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1. Kapitel

 

 

 

 

 Mom? Dad? Seid ihr da?“, rief ich und rannte wie ein aufgescheuchtes Huhn durch unser kleines, aber doch luxuriöses Haus auf der Suche nach meinen Eltern, ehe ich schließlich im Wohnzimmer fündig wurde. Die beiden saßen dicht beieinander auf der Couch und blätterten zusammen in einem der alten Fotoalben, die Bilder aus glücklicheren Zeiten zeigten, als mein großer Bruder noch nicht rebellisch und von Zuhause ausgezogen war.

Ich lächelte wehmütig bei dem Gedanken an ihn und atmete einmal tief ein, wohlwissend, dass ich jetzt keinen Rückzieher mehr machen konnte. Stolz darauf, endlich meinen Mut zusammengefunden zu haben, bereitete ich mich darauf vor, ihnen mein lang gehütetes Geheimnis zu offenbaren, denn lieben würden sie mich ja trotzdem noch, da war ich mir sicher. Schließlich waren sie meine Eltern und mich zu lieben war auch irgendwo ihre Pflicht. Dachte ich jedenfalls.

„Was gibt es denn, Schatz?“, fragte meine Mutter lächelnd, sobald sie das Fotoalbum vor sich zugeklappt und beiseite gelegt hatte. Sie widmete mir ihre volle Aufmerksamkeit und auch mein Vater hatte sich gespannt zu mir umgewandt. Schließlich sah man mich seit Matthews Auszug nur noch selten so euphorisch. Jetzt war es an mir das Gespräch wieder aufzunehmen.

„Nun ja …“, druckste ich herum und wurde zunehmend verlegen. Irgendwie war es doch nicht so einfach offen zuzugeben, wie ich es mir vorgestellt hatte. „Wisst ihr, mir ist etwas klargeworden.“, begann ich darum noch einmal von vorne. Wie erwartet gingen meine Eltern auch gleich darauf ein: „Ich verstehe nicht ganz, Schatz. Was ist dir klar geworden?“ Meine Mutter musterte mich besorgt, während mein Vater nur misstrauisch die Stirn runzelte. „Möchtest du doch nicht nach Harvard, mein Junge?“, kam auch gleich die wenig begeisterte Frage, als ahnte er schon, das ich ihnen nichts Erfreuliches zu berichten hatte. „Doch, doch. Es ist nur so …“, begann ich. „Ich … ich bin schwul!“ So, jetzt war es raus und den entsetzten Gesichtern meiner Eltern nach, nicht gerade die Neuigkeit, die sie sich von mir erhofft hatten.

„Ethan! Liebling! Darüber macht man keine Scherze!“, rief meine Mutter fast schon hysterisch und ich begann unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten.

„A-aber das ist kein Scherz.“, murmelte ich und blickte verlegen zu Boden, um meinen Eltern – insbesondere meinem Vater – nicht in die Augen schauen zu müssen. „Ich kann und will das nicht glauben. Du weißt nicht wovon du redest, Liebling. Du bist noch viel zu jung, um dir über so etwas im Klaren zu sein.“, versuchte meine Mutter mich zu überzeugen, doch ich schüttelte nur vehement den Kopf: „Nein, Mom. Ich bin mir sehr wohl darüber im Klaren und ich sage dir: Ich bin schwul.“ Meine Stimme klang erstaunlich fest und ich war mehr denn je überzeugt davon, dass ich das richtige tat auch wenn es bedeutete, dass meine Eltern mich nicht akzeptieren wollten.

„Ich werde dir jetzt mal etwas sagen, mein Junge. Wenn du so überzeugt von dem bist, was du da von dir gibst, dann wirst du jetzt auf dein Zimmer gehen, deine Sachen packen und von hier verschwinden.“ Mein Vater war inzwischen aufgestanden und bei jedem Wort näher gekommen, sodass er jetzt nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt stand. Er war wütend und ließ keinen Zweifel daran wie ernst er es meinte. Meine Mutter wimmerte. „Spätestens morgen früh bist du verschwunden, ist das klar?“, Mein Vater kniff die Augen zusammen und ich nickte stumm. „Ich fragte, ob du mich verstanden hast!“, schrie er mich an und ich zuckte kaum merklich zusammen.

Meine Eltern waren mir gegenüber nie gewalttätig geworden, doch ich zweifelte nicht daran, dass sich das nicht doch noch innerhalb der nächsten paar Minuten ändern könnte, sollte ich mich dem widersetzen, was mein Vater von mir verlangte. Doch ehe ich genauer darüber nachdenken konnte, hatte er meinen Kopf unsanft nach oben gerissen, sodass ich gar nicht anders konnte, als ihm in die Augen zu schauen. Erst da wurde mir bewusst, dass er ja noch auf eine Antwort von mir wartete. „Ja, ich hab dich verstanden.“, meinte ich darum und rieb mir mein schmerzendes Kinn, als er mich losließ und in Richtung Tür schubste. „Gut, und jetzt geh mir aus den Augen, Junge!“, waren die letzten Worte die er an mich richtete, ehe er sich wieder meiner Mutter zuwandte, die kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen schien.

Ich machte, dass ich davon kam, bevor mein Vater auf die Idee kam mir doch noch Gewalt anzutun und schlich mich in Richtung meines Zimmers davon. Hastig packte ich ein paar meiner Sachen zusammen. Darunter waren auch ein Foto und ein T-Shirt meines fünf Jahre älteren Bruders Matthew. Nur Gott alleine wusste, wie sehr ich ihn die letzten beiden Jahre über vermisst hatte. Ihn und die Zeit die wir zusammen verbracht hatten.

Mit einem Mal kam mir eine Idee. Verrückt zwar, aber doch umsetzbar. Innerhalb weniger Sekunden hatte ich auch schon mein Handy hervorgeholt und die Nummer meines älteren Bruders ins Display eingetippt und gewählt. Ein regelmäßiges Tuten erklang, ehe am anderen Ende der Leitung abgenommen wurde.

„Ja?“

„Hey, Matt. Ähm… könntest du mich abholen kommen?“, kam ich auch gleich zum Punkt und machte mir gar nicht erst die Mühe ein Schluchzen zu unterdrücken.

„Ethan? Was ist denn passiert?“

„Ich erzähl es dir später. Nur bitte… hol mich ab.“

„Ist gut, Kleiner. Wo bist du?“

„In meinem Zimmer. Ich hab Angst, Matt. Dad ist furchtbar wütend auf mich“

„Alles wird gut, E. Ich bin in einer Stunde bei dir. Pack deine Sachen und verlass auf keinen Fall dein Zimmer.“, gab mir Matt in eindringlichem Ton zu verstehen. Ich wollte schon nicken, als mir einfiel, dass er das ja gar nicht sehen konnte. „Mach ich. Und Matt?“

„Ja, Kleiner?“

„Bitte beeil dich.“, damit drückte ich die Auflegen-Taste und widmete mich wieder dem Packen meiner Sachen, jedoch nicht ohne vorher die Tür zu meinem Zimmer abzuschließen.

 

Etwas mehr als eine Stunde nach dem Anruf meines kleinen Bruders stand ich zum ersten Mal nach zwei Jahren wieder vor dem Haus meiner Eltern. Es hatte sich nichts verändert. Gar nichts. Der Rasen vor dem Haus war immer noch perfekt auf wenige Zentimeter heruntergeschnitten und auch an den Hecken war kein Ast zu erkennen der auch nur einen Millimeter hervorstand. Das teure Auto Marke Porsche war frisch gewaschen und so in der Auffahrt platziert, das der Blick eines jeden Einzelnen, der an dem Haus meiner Eltern vorbei ging, daran hängen blieb. Der Stellplatz war von meinem Vater bewusst so gewählt worden, denn der protzige Wagen sollte zeigen wie wohlhabend meine Eltern waren. Als ob das Haus nicht schon Zeuge genug für ihren verschwenderischen Lebensstil war.

Für so viel Arroganz und Imponiergehabe hatte ich nur ein Kopfschütteln übrig. Und da wunderte sich noch einer, dass ich vor zwei Jahren Hals über Kopf die Flucht ergriffen hatte? Dass mein Bruder es mir jetzt nachtat, überraschte mich nicht. Und auch den Grund dafür glaubte ich zu kennen. Er war schon immer ein wenig nach mir gekommen und genau das, hatte meinen Eltern nie gepasst. Ein rebellischer Sohn war tragisch. Aber zwei, zwei waren katastrophal.

Für meine Mutter tat es mir trotzdem Leid. Sie war eine liebevolle Frau und nicht mal halb so ätzend, wenn sie mit uns beiden alleine war. Doch mein Vater hatte sie gut unter Kontrolle und dadurch, dass sie ihren Job geopfert hatte, um Ethan und mir ein Kindermädchen zu ersparen und später auch nie in den Beruf zurückgekehrt war, war es ein leichtes für ihn gewesen sie gefügig zu machen.

Immer noch in Gedanken versunken betätigte ich den Klingelklopf neben dem Briefkasten und wartete darauf, dass mein Vater die Tür öffnete. Dieser ließ nicht lange auf sich warten und es war offensichtlich, dass er nicht erfreut war mich zu sehen.

„Matthew. Was hast du hier zu suchen?“, fragte er mich auch sogleich und warf einen missbilligenden Blick auf meine beiden silbernen Lippenpiercings, doch ich dachte gar nicht daran ihm eine Antwort zu geben, sondern drängte mich gleich an ihm vorbei in den Flur, wo ich beinahe mit meiner Mutter zusammenstieß. Ihre warmen, rehbrauenen Augen wirkten verquollen, ihre Wangen waren gerötet und ihre Hände zitterten. Ein Zeichen dafür, dass sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Nicht, dass sie das jemals zugeben würde, denn das würde ja bedeuten, dass sie nicht perfekt war und das konnte sie sich als Frau eines Mann in der Position meines Vaters nicht erlauben. Nicht mehr jedenfalls. Ich war mir sicher vor der Heirat mit meinem Vater war auch das anders gewesen.

„Ich wiederhole mich nur ungern, Matthew. Was hast du hier zu suchen?“, fragte mein Vater nach einiger Zeit erneut, diesmal mit einem drohenden Unterton in der Stimme.

„Wo ist Ethan?“, stellte ich die Gegenfrage und sah meine Mutter durchdringend an. Es hatte keinen Zweck es bei meinem Vater zu versuchen, er würde nicht einknicken. Dafür war er viel zu ignorant und starrköpfig. Doch noch während ich auf eine Antwort wartete hörte ich, wie oben eine Tür geöffnet wurde und keine Minute später erschien mein kleiner Bruder mit gepackter Tasche am oberen Treppenabsatz. „Ich bin hier, Matt.“, rief er, ehe er die Treppe herunterkam und sich dicht neben mich stellte. Ich lächelte ihm kurz aufmunternd zu und wandte mich dann wieder an meinen Vater: „Also gut, da ich jetzt alles habe was ich wollte, belästige ich euch auch nicht weiter. Mom, Dad. Es war schön euch mal wieder zu sehen. Mein nächster Besuch wird vermutlich dennoch erst – falls überhaupt – nach unbestimmter Zeit erfolgen.“ Mit diesen Worten packte ich Ethan sanft am Handgelenk und zog ihn mit mir nach draußen. „Und bevor ich es vergesse. Denk doch bitte daran ab jetzt größere Schecks zu schicken, wenn du nicht willst, das ich dich wegen deiner Steuerhinterziehung bei der Polizei melde, Dad!“, rief ich ihm noch über die Schulter zu, bevor ich meinen Bruder samt seiner Tasche auf dem Beifahrersitz meines Pick-up verstaute und mich selbst auf den Fahrersitz sinken ließ.

Eilig steckte ich den Schlüssel ins Zündschloss, warf den Motor an und drückte aufs Gaspedal, ehe mein Vater noch auf die Idee kam sich aus seiner Schockstarre zu lösen und etwas gegen unsere Abfahrt zu unternehmen. Der Mann war schließlich zu allem fähig und auch wenn ich gerne rebellierte, ging ich einer direkten Konfrontation mit ihm lieber aus dem Weg, wenn ich es denn konnte.

 

2. Kapitel

 

 

 

 

Zwei Monate war es nun schon her, dass ich von Zuhause aus- und bei meinem großen Bruder eingezogen war. Eigentlich hatten wir abgemacht – das heißt ich hatte gesagt –, dass ich nur übergangsweise bleiben und dann zu meiner Tante ziehen wollte, wo auch schon Matt nach seinem Rauswurf gewohnt hatte, doch davon wollte mein Bruder nicht das geringste hören. Stattdessen hatte er mir seine American Express in die Hand gedrückt – die unsere Mutter ihm wegen ihres schlechten Gewissens hatte zukommen lassen und die auf das Konto unserer Eltern lief – und gesagt, ich solle mir mein Zimmer so einrichten, wie ich es wollte.

Als drei Tage später dann ein Malerunternehmen, dass die gesamte Wohnung strich und eine Woche später die Möbelpacker anrückten, um die einzelnen Zimmer neu zu möblieren zuckte mein großer Bruder nur mit den Schultern. Die Wohnung hätte ohnehin bald renoviert werden müssen.

Ich war mir nicht sicher ob ich es gutheißen sollte, dass ich in den meisten Fällen – Schule ausgenommen – machen konnte was ich wollte. Andererseits war es eine willkommene Abwechslung zu unserem sonst so spießigen Elternhaus.

Alles in allem war ich mehr als zufrieden mit meiner derzeitigen Situation, sofern ich das mit fünfzehn Jahren wohl beurteilen mochte. Im Grunde genommen war es sogar alles was ich je gewollt hatte und noch viel mehr. Kein Wunder also, das ich alles versuchte, um ihm zu beweisen, dass es kein Fehler von ihm gewesen war mich bei sich aufzunehmen.

Gerade stand ich in der Küche und bereitete Matt sein Lieblingsessen vor - Lasagne. Ich hatte immer noch ein schlechtes Gewissen da mein Bruder, seit ich bei ihm wohnte ständig Überstunden in seinem Nebenjob machte, weil er zumindest für die Wohnnebenkosten selber aufkommen wollte, nachdem unser Vater schon den Rest unseres Lebens finanzierte und ich war fest entschlossen mir ebenfalls einen Nebenjob zu suchen, sobald sich die Möglichkeit dafür ergab – und sobald ich alt genug dafür war. Doch auch davon wollte Matt nichts hören. Ich hätte noch ein paar Jahre Zeit, bevor ich arbeiten gehen müsste und sollte mich lieber auf die Schule konzentrieren, denn nach meinem überstürzten Schulwechsel waren meine Noten ins obere Mittelmaß abgedriftet. Ziemlich absurd, wenn man bedachte, dass ich vorher nur Einsen geschrieben hatte.

Mit einem Mal wurde mir schwarz vor Augen, weil mir jemand seine Handinnenflächen dicht vors Gesicht hielt. Ich lächelte. „Lass gut sein, Matt. Ich weiß das du es bist.“ Die Hände vor meinem Gesicht verschwanden. „Woher?“

„Wir wohnen zu zweit in einer WG.“

„Gutes Argument, Bruderherz.“ Matt lachte und mein Lächeln wurde unwillkürlich größer. Zwei Jahre lang hatte ich auf sein Lachen und seine – manchmal unsinnigen – Späße verzichten müssen und je länger ich hier war, desto mehr genoss ich es, all das wiederzuhaben. Nahezu vergessen war die Reaktion meiner Eltern bezüglich meiner Beichte ihnen gegenüber.

„Das riecht gut, E. Was wird das?“

„Als ob du die Lasagneplatten nicht schon bemerkt hättest.“

„Erwischt.“ Er zwinkerte mir zu und tänzelte dann Grimassen schneidend wieder aus der Küche hinaus. Dabei sah er so bescheuert aus, dass ich mich die nächsten paar Minuten vor Lachen nicht mehr einkriegte – bis mir beinahe das Hackfleisch in der Pfanne angebrannt wäre. Hastig drehte ich die Temperatur herunter, ehe ich begann das Gemüse und das Tomatenmark unterzurühren und die Lasagneplatten in Wasser einzuweichen. Danach schnappte ich mir eine der Auflaufformen, die ich vor ein paar Tagen beim Einkaufen wie zufällig in den Einkaufswagen hatte gleiten lassen und machte mich daran die einzelnen Komponenten Schicht für Schicht übereinanderzustapeln, ehe ich sie für eine halbe Stunde in den Backofen schob.

Danach machte ich mich auf die Suche nach Matthew, den ich im frisch renovierten Wohnzimmer vorfand, wo er gerade dabei war die Einstellungen unseres Fernsehers zu verändern. „Was tust du da?“, fragte ich und musterte ihn skeptisch, wie er hintereinander verschiedene Knöpfe auf der Fernbedienung drückte. Er schien gar nicht zu bemerken, dass ich neben ihn getreten war und so legte ich ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter, um mich bemerkbar zu machen. Sofort zuckte er zusammen und ließ dabei die Fernbedienung fallen. „Himmel, E. Erschreck mich doch nicht so.“ Er sah mich böse an und ich lächelte entschuldigend, während ich mit einer seiner Haarsträhnen spielte. In den letzten beiden Jahren hatte er sie nicht geschnitten und so reichten ihm seine Haare mittlerweile bis knapp über die Schultern. Bald würde er sie zu einem Pferdeschwanz binden können.

„Es tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Aber du hast nicht auf meine Frage reagiert, da dachte ich, ich mache mich mal bemerkbar.“

„Das ist dir unumstritten gelungen.“ Er lächelte und mich überlief ein wohliger Schauer. „Aber jetzt zu deiner Frage. Was wolltest du wissen?“

„Nichts wichtiges, nur was du da tust.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Du werkelst schließlich nicht jeden Tag an irgendwelchen elektronischen Geräten herum.“

„Es ist nichts wirklich Dramatisches. Lediglich die Lautsprecher gehen so langsam vor die Hunde glaube ich.“

„Und jetzt?“

„Wir kaufen einen neuen.“

„Im Ernst?“

„Ja, ich habe keine Lust mich damit länger als nötig auseinanderzusetzen und ein bisschen Luxus muss auch sein.“ Matt war aufgestanden, hatte den Fernseher ausgeschaltet und die Fernbedienung in die nächste Ecke befördert. „Nach dem Essen fahren wir los.“ Ich nickte nur stumm, viel zu perplex um irgendetwas auf seinen Tatendrang erwidern zu können. Das mein älterer Bruder durchaus nicht mehr alle beisammen hatte, war mir ja schon vorher klar gewesen, aber das er Spontaneinkäufe in dieser Größenordnung tätigen wollte war mir neu. Als er noch bei unseren Eltern gelebt hatte musste grundsätzlich über jede Neuanschaffung mit ihm diskutiert werden, da er den verschwenderischen Lebensstil unserer Eltern gehasst hatte. Und jetzt fing er auf einmal selbst damit an? Für mich ergab das nicht wirklich Sinn.

„Wollen wir nicht vielleicht noch einmal drüber reden, ob wir wirklich einen neuen Fernseher brauchen oder ob es da nicht irgendeine andere Möglichkeit gibt, Matt?“ Jetzt war es an meinem Bruder perplex zu schauen. „Wieso?“ Er wirkte ehrlich irritiert und ich konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Er sah einfach zum Anbeißen aus, wenn er so verwirrt war. „Naja, früher musstest du auch erst einmal über alles diskutieren und nachdenken bevor irgendwelche Investitionen getätigt wurden.“

„Es ist aber nicht mehr wie früher, E. Ich finde den Lebensstil unserer Eltern zwar immer noch verwerflich, aber ich finde auch, dass unser Vater ruhig zahlen kann, wenn er uns schon rausschmeißt.“

„A-aber du bist doch freiwillig ausgezogen.“

„Das hat er erzählt, ja? Gut zu wissen.“ Matt wirkte nachdenklich und verließ wenige Sekunden später das Wohnzimmer. Ich hörte am anderen Ende des Flurs eine Tür zuschlagen und vermutete, dass er sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte und trotz der gelieferten Teilerklärung seinerseits fand ich sein Verhalten mehr als merkwürdig. Es sah ihm gar nicht ähnlich mitten im Gespräch den Raum zu verlassen, aber auch mir sah es nicht ähnlich mir deshalb Gedanken zu machen. Matt war eben schon immer ein wenig sonderbar gewesen. Kein Grund sich zu Sorgen. Er würde sich schon wieder einkriegen. Hoffte ich jedenfalls.  

3. Kapitel

 

 

 

 

 Seit dem Vorfall vor einigen Tagen hatte Matt sich immer noch nicht zu den Andeutungen seinerseits geäußert. Er verhielt sich mir gegenüber zwar nicht anders als vorher, schien dem Thema Familie jedoch weitestgehend aus dem Weg gehen zu wollen. Zumindest, wenn es um unseren Vater ging.

Ich seufzte leise, als ich daran dachte, wie nachdenklich und ehrlich überrascht Matt ausgesehen hatte, als er erfahren hatte, dass ich nichts von dem Rauswurf geahnt hatte. Er selbst hatte ja aber auch nie ein Wort darüber verloren, hatte jedes Mal beharrlich geschwiegen, wenn ich ihn nach dem Grund seines Auszuges gefragt hatte. Ich war davon ausgegangen, dass ihm das herrische Verhalten unseres Vaters auf die Nerven gegangen war und er es einfach nicht mehr ausgehalten hatte. Matt war schließlich schon immer ein Freigeist gewesen. Hatte sich nie an die Regeln gehalten und unseren Vater somit gehörig auf die Palme getrieben.

„Was seufzt du so, E? Stimmt irgendetwas nicht? Bist du krank?“ Matt war vor mich getreten und legte mir nun beide Hände auf die Schultern, ehe er sich nach vorne beugte und mich forschend aus der Nähe betrachtete. Ich hasste wenn er das tat. Mit seinen eisblauen Augen gab er einem nämlich immer das Gefühl, nichts vor ihm verbergen zu können. Egal wie sehr man es versuchte.

„Es ist nichts, wirklich Matt. Ich habe lediglich ein wenig nachgedacht.“ Ich versuchte seinem Blick standzuhalten und dabei nicht allzu schuldbewusst auszusehen. Gar nicht so einfach, wenn man drohte sich dabei in den Augen seines Gegenübers zu verlieren.

„Ich glaube nicht, dass es nur das ist, E. Und weißt du auch warum?“
„N-nein.“

„Weil ich es in deinen Augen sehen kann, kleiner Bruder.“ Bei diesen Worten war er mir noch näher gekommen, sodass sich unsere Nasen nun fast berührten. Mein Puls beschleunigte sich und ich war mir sicher, dass jeder in einigen Metern Entfernung mein Herz schneller schlagen hören konnte. Es war vielleicht nicht richtig, dass ich so empfand und doch hatte ich schon vor langer Zeit aufgehört mich dagegen zu wehren. Aber er sollte es nicht wissen. Ich wollte nicht, dass er es erfuhr und mich dann vermutlich genauso verstieß wie unsere Eltern es getan hatten, wenn auch aus anderem Grund. Genauso wenig wollte ich mich jedoch zurückziehen, viel zu selten waren solche Momente in denen ich mich so gehen lassen konnte ohne, dass es auffallen musste. Auffallen konnte. Immerhin hatte Matt uns in diese Situation gebracht, nicht ich. Sofort begann ich mich in seinen Augen zu verlieren.

Viele Menschen hatten versucht mich davon zu überzeugen, dass er die Augen unseres Vaters hatte, doch ich sah das anders. Es mochte zwar dasselbe eisige blau sein mit dem dunklen Ring um die Iris, doch seine Augen blickten weit wärmer als die unseres Vaters und wirkten dabei doch erstaunlich kalt. Es war ein Paradoxon, so wie alles an ihm. Handlungen und Worte standen, gerade in letzter Zeit, häufig in Wiederspruch zueinander und genau das spiegelten auch seine Augen wieder.

„Warum starrst du so, E?“, riss mich Matt nun schon zu zweiten Mal an diesem Tag aus meinen Gedanken und ich konnte nicht umhin rot anzulaufen. „I-ich starre überhaupt nicht!“, versuchte ich mich rauszureden, während ich verlegen zur Seite blickte. Ich fühlte mich unwohl, wie er mich so musterte und mit seinem Gesicht noch näher kam. Dieses Spiel schien ihm spaß zu bereiten, wie er da stand und mich mit blitzenden Augen frech angrinste. So wie früher, als ich noch kleiner gewesen war und er sich einen Spaß daraus gemacht hatte mich aus dem Konzept zu bringen. Natürlich erst als er sich sicher war, dass seine Spielchen auf jeden Fall Wirkung zeigen würden. Dass ich sein Bruder war und das Ganze deshalb eigentlich verwerflich war, interessierte ihn nicht. Hatte ihn auch nie interessiert. Ernst meinte er es trotzdem nicht. Da war ich mir sicher.

 

Ich blies mir vorsichtig eine meiner, mittlerweile schon fast zu lang gewordenen, Haarsträhnen aus dem Gesicht und beobachte Ethan ganz genau. Er hatte das Gesicht leicht zur Seite gedreht und versuchte krampfhaft seine Verlegenheit zu verstecken. Nicht das es etwas nützte. Seine Wangen waren immer noch leicht gerötet, jedoch nicht mehr so stark wie noch vor einer halben Minute, als ich ihn auf sein Starren angesprochen hatte. Seine dunklen Augen zuckten unruhig hin und her und er schien mehr als nervös. Es war immer wieder interessant zu sehen, wie leicht er sich aus dem Konzept bringen ließ. Vor allem von mir.

„Wenn du nicht starrst, wieso wirst du dann so nervös?“, fragte ich, nachdem ich ihn noch ein paar Sekunden lang beobachtet hatte. Ich fand immer mehr Gefallen an diesem Spiel, hatte ich doch zwei Jahre darauf verzichten müssen. Trotzdem sollte ich es wohl nicht allzu sehr ausreizen, was auch der Grund dafür war, dass ich mich ein wenig von Ethan zurückzog. Sofort wirbelte sein Kopf herum und er begann mich skeptisch zu mustern. Er traute dem ganzen nicht und ich konnte es ihm auch wirklich nicht verübeln. Bis jetzt war es für ihn noch nie wirklich einfach gewesen meine Handlungen nachzuvollziehen. Egal wie eindeutig die Situation auch war.

Seine großen braunen Augen blickten weiter forschend, während mein kleiner Bruder versuchte zu ergründen wieso ich mich so verhielt, wie ich es eben tat. Ja wieso eigentlich. So wirklich wusste ich das selber nicht. Das war ja auch das Problem gewesen, das letztendlich zum Bruch mit meinem Vater geführt hatte. Seiner Meinung nach waren es unsittliche Gedanken gewesen, die mich zu diesem Verhalten Ethan gegenüber getrieben hatten und wohl immer noch trieben. Ich selbst glaubte nicht daran. Das war nahezu unmöglich. Er war schließlich mein jüngerer Bruder und ich hatte Verantwortung für ihn zu tragen, da konnte ich mir so etwas gar nicht erlauben. Vor allem nicht jetzt wo er bei mir wohnte, oder? Eben.

„Was ist los, Matt?“ Selbst jetzt noch, wo er eigentlich genervt sein sollte gewann seine Sorge die Oberhand. Es hatte mich immer schon gefreut zu sehen, wie sehr Ethan auf das Wohl seiner Mitmenschen achtete. Deshalb war ich auch so erstaunt gewesen als er mich vor wenigen Wochen angerufen hatte und mich förmlich angebettelt hatte ihn von Zuhause wegzuholen. Nie hätte ich gedacht, dass er es mir nachtun und unseren Vater so verärgern würde, dass dieser ihn nicht mehr bei sich zu Hause duldete. Was er allerdings getan hatte, darüber wollte Ethan nicht reden und ich würde ihn ganz sicher auch nicht dazu drängen. Es würde schon seine Gründe haben. Davon jedenfalls war ich überzeugt.
„Matt? Noch da?“ E wedelte mir mit einer Hand vor meinem Gesicht herum und wirkte dabei mehr als amüsiert. Ein netter Anblick. „Natürlich bin ich noch da. Ich war nie weg.“
„Natürlich nicht.“ Mein kleiner Bruder lächelte. „Du hattest bloß wieder diesen Blick drauf.“ Aha, dieser Blick. Ich verstand. Das war Ethans Art mir mitzuteilen, dass ich wieder einmal völlig versunken vor mich hingestarrt hatte, ohne jemanden oder etwas wirklich anzuschauen. Peinlich, peinlich.

 

 Fasziniert sah ich dabei zu, wie sich ein Rotschimmer auf dem Gesicht meines großen Bruders ausbreitete, als ich ihn darauf ansprach, dass er wieder einmal mit völlig leeren Blick in die Gegend starrte. Schon immer hatte ich mich gefragt, woran er wohl denken mochte, wenn er dabei derart abwesend war. Ich tippte darauf, dass es sich um ein Mädchen handelte, hoffte gleichzeitig aber auch damit falsch zu liegen. Ich wollte Matt nur ungerne Teilen, nicht nachdem ich ihn gerade erst wieder hatte. Nur wäre ihm das wohl leider egal.

Ich beschloss, dass ich mich wahrlich genug im Selbstmitleid gesuhlt hatte und stand vom Sofa auf. Überraschend wie es schien, denn Matt wich nicht schnell genug aus und wir prallten gegeneinander.

„Mensch, E. Kannst du nicht aufpassen?“, fragte mein Gegenüber auch prompt und ich hätte ihm seine Entrüstung vermutlich auch abgenommen wäre da nicht diesen verschmitzte Lächeln gewesen, das seine Lippen umspielte. „Pass doch selber auf.“, erwiderte ich scherzend, während ich mir die Stirn rieb und mich aufrappelte. Junge, der hatte vielleicht einen Dickschädel. Einfach unglaublich sowas. Andererseits war auch das vermutlich etwas, dass er von unserem Vater geerbt hatte. Von wem auch sonst. Schließlich war unsere Mutter nie besonders durchsetzungsfähig gewesen, zumindest nicht seit der Hochzeit.

„Alles klar, E?“, kam es von irgendwo rechts von mir und ich hörte abrupt auf meine Stirn zu massieren. „Natürlich, wieso fragst du?“ Ich sah meinen großen Bruder skeptisch an, doch dieser lachte nur. „Naja, du stehst da wie bestellt und nicht abgeholt und reibst die seit einer kleinen Ewigkeit die Stirn. So weh kann das gar nicht getan haben.“
„Woher willst du das denn wissen? Nicht jeder hat so einen Dickschädel wie du!“ Ich klang zickig und das wusste ich auch. Es war unberechtigt, aber ich konnte nichts dagegen tun. Jedes Mal wenn ich mich an meinen Vater erinnert fühlte, kochte in mir eine unbändige Wut hoch, weil er mich rausgeschmissen hatte. Und das nur, weil ich anders war – nicht zu seinen Lebensstil passte.

Bevor ich anfangen konnte zu weinen oder Matt noch einen Kommentar abgeben konnte verließ ich den Raum und flüchtete mich in mein Zimmer, wo ich mich aufs Bett fallen ließ. Ich wollte nicht weinen, nicht deswegen. Ich war ein Junge und Jungen weinten nicht, egal was andere sagten. Doch leider war das nicht immer so einfach und schon bald flossen die ersten Tränen meine Wangen hinunter. Ich hasste mich dafür und gleichzeitig war es dermaßen erleichternd, dass ich am liebsten gelacht hätte.

4. Kapitel

 

 

 

 

 Was zum Teufel war denn jetzt los?

Hatte ich was Falsches gesagt?

War ich diesmal zu weit gegangen?

Unschlüssig was ich tun sollte, starrte ich meinem kleinen Bruder hinterher, der soeben wie von der Tarantel – oder meiner Vogelspinne – gebissen in sein Zimmer gerannt war.

Nach langem hin und her entschloss ich mich lieber mal nachzusehen. Vielleicht brauchte E ja wen zum Reden und wollte mir bloß nicht auf die Nerven fallen, weshalb er sich lieber in seinem Zimmer einschloss.

Das Schluchzen wurde lauter, je näher ich der Tür zu seinem Schlafzimmer kam. Offensichtlich handelte es sich doch um ein etwas größeres Problem. Wieso sonst sollte er so aufgelöst sein?

„E? Alles gut?“, fragte ich vorsichtig, nachdem ich einmal leise geklopft hatte. Das Schluchzen verstummte, doch eine weitere Reaktion bekam ich nicht. „Darf ich reinkommen?“ Wieder keine Reaktion. Langsam drückte ich die Klinke nach unten und öffnete die Tür einen Spalt breit. „E, darf ich?“ Ich wollte ihm die Chance geben zu verneinen, ehe ich mich aufdrängte. Immer noch keine nennenswerte Reaktion, außer einem Schluchzer. Ich öffnete die Tür noch ein Stück und trat ins Zimmer.

Wie immer wirkte der Raum sehr ordentlich und mein kleiner Bruder lag vergraben unter einem Haufen Plüschtiere auf seinem Bett. Ich schloss die Tür hinter mir und setzte mich neben Ethan. Kaum hatte die Matratze ein wenig nachgegeben, blickte E auf und direkt in mein Gesicht. Seine Augen waren rot vom Weinen und das sonst so schöne Rehbraun hatte zumindest vorrübergehend von seinem Glanz eingebüßt. Schweigend öffnete ich meine Arme in die mein kleiner Bruder sich auch sogleich fallen ließ. Immerhin weinte er nicht mehr.

Lange Zeit saßen wir einfach nur da. Er in meinen Armen, zu Hälfte auf meinem Schoß sitzend und schwiegen. Ich bedrängte ihn nur ungerne, doch mich interessierte sein Gefühlsausbruch. Ich machte mir Sorgen, konnte ihm unsere Eltern nicht ersetzen und doch wollte ich zumindest versuchen für ihn da zu sein. Auch wenn mir das vielleicht nicht immer so gelang.

„Möchtest du mir verraten was los ist, E?“, fragte ich ihn nach einiger Zeit leise. Mein kleiner Bruder schüttelte energisch den Kopf, schaute mich jedoch nicht an. Ich seufzte. „Du kannst es nicht ewig geheim halten, E. Ich kenne dich. Früher oder später musst du damit rausrücken. Anders kann ich dir nicht helfen.“

 „I-Ich kann nicht, Matt. Das ist alles so … so verwirrend. I-Ich muss mir erstmal selbst darüber klar w-werden.“ Ein ersticktes Schluchzen ertönte und ich verfluchte mich innerlich dafür ihn darauf angesprochen zu haben. Ich hätte warten sollen. „Tut mir leid, E. Nimm dir alle Zeit die du brauchst. Es war dumm von mir dich bedrängen zu wollen.“ Ich drückte dem Jungen in meinen Armen einen Kuss auf den Scheitel und befreite mich vorsichtig aus seiner Umklammerung, um aufzustehen.

„Wo-wohin gehst du?“ Die rehbraunen Augen weiteten sich vor Angst und ich konnte nicht umhin in Gedanken zu bemerken wie niedlich er dabei aussah. Fast schon zu niedlich.

„Ich wollte nur einen Tee aufsetzen.“, antwortete ich reichlich spät, sobald ich mich wieder auf mein eigentliches Vorhaben besinnt hatte und in den Augen meines kleinen Bruders flackerte es kurz undefinierbar auf. Doch genauso schnell wie das Flackern gekommen war, war es auch wieder verschwunden und Ethan nickte leicht. Vermutlich eine Zusage für mein doch recht unspektakuläres Vorhaben. „Mach das. Ich warte hier solange.“, kam auch sogleich die Bestätigung meiner Gedanken und ich machte mich auf den Weg in die Küche.

 

 

Sobald Matthew die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ ich mich zurück in den Haufen von Plüschtieren fallen, der mein Bett seit geraumer Zeit zierte. Seit meinem Umzug hatte ich damit begonnen, Stofftiere verschiedener Form und Größe zu sammeln. Je flauschiger, desto besser.

Zu meinem Leidwesen waren Plüschtiere in keiner Weise ein Ersatz für fehlende elterliche Liebe. Matt tat sein bestes um das auszugleichen, das wusste ich und trotzdem war es manchmal einfach nicht genug. Geschwisterliebe unterschied sich nun einmal doch von der, die man normalerweise von seinen Eltern zu erwarten hatte. Nicht, das ich das Matt jemals sagen würde. Er gab sich so viel Mühe mir unsere Eltern zu ersetzen und dabei gleichzeitig seine Rolle als großer Bruder beizubehalten, dass ich es einfach nicht über mich brachte ihm zu sagen, dass seine Bemühungen sinnlos waren. Ich würde in ihm nie meine, unsere, Eltern erkennen können. Manchmal fiel es mir selbst schwer meinen Bruder in ihm zu sehen. Ein Schutzmechanismus, um mir nicht eingestehen zu müssen, dass ich ein Problem hatte. Und noch dazu kein kleines. Die Gedanken die ich ihm gegenüber hegte waren nicht mehr geschwisterlich und mit niemandem darüber reden zu können machte es nicht gerade besser. Aber mit wem hätte ich auch reden sollen? In der Schule hatte ich mich immer noch nicht wirklich in die Gemeinschaft eingefügt, meine Eltern sprachen nicht mehr mit mir, wegen ihrer Meinung nach ähnlich perversen Neigungen und Matt war der Kern des Problems.

Ich befand, dass ich vorerst genug gegrübelt hatte und machte mich ebenfalls auf den Weg in die Küche, um nach Matt zu sehen. Bereits im Flur kam mir der Geruch von frisch aufgebrühten Jasmin-Tee entgegen und ich konnte nicht umhin zu lächeln. Matt mochte diese Teesorte nicht besonders, trank sie mir zuliebe jedoch immer dann zusammen mit mir, wenn er das Gefühl hatte, dass es mir schlecht ging. Etwas, dass sich offenbar auch während der letzten beiden Jahre nicht geändert zu haben schien. Ein schönes Gefühl, angesichts dessen, dass sich momentan alles zu verändern schien.

„Hm, das riecht echt gut.“, erklärte ich, als ich vom Flur in die Küche trat und neben meinen großen Bruder trat. Dieser war gerade dabei, das Teesieb aus der Eisenkanne zu entnehmen und zu säubern. „Was ist das für ein Tee?“, fragte ich probehalber und brachte Matt damit zum Grinsen. „Als ob du das nicht schon längst wüsstest, E.“, wiederholte er meine Worte von vor über einer Woche. Dass er sich daran noch erinnern konnte. Du meine Herren!
„Stimmt.“, antwortete ich gut gelaunt und grinsend, was meinen Bruder zu einem breiten, strahlenden Lächeln verleitete. Das erste seit meinem Einzug. Trotzdem war ihm die Besorgnis noch anzusehen, denn Matt war schnell wieder zu seinem immer besorgten Gesichtsausdruckzurückgekehrt. Schade eigentlich. Dabei sah er so gut aus, wenn er lächelte. Nicht, dass ich ihm das hätte sagen können.

Andererseits …

 

 

 

 

 

 

5. Kapitel

 

 

 

 

Ich liebe dich!“

Kaum war ich damit herausgeplatzt, bereute ich es auch schon wieder. Ich merkte, wie mir das Blut in den Kopf schoss und wäre am liebsten vom Erdboden verschluckt worden. Blöd nur, dass die Chancen auf ein spontanes Erdbeben in diesen Tagen gen Null gingen. Wie sehr ich mein Leben doch manchmal hasste. Immer direkt von einer Katastrophe zur nächsten. Dabei sollte man meinen, ich hätte aus der Sache mit meinen Eltern gelernt. Im Gegensatz zu diesen schien Matt jedoch weder schockiert noch angewidert. Er wirkte lediglich nachdenklich und vielleicht ein wenig überfordert. Aber das konnte ich ihm wohl kaum verübeln.

Als er allerdings auch nach zehn Minuten noch immer nichts sagte, begann ich mir Sorgen zu machen. Ich glaubte zwar nicht, dass er mich rausschmeißen würde, hatte gleichzeitig aber auch Angst davor, dass es von nun an nicht mehr so sein würde wie vorher.

„Jetzt sag doch was, Matt. Bitte.“, flehte ich, meinen großen Bruder fixierend, doch Matt schien mich immer noch nicht wahr zu nehmen. So versunken war er in seinen Gedanken. Vorsichtig streckte ich meine Hand nach ihm aus, doch noch ehe ich ihn richtig berührt hatte, war er auch schon zurückgewichen. Diese kleine Bewegung verletzte mich mehr, als es die Worte meiner Eltern bezüglich meines Outings je hätten sein können. Es war, als ob irgendetwas in mir gebrochen wäre und ich musste mich zurückhalten nicht erneut los zu heulen.

Matt, der endlich aus seinen Gedanken hochgeschreckt war, bemerkte das nicht mal. Wenig verwunderlich angesichts dessen, das er mir nicht mal in die Augen schauen wollte. „I- ich muss nachdenken.“, war alles was er zu meinem Geständnis sagte, ehe er an mir vorbei aus der Küche rauschte. Nur wenig später hörte ich die Wohnungstür zuschlagen. Dann war ich allein. Ebenso vergessen, wie die mit Jasmin-Tee gefüllte Kanne auf dem Herd.

Jetzt, wo er weg war gab es kein Halten mehr. Die Tränen kullerten meine Wangen hinunter, tropften auf den weißen Holzboden und bildeten dort langsam kleine Seen.

Wo war Matt hin? Und was noch viel wichtiger war: wann kam er wieder? Kam er überhaupt nochmal zurück?

Wie in Trance machte ich mich auf zum Zimmer meines Bruders, denn ob er wiederkommen würde, war leicht festzustellen. In seinem Zimmer angekommen führte mein Weg vorbei an den herausgezogenen Schubladen seiner Kommode zu dem riesigen Terrarium neben dem Fenster. Es dauerte ein wenig bis ich Ashley in dem Gewirr aus kleinen Baumstümpfen, halben Kokosnüssen und aufgewühlter erde ausgemacht hatte, doch die Suche hatte sich gelohnt. Das Wissen, das er tatsächlich nur ein wenig Zeit für sich benötigte, um sich selbst klar zu werden und nicht vorhatte mich im Stich zu lassen – zumindest vorerst – beruhigte mich.

Trotzdem machte ich mir Sorgen, wo er hin verschwunden sein könnte. Unsere Eltern kamen nicht in Frage, unsere Tante wohnte zu weit weg und seine Freunde kannte ich nicht. Ich hatte also keine Möglichkeit an irgendwelche Informationen zu seinem momentanen Aufenthaltsort zu gelangen. Blieb nur noch zu warten und zu hoffe, dass Matt möglichst bald wieder auftauchte. Zumal er vermutlich ohnehin nicht allzu begeistert gewesen wäre, hätte ich alle seine Freunde durchtelefoniert, nur um herauszufinden bei welchem er sich denn nun aufhielt. Ich seufzte, ließ mich auf Matts Bett fallen und war, kaum hatte ich die Kissen berührt, auch schon vor Erschöpfung eingeschlafen. Denn auch wenn man es nicht vermutete: heulen war verdammt anstrengend. Über Matt und was das alles jetzt bedeutete, würde ich mir später Gedanken machen.

 

So eine Scheiße! Wie hatte der heutige Tag nur so aus dem Ruder laufen können? Wie hatte aus dem anfangs noch normalen Gespräch nur so ein Chaos werden können?

Ich wollte mich freuen, dass er meine Gefühle erwiderte, durfte es aber nicht. Und überhaupt: von welchen Gefühlen redete ich eigentlich?! Ethan war mein kleiner Bruder, Himmel nochmal! Da durften… nein, da konnten solche Gefühle gar nicht entstehen – zumindest nicht von meiner Seite aus. Ich konnte mich also gar nicht über sein Geständnis freuen! Ja, so war es und musste es auch sein! Ich konnte und ich sollte mich vor allem nicht freuen! Und ich würde mich auch nicht freuen! So viel war sicher!
Nachdem ich meinem inneren Konflikt vorerst beigelegt und ich mich wieder ein wenig beruhigt hatte, startete ich den Motor meines Pick-up und machte mich auf den Weg zu meinem besten Freund. Ich hatte ihm kurz zuvor eine Nachricht geschickt, dass ich auf dem Weg zu ihm war und hoffte, dass er diese gelesen hatte, ehe ich vor seiner Tür stand.

Ich hatte Glück. Travis wartete bereits vor dem Haus auf mich und hatte das Tor zur Auffahrt schon im Vorfeld geöffnet, so dass ich ungehindert direkt bis zum Vorplatz durchfahren konnte.

Ich parkte meinen Wagen irgendwo zwischen einem Mercedes und einem Jaguar,

nahm meine Sachen vom Beifahrersitz und stieg aus.

Travis hatte sich unterdessen nicht vom Fleck gerührt. Er musterte mich abwartend und blickte abwechselnd zwischen mir und der Tasche in meiner Hand hin und her.  Und auch wenn er nichts sagte, erwartete er früher oder später eine Antwort auf seine stumme Frage.

„Kann ich ein paar Tage bleiben? Nur so zwei oder drei, dann bin ich auch wieder weg, versprochen.“, fragte ich zögerlich, denn auch wenn er mein bester Freund war, so war er kein Freund von solch spontanen Aktionen. Erst recht nicht dann, wenn sie so überraschend kamen. Doch Travis nickte bloß. „Danke, Trave. Hast was gut bei mir, wirklich.“

„Mh-mh.“, war alles was ich vorerst zu hören bekam und so begnügte ich mich erst einmal mit dieser halbherzigen Antwort. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Wenn er nicht wollte, war da nichts zu machen. Er würde sich schon melden, wenn etwas war. Travis sprach nämlich im Allgemeinen nur dann, wenn er es für notwendig oder unausweichlich befand. Und das war für gewöhnlich eher selten der Fall. Zumeist dann, wenn ihm irgendjemand – bevorzugt Akito, der dritte und jüngste im Bund – auf die Nerven ging.

„Was ist denn passiert, dass du aus deiner eigenen Wohnung flüchten musstest?“ Offenbar hatte die Neugierde über seine Prinzipien gesiegt. Dabei fiel mir auf, dass ich ihm noch gar nicht von Ethan erzählt hatte…

„Können wir das nachher klären? Ich muss mir selbst erst einmal darüber klar werden, was passiert ist? Du kriegst deine Antworten, nur bitte… bitte nicht jetzt sofort.“ Es stimmte, ich war immer noch so durcheinander, dass es mir schwer fiel die Ereignisse des Tages in die richtige Reihenfolge zu bringen und erst recht würde es mir schwerfallen sie wiederzugeben. Zumindest jetzt. Travis schien das zu verstehen, denn er zuckte nur die Schultern, nickte und zeigte mir mein Quartier für die nächsten Tage, ehe er mir Zeit gab, mich zu Ordnen und einzurichten.

Ich hoffte nur, Ethan würde die nächsten Tage alleine zu Recht kommen und nicht glauben, ich hätte ihn ihm Stich gelassen, so wie unsere Eltern es ja indirekt getan hatten…

6. Kapitel

 

 

 

 

 

Zwei Tage waren bereits vergangen seit ich meine Sachen gepackt und meinen kleinen Bruder Zuhause alleine gelassen hatte. Ich war gestern zwar kurz dort gewesen, um meine Vogelspinne Ashley zu füttern und um nach meinem Bruder zu sehen, aber Ethan war nicht da gewesen. Also hatte ich ihm eine kurze Nachricht auf einen  Zettel geschrieben und zusammen mit einer Tafel seiner Lieblingsschokolade – Orange-Mandel – auf die Küchentheke gelegt. Nicht zu wissen wie es ihm momentan ging machte mich krank. Eigentlich völlig bescheuert, wenn man mal genauer drüber nachdachte, immerhin war er keine zehn mehr. Ich vermisste Ethan. Vermisste seine zumeist fröhliche Art und seine manchmal kindlich anmutende Naivität. Es war unglaublich wie sehr ich mich in den letzten zweieinhalb Monaten an ihn gewöhnt hatte. Dabei fiel mir auf, dass ich ihn wieder um mich haben wollte und auch wenn ich immer noch nicht mit seinen Gefühlen mir gegenüber umzugehen wusste, wollte ich ihn nicht länger alleine lassen. Aber ich würde mit ihm reden müssen. Ihm sagen, dass es in Ordnung war, dass er so fühlte, ich jedoch nicht das Gleiche für ihn empfand. Und selbst wenn es anders gewesen wäre, hätte ich es ihm nicht gesagt, denn ihm Hoffnungen zu machen bei etwas, das derart kompliziert und eigentlich auch unmöglich war, wäre nicht fair. Ich konnte selbst nur hoffen, dass er verstand und unser Verhältnis nicht allzu sehr darunter leiden würde, denn das er den Bezug zu mir verlor, wäre… eigentlich wollte ich mir gar nicht vorstellen was dann wäre. Ich war momentan schließlich die einzige Bezugsperson in seinem Leben und aus einem Kind ohne solche – gerade wenn es so sensibel war wie Ethan – konnte aus lange Sicht nichts werden. Zumindest meiner Ansicht nach nicht.

„Worüber zerbrichst du dir den Kopf, Matt? Doch nicht etwa wieder über die Sache mit deinem Bruder, oder? Wenn ich dir einen Rat geben darf: schick ihn zu deiner Tante. Ein wenig Abstand wird euch gut tun. Dann kann er in Ruhe darüber nachdenken wieso seine Gefühle für dich etwas denkbar Schlechtes sind.“, holte mich die Stimme meines besten Freundes wieder in die Realität zurück. Seine Worte machten mich wütend.

Ja, vielleicht waren seine Gefühle nicht ganzalltäglich und gesellschaftlich wenig bis gar nicht akzeptiert, aber Liebe – egal wohin sie fiel – konnte gar nichts schlechtes sein und nur, weil Trave das nicht sah würde ich meinen kleinen Bruder noch lange nicht wegschicken, denn das wichtigste war, das er das Gefühl vermittelt bekam, wichtig zu sein. Wenn ich ihn zu meiner Tante abschob würde das alles zeigen, aber nicht das ich für ihn da war und ihn akzeptierte so wie er war.

„Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich Ethan wegen so eine Lappalie rausschmeiße, oder? Er ist immerhin mein kleiner Bruder und ich bin für ihn verantwortlich. Er hat genug durchgemacht, als meine Eltern ihm eröffnet haben, dass sie keinen schwulen Sohn haben wollen. Du solltest selbst wissen wie das ist, immerhin hast du dich deinen gengenüber immer noch nicht geoutet. Stattdessen spielst du ihnen was vor, indem sich Tiffany als deine feste Freundin ausgibt! Dass die Arme das überhaupt noch mitmacht!“ Ich hatte mich so in Rage geredet, dass es mir schwer fiel noch objektiv an die Sache heranzugehen, aber meinen Bruder vor die Tür zu setzen, weil er anders war ging mir völlig ab und das Travis das nicht verstand ebenfalls. Da kannte ich ihn nun schon so lange und wäre nie auf die Idee gekommen, dass er fähig war so etwas überhaupt vorzuschlagen.
„Ich glaube, du solltest jetzt gehen, Matt.“, erwiderte mein bester Freund ruhig, doch mich konnte er nicht täuschen. Er brodelte innerlich und wartete nur darauf, dass ich ihn weiter provozierte, aber ich war nicht lebensmüde. Stattdessen packte ich meine Sachen zusammen und verließ das Haus. Travis folgte mir, wie um sich vergewissern, dass ich auch ja keinen Abstecher irgendwohin machte. Als ob ich das gewollte hätte.

Draußen angekommen wollte ich noch irgendetwas sagen, doch mir fiel nichts Passendes ein und so ließ ich es bleiben. Er würde sich schon wieder einkriegen und vielleicht würde er sogar über meine Worte nachdenken. Ich hoffte es, aber sicher war es nicht.

Wie schon vor zwei Tagen saß ich in meinem Wagen und überlegte was zu tun war. Nach Hause konnte ich noch nicht, denn so aufgebracht wie ich war, konnte ich Ethan nicht gegenüber treten. Das würde alles nur noch schlimmer machen. Vielleicht sollte ich einen Abstecher in die Mall machen und mal bei dem Laden von Tiffanys Eltern vorbeischneien. Wenn ich Glück hatte war sie dort und würde mit mir einen Kaffee trinken, dann könnte ich auch gleich noch eine Tafel von Ethans Lieblingsschokolade mitnehmen.

Ja, so würde ich es machen…

 

 Ich hatte gerade das letzte Stück meiner heiß geliebten Orangen-Mandel-Schokolade verputzt als ich hörte, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt und gedreht wurde. Es gab keinen Zweifel daran, um wen es sich handelte, schließlich lebten wir nur zu zweit in dieser Wohnung und einen dritten Schlüssel gab es meines Wissens nach nicht. Der Gedanke daran meinen großen Bruder endlich wieder zu sehen begann mein Herz schneller zu schlagen. Ich war so aufgeregt wie zum letzten Mal vor meinem Coming-Out und wirklich neugierig. Gleichzeitig hatte ich aber auch Angst, dass es nun endgültig kippte. Was Matt wohl sagen würde? Nur Gutes, hoffte ich.

„Ich bin wieder da!“, ertönte Matthews Stimme aus dem Flur und ich konnte nicht umhin leicht genervt die Augen zu verdrehen. Als wenn ich das nicht schon längst mitbekommen hätte. Also wirklich!
„Ethan? E? Bist du da?“

„Natürlich bin ich da. Wo soll ich denn bitte sonst sein, um diese Uhrzeit?“, gab ich fast schon ein wenig pampig zurück, denn meine Aufregung ließ mich ungewohnt gereizt werden. Das musste wohl auch meinem Bruder aufgefallen sein, denn sofort steckte er den Kopf zur Wohnzimmertür herein und musterte mich besorgt. „Ist alles okay? War irgendetwas in der Schule? Oder hier? Bist du zurechtgekommen?“ Fragen über Fragen und eine besorgter gestellt als die andere. „Es ist alles okay, Matt. Ich bin gut zurechtgekommen.“ Bis jetzt jedenfalls, aber lange hätte ich das alleine nicht mehr ausgehalten. Ich war einfach nicht für die Einsamkeit geschaffen und wie Matt es all die Monate vor meinem Einzug alleine ausgehalten hatte, war mir ein Rätsel. Vielleicht einfach mal nachfragen? Ne..
„Wie kommt es, dass du wieder da bist?“ Oops, das war vielleicht ein bisschen harsch gewesen. Aber was glaubte er denn? Dass er nach zwei Tagen „Denkpause“ hier auflaufen konnte und alles war wie vorher? Das er mir nicht einmal sagen brauchte, wie er sich entschieden hatte?
„Du bist sauer auf mich.“ Es war eine Feststellung, keine Frage. Seine eisblauen Augen musterten mich aufmerksam, als versuchte er so herauszufinden, was nicht stimmte. „Ist es, weil ich gegangen bin? Weil ich dir nicht sofort eine Antwort auf deine stumme Frage gegeben habe?“, fuhr er fort, ohne dabei seine Emotionen preiszugeben.

Ich hasste, wenn er das tat. Meist ein sicheres Zeichen dafür, dass auch er aufgewühlt und unsicher war. Und wer würde mir dann meine Unsicherheit nehmen, wenn er es nicht konnte? Viele Möglichkeiten gab es schließlich nicht.

„Es tut mir leid, Matt. Ich bin nicht sauer nur aufgeregt und neugierig.“ Ich versuchte ein Lächeln, das jedoch sofort erstarb, als ich seinen Gesichtsausdruck sah. „W-was ist los?“

„Es tut mir leid dich enttäuschen zu müssen, E. Ich finde es gut, dass du mir deine Gefühle mitgeteilt hast und es ist auch nichts Schlimmes dabei, aber…“
„Aber du erwiderst meine Gefühle nicht.“, vollendete ich seinen Satz und hatte das Gefühl als wäre erneut etwas in mir gebrochen. Jetzt war es an mir, mir Zeit zum Nachdenken zu nehmen. Und zwar am besten, bevor ich irgendetwas sagte, was ich nachher noch bereuen würde. „Entschuldige mich…“ Noch ehe Matt überhaupt reagieren konnte war ich aus dem Zimmer verschwunden und hatte mich in mein eigenes zurückgezogen. Dass mein großer Bruder drüben im Wohnzimmer am Fluchen war, bekam ich schon gar nicht mehr wirklich mit und selbst wenn es anders gewesen wäre hätte es mich wenig interessiert. Ich war verletzt und wütend. Verletzt, weil er meine Gefühle nicht erwiderte, obwohl es manchmal ganz anders wirkte und wütend, weil er es mir unheimlich schwer machte wirklich sauer auf ihn zu sein. Wenn er doch wenigstens so reagiert hätte wie unsere Eltern. Aber nein, er musste ja einen auf verständnisvoll machen. Zum Teufel mit seinem Verantwortungsgefühl! Zum Teufel mit ihm!

7. Kapitel

 

 

 

 

 

Ich musste Ethan wirklich verletzt haben, denn es dauerte eine geschlagene Woche bis er sein Zimmer wieder in meiner Anwesenheit verließ. Allerdings hatte er noch nicht wieder angefangen mit mir zu reden. Er verhielt sich wie ein Kind, dem man sein Spielzeug weggenommen hatte und auch wenn ich fand, dass er zu alt dafür war konnte ich ihn irgendwo verstehen. Es stimmte mich traurig feststellen zu müssen, dass wir schon nach nicht einmal drei Monaten an den Punkt gelangt waren, an dem wir nicht mehr miteinander redeten und es nur schwer miteinander aushielten und das, obwohl wir sonst immer so blendend miteinander ausgekommen waren. Vielleicht war es aber auch einfach naiv gewesen zu glauben, dass mit seinem Einzug, dass Verhältnis von vor meinem Auszug wieder einkehren würde. Ethan war groß geworden und viel selbstständiger als früher. Er brauchte meine Hilfe nicht mehr immer und überall. Das einzusehen war schwer, aber notwendig. Ich musste endlich damit anfangen ihm wirklich auf Augenhöhe zu begegnen statt immer nur so zu tun als ob und vielleicht würde sich das Ganze dann wieder einrenken. Nicht das ich wirklich daran glaubte, aber einen Versuch war es auf jeden Fall wert. Und sei es nur, um Ethan zu zeigen, dass er mir durchaus nicht egal war, wie es ihm ging und was mit ihm passierte. Leider erwies sich das schwieriger als gedacht, denn mein kleiner Bruder mied mich wie die Pest und hielt es nie länger als ein paar Minuten mit mir im selben Raum aus. Es war zum Schreien und doch hatte ich das Gefühl, dass alles besser war, als wenn er sich weiter verkroch. Die Frage war nur: wie erklärte man das einem pubertierenden Jungen, der alles lieber tat, als sich mit einem selbst zu unterhalten?

Wie so oft die letzten Tage, saß ich auf einem der Barhocker in unserer Küche und überlegte, was zu tun war. Diese Ignoranz mir gegenüber konnte ich nicht länger dulden wenn ich wollte, dass unsere geschwisterliche Beziehung zueinander noch eine Chance erhielt. Nicht zerbrach. Es würde mit Sicherheit ein hartes Stück Arbeit werden, aber einen Versuch war es dennoch wert.

„Sitzt du immer noch hier?“ Es war unerwartet und vermutlich auch der Grund dafür warum ich nicht sofort reagierte. Ethan hier und zu mir sprechend. Ein Wunder musste geschehen sein. „Wieso immer noch?“, fragte ich leise, nachdem ich mich einigermaßen gefangen hatte, wagte nicht ihn anzusehen, aus Sorge er könnte gleich wieder verschwinden. „Na hör mal, wir haben ein Uhr in der Nacht und morgen ist Mittwoch. Also noch mitten in der Woche. Du musst zur Schule.“ Er machte sich Sorgen. Um mich. Mein Herz begann unkontrolliert auf und ab zu hüpfen so sehr freute ich mich. „Wenn das so ist, wieso bist du dann noch nicht im Bett?“, versuchte ich mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen und es schien zu funktionieren. Sofort lief mein kleiner Bruder rot an und begann herumzudrucksen. „I-ich… so ist das nicht… also… weißt du…“

„Was hast du gemacht?“, fragte ich vorsichtig, bedacht nicht allzu resigniert zu klingen, um ihm auf die Sprünge zu helfen. „N-nichts, wirklich. Lediglich mit einem Klassenkameraden telefoniert, um auszumachen wann wir das Referat machen wollen.“
„Referat? Davon hast du mir noch gar nichts erzählt.“ Erklärte allerdings, wieso ich ihn permanent reden hörte, ohne, dass Besuch da war. Und ich hatte schon gedacht, er würde merkwürdig. Erleichterung machte sich breit.

„Naja, unser Verhältnis ist ja momentan nun nicht unbedingt das Beste…“

„Das ist ja wohl kaum meine Schuld. Oder verstecke ich mich seit einer Woche in meinem Zimmer?“ Die Worte waren mir herausgerutscht bevor ich wirklich darüber nachgedacht hatte, doch es tat mir sofort leid. Er konnte immerhin auch nichts für seine Gefühle und das er verletzt war, konnte ich ihm ja wohl kaum verübeln.

Oder?

 

Diese Kälte in der Stimme. Nicht beabsichtigt, da war ich mir sicher, aber doch so offensichtlich, dass es wehtat. Wirklich und wahrhaftig. Mit einem einzigen Satz hatte Matt es geschafft mich daran zu erinnern, wieso ich mich die ganze Woche über lieber verkrochen hatte, als mit ihm zu reden. Nicht, dass ich es ihm verübeln konnte. Er machte sich ja auch nur Sorgen um mich und wollte, dass es mir gut ging. Andernfalls hätte er mich wohl kaum zu sich geholt. Für ihn war es sicherlich auch nicht einfach mit einem Mal einen pubertierenden Teenager im Haus zu haben und ich war ihm über alle Maßen dankbar, doch ich konnte nicht sagen wie es weitergehen sollte, denn eines war klar: Meine Gefühle würden sich nicht auf einmal in Luft auflösen. Wenn Matt also keine Möglichkeit fand damit umzugehen, würde ich mich wohl oder übel nach einem neuen Schlafplatz umschauen müssen. Und das war wahrlich das letzte was ich wollte.
„Ist alles okay? Es tut mir leid, E. Ich hab nicht über das nachgedacht was ich gesagt habe. Du weißt, das ich das nicht so meine.“, riss mich die Stimme meines älteren Bruders aus den Gedanken und natürlich wusste ich das. Das änderte jedoch nichts daran, dass es mich verletzte.

Ich hob den Kopf, den ich nahezu das gesamte Gespräch über gesenkt gehalten hatte und begegnete dem besorgten Blick Matthews. Zum ersten Mal seit ich hier war, wirkten seine Augen nicht mehr so kalt, eher sanft, fast zärtlich. Ein ungewohnter Anblick und einer, der mein Herz augenblicklich höher schlagen ließ. Sofort bereute ich mein Zimmer verlassen zu haben, schließlich hatte ich gewusst das Matt in der Küche war. Aber ich hatte ihn dermaßen vermisst, dass ich schwach geworden war. Ein Fehler wie ich nun bemerkte, denn wenn ich wollte, dass meine Gefühle für ihn nicht außer Kontrolle gerieten, musste ich Abstand halten. Egal, wie sehr es mir auch missfallen mochte. Es war das Beste. Für uns beide.

Ich drehte mich um und machte Anstalten die Küche zu verlassen, als mein Bruder mich am Arm packte. „Hey, Kleiner. Nicht wieder weglaufen. Lass uns darüber reden, bitte E. So kann es nicht weitergehen. Willst du dich auf ewig in deinem Zimmer verbarrikadieren?“ Er bemühte sich ruhig zu sprechen, aber mir entging das leichte Zittern seiner Stimme nicht. Dafür kannte ich ihn zu gut. Das Ganze schien ihn wirklich mitzunehmen und mit einem Mal tat er mir leid. Ich hatte die Ganze letzte Woche über nur an mich gedacht. An meine Gefühle. An meinen verletzten Stolz. Und an mein verkorkstes Leben. Doch kein einziges Mal war mir in den Sinn gekommen, dass es ihm eventuell genauso gehen könnte. Aber so wie er hier vor mir stand, die Hände wieder in den Hosentaschen vergraben, die Haare zerzaust vom häufigen hindurchfahren mit den Händen und mit dem Fuß scharend war der Gedanke, dass ihm das alles ebenfalls nah ging auf einmal gar nicht mehr so abwegig.

„Es tut mir leid. Ich habe nicht daran gedacht, dass es dir ebenfalls etwas ausmachen könnte. Ich dachte…“ Ich brach mitten im Satz ab, nicht fähig meinen Gedanken weiterzuführen. Schuldbewusst blickte ich meinen Bruder an, dessen Augen noch immer auf mir ruhten. Es schien als wartete er auf etwas. „Naja, ich dachte…“, begann ich von neuem. „Du dachtest ich bin froh dich nicht sehen zu müssen.“ Es war keine Frage. Nur eine einfache Feststellung. Kein Vorwurf. Nichts.

Trotzdem entging mir der verletzte Ausdruck in seinen Augen nicht. Selten hatte ich ihn dermaßen aufgewühlt gesehen. Das letzte Mal zu dem Zeitpunkt, als er sich endgültig mit unserem Vater überworfen hatte und ausgezogen war.
„Es tut mir leid, Matt. Ich hätte nicht so egoistisch sein dürfen. Ich hab einfach nicht nachgedacht. Natürlich war es unsinnig von mir zu glauben, du würdest…“ Ich stockte, nicht sicher, ob ich meinen Gedanken zu Ende führen sollte. „Zu glauben du würdest dich abwenden, war falsch, das weiß ich. Aber ich konnte einfach nicht anders… Verzeihst du mir?“

Impressum

Texte: L. C. Mondry
Bildmaterialien: Tumblr
Tag der Veröffentlichung: 04.08.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für einen sehr interessanten Menschen, den ich einmal kennen lernen durfte und dessen eigene Geschichte mich zu eben dieser inspiriert hat.

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