumute. Wie sollte sie das alles bezahlen? Wenn sie nicht wollte, dass es sie in den finanziellen Ruin trieb, durfte sie das Erbe auf keinen Fall annehmen.

„Das ist jetzt sicher ein Schock für Sie“, sagte Falk Bäumer, der natürlich merkte, dass Nele die Worte fehlten. „Aber machen Sie sich keine Sorgen. Durch den Verkauf des Hauses werden Sie in der Lage sein alle Schulden zu bezahlen. Es gibt sogar schon erste Kaufinteressenten.“

„Und die Hunde, haben Sie für die Hunde auch schon Interessenten?“

„Leider nein. Ich habe mich bereits umgehört, aber bisher habe ich niemanden gefunden, der bereit ist ein so großes Rudel aufzunehmen. Es wird sehr schwierig, um nicht zu sagen unmöglich.“

„Dann müssen wir die Hunde getrennt abgeben, wenn es nicht anders geht.“

Der Notar schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, es war Rudolfs Wunsch die Hunde nicht zu trennen.“

Nele wurde allmählich wütend. „Es geht aber nun mal nicht immer so, wie man es sich wünscht. Es kann nicht in Rudolfs Interesse sein, dass ich mich wegen ihm hoch verschulde, weil ich niemanden für die Hunde finde.“

„Immer mit der Ruhe, wir finden für alles eine Lösung.“

Das sah Nele anders, aber sie widersprach nicht. Falk Bäumer hatte leicht reden. Er war schließlich nicht derjenige, den einen Haufen Schulden und ein unvermittelbares Huskyrudel erwarteten. Er machte bloß seine Arbeit und jede seiner Tätigkeiten kostete Nele eine Stange Geld.

„Haben Sie Fragen?“, erkundigte sich Falk Bäumer.

„Nein, im Moment nicht“, antwortete Nele schnell. In ihrem Kopf herrschte zwar ein heilloses Chaos und unzählige Fragen schwirrten in ihrem Kopf herum, aber dabei konnte Falk Bäumer ihr nicht helfen, deshalb war es nicht notwendig mit ihm darüber zu reden.

„In Ordnung, dann schlage ich vor, wir gehen nochmal nach draußen. Zum Schluss möchte ich Ihnen noch den Schuppen zeigen.“

Mit kreisenden Gedanken im Kopf folgte sie dem Notar und hatte das Gefühl, der Alptraum wurde immer schlimmer. Während sie ihm folgte, fühlte sie sich wie in einem Film. Es fühlte sich in diesem Moment einfach nicht an wie ihr eigenes Leben. Schneller als ihr lieb war, erreichten sie den Schuppen und Nele wappnete sich für die nächste Hiobsbotschaft. Sie fragte sich, was nun auf sie zukam. Konnte es eigentlich noch schlimmer werden?

Er schloss den Schuppen auf, öffnete die Tür und schaltete das Licht an. Auf den ersten Blick sah Nele nur Gerümpel, doch als sie genauer hin sah, klärte sich das Bild. An einer Wand sah Nele nichts weiter als Leinen. Sie waren unterschiedlich lang und nach Farben (rot, schwarz, blau, grün) sortiert. Direkt daneben hingen zahlreiche Geschirre, sodass sie sich beinahe vorkam wie in einem Zoofachhandel.

Ehe sie sich weiter umsehen konnte, sprach Falk Bäumer weiter. „Hier haben wir nun das gesamte Zubehör für den Schlittenhundesport. Schlitten, Trainingswagen, Geschirre, Leinen, ein Quad und die Ausrüstung für Schlittenhunderennen, die über mehrere Tage durch die Wildnis gehen. Ich schätze, die Dinge bekommen wir am einfachsten übers Internet verkauft. Das ganze Zeug hier wird uns die wenigsten Probleme bereiten. Jeder Musher braucht so etwas früher oder später.“

Da war es wieder, das Wort Musher und noch immer war es Nele peinlich nach der Bedeutung zu fragen.

„Kann ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein oder haben Sie Fragen?“, fragte Falk Bäumer erneut nach.

„Ich denke, das waren für den Anfang genug Infos. Ich muss das alles erstmal sortieren.“

„Verständlich.“ In der Stimme des Notars schwang echtes Mitgefühl mit. „Dann schlage ich vor, ich lasse Ihnen die Schlüssel für Haus und Hof da, damit Sie sich allein noch ein wenig umsehen können.“

Er übergab Nele die Schlüssel. Im selben Moment begannen die Hunde wieder zu heulen, so als spürten sie, dass etwas vor sich ging und ihre neue Herrin endlich da war. Es fühlte sich beinahe so an, als ob die Hunde sie begrüßten. Nele lief es bei dem Gedanken eiskalt den Rücken hinunter. Konnten Hunde so etwas spüren?

Falk Bäumer sah zu den Hundezwingern hinüber. „Man könnte glatt meinen die Hunde spüren, dass ihre neue Besitzerin in der Nähe ist“, sagte er gedankenverloren.

„Noch habe ich das Erbe nicht angenommen“, erwiderte Nele, aber das Kältegefühl auf ihrem Rücken verstärkte sich noch. Es war seltsam, dass Falk Bäumer ausgesprochen hatte, was sie gedacht hatte.

„Wer weiß, vielleicht wissen die Hunde mehr“, meinte er geheimnisvoll.

Nele konnte sich über diese Aussage nur wundern und erwiderte nichts darauf. Stattdessen sprach Falk Bäumer weiter. „Kommen Sie morgen Mittag in mein Büro. Dann besprechen wir alles noch einmal in Ruhe und Sie können mir Ihre Entscheidung mitteilen. Ich muss jetzt leider los zum nächsten Termin. Wenn Sie noch Fragen haben, kann Ihnen sicher auch Herr Janek weiterhelfen.“

Kurz darauf war Nele allein. Sie fühlte sich unbehaglich. Zu ihrer rechten war das Haus mit all seinen Geheimnissen und zu ihrer linken die Zwingeranlage mit den Hunden, die ihr Angst machten.

4. Kapitel

Eine Weile stand Nele einfach nur unschlüssig da und wusste nicht was sie tun sollte. Sie fühlte sich mit der Situation heillos überfordert. Es war ihr unmöglich einen klaren Gedanken zu fassen.

Ferdinand Janek beobachtete Nele die ganze Zeit vom Fenster aus und konnte ihre innerliche Zerrissenheit geradezu spüren. Er verspürte den Impuls ihr Gesellschaft zu leisten und gab seinem Gefühl nach. Nele merkte nicht, dass sich ihr jemand näherte und erschrak als Ferdinand Janek sie ansprach.

„Sie sehen aus, als könnten Sie Hilfe brauchen.“

Nele schüttelte den Kopf. „Mir ist nicht mehr zu helfen.“

„Na ja, ganz so schwarz sollten Sie auch nicht sehen. Es gibt für alles eine Lösung.“

„Standen Sie auch schon mal vor so einer schwierigen Entscheidung?“

Ferdinand Janek nickte. „Nicht nur einmal. Man hat im Leben immer wieder schwierige Entscheidungen zu treffen und weiß nie, welcher Weg der Richtige ist. Manchmal trifft man die falsche Entscheidung und manche Entscheidungen, von denen man zunächst dachte, sie seien falsch gewesen, stellen sich eines Tages doch als gut und richtig heraus. Das Leben steckt voller Überraschungen und unerwarteter Wendungen. Man weiß nie, was als nächstes geschieht.“

„Kennen Sie es auch, wenn man sich wünscht, jemand würde einem die Entscheidung abnehmen?“

Ferdinand Janek lachte kurz auf. „Natürlich wünscht man sich das bei manchen Entscheidungen, aber jeder muss seine Entscheidungen selbst treffen. Dabei kann einem niemand helfen.“

Die Hunde machten in der Zwischenzeit ein Höllenspektakel. Sie heulten, sprangen gegen die Gitter des Zwingers und begannen immer wieder miteinander zu rangeln.

Auf Ferdinand Janeks Stirn erschien eine Sorgenfalte, während er das Verhalten der Hunde beobachtete.

„Sie langweilen sich. Es ist nicht gut für sie den ganzen Tag im Zwinger gefangen zu sein. Sie wollen laufen.“

„Kümmern Sie sich ganz allein um die Hunde?“

„Wer sonst? Rudolf hatte nicht viele Freunde.“

Ganz allmählich näherte sich Ferdinand Janek dem Hundezwinger und Nele folgte ihm.

„Warum behalten Sie die Hunde nicht? Das wäre am einfachsten. Sie kennen sich mit Hunden aus.“

„Das würde ich nur zu gerne und es wird mir schwer fallen mich von den Tieren zu trennen, aber ich bin den Hunden körperlich nicht mehr gewachsen. Außerdem ist meine Frau pflegebedürftig. Auf Dauer hätte ich also gar nicht die Zeit mich um das Rudel zu kümmern.“

Nele wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Ein bisschen war sie enttäuscht. Es hätte ja auch einfach mal leicht sein können, das war es allerdings wieder einmal nicht.

„Warum lehnen Sie das Erbe ab?“

„Noch habe ich mich nicht entschieden“, erwiderte Nele.

„Im Moment läuft es aber genau darauf hinaus, oder irre ich mich?“

Nele setzte mehrmals zu einer Antwort an, fand aber nicht die richtigen Worte.

„Vielleicht sollten Sie sich einfach ins Abenteuer stürzen und sich darauf einlassen.“

Bevor Nele antworten konnte, gab es Aufruhr im Rudel. Ohne Vorwarnung gingen mehrere Huskys aufeinander los. Sie stürzten sich aufeinander und es kam zu einer Beißerei. Nele wich erschrocken zurück und blieb wie gelähmt stehen, während Ferdinand Janek so schnell es ihm möglich war, humpelnd die wenigen Schritte zum Zwinger zurücklegte. Er griff nach einem Besen, der am Eingang des Zwingers lehnte und begab sich todesmutig in den Zwinger. Begleitet durch laute Rufe und mit wild fuchtelndem Besenstiel, humpelte er auf die kämpfenden Hunde zu. Als er sie erreicht hatte, versuchte er zunächst die Hunde mithilfe des Besenstiels voneinander zu trennen. Als das nicht half, warf er den Besen zur Seite, griff mit zwei Händen einen der Hunde und trennte ihn von den anderen. Danach trat er zwischen die anderen Kämpfenden und endlich ließen die Hunde voneinander ab.

Neles Herz raste vor Aufregung wie verrückt. Sie hatte vor Schreck den Atem angehalten, als Ferdinand Janek sich zwischen die Hunde gedrängt hatte. Vor ihrem geistigen Auge hatte sie ihn schon verletzt im Hundezwinger liegen sehen. Doch nun humpelte er schwerfällig zum Tor zurück und vergewisserte sich noch einmal, dass die Hunde friedlich blieben, bevor er den Zwinger verließ.

„Ich sagte ja, die Hunde langweilen sich“, sprach er, sobald er wieder neben Nele stand.

Nele hatte sich inzwischen von ihrem ersten Schreck erholt und ihre Sprache wiedergefunden.

„Passiert so etwas öfter?“

„Das kommt schon mal vor und seit Rudolfs Tod häufen sich solche Vorfälle. Die Hunde vermissen ihn, denn auch Hunde können trauern.“

„Sie verdienen den größten Respekt, weil Sie sich unter diesen Umständen in den Zwinger getraut haben.“

Ferdinand Janek zuckte mit den Schultern.

„Man muss ein wenig vorsichtig sein, damit man selbst nichts abkriegt, aber meistens denkt man nicht groß darüber nach. Es ist wichtig die Hunde schnell voneinander zu trennen, sonst können sie sich ernsthaft verletzen.“

„Ich hätte mich jedenfalls nicht in den Zwinger getraut.“

„Haben Sie Angst vor Hunden?“

Nele überlegte einen Moment, ehe sie antwortete.

„Ich weiß nicht so recht. Ganz geheuer sind sie mir nicht. Bisher hatte ich nie mit Hunden zu tun, aber vorhin war ich wirklich erschrocken, als sie aufeinander losgegangen sind.“

„Man kann alles lernen, auch den Umgang mit Hunden“, erwiderte ihr Gegenüber. „Es ist alles nur eine Frage des Willens. Nichts ist unmöglich! Sie müssen sich auf die Hunde einlassen. Vieles im Leben lernt man nur, wenn man die Erfahrung am eigenen Leib spürt.“

„Wenn Sie das sagen, klingt das alles so einfach.“

„Es ist einfach. Kompliziert machen wir es uns selbst.“

Tief in ihrem Inneren wusste Nele, dass er Recht hatte und sie war beeindruckt von seinen philosophischen Weisheiten.

Erneut platzte Ferdinand Janek mit seinen Worten in ihre Gedanken.

„Was halten Sie davon, wenn wir gemeinsam in den Zwinger gehen, damit Sie die Hunde kennenlernen können?“

„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist“, sagte Nele und wich unbewusst einige Schritte zurück.

„Es kann nichts passieren.“

Nele schüttelte den Kopf. „Vor einer halben Stunde hätte ich Ihnen das noch geglaubt, aber nicht nach dem, was ich eben mitbekommen habe.“

„Huskys sind sehr menschenbezogen“, erklärte Ferdinand Janek. „Sie sind aufgrund ihrer Sturheit nicht immer ganz einfach zu händeln, aber sie sind niemals bösartig.“

Nele war immer noch nicht überzeugt, aber so schnell gab Ferdinand Janek nicht auf, sodass Nele sich schon fragte, ob Rudolf ihn darum gebeten hatte überzeugend auf sie einzuwirken.

„Ich kannte Rudolf 20 Jahre und er hat jeden Tag Zeit mit seinen Hunden verbracht, ohne dass ihm jemals etwas passiert ist.“

„Sie geben wohl nie auf, was?“

Ferdinand Janek lachte. „Nein, denn wer aufgibt hat schon verloren.“

Nele seufzte. Sie wusste, dass Widerstand zwecklos war und willigte schließlich ein.

Gemeinsam mit Ferdinand Janek trat sie auf den Zwinger zu. Dabei merkte sie, dass ihre Beine sich wie Wackelpudding anfühlten, ihre Hände waren schweißnass und ihr Herz raste wie wild. Je näher sie dem Zwinger kam, umso größer wurde die Gewissheit, dass sie auf keinen Fall zu den Hunden hinein gehen konnte. Vermutlich spürten sie sogar ihre Nervosität, denn im Rudel kam erneut Unruhe auf, was Nele nur noch mehr verunsicherte.

Nervös wischte sie ihre feuchten Hände möglichst unauffällig an ihrer Hose ab.

„Sie müssen nicht zu den Hunden hinein, wenn Sie nicht wollen.“

Offensichtlich war Ferdinand Janek ihre Nervosität nicht entgangen.

„Mir ist wirklich nicht ganz wohl dabei“, gestand Nele.

„Dann lassen wir es. Die Hunde laufen uns nicht weg und sollten Sie es sich anders überlegen, können wir das Kennenlernen zwischen Ihnen und den Hunden nachholen.“

Nele atmete erleichtert auf. Für einen Moment hatte es wirklich übel ausgesehen. Beinahe hätte sie in den sauren Apfel beißen müssen. Die Hunde waren ihr entschieden sympathischer, solange sie durch einen Zaun von ihr getrennt waren und wenn sie es recht bedachte, wollte sie sie gar nicht näher kennenlernen, wie Ferdinand Janek es ausdrückte.

„Ich hab noch was für Sie?“, unterbrach er zum wiederholten Male an diesem Tag ihre Gedanken. „Wenn Sie kurz mitkommen, kann ich es Ihnen geben.“

Nele folgte dem alten Mann zu seinem Haus. Die Hunde stimmten ihr Heulen wieder an. Es war offensichtlich, dass sie nicht allein zurück bleiben wollten.

Mit zitternden Fingern steckte er den Schlüssel ins Schloss und Nele folgte ihm in den Hausflur. „Warten Sie einen Moment hier. Ich bin gleich wieder da.“

Er schlurfte davon. Nele fühlte sich unbehaglich, sie drang nicht gerne in die Privatsphäre anderer Menschen ein. Dennoch betrachtete sie die Bilder an der Wand, die zum größten Teil schwarz – weiß waren und dadurch sehr alt wirkten. Eines der Fotos zeigte einen Mann auf einem Schlitten, vor den sechs Huskys gespannt waren. Nele vermutete, dass das Bild ihren Onkel zeigte. Vielleicht war es aber auch Ferdinand Janek in jüngeren Jahren. Gerade als sie näher treten wollte, um sich das Foto genauer anzusehen, kehrte Ferdinand Janek zurück.

„Ihr Onkel hat mich gebeten Ihnen das im Falle seines Todes zu übergeben.“ Mit diesen Worten reichte er Nele eine alte Holzschatulle und einen Brief.

„Was ist das?“, wollte Nele wissen und kam sich im selben Moment ziemlich blöd vor, weil ihr die Frage überflüssig erschien.

„Ich weiß nicht, was sich in der Schatulle verbirgt und kenne den Inhalt des Briefes nicht. Ich habe Rudolf nie danach gefragt, sondern einfach seine Bitte befolgt.“

„Ich danke Ihnen.“

Ferdinand Janek nickte nur und zwinkerte ihr einmal kurz zu. Im selben Moment erklang eine Stimme aus dem Wohnzimmer, die den alten Mann erschrocken aufhorchen ließ. Auf einmal hatte er es sehr eilig.

„Entschuldigen Sie mich bitte. Ich muss mich jetzt um meine Frau kümmern.“ Er eilte davon und überließ es Nele das Haus zu verlassen.

Kaum kehrte sie ins Blickfeld der Hunde zurück, heulten sie wieder wie ein Rudel Wölfe. Das Geräusch war gewöhnungsbedürftig und Nele konnte sich gut vorstellen, dass sich viele Leute daran störten, vor allem nachts. Rasch ging sie auf Rudolfs Haus zu und verschwand im Inneren, wo sie sich zunächst einmal gegen die Haustür lehnte und die plötzliche Ruhe genoss. Endlich war sie allein und hatte Zeit ihre Gedanken zu sortieren. Als sie sich ein wenig gefangen hatte, machte sie sich auf den Weg zu Rudolfs Büro, stellte die Schatulle auf dem Schreibtisch ab und ließ sich auf dem Bürostuhl nieder. Eine ganze Weile saß sie so da und starrte nur vor sich hin, betrachtete die Einrichtung des Zimmers und konnte sich nicht dazu durchringen die Unterlagen im Schreibtisch durchzusehen. Sie wusste, dass sie es tun musste, aber ihr behagte der Gedanke nicht in Rudolfs privaten Sachen zu kramen.

Wenn er das nicht gewollt hätte, hätte er dich nicht als Erbin eingesetzt, sprach ihre innere Stimme und irgendwie musste Nele ihr zustimmen. Trotzdem blieb ein komisches Gefühl, das sich nicht vertreiben ließ.

Irgendwann rang sie sich dazu durch eine der Schreibtischschubladen aufzuziehen. Sie tat das jedoch so zögerlich, als müsste sie befürchten ein giftiges Tier käme zum Vorschein. Für einen Moment wünschte sie sich Damian an ihrer Seite. Er war so ganz anders als sie und zögerte meist nicht lange etwas zu tun. Doch hier musste sie allein durch.

 

Nachdem Nele endlich den ersten Schritt gewagt hatte, tauchte sie immer tiefer in Rudolfs private Aufzeichnungen ein und war rasch um einige Informationen reicher. Sie kannte nun die Namen der Hunde. Außerdem wusste sie den genauen Kontostand von Rudolfs Konten, was sie nicht gerade Luftsprünge machen ließ, weil darauf hoffnungslose Ebbe herrschte und sie hatte eine Anmeldung für ein Schlittenhunderennen gefunden, das in zwei Wochen stattfinden sollte.

Als Nele irgendwann auf die Uhr sah, erschrak sie, weil es bereits später Nachmittag war. Sie hockte seit Stunden in diesem Büro, aber die Zeit war ihr gar nicht so lang vorgekommen. Sie spürte ein bohrendes Hungergefühl in ihrem Magen und entschied, zurück zu ihrem Hotel zu fahren.

Bevor sie das Zimmer verließ, fiel ihr Blick auf die Schatulle. Sie hatte gar nicht mehr daran gedacht, nicht mal den Brief hatte sie gelesen. Rasch nahm sie Schatulle und Brief an sich und verließ das Zimmer. Den Brief wollte sie später lesen.

Als sie die Haustür sorgfältig absperrte, hörte sie sofort wieder das Heulen der Hunde. Sie lief ums Haus herum und entdeckte Ferdinand Janek, der trotz seines Alters geschäftig hin und her lief und Futter verteilte.

Während sie ihn dabei beobachtete, empfand sie Dankbarkeit für den alten Mann, weil er sich so bereitwillig um die Hunde kümmerte, ohne eine Gegenleistung dafür zu erwarten.

Nele trat näher an den Zwinger heran.

„Herr Janek!“, rief sie, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie wollte den Herrn schließlich nicht erschrecken.

Er wandte sich ihr zu.

„Ich wollte Ihnen nur Bescheid geben, dass ich jetzt fahre. Morgen komme ich wieder.“

„In Ordnung“, antwortete er knapp und wandte sich wieder den Hunden zu.

Nele wurde nicht richtig schlau aus ihm. Vermutlich wurden Männer seltsam, wenn sie älter wurden.

Männer sind immer seltsam, meldete sich wieder die Stimme in ihrem Kopf. Dafür müssen sie nicht mal alt sein. Nele musste beinahe über ihre eigenen Gedanken lachen. Doch dann dachte sie an Damian. Er war eindeutig nicht seltsam, fand sie, aber das lag vermutlich daran, weil er schwul war und das machte ihn zu einem Verbündeten.

 

5. Kapitel

Nach einem zünftigen Essen, ging es ihr gleich viel besser und als sie abends im Bett ihres Hotelzimmers lag, fühlte sie sich schon fast ein bisschen wie zu Hause.

Die Schatulle hatte einen Platz auf dem Nachttisch gefunden. Sie hatte schnell gemerkt, dass sie sich nicht öffnen ließ und konnte nicht nachvollziehen, was Rudolf damit bezweckte. Der Brief lag, noch immer ungeöffnet, auf der Bettdecke und wartete darauf von ihr gelesen zu werden.

Sie fragte sich, was sie nun wieder erwartete. Allmählich hatte sie genug von Überraschungen. Allerdings wurde es ja nicht besser, je länger sie es aufschob und so öffnete sie den Brief und erkannte sofort Rudolfs Handschrift.

 

Liebe Nele,

 

vermutlich denkst du immer noch darüber nach, ob du das Erbe annehmen sollst oder nicht. Ich kann mir vorstellen, dass dir die Entscheidung nicht leicht fällt. Aus diesem Grund möchte ich hiermit versuchen es dir leichter zu machen.

Der Inhalt der Schatulle, die du jetzt in Händen hältst, ist sehr wertvoll. Er wird dich sehr reich machen. Niemand kennt ihren Inhalt. Sobald du das Erbe annimmst und alle Formalitäten geklärt sind, wird Falk Bäumer dir den Schlüssel der Schatulle überreichen. Wenn ich dir einen Rat geben darf: Du wirst es bereuen, wenn du das Erbe nicht annimmst. Die endgültige Entscheidung liegt natürlich bei dir.

 

Ich hoffe, du handelst klug und triffst die richtige Entscheidung.

 

Rudolf

 

Nele ließ das Blatt sinken und schloss für einen Moment ungläubig die Augen. Diese ganze Erbschaftsgeschichte wurde immer komplizierter und augenblicklich kam ihr die ganze Sache merkwürdig vor. Wenn der Inhalt der Schatulle wirklich so wertvoll war, wie Rudolf behauptete, warum hatte er dann so viele Schulden?

Wenn du dich auf die Sache einlässt, wirst du es erfahren, wenn nicht, wirst du das Geheimnis nie lüften.

Nele wünschte sich, jemand würde endlich diese nervige innere Stimme abstellen, dabei wollte sie bloß nicht wahr haben, dass sie Recht hatte. Es reizte sie, Rudolfs Geheimnisse zu lüften, aber das ging nur, wenn sie das Erbe annahm, mit allen verbundenen Konsequenzen. Zum wiederholten Male nahm sie die Schatulle und schüttelte sie. Aus dem Inneren ertönte ein leises Klappern. War das nun ein gutes Zeichen, oder nicht? Nele kam einfach nicht weiter. Sie fühlte sich in ihre Kindheit zurück versetzt, als sie das Gleiche mit ihren Kinderüberraschungseiern gemacht hatte. Damals hatte sie sich auch eingebildet, anhand des Klapperns in dem gelben Plastikei herausfinden zu können, ob eine Figur enthalten war oder dieses sinnlose Zeug, das man noch mühsam zusammen bauen musste. Meistens war es ein gutes Zeichen, wenn das gelbe Plastikei kein Geräusch machte, denn dann war mit ziemlicher Sicherheit eine der heißbegehrten Figuren drin. Trotzdem war das nicht immer eine Garantie. Sie fragte sich, ob es sich mit der Schatulle genauso verhielt. War es ein gutes Zeichen, dass sie deren unbekannten Inhalt hören konnte, oder nicht?

Schließlich kramte sie in ihrer Handtasche nach einem Zettel. Sie riss ihn in zwei Hälften, schrieb auf den einen „Ja“ und auf den anderen „Nein“, faltete beide Zettel zusammen und warf sie mit geschlossenen Augen aufs Bett. Nun sollte eben das Schicksal entscheiden, ob sie das Erbe annahm oder nicht.

Ihr Herz raste vor Aufregung wie verrückt, als sie nun einen Zettel auswählte und gleichzeitig schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Es konnte doch nicht so schwer sein eine Entscheidung zu treffen.

Sie faltete den Zettel auseinander und sah, dass sie ein Nein gezogen hatte. Nachdenklich knüllte sie den Zettel wieder zusammen und starrte eine Weile untätig vor sich hin. Das Schicksal hatte entschieden, aber als sie nun in sich hinein horchte, erkannte sie, dass sie mit dieser Entscheidung auch nicht zufrieden war.

Sie kramte einen weiteren Zettel aus ihrer Tasche und wiederholte die Schritte. Jetzt hatte sie jeweils zwei Zettel mit „Ja“ und „Nein“.

Wieder klopfte ihr Herz, als sie sich nach langer Überlegung endlich für einen von ihnen entschied.

Damian würde sich totlachen, wenn er mich so sehen könnte.

Sie faltete den Zettel auseinander und erblickte ein „Ja“.

„Na toll“, sprach Nele zu sich selbst. „Jetzt bin ich kein Stück weiter.“

Sie sammelte die Zettel wieder auf und legte sie neben die Schatulle auf den Nachttisch. Ratlosigkeit ergriff Besitz von ihr. Egal wie intensiv sie die Gedanken in ihrem Kopf hin und her wälzte, sie kam zu keiner Lösung. Damian war ihr an diesem Abend auch keine große Hilfe. Er war mit seinen neuen Schauspielkollegen unterwegs und hatte keine Zeit Probleme mit ihr zu durchzukauen.

Um ihre kreisenden Gedanken wenigstens ein bisschen unter Kontrolle zu bringen, schaltete sie den Fernseher ein und ließ sich berieseln. Sie hoffte, irgendwann müde zu werden, denn an Schlaf war, aufgrund des Gedankenkarrussels in ihrem Kopf, nicht zu denken.

 

„Guten Morgen, Frau Humboldt. Bitte kommen Sie rein“, begrüßte Falk Bäumer sie am nächsten Morgen.

Nele war sich noch nicht ganz sicher, ob dieser Morgen gut war. Sie sah das anders.

Als sie sich kurz darauf gegenüber saßen, kam Falk Bäumer gleich zur Sache. „Haben Sie sich entschieden? Nehmen Sie das Erbe an oder lehnen Sie ab?“

Nele nahm die Schatulle aus ihrer Handtasche und stellte sie vor Falk Bäumer auf den Schreibtisch.

„Können Sie mir sagen, was es damit auf sich hat?“

„Ich weiß nur, dass ich Ihnen den Schlüssel dazu aushändigen soll, falls sie das Erbe annehmen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.“

„Sie und mein Onkel waren Freunde und Sie wollen mir wirklich erzählen, dass er Sie nicht eingeweiht hat?“

„Er hat mir nichts gesagt, das versichere ich Ihnen.“

Obwohl Nele immer noch zweifelte, musste sie sich mit den Aussagen ihres Gegenübers zufrieden geben. Offensichtlich wollte ihr niemand helfen, also musste sie da ganz allein durch.

„Wenn Sie möchten, können Sie den Erbvertrag gleich unterschreiben. Ich habe bereits alles vorbereitet.“

Nele war so überrascht, dass sie nicht in der Lage war etwas zu erwidern, obwohl es eigentlich nicht allzu überraschend war. Wozu hatte Falk Bäumer sie sonst in sein Büro bestellt?

„Natürlich müssen Sie sich auch heute noch nicht festlegen, aber je eher Sie sich entscheiden, umso schneller können wir damit beginnen das Erbe zu veräußern. Jeder weitere Tag ihres Zögerns kostet Sie nur unnötig Geld.“

„Was würden Sie an meiner Stelle tun?“, fragte Nele, in der Hoffnung, doch noch etwas Hilfe bei der Entscheidung zu erhalten.

„Ich bin froh, dass ich nicht in Ihrer Haut stecke. Entscheiden müssen Sie sich ganz allein. Es kommt eben immer darauf an, von welchem Standpunkt man etwas sieht. Sie können mit den Hunden nicht viel anfangen, ein anderer an Ihrer Stelle wäre vielleicht überglücklich.“

„Ich kann mich nicht erinnern, dass mir jemals eine Entscheidung so schwer gefallen ist.“

„Verständlich“, pflichtete Falk Bäumer ihr bei. „So wie es aussieht, kommen wir gerade nicht weiter. Deshalb schlage ich vor, ich gebe Ihnen die Unterlagen mit, dann können Sie sie unterschreiben, wann immer Sie bereit dazu sind.“

Nele hielt das für eine gute Idee, denn ihre Meinung änderte sich zurzeit beinahe im Minutentakt. Im Büro des Notars fühlte sie sich ein wenig unter Druck gesetzt. Möglicherweise fiel ihr die Entscheidung, ihre Unterschrift auf das Papier zu setzen, leichter, wenn sie allein in ihrem Hotelzimmer saß. Dort konnte sie sich auch nochmal ausführlich mit Damian beraten.

Falk Bäumer begleitete sie noch zur Tür.

„Melden Sie sich bei mir.“

„Das mache ich. Sie hören von mir.“

Nele war froh, dass sie den Termin mehr oder weniger erfolgreich hinter sich gebracht hatte. Eigentlich hatte sie vorgehabt auf direktem Wege ins Hotel zurückzukehren, doch stattdessen befand sie sich plötzlich auf dem Weg zu Rudolfs Haus. Es fühlte sich beinahe so an, als ob das Haus eine magische Anziehungskraft auf sie ausübte. Nachdem sie vor dem Haus geparkt hatte und ausgestiegen war, merkte sie sofort, dass einiges los war. Neben dem Haus parkte ein dunkelgrüner Jeep und als Nele ausstieg, hörte sie, dass die Hunde unruhig waren. Ihr Heulen durchdrang die Luft.

Sie legte die wenigen Meter zum Zwinger zurück und platzte mitten in einen handfesten Streit zwischen Ferdinand Janek und einem anderen Mann, den sie nicht kannte.

„Ich will mein Geld, Ferdinand! Du hast mir am Telefon zugesichert, dass du bar bezahlst.“ Der unbekannte Mann klang wütend und trat drohend auf sein Gegenüber zu.

„Was blieb mir denn anderes übrig? Du wärst doch sonst nicht gekommen.“

„Her mit der Kohle, sonst hörst du von meinem Anwalt.“

„Du weißt, dass ich das Geld nicht habe. Außerdem sind es nicht meine Hunde.“

„Wer den Tierarzt ruft, bezahlt ihn auch!“

Bis dahin hatte Nele bloß zugehört, aber nun fand sie, es sei an der Zeit einzuschreiten.

„Hallo!“, rief sie und erlangte dadurch die Aufmerksamkeit der beiden Männer. „Kann ich vielleicht helfen?“

„An sie musst du dich wenden, wenn du Geld willst“, wandte sich Ferdinand Janek an den Tierarzt und deutete auf Nele. „Sie ist Rudolfs Nichte.“

Sofort wandte sich der Tierarzt an Nele und noch immer klang seine Stimme wütend.

„Bekomme ich von Ihnen endlich das Geld, das mir zusteht?“

„Von welchem Betrag reden wir?“, erkundigte sich Nele, um ein wenig Zeit zu schinden. In ihrem Hinterkopf tauchte eine Zahl von über 1000 Euro auf, genau wusste sie es nicht mehr. Der Tierarzt half ihr allerdings auf die Sprünge.

„Es geht um 1.780 Euro, plus 85 Euro für die heutige Behandlung des Hundes, macht insgesamt 1.865 Euro.“

Nele fühlte sich alles andere als wohl in ihrer Haut, dabei hatte sie die Schulden nicht mal verursacht.

„Sie bekommen Ihr Geld“, versuchte Nele den aufgebrachten Tierarzt zu beruhigen.

„Wann?“, bellte er.

„Sobald geklärt ist was mit dem Erbe passiert.“

„Ich dachte, Sie sind die Erbin?!“ Er funkelte Nele und Ferdinand Janek böse an.

„Niemand zwingt mich dazu das Erbe anzunehmen.“

Nach diesen Worten verlor der Tierarzt endgültig die Beherrschung.

„Ich bekomme mein Geld! Verlasst euch drauf!“ Er nahm seinen Arztkoffer und rauschte davon.

Nele atmete hörbar erleichtert auf, als der dunkelgrüne Jeep davon fuhr.

„Was ist passiert?“, wandte sich Nele an Ferdinand Janek.

„Die Hunde sind aufeinander losgegangen Ich war leider nicht schnell genug zur

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 16.12.2017
ISBN: 978-3-7438-4649-4

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