Cover

Auftakt

Es schneite. Die ganze Umgebung war in einem tiefen Mantel aus weißem Stoff gehüllt und die Luft, die darüber strich, war so kalt, dass ihr Atem kondensierte. Es war wie feiner Nebel, der vor ihrem Gesicht aufstieg und von einer Brise weggetragen wurde. Nur wenige Augenblicke später verblasste der Nebel und war eins mit der Luft. Eins mit dem Winter, der das Land im festen Griff hatte.

Die Gestalt zog ihrem Umhang fester um sich, setzte einen Schritt nach dem anderen nach vorne und suchte sich den Weg durch die zerklüfteten Spalten, die das Gebirge Thrikleon durchzogen. Finsternis herrschte, denn die Nacht war fortgeschritten und selbst der Mond, der schwach zwischen Wolken hervorschaute, war nicht imstande die Umgebung zu erhellen. Doch dies war nicht notwendig, denn sie kannte den Weg. Sie hatte ihn in den letzten Jahrhunderten unzählige Male beschritten. Wieder und wieder, in der Hoffnung, dass es nicht mehr lange dauern würde und sie würde den Weg ein allerletztes Mal beschreiten. Bisher war ihr Wunsch unerfüllt geblieben.

An der Stelle, wo drei Schluchten aufeinandertrafen, hielt sie inne und schob die Kapuze von ihrem Gesicht. Die ersten Schneeflocken, die auf ihr schwarzes kurzes Haar trafen, waren nur kurz zu sehen, ehe sie schmolzen und Nässe hinterließen. Doch je mehr Flocken die Schwärze bedeckten, desto weißer wurden die Haare und Schnee sammelte sich dort an.

Mit der Hand, die schon die Kapuze bewegt hatte und welche mit weichem gefütterten Leder bedeckt war, zeichnete sie ein Symbol in der Luft und diese begann zu flackern. Stränge, welche nur von Frauen mit besonderen Gaben gesehen werden konnten, erschienen. Die Stränge, es schien als würden sie in der Luft schweben, pulsierten dunkel und in regelmäßigen Abständen. Die Gestalt ergriff einen Strang und zog an ihm.

Durch das Gleichgewicht, das die Welt zusammenhielt, ging ein harter Ruck und die Umgebung schien für einen Moment stillzustehen. Einige Meter vor der Gestalt, direkt an der Wand einer Schlucht, waberte die Luft. Wurde unstetig und nahm einen gräulichen Ton an. Als die Luft sich wieder beruhigte, war aus den Ton ein Eingang geworden, der in das Gestein führte.

Mit einem letzten Blick zum Firmament, wo der Mond von einer Wolke verdeckt wurde, trat die Gestalt in den Eingang.

Drinnen war es warm. So warm, dass sie den Schal, der um ihre untere Hälfte des Gesichtes gelegt war, beiseiteschob. Sie trat an eine Fackel, die dort brannte und Licht spendete. Das Licht erhellte das Gesicht einer Frau, deren schwarze Haare durch den Schnee erst weiß waren und dann immer nasser wurden. Sie hatte grünliche Augen und in ihnen war großes Wissen zu erkennen. Diese Frau war älter als manch einer glauben würde, wenn er sie sah. Sie nahm die Fackel und ging tiefer in den Gang, der sich am Eingang anschloss.

Sie musste lange gehen und auch wenn es keine Möglichkeit gab, die Zeit hier zu messen, wusste sie genau, wie viel Zeit verging. Irgendwann erreichte sie eine Höhle. Es war eine große Höhle, in der man Statuen erkennen konnte. Es waren Kriegerinnen, die ihr Gesicht in die Mitte des Raumes gerichtet hatten. In der Mitte selber befand sich auf einem kleinen Podest eine Statue einer Frau. Sie war in einer hockenden Stellung, hatte in ihrer Hand eine Hellebarde und die andere freie Hand auf dem Boden gepresst. Von der Stelle aus waren solche Stränge zu erkennen, die auch draußen in der Schlucht zu sehen waren.

Die Frau trat an die Statue und hockte sich hin. In ihren Augen lag ein sanfter Ausdruck und sie strich über die Wange der Figur.

„Nicht mehr lange, meine Freundin“, flüsterte sie und ihre Stimme zitterte leicht. „Nicht mehr lange und du wirst erlöst werden. Dann wird alles wieder gut werden. Dann wirst du die Bürde abstreifen können. Meine Freundin, meine Zeyren, meine Vajrèna!“

 

Prolog

Brennendes Schlachtfeld

 

 

Feuer? Ich bin Feuer. Ich kann es in mir spüren, und wenn ich es nicht unterdrücke, dann wird es alles um uns herum verschlingen. Du sollest froh sein, dass meine Beherrschung so gut ist, Seranin!

Akara Sorhain,

Lohe,

Sommer im Jahre 2587

 

 

Der Geruch von brennendem Holz lag in der Luft.

Seranin schloss die Augen und ließ das Gefühl der Hitze durch sich strömen. Sie liebte es, umarmte die Wärme und war eins mit ihr. Sie suchte ihre innere Flamme, sah wie sie flackerte, und wusste, dass sie nicht mehr lange durchhalten würde. Ihr Gesicht verzog sich grimmig und kurzzeitig flammte ihr Feuer auf. Wurde größer, leuchtender; und neue Kraft durchfuhr sie.

Plötzlich schwang ein zweiter Duft in den Winden mit und störte die Konzentration von Seranin. Ihr inneres Feuer flackerte, wurde unstetig und mit einem leisen Stöhnen verlor die Frau die Kontrolle. Sie spürte, wie ihre Kraft sie schneller verließ und ein Zittern befiel sie. Nein! Ich muss mich konzentrieren! Innerlich zwang sie sich zur Ruhe und konzentrierte sich auf die Wärme, die sie umgab. Sie fühlte die Hitze in der Luft, die Flammen auf dem Boden und das Inferno tief in der Erde. Seranin griff mit ihrem inneren Gleichgewicht nach den Strängen des Feuers, die sie umgaben und verband sich mit ihnen. Ihre eigenen Feuerstränge wurden stärker, neue Kraft erfüllte sie und ihr inneres Feuer flammte wieder auf. Dieses Mal noch stärker und greller.

Mit erstarktem Gefühl öffnete Seranin die Augen und sah sich um.

Um ihr herum tobte eine Schlacht. Sie sah Kameraden verzweifelt kämpfen, spürte, wie die Stränge des Feuers genutzt wurden, und sah eine Lohe in der Nähe in die Knie gehen. Über ihr ragte ein Schatten, der seine klauenbesetzte rechte Hand zum Schlag ausholte und niedersausen ließ.

Seranin handelte, ohne nachzudenken. Sie ergriff einen Feuerstrang und ließ ihn in Richtung des Schattens rasen. Eine Feuerwelle erschien vor ihr und raste durch die Luft direkt auf dem Gegner zu. Dieser schrie auf, als seine erhobene Klaue von seinem Körper mit einem Zischen getrennt wurde. Wieder stieß Seranin einen Strang von sich, welcher dieses Mal durch den Kopf des Schattens ging und das Wesen sich lautlos in Luft auflöste.

Thia Ilenya! Ist alles in Ordnung bei dir“, rief Seranin und war in wenigen Herzschlägen neben dem Mädchen, das in die Knie gegangen war und auf die Stelle ungläubig starrte, wo sich vorher der Dämon befunden hatte.

Ilenya sah Seranin an, die ihr gerade das Leben gerettet hatte und nickte. Seranin erkannte, dass der Schock immer noch in ihren Augen stand und sie zitterte. Sie konnte erkennen, dass Ilenya eine eisige Kälte ergriff, und legte einen Arm beruhigend um ihre Schulter. Seranin wusste, dass Ilenya keine mächtige Feuerwächterin war und nur unter großen Anstrengungen die Kräfte des Gleichgewichtes benutzen konnte. In einer normalen Situation würde die Lohe nicht in einem richtigen Kampf teilnehmen, denn dazu hatte sie und auch Seranin selber noch nicht die richtige Stufe ihrer Ausbildung erreicht. Doch darauf konnte jetzt jedoch keine Rücksicht genommen werden.

Früh am Morgen war eine kleine Gruppe von zukünftigen Feuerwächterinnen aufgebrochen, um an einem erloschenen Vulkan zu üben. Auch Seranin war darunter gewesen und hatte sich auf den Tag gefreut. Das Wetter war schön gewesen, die Laune der beiden Lehrer gut und es versprach ein produktivreicher Tag zu werden. Dann, ohne Vorwarnung, war ein Riss entstanden und unzählige Schatten fielen über die Gruppe her. Chaos brach aus und die zwei Feuerwächterinnen haben sich sofort den Feind entgegen gestellt, doch sie waren nicht genug gewesen, um Herr über diese Situation zu werden, sodass auch die Schüler mithelfen mussten. Unter anderen auch Ilenya, die kaum wirken konnte und auch Seranin, die sich ohne zu zögern sich den Kampf gestellt hatte. Eine Nachricht war nach Sardenthal geschickt worden, doch die erhoffte Unterstützung bis jetzt noch nicht eingetroffen.

Seranin, die mit einem Blick erkannte, dass Ilenya heute nicht mehr in der Lage war, im Gleichgewicht zu wirken, zog ihre Mitschülerin auf die Beine, um sie in Sicherheit zu bringen.

Wo bleibt die Verstärkung? Wo bleibt Akara!

Wut durchströmte Seranin und sie musste schlucken, um nicht wieder die Kontrolle über das Feuer zu verlieren. Es war geplant gewesen, dass Akara auch zum Unterricht mitkommen sollte, doch so wie immer, war sie nicht erschien und nun hatten sie die Probleme. Mit Akara wäre der Schattenabwehr kein Problem gewesen. Dies sich eingestehen zu müssen, machte Seranin noch wütender. Ihre innere Flamme loderte heller auf.

Sie drücke Ilenya einer anderen Lohe in die Hände, welche diese zu einer Gruppe von Lohen brachte, die heute nicht mehr mit dem Feuer wirken konnten. Seranin erkannte, dass es schon zehn waren und mit ihr selber waren nur noch sechs Lohen aktiv. Fünf davon standen im Halbkreis um ihre erschöpften Mitschülerinnen und versuchten sie zu schützen. Seranin wandte ihren Blick von ihnen ab und sah sich auf dem Plateau um. Sie war wütend und diese Wut nährte ihre innere Flamme. Doch ihr war klar, dass dies nicht ewig anhalten würde. Irgendwann würde ihr inneres Feuer erlöschen und dann würden große Konsequenzen entstehen.

Hoffentlich kommt bald Hilfe!

 

Eine Klaue, die Dämpfe ausströmte, strich so knapp an Fairene vorbei, dass sie einen Lufthauch verspürte und sich automatisch zurückfallen ließ. Sie kam hart auf dem Boden auf, verzog das Gesicht und rollte sich zur Seite, ehe die besagte Klaue sie berühren konnte. Der Schatten vor ihr heulte wütend auf und wollte ihr nachsetzen, als er plötzlich innehielt. Seine Fratze verzog sich ungläubig und dann trat Feuer aus seiner Brust hervor. Ohne ein weiteres Geräusch löste sich der Schatten auf und seine Dämpfe verflogen.

Vria Fairene! Du musst besser aufpassen“, sagte die Frau, die hinter den Schatten gestanden hatte und leicht außer Atem war. Ihr Gesicht war schweißüberströmt, doch sie lächelte als hätte sie einen Witz gesagt, den nur sie verstand.

Fairene nickte. Sie wusste, dass sie achtsamer sein musste, denn es ging hier nicht nur um ihr Leben, sondern auch um die ihrer Schülerinnen. Sie ergriff die dargebotene Hand der anderen Frau und zog sich hoch, ehe sie ihren Blick durch die Umgebung schweifen ließ. Ihr Herz wurde schwer und ihre Augen ernst.

Um sie herum versuchten ihre Schülerinnen sich gegen die Schatten zu behaupten, doch es war zu erkennen, dass sie den Kampf verlieren würden. Die Kinder waren fast alle am Ende ihrer Kräfte und auch wenn diese es zu zweit oder zu dritt schafften einen Schatten niederzuwerfen, nahmen die Massen der Feinde kein Ende. Ein paar Mädchen hatten sich in Schutze zweier Felsen zurückgezogen und wurden von anderen verteidigt, die in einen Halbkreis schützend davor standen. Doch auch diese sahen erschöpft aus.

Mit einem grimmigen Blick visierte Fairene die zwei Schatten, die den Halbkreis am nächsten waren, und ließ eine Feuerwelle auf diese los. Die Kreaturen gingen in Flammen auf und ließen von den Mädchen ab. Sie wollten die Flammen löschen, doch ehe sie es versahen, blieb nur noch Asche von ihnen übrig.

»Verdammt«, flüsterte Fairene, als sie spürte, wie eine eisige Kälte in ihr hochkroch. Sie warf einen Blick zu der anderen Frau, welche gerade einen Schatten köpfte. »Vria Theha! Wir werden nicht mehr lange durchhalten.« Sie zeigte zu der Gruppe zwischen den Felsen. »Die Lohen sind zum größten Teil erschöpft und nur noch sehr wenige haben die Kraft sich weiterhin den Schatten zu stellen.« Sie stockte kurz, als sie erkannte, wie ein Mädchen drei Schatten auf einmal erledigte, und fuhr dann fort. »Abgesehen von Lohe Seranin sind die anderen nicht mehr lange in der Lage sich zu verteidigen!«

Theha schnaubte. »Was sagt du mir das, Fairene! Ich kann dies auch nicht ändern. Nachricht wurde schon nach Sardenthal geschickt ... wir können nichts anderes als durchhalten.« Plötzlich verzog sich ihr Gesicht vor Zorn. »Wenn ich die Lohe in die Hände kriege, wird sie sich wünschen, nie auch nur einen Fuß nach Sardenthal gesetzt zu haben! Wieso muss sie ausgerechnet heute den Unterricht schwänzen!«

Fairene schloss die Augen. Sie wusste, wen ihre Freundin meinte und musste ihr innerlich recht geben. Auch sie hatte diesen Gedanken schon gehabt.

Plötzlich ertönte ein lautes Fauchen und Fairene riss erschrocken die Augen auf. Sie sah in den Himmel und ihr Mund wurde trocken. Kurzzeitig durchschoss sie Panik. Nein! Das darf nicht sein! Sie wankte und für einen Augenblick flackerte ihre innere Flamme, während sie den geflügelten Schatten hoch über sich anstarrte. Dieser hatte das Maul weit aufgerissen und war im Begriff in einen Stürzflug auf die Gruppe der Schülerinnen zu stürzten, die sich immer noch zwischen den Felsen befanden und dort Schutz suchten.

Fairene versuchte krampfhaft die Kälte in ihr zu ignorieren und die Feuerstränge, um ihr herum zu ergreifen, doch kaum hatte sie einen Strang erwischt, entfloh er ihr wieder.

»Nein!«

Theha sah sie fragend an, ehe sie Fairenes Blick folgte und die Situation erkannte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch in den Moment schrie der geflügelte Schatten auf und raste auf dem Boden zu.

 

Als ein betäubender Schrei an Seranins Ohren drang, stockte ihr kurzzeitig das Herz. Sie konnte sich plötzlich nicht mehr bewegen und fragte sich, was dies bedeutete. Sie wollte sich rühren, wollte ihre Freunde zur Hilfe eilen, doch sie konnte es nicht. Verwirrung und Wut machten sich in ihr breit. Lag es daran, dass sie ihr inneres Feuer kaum noch loderte, oder lag es an den Schrei, der sie bewegungsunfähig machte. Sie wollte schreien, doch selbst dies sollte ihr nicht gelingen. Hilflos sah sie, wie der Schatten sich zu Boden stürzte.

 

Ilenya blickte auf, als sie einen unmenschlichen Schrei vernahm und ihr Blut gefror. Plötzlich hörte sie ihren eigenen Herzschlag viel lauter als sonst, und die Welt schien zu erstarren. Dann schrie plötzlich ein Mädchen neben ihr auf und alle anderen in der Nähe fielen in den Schrei ein. Ilenya merkte nicht, dass auch sie schrie. Sie sah den Schatten immer näher kommen und als sein Gestank stark in ihre Nase stieg, schloss sie die Augen. Zitternd, und voller Herzklopfen wartete sie auf ihr Ende.

Eine gewaltige Hitze erschien aus dem Nichts und ließ die Luft wabern. Die Luft schien Ilenya zu erdrücken und ungläubig öffnete sie die Augen, da das ihr erwartete Ende nicht erschien. Sie riss die Augen auf und starrte auf die lodernde Feuerwand, die sich vor ihr und den anderen Mädchen erhoben hatte.

 

Fairene, die dachte, dass sie versagt hatte, weil sie nicht ihre Schützlinge beschützen konnte, spürte die Veränderung in den Feuersträngen, ehe die Flammen aus dem Boden schossen und einen schützenden Kreis um die Mädchen zog. Der geflügelte Schatten schrie überrascht, aber auch zornig auf und schaffte es gerade so, seine Flügel so zu richten, dass er wieder an Höhe gewann und so den Flammen entkam. Die Feuerwächterin sah kurz zu den Schatten und dann zu den Flammen. Inmitten diesen hockte eine Gestalt, die die rechte Hand auf dem Boden gepresst hatte. Aus dieser schien die Stärke in den Feuersträngen zu fließen.

Endlich!

Erleichterung durchfuhr Fairene und sie sah, dass es Theha ebenfalls so erging. Beide Frauen sahen sowohl erfreut, als auch ehrfurchtvoll auf die Flammen.

 

Als Seranin die Flammen sah, kämpften die verschiedensten Gefühle tief in ihr. Zum einen war sie erleichtert, denn nun würden ihre Kameraden in Sicherheit sein, doch zum anderen gab es den Neid. Neid und Eifersucht auf die Person, die in den Flammen kniete und das Feuer um sich herum mit Kraft speiste. Seranin kniff die Augen zusammen und sah dann zu den geflügelten Schatten, der über den Flammen seine Runden drehte. So, als würde er überlegen, was er am besten machen sollte.

 

Das Feuer streichelte ihre Haut, liebkoste sie und erfüllte sie mit unbändiger Kraft. Sie spürte die Flammen um sich herum und nährte sie. Sie befand sich nicht nur in den Flammen, nein, sie war die Flamme. Sie führte jeden einzelnen Funken, jeden Feuerstrang, der sich über das Plateau zog, und gab ihn Kraft. Sowohl die, die tief in der Erde lagen, die, die sich in der Luft befanden und die Stränge, die in dem Gleichgewicht ihrer Kameraden pulsierten.

Akara Sorhain öffnete die Augen, und während sie ihren Mitschülerinnen die Kräfte des Feuers in ihnen stärkte, fixierten ihre Augen den Schatten, der hoch über sie flog. Wut durchströmte sie. Ungebändigte Wut, die ihr inneres Feuer noch hoher lodern ließ und die Flammen um ihr herum strahlender wurden. Niemand verletzte ihre Freunde und kommt dann ungeschoren davon.

Das Mädchen in den Flammen richtete sich auf, Funken der umgebenden Flammen fielen in ihr rötliches Haar, doch dies schien sie nicht zu stören. Das Feuer gehorchte ihr. Sie war eins mit ihm und wusste, dass es ihr nicht schaden würde. Akara ließ ihren Blick von den geflügelten Schatten zu den Schatten auf den Boden wandern, die verwirrt dastanden und sie anstarrten. Niemand kämpfte mehr und alle Anwesenden nutzen die Pause, um sich entweder in Sicherheit zu bringen, oder den Gegner, den sie gerade vor sich hatten, zu erschlagen. Akara erkannte zwei ihrer Lehrerinnen und seufzte innerlich. Sie wusste, dass es ein Donnerwetter geben würde, wenn dies hier vorbei war. Dann sah sie ihre Mitschülerin Seranin. Seranin, die sie mit einer Mischung aus Respekt und Wut anblickte. Dieses Mal seufzte Akara laut. Der Tadel von Seranin würde noch nervender sein, als der von Saja Rae`Vashà Fairene und Saja Rae`Vashà Theha.

Akara schüttelte kurz den Kopf, um ihre Gedanken frei zu bekommen und hob beschrieb dann mit ihrem Arm einen Halbkreis vor ihrem Körper. Als hätte sie dadurch eine Stoßwelle verursacht, rasten Flammen von ihr weg und über das Plateau. Jeder Schatten, der in deren Bahnen stand, ging in Flammen auf. Den Mädchen und beiden Frauen jedoch geschah nichts. Bei ihnen ging das Feuer durch und hinterließ keinen Schaden. Im Gegenteil, das Feuer stärkte sie.

Als die Flammen das Ende des Plateaus erreichten, lösten sie sich in Luft auf und jeder Schatten, der sich gerade eben noch dort befunden hatte, war zerstört. Zurück blieb nur der Gestank von verbranntem Fleisch und Hitze.

Der geflügelte Schatten hoch über ihnen, stieß einen lauten Schrei aus, sodass Akara ihn wieder betrachtete. In ihren Inneren brodelte es wieder auf. Dieser Feind war gefährlicher, denn er konnte fliegen und war nicht an dem Boden gebunden. Das Mädchen ließ das Feuer um ihr herum zu einer einzelnen Flamme zusammenlaufen und sah dann konzentriert zu den Schatten hin. Sie trat an die Flamme heran, streckte ihren Arm hinein und riss ihn dann den Himmel entgegen. Die Feuerstränge, die sie mit der Hand ergriffen hatte, wurden in die Luft geschleudert und plötzlich stand das Firmament in Flammen. Der Schatten schrie gepeinigt auf. Er begann mit einem Sturzflug und hielt genau auf Akara zu.

Ein leichtes Lächeln umspielte die Lippen des Mädchens. Sie ging in die Knie, als sie plötzlich eine Störung im Gleichgewicht vernahm. Stirnrunzelnd sah sie sich um, doch sie konnte keinen anderen Schatten erkennen. Verwirrung machte sich in Akara breit.

 

Als Seranin erkannte, dass Akara innehielt, obwohl der geflügelte Schatten direkt auf sie zukam und somit ein leichtes Ziel für sie war, fragte sie sich, was nicht stimmte. Sie kannte Akara und wusste, dass diese nicht einfach so eine günstige Gelegenheit verstreichen lassen würde. Dann jedoch verspürte sie auch die Veränderung und sie riss die Augen auf.

Der Boden bebte und einen Herzschlag später, schoss ein wurmartiger Schatten mit weit aufgerissenem Maul aus der Erde. Genau dort, wo gerade Akara gestanden hatte.

Fassungslos starrte Seranin den Wurm an, während ihre Gedanken noch versuchten nachzuvollziehen, was gerade passiert war.

»Akara!«

Es war Ilenyas Stimme, die Seranin deutlich machte, dass dies gerade wirklich passiert war. Befremdlich und auch ängstlich starrte das Mädchen auf dem Wurm. Dem Wurm, der gerade eine ihrer Mitschülerinnen verschluckt hatte.

Der Schattenwurm war riesig und auf seiner Haut funkelten Schuppen, die deutlich machten, dass diese hart und schwer durchdringbar waren. Verzweiflung kam in Seranin auf und als der geflügelte Schatten heulte wieder auf, und als er einen erneuten Angriff auf die Mädchengruppe startete, schrien diese panisch auf.

»Seranin«, ertönte die Stimme von ihrer Meisterin Fairene und das Mädchen wandte ihr bleiches Gesicht zu der Frau. Diese zeigte nach oben. Dorthin, wo der Himmel immer noch in Flammen stand.

Fragend sah Seranin dorthin und brauchte einige Sekunden, ehe sie feststellte, dass das Feuer dort immer noch hell loderte. Es war nicht schwächer geworden.

In dem Moment, als Erleichterung durch das Mädchen vor, begann der Wurm wild zu zucken. Er wand sich und fiel der Länge nach auf dem Boden. Seranin und Theha mussten zur Seite springen, um nicht erdrückt zu werden. Dann schienen die Schuppen zu leuchten, so als würde von innen her die Lichtquelle kommen. Ein markterschütternder Schrei hallte über das Plateau. An einer Stelle zersprangen die Schuppen und einen Herzschlag später drang von dort aus ein Feuerstrahl nach außen. Als die Flammen erloschen, regte sich der Schatten nicht mehr und er löste sich auf. Zurück blieben nur die einzelnen Schuppen und ein Mädchen, das mit Schleim überzogen inmitten dem Schuppenhaufen stand.

Die alles hat nur wenige Herzschläge gedauert und der geflügelte Schatten hatte noch nicht die Mädchen erreicht. Jedoch riss er schon sein Maul auf, und als er sich auf einer stürzen wollte, sprang ihn Akara an. Ihre Augen funkelten und um ihre Schulter loderte ein Umhang aus purren Flammen.

Sie landete auf dem Rücken des Schattens und dieser riss überrascht seine Flügel um und flog wieder höher. Er kreischte auf und versuchte das Mädchen abzuschütteln.

Seranin sah ungläubig von den Schuppenhaufen zu den geflügelten Schatten. Neid kam wieder in ihr hoch. Neid und Ehrfurcht.

Sie sah, dass Akara plötzlich die rechte Hand ausstreckte und ihr Gesicht konzentriert war. Seranin erkannte, dass sie versuchte aus den Flammen, die aus der Hand strömten, eine Klinge zu formen. Doch dann spürte sie einen heftigen machtvollen Stoß durch die Feuerstränge gehen. Sie musste die Augen schließen, denn ein grelles Licht hüllte Akara ein. Als Seranin dann wieder die Augen öffnete, lag der Schatten auf de Boden und ein Schwert steckte in seinen Rücken. Der Schatten begann sich langsam aufzulösen, doch Seranin hatte nur Augen für das Schwert. Das Schwert, das im Feind steckte und das in der rechten Hand von Akara war.

Es war Va`zar, die Ewige Flamme.

Für einen Moment gewann der Neid in Seranin überhand, doch dann wurde sie schlagartig nüchtern. Das Schicksal hatte so entschieden und eine tiefe innere Stimme sagte, dass es eine gute Wahl war. Eine leisere Stimme jedoch meinte, dass sie die Klinge eher verdient hätte.

 

Fairene, die fassungslos auf Akara starrte, zuckte zusammen, als jemand sie an der Schulter berührte. Sie sah hinter sich und erkannte, dass endlich die Verstärkung eingetroffen war. Ironischerweise in den Moment, wo die Schlacht vorüber war.

»Wer hätte gedacht, dass dieses Mädchen die Trägerin Va`zar ist«, sagte Bewin, Fal`yer Vashà der Einheit, die gerade angekommen war, und hielt ihren Blick auf das Mädchen. Das Mädchen, was nicht nur einen Schattenwurm und geflügelten Schatten getötet hatte, sondern nun auch Trägerin der Ewigen Flamme war.

Teil 1

Der erste Schritt

 

 

Um etwas zu bewegen, muss man erst einmal die Entscheidung treffen, dies zu unternehmen. Und alles, was es dazu braucht, ist ein erster Schritt nach vorne.

 

Sharren El`Sent,

Hohe Mutter,

Sommer im Jahre 111 vor der Nebelwand

Kapitel Eins

Der Auftrag

 

Wenn Wasser und Luft aufeinandertreffen, dann ergibt es sich ein gewaltiges Spektakel. Ich sah einst eine Rae Sothà, die auf eine Rae Lùvar traf, um gemeinsam das Unmögliche zu erfüllen.

 

Rae Louà Jandena Krillen,

Erste Verteidigerin der Grenze

Winter im Jahre 2597

 

Ein einzelner Falke flog zwischen den Ästen der großen Bäume, die sich zu dem Winterwald zusammenfassten und so eng beieinander standen, dass es Reisenden nur durch die schmale Straße gelang, den Wald zu durchqueren. Der Falke neigte seine Flügel, erfasste einen leichten Lufthauch und stieg höher, während sich vor ihm eine große alte Eiche erhob, dessen Blätter dabei waren, sich langsam gelblich zu färben. Zwei-drei Blätter berührte der Vogel, die daraufhin wackelten und ein Blatt sogar vom Ast gebrochen wurde und zu Boden segelte. Ein Wind kam auf, erfasste das Blatt, ließ es in seinen Strom wandern und riss es wieder nach oben. Dort legte es sich auf einen dicken Ast, jedoch kam ein neuer Lufthauch und stieß es wieder an. Langsam sank es abermals zu Boden, bewegte sich um die eigene Achse und kam dann sanft auf Gras auf, welches zerdrückt war.

Der Vogel hatte derweil seinen Flug fortgesetzt, wich immer wieder Bäume und tiefhängende Äste aus, ehe er den Schrei eines anderen Raubvogels vernahm. Der Falke hielt in der Luft inne, flatterte mit den Flügeln und sah sich aufmerksam um, ehe er ein Rascheln hörte. Er öffnete ein Stück seines Schnabels, doch blieb ruhig. Der andere Raubvogel schrie abermals, doch dieses Mal klang es entfernter. Beruhigt flog der Falke weiter.

Je weiter das Tier in Richtung Westen flog, desto kräftiger wurden seine Flügelschläge und der Abstand zwischen den Bäumen wurde immer größer. Es dauerte nicht lange und der Falke ließ den Winterwald hinter sich und unter ihn erhob sich eine Wiese, die sich über mehrere Hügel erstreckte. Er neigte sich ein wenig östlich und kam zu einer Straße. Diese hob sich so von der Wiese ab, als hätte jemand mit Kraft und Wut ein Stück Grün rausgerissen und durch das schmutzige Braun der Erde ersetzt. Der Falke folgte den Weg der Straße und stieß kurz darauf einen Planenwagen, der von zwei Pferden gezogen wurde. An einem Zügel befestigt lief ein drittes Pferd hinter den Wagen. Das linke der beiden Zugpferde, war eine weiße Stute und neben ihr lief ein brauner Wallach, dessen Kopf jedoch heller als der Rest seines Felles war. Das dritte Pferd war ein schwarzer Hengst, der einen weißen Fleck auf der rechten Schulter besaß und dessen Augen davon kündeten, dass ein inneres Feuer in ihm loderte. Es war ihm deutlich anzusehen, dass es ihm nicht gefiel, hinter den Wagen zu laufen.

Der Falke stieß einen leisen Schrei aus, ehe er senkte und dann mit einem zweiten Schrei sich auf die Schulter einer jungen Frau niederließ, die die Zügel der beiden Pferde hielt.

Die Frau zuckte nicht einmal zusammen und wandte auch nicht ihren Blick von der Straße ab. Sie hatte langes braunes Haar, das zu zwei festen Zöpfen geflochten war, die jeweils über eine Schulter nach vorne auf ihrer Brust hingen. Auf ihrer Stirn prangte ein bläuliches Zeichen, dass wie ein Tropfen aussah und in ihm war eine dunkle Rune zu erkennen. Ihre Kleidung war in bläulichen Tönen gehalten und um ihre Schulter lag ein schwerer Wollumhang, der Außen tiefblau, dafür aber in der Innenseite heller war. Die dunkle Farbe außen sah so aus, als wäre sie in ständiger Bewegung.

Die Frau seufzte kurz auf und runzelte dann die Stirn, als sie ein lautes Schnauben aus dem Wagen hörte und kurz darauf der Stoff hinter ihr zur Seite gezogen wurde. Heraus schaute eine Frau mit kurzen blonden Haaren. Sie sah wütend und genervt aus.

»Es ist doch einfach nicht zu glauben, dass wir uns nun darum kümmern müssen«, sagte sie und ihre Stimme klang genauso, wie ihr Blick war. Sie kletterte aus dem Inneren und setzte sich neben der Wagenlenkerin, wobei der Falke die eine Schulter verließ und sich auf die blonde Frau niederließ. Diese fuhr sanft über seine Federn. Die Wagenlenkerin zog es vor nicht zu antworten, denn sie kannte diese Worte nun schon sehr gut. Seit fast zwanzig Tagen musste sie sich die Beschwerten der anderen Frau anhören und wusste, dass gute Worte nichts bewirkten.

»Jetzt sag mal auch etwas, Vria Zhanaile«, sagte die Blonde und kniff die Augen zusammen, während sie immer noch den Falken leicht streichelte. Dieser schien es zu genießen. Er hatte die Augen geschlossen und saß ganz reglos da.

Zhanaile nahm die Zügel in die linke Hand und schüttelte dann leicht den Kopf, während sie mit der rechten eine Strähne aus ihrem Gesicht strich. Dann sah ihre Begleiterin an und seufzte leise. »Was soll ich denn bitte schön dazu sagen, Vria Thanai«, sagte sie und wandte ihren Blick wieder nach vorne. »Du weißt doch ganz genau, warum der Rat uns losgeschickt hat und deine Beschwerden ändern sowieso nichts.«

Thanai zog die Augenbrauen zusammen und öffnete den Mund, doch entschied sich dann, nichts zu sagen. Schweigend sah sie ebenfalls auf die Straße, während die Pferde den Wagen über die Straße zogen. Im Gegensatz zu ihrer Begleiterin trug sie Kleidung, die in gräulichen Tönen gehalten und nicht ganz formell waren. Die Farbe ihres Umhangs war dunkelgrau und auf der Rückseite prangte ein großes Zeichen, dass aus einem Kreis bestand und um ihm herum waren Federn angeordnet, die mit den Federkiele nach innen zeigten. Die Federn waren echt und stammten von einem Vogel, dessen Größe die einer Kuh erreichten konnte und dessen Federkleid in unterschiedlichsten Farben schillerte; je nachdem wie das Licht auf diese fiel. Ebenfalls bestand der Kragen des Umhangs aus Federn, die in diesen Moment dunkel schillerten. Auf ihrer Stirn gab es keinen Tropfen, dafür war ihre rechte Gesichtshälfte von feinen Zeichen und Stichen durchzogen, welche zusammen eine interessante Tätowierung bildeten. Der Tag neigte sich langsam dem Ende zu und es kam eine kühle Brise auf, die ebenfalls andeutete, dass der Herbst bald seinen vollen Einzug bekommen würde. Selbst in de Strängen des Gleichgewichtes konnte Zhanaile die langsame Veränderung in den Wassersträngen vernehmen und sie ahnte, dass dieses Jahr ein harter Winter werden würde. Härter und vor allen kälter. Sie schauderte als sie daran dachte und sie nahm die Zügel wieder in beide Hände, während sie kurz einen Blick zum Stand der Sonne warf. Sie müssten sich beeilen, wenn sie nicht zu spät im Dorf Eisende ankommen wollten.

Ihre Begleiterin neben ihr, bewegte sich unruhig, ehe sie ihrer Schulter ruckartig hob und somit den Falken von dieser verjagte. Sie erhob sich vom Sitzplatz, wobei sie sich bei Zhanaile abstützte und schob den Stoff hinter sich zusammen.

»Ich sehe mir noch einmal die Karten an ... irgendwo muss sie ja stecken«, murmelte sie und kletterte wieder in den Wagen hinein.

Zhanaile nickte, obwohl sie wusste, dass Thanai es nicht sa,h und wandte ihre Aufmerksamkeit den beiden Pferden vor sich. Diese zogen, ohne zu murren, den Wagen und dass schon seit vierzehn Tagen. Die Frau trieb die Pferde zu einem schnelleren Gang an und dachte daran zurück, als sie beide die Aufgabe von dem Rat der Elemente bekommen hatten.

 

Es war ein schöner Abend gewesen und zusammen mit Thanai und Lilith war sie bei einer Aufführung der Feuerwächterinnen in Sardenthal gewesen. Diese hatten zu Ehre der Ersten Flammenträgerin stattgefunden, die nun nach fast siebzig Jahren beschlossen hatte, den Rest ihrer Zeit zurückgezogen zu leben und ihre Stellung als erste Generalin der jüngeren Generation zu überlassen. Die Aufführung war faszinierend gewesen und viele Schülerinnen des Feuers hatten sich große Mühe gegeben.

Dann, als die Vorführung vorbei war, hatten sie drei vorgehabt noch einen gemütlichen Abend in dem Gasthaus »Brennender Baum« zu verbringen. Kaum waren sie vor diesem angekommen, kam eine Botin zu ihnen und überbrachte die Nachricht, dass der Rat Thanai und sie sehen wollte.

Irgendwie hatte sich Zhanaile auch denken können, wieso der Rat sie hatte sprechen wollen und im Nachhinein gab sie ab und zu mal ihrer Begleiterin auch recht. Doch die Aufgabe war klar formuliert gewesen, und als dann auch noch die Erste Strömende zu ihr im Privaten gesagt hatte, dass sie sich beeilen sollten, war Zhanaile klar gewesen, dass kein Widerspruch geholfen hätte. »Findet Rae`Vashà Akara Sorhain und bringt sie auf schnellsten Weg zurück nach Sardenthal, damit sie zur neuen Flammenträgerin ernannt werden kann!«

Ein Auftrag, der sehr wichtig war, aber auch gleichzeitig zeigte, dass der Rat der Elemente wieder einmal nicht wusste, wo sich die junge Feuerwächterin aufhielt.

Zhanaile wusste, wieso ausgerechnet sie und Thanai für diese Aufgabe ernannt worden waren, obwohl keine von ihnen zu den Wächterinnen des Feuers gehörten. Doch vor vier Jahren hatten sie beide Freundschaft mit Akara geschlossen und dabei die Bande zwischen den Elementen verstärkt. Der Rat wusste, dass sie beide eine kleine Chance besaßen, die junge Feuerwächterin nach Sardenthal zu begleiten. Das Problem jedoch war, dass sie keine Ahnung hatten, wo sie suchen sollten.

Ihr erster Weg ging in den Nordosten, wo sie gehofft hatten, dass Akara in ihrer Lieblingsstadt Drobarn sein würde, doch irgendwie war es auch zu erwarten gewesen, dass sie dort nicht sein würde. Dafür lag Drobarn viel zu nahe und die Feuerwächterinnen hätten sie schon längst gefunden. Allerdings war Akara hier vor einiger Zeit gewesen und die Bewohner der Stadt hatten die beiden Frauen weiter in Richtung Norden geschickt. In einem Dorf außerhalb hatte Thanai beschlossen, einen Wagen und ein drittes Pferd zu kaufen, damit sie bequemer reisen konnten. Außerdem ahnte die Frau schon, wie sie Akara auffinden werden, sodass sie dann leichter die Gesuchte dann transportieren konnten. Seitdem sie Drobarn verlassen hatten, folgten sie seit fünfzehn Tagen eine Spur, die durch Dörfer ging und immer wieder erklärte ihnen die Besitzer der Wirts- oder Gasthäuser, dass Akara hier gewesen, aber weitgereist war. Und je weiter sie in die Spur folgten, desto mürrischer und gereizter wurde Thanai.

 

Die Sonne war im Begriff unterzugehen, als endlich in der Ferne das Dorf in Sicht kam und Zhanaile atmete leise auf. Sie war froh, endlich für heute vom Kutscherbock zu kommen, auch wenn sie wusste, dass sie morgen wieder die Zügel halten würde. Ihre Begleiterin Thanai konnte sehr gut reiten, doch wenn um das Führen des Planenwagens ging, wurde sie sehr schnell ungehalten, denn es konne für sie nicht schnell genug vorangehen.

Zhanaile führte die Pferde durch das Dorf und hielt dann vor einem großen Haus an. Dieses war in hellen Farben gestrichen und hatte ein neues Dach, denn im Gegensatz zu den anderen Gebäuden, sahen die Ziegel dort noch hell und frisch aus. »Wir sind da«, sagte Zhanaile und konnte ein Schnauben vernehmen, das aus dem Wagen drang. Die Frau seufzte. Thanais Laune war wieder einmal an einem Tiefpunkt angekommen.

Zhanaile sprang vom Wagen und reichte die Zügel einen jungen Burschen, der aus dem Stall kam, welcher sich neben dem Gasthaus befand.

Mit einem Gesicht wie tagelanges Regenwetter kletterte Thanai aus dem Wagen und streckte sich dann, während der Falke von ihrer Schulter flog und sich auf einem nahestehenden Baum niederließ. Sie kniff die Augen zusammen, sah sich auf dem Platz vor dem Haus um und runzelte die Stirn. Der Bursche warf einen fast ängstlichen Blick zu der Frau, doch wandte sich dann sofort den Pferden zu, während er das Gasthaus preiste.

»Der lachende Spatz ist das beste Gasthaus im Umkreis von ganzen zwanzig Ritten«, sagte er gerade und Stolz schwang in seiner Stimme mit. »Ihr werdet nicht enttäuscht sein, Rae`Sothà. Rae`Lùvar.« Er verbeugte sich tief und warf dann wieder einen beunruhigten Blick zu Thanai, deren Blick immer finsterer wurde, je genauer sie sich umsah.

Zhanaile schloss für einen Moment die Augen. Sie konnte den jungen Mann sehr gut verstehen, denn es war leicht zu erkennen, dass Thanai schlecht gelaunt war. Es gab ein Sprichwort, dass besagte, dass eine schlechtgelaunte Wächterin schlimmer war als ein verletzter Wolf. Der Bursche wollte so schnell wie möglich von ihnen weg, hatte aber gleichzeitig davor Angst, dass sein Verhalten, sie noch mehr reizen würde. Die Frau schenkte den Mann ein Lächeln und drückte ein Silberstück in seine Hand.

»Für deine Mühe«, sagte sie und klopfte dem einen Pferd auf den Hals. »Kümmere dich gut um die Pferde und sorge dafür, dass alles morgen beim Sonnenaufgang für die Abfahrt bereitsteht.«

Der Bursche nickte eifrig und seine Augen leuchten, während seine Hand sich fest um das Silber schloss und er mehrfach versicherte, dass er persönlich morgen früh die Pferde einspannen wird.

Zhanaile nickte und warf dann einen Blick zu Thanai, die ihre Beobachtung beendet hatte und schon an der Tür ins Gasthaus stand. Sie zupfte ungeduldig an einer Feder ihres Umhangs und erwiderte gelassen Zhanailes Blick. Diese beschloss, nichts zu sagen und gemeinsam betraten sie das Gasthaus.

Drinnen war es stickig und es stank nach Alkohol. Zhanaile verzog ihr Gesicht und warf einen warnenden Blick zu Thanai, als diese den Mund öffnete, um etwas Abfälliges zu sagen.

Der Wirt sah auf, als sie eintraten und seine Augen weideten sich ungläubig. Es geschah nicht oft, dass sich Wächterinnen in dieses Dorf verirrten und sein Blick wurde unsicherer als er den finsteren Ausdruck in Thanais Gesicht gewahr wurde.

Thanai sah sich angeekelt um und rümpfte die Nase. Sie fragte sich kurz, was der Stallbursche damit gemeint hatte, dass dieses Gasthaus das Beste in der Umgebung sein sollte, und war sich sicher, dass der Mann in seinen ganzen Leben noch nie sein Dorf verlassen hatte. Andererseits konnte er nicht so davon überzeugt sein. Der Gestank stieg in ihre Nase und plötzlich konnte sie die Wut, die sich in ihr gesammelt hatte, nicht mehr zurückhalten. Sie ignorierte den warnenden Blick ihrer Begleiterin.

»Hier stinkt es«, entfuhr es ihr und sie sah, dass der Wirt zusammenzuckte und die anderen Gäste sie alle anstarrten. Die meisten unsicher und einige sogar ängstlich. »Hier müsste mal gelüftet werden!«

Ehe Zhanaile reagieren konnte, wurde die Tür nach draußen durch einen Windstoß aufgestoßen und ein heftiger Windzug durchfuhr den Schankraum. Krüge wurden in die Luft gehoben, Stühle polterten durch die Gegend und zwei-drei Teller fielen auf dem Boden, doch zerbrachen nicht. Der Wind fegte nur zwei Herzschläge durch den Raum, doch es reichte dafür, dass der Gestank verflog. Die Tür schloss sich wieder, ohne dass jemand sie berührte und Thanai nickte zufrieden. Sie ging zum Tresen und lächelte den Wirt freundlich an, während sie drei Kupferstücke auf das Holz legte. »Für die Unordnung hier.« Danach drehte sie sich um und ging zu einem Tisch, der etwas abseits im Halbdunkeln stand, und überließ es Zhanaile für zwei Zimmer und Essen zu bezahlen. Kurz darauf kam ihre Freundin zum Tisch und funkelte Thanai wütend an. Es brauchte sehr viel, um die Geduld von Zhanaile zu erschöpfen, doch die Tat der Luftwächterin gerade eben, hatte dafür gesorgt. »Das war unnötig gewesen, Rae`Lùvar Thanai!«

Thanai zuckte zusammen. Für einen kurzen Augenblick fragte sie sich, ob sie vielleicht überreagiert hatte, denn Zhanaile sprach sie nur mit dem Titel an, wenn sie wütend war. Doch dann schüttelte sie den Kopf. »Der Geruch war doch wirklich nicht auszuhalten«, entgegnete sie, um sich zu rechtfertigen und verschränkte die Arme. Die Wut in ihr gewann wieder überhand. »Kaum zu glauben, dass Akara in solchen Spelunken verkehrt, aber andererseits war das ja auch nicht anders zu erwarten! Ich sage dir, wenn ich sie in die Finger bekomme, dann ...« Thanai hielt inne und atmete tief durch. »Dann wird sie sich wünschen, ihre Großeltern hätten auch nie einen Blick ausgetauscht.« Sie hielt inne, ehe sie leise schloss. »So eine Schande.«

Zhanaile ließ sich auf einen Stuhl nieder und ihr Blick wurde wieder weich. »Du solltest dich nicht so aufregen, Vria Thanai. Ich weiß, dass du dir Sorgen um Akara machst, aber ...«

»Sorgen!?« Thanais Augen zogen sich zusammen und sie schnaubte laut auf. »Ich mache mir garantiert keine Sorgen um diese Frau! Ich finde es nur nervig, dass wir sie suchen müssen. Können dies nicht die Feuerwächterinnen alleine erledigen? Müssen sie da unbedingt uns andere Wächterinnen damit einbeziehen?«

Ein leichtes Lächeln umspielte Zhanailes Gesicht. Sie wusste, dass Thanai sich große Sorgen um Akara machte. Wenn sie schimpfte und ihre Laune immer gereizter wurde, war dies ein Zeichen dafür, dass darauf hoffte, ihre Freundin endlich bald zu finden. Zhanaile schloss die Augen. Auch sie machte sich große Sorgen um Akara. Es war nicht das erste Mal, dass sie spurlos verschwunden war und ein klein wenig konnte sie es sogar auch nachvollziehen. Sie war sich zwar nicht sicher, aber bestimmt hätte sie auch so reagiert, wenn sie in Akaras Situation gewesen wäre und ...

»Du machst dir selber sorgen, oder«, ertönte Thanais Stimme und Zhanaile öffnete die Augen. Sie sah lange ihre Freundin schweigen an, ehe sie nickte. Thanais Gesicht wurde sanft. »Das brauchst du nicht. Gefahr droht ja nicht Akara ... naja, jedenfalls nicht von außen. Sie selber jedoch ... Wenn sie sich nicht bald ändert, wird sie es sich nur selber sehr viel schwerer machen. Es wird nicht leichter für sie. Erst recht nicht, da Rae`Vashà Joilene ihr Amt abgelegt hat und die Feuerwächterinnen eine neue Flammenträgerin brauchen.«

»Ich weiß«, sagte Zhanaile und seufzte tief. »Ich befürchte nur, dass die Last des Titels Akara zerstören wird. Auch wenn sie die besten Voraussetzungen für eine Flammenträgerin mitbringt und die Rae`Vashàs keine andere Wahl bleibt, als sie zu ernennen, aber ich frage mich dennoch, ob es eine gute Idee ist. Ja, ich weiß, das ist die Sache der Feuerwächterinnen und es geht mich nichts an, aber ich muss Rae`Vashà Seranins Bedingen zustimmen.«

Thanai erwiderte nichts darauf. Es stimmte, dass die Ernennung der zukünftigen Flammenträgerin Sache der Feuerwächterinnen war, aber sie verstand auch Zhanailes Bedenken. Doch dies änderte nichts an ihrer Aufgabe und auch nichts daran, dass sie Akara finden mussten. Der Rat der Elemente hatte dies so angeordert und Thanai würde diesen Befehl ausführen, selbst wenn es ihr nicht wirklich gefiel. Dies war auch der Grund, warum sie immer gereizter wurde. Zum einem wollte sie Akara finden, damit sie endlich wieder nach Neirhain, dem Hort der Luft, reisen konnte und zum anderen wollte sie ihre Freundin nicht finden, um nicht daran schuld zu sein, sie nach Sardenthal zu der Ernennung zu bringen. Jedoch wurde sie auch immer ungehaltener, wenn sie im jeden Dorf nach Akara fragten und dabei immer das gleiche erfuhren. Sie wusste, ohne dass sie auch hier fragen mussten, was die Antwort auf die Frage sein würde. Dennoch würde Zhanaile später den Wirt fragen und dann versuchen, nicht schockiert zu sein. Etwas, was die Wasserwächterin nur sehr schwer konnte.

Während Thanai ihren Gedanken nachhing, erschien der Wirt und brachte ihnen drei Teller. Auf beiden war ein Eintopf zu erkennen und auf dem Dritten lagen mehrere Früchte. Der Mann, er hieß Coriel Areth, verbeugte sich und mit einem fast ängstlichen Gesichtsausdruck verschwand er dann wieder.

Die Luftwächterin sah das Essen an und gab in inneren ihrer Begleiterin ein wenig Recht. Vielleicht hatte sie wirklich etwas übertrieben. Aber der Gedanke, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, ehe sie Akara finden würden, ließ sie innerlich wieder wütend werden. Sie war hin und her gerissen zwischen ihren Gefühlen als Freundin und ihrer Pflicht.

Schweigend begannen sie zu essen und Thanai musste zugeben, dass das Essen wesentlich besser schmeckte, als sie es am Anfang erwartet hatte. Der Eintopf war voller gutem Gemüse und Schweinefleisch. Sie hatte in den letzten Tagen schon Eintöpfe gegessen, die diesen Begriff überhaupt nicht verdienten.

Nachdem sie mit dem Essen fertig waren, erhob sich Zhanaile und warf einen bedeutsamen Blick zu Thanai, welche das Gesicht verzog.

»Wieso machst du dir die Mühe, zu fragen«, sagte sie und es war zu erkennen, dass Sorge in ihre Augen trat. Sorge darüber, dass die kommende Antwort die Wasserwächterin schwer treffen würde. »Du kennst doch die Antwort.«

»Vielleicht ist es dieses Mal anders«, erwiderte Zhanaile. Sie versuchte zuversichtlich zu klingen, doch es klang nicht überzeugend. »Vielleicht sie ja noch hier im Dorf.«

Thanai erwiderte nichts darauf. Was hätte sie auch sagen sollen? Dass sie es ganz leicht spüren würden, wenn Akara sich hier in Eisende aufhielt oder dass es nur ein Wunschdenken von Zhanaile war. Die Luftwächterin starrte auf ihrem Teller, den sie in die Mitte des Tisches schob und holte aus einer Seitentasche, eine zusammengerollte Karte hervor, die den nordöstlichen Zipfel von Shargariden zeigte. Sie fuhr mit den Fingern über die eingezeichneten Berge, die Sardenthal umgaben und dann bis zu der Stelle, wo sich Eisende befinden musste. Das Dorf war viel zu klein, als dass es eingezeichnet war. Die Frau erkannte, dass sie nicht mehr weit von Greisarg entfernt waren und die Hafenstadt bald erreichen würden. Vielleicht noch vier oder fünf Tage, wenn sie reiten würden und mit dem Wagen zwei oder drei Tage länger.

Die Frau lehnte sich seufzend auf dem Stuhl zurück und sah zum Tresen hin. Sie sah, dass ihre Begleiterin sich gerade bedankte und dann mit langsamen Schritten zum Tisch kam. Sie brauchte gar nichts zu sagen, denn der Blick in ihren Augen sagte alles mehr als deutlich. Akara musste hier gewesen sein und dass dann auch so, wie sie es erwartet hatten.

Leise seufzend ließ sich Zhanaile auf dem Stuhl nieder und schloss die Augen. Sie versuchte sich nicht anmerken zu lassen, doch innerlich war sie wieder einmal zerrüttet. Sie warf einen Blick auf die Karte.

»Der Wirt sagte, dass Akara hier vor sieben Tagen vorbeigekommen ist und dann vor vier Tagen weiter nach Norden gereist ist. Sie meinte zu ihm, dass sie auf ein Schiff will, dass Shargariden verlässt und nach Zhareilt wollte.«

Die Luftwächterin sagte zuerst nichts darauf. Sie konnte den Schmerz aus der Stimme ihrer Freundin vernehmen und wollte tröstende Worte finden, doch egal wie sie dabei war anzufangen, es würde doch nichts helfen, sodass sie wieder auf die Karte blickte. Sie hatte schon vorher geahnt, dass Greisarg das Ziel von Akara sein würde und nun stand es fest. Wenn sie wirklich diesen Kontinent verlassen nach Zhareilt reisen wollte, mussten sie sich beeilen. Sie fluchte innerlich.

»Wir werden die Pferde mehr antreiben müssen, wenn wir nicht wollen, dass wir unsere Suche auf Zhareilt fortsetzen müssen«, sprach Zhanaile das aus, was die andere gerade gedacht hatte. »Den Pferden wird es zwar nicht gefallen, aber darauf dürfen wir keine Rücksicht nehmen.«

Thanai nickte zustimmend, während sie die Karte wieder einrollte und in ihrer Tasche verstaute. Dann sah sie ihre Freundin genauer an, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch schloss ihn auch gleich wieder, da ihr immer noch die richtigen Worte fehlten.

 

Den Rest des Abends verbrachten sie schweigend und während Zhanaile die meiste Zeit in ihr Wasserkrug starrte, begann Thanai sich im Schankraum umzuschauen. Sie erkannte, dass die meisten Gäste versuchten, nicht in ihre Richtung zu blicken und vielleicht war es wirklich eine dumme Idee gewesen, ihren Frust so freien Lauf zu lassen. Andererseits war die Luft jetzt viel klarer als vorher, und wenn sie etwas nicht aushalten konnte, dann war es der Gestank von Alkohol. Der Geruch, den sie meistens in der Nase hatte, wenn sie bei Akara war.

Der Abend schritt immer weiter voran und es dauerte auch nicht lange, ehe sich Zhanaile erhob.

»Ich werde schon mal ins Bett gehen. Wenn wir wirklich noch Akara einholen wollen, müssen wir morgen zeitig los und viel länger unterwegs sein.« Sie seufzte. »Auch wenn es schwierig werden wird, rechtzeitig in Greisarg zu sein. Das Einzige, worauf wir hoffen können, ist, dass um diese Jahreszeit kaum Schiffe nach Zhareilt auslaufen. Vielleicht ist sie noch dort und die Geweihten sind auf unserer Seite.«

Thanai nickte nur. Diese Gedanken hatte sie auch schon gehabt. Sie wünschte ihrer Begleiterin eine erholsame Nacht und bestellte sich dann noch einen Krug heißen Tee. Sie war noch nicht müde und ahnte, dass sie sowieso nicht schlafen konnte. Dazu war sie innerlich viel zu aufgewühlt. Sie sah sich wieder im Raum um. Die meisten Gäste, wohl Dorfbewohner, verabschiedeten sich nach und nach, während andere, dessen Kleider sie als Reisende auswies, eine Runde nach der anderen schmissen.

Die Wächterin schüttelte leicht den Kopf und nickte dankend zu der Magd hin, die ihr den gewünschten Tee brachte. »Warum muss alles so kompliziert sein«, flüstere sie und sah dann aus einem Fenster. Jedoch war draußen nichts mehr zu erkennen. »Was hast du in Zhareilt vor, Akara. Du kannst nicht immer vor deiner Bestimmung wegrennen.«

Darin war Akara gut. Wegzurennen, wenn sie sich nicht der Wahrheit stellen wollte und gleichzeitig dafür sorgen zu können, dass es allen gut ging, wenn es darauf anging. Waren Freunde oder Kameraden in Gefahr, dann konnte man sich auf Akara verlassen, doch nur, wenn es wirklich mehr als gefährlich war. In normalen Situationen, die anderen auch alleine handhaben konnten, mischte sie sich am liebsten nicht ein. Akara, die ein viel zu gutes Herz für eine Feuerwächterin hatte.

Lange hielt es Thanai nicht mehr in dem Schankraum aus und sie erhob sich, um ins Zimmer zu gehen. Sie war zwar immer noch nicht müde, aber wusste, dass sie es wenigsten versuchen sollte, etwas zu schlafen. Der Wirt erklärte ihr stotternd, wo sich das Zimmer, welches sie mit Zhanaile teilte, befand und war sichtlich erleichtert, als Thanai verstehend genickt hatte. Die Luftwächterin öffnete leise die Tür und spähte hinein. Sie konnte die gleichmäßigen Atemzüge ihrer Freundin vernehmen und versuchte leise zu sein. Neben ihrem Bett, das nahe am Fenster stand, legte sie ihre Tasche auf dem Boden und zog sich dann um, ohne ein kleines Licht zu entzünden. Sie wusste, dass Zhanaile wieder den ganzen morgigen Tag die Zügel führen würde, da sie selber einfach keine Geduld mit den Pferden hatte. Thanai legte ihre Kleidung säuberlich auf einem Stuhl ab, ehe sie einen letzten Blick aus dem Fenster warf und sich dann ins Bett legte. Ihre letzten Gedanken galten Akara, die irgendwo in Richtung Greisarg unterwegs war. Mögen die Geweihten über dich wachen, Akara!

Kapitel Zwei

Schatten in der Nacht

 

Der Zorn einer Luftwächterin ist der Sturm.

 

Rae Vashà Shiannon Hylen,

Verwahrerin der Glut,

Sommer im Jahr 2597

 

Nicht weit entfernt von Eisende saß ein einzelner Reiter auf einem tiefschwarzen Pferd, sodass er nicht in der Dunkelheit zu erkennen war. Seine Kleidung war ebenfalls schwarz und sein Schwert, das auf seinem Rücken hing, steckte in einer dunklen Scheide. In seinen beiden Händen hielt er eine Armbrust und diese lud er gerade. Er spannte den Bolzen ein, den er vorher genauer betrachtet hatte und überprüfte, ob alles in Ordnung war. Seine Hände arbeiteten geschickt dabei, sein Gesicht wirkte konzentriert und angespannt.

Nachdem er sicher war, dass die Armbrust einwandfrei funktionieten, stieg er vom Pferd und bewegte sich lautlos in das Dorf. Seine Schritte waren leicht; seine Bewegungen fließend und trotz, dass es dunkel war, konnte er ohne Probleme sein Ziel finden.

Er blieb vor dem Haus stehen, wo neben der Tür ein Schild hing, das einen Vogel auf einem blauen Untergrund zeigte. Ein grimmiges Lächeln umspielte seine Lippen und er nickte, obwohl dies niemand sehen konnte. Er hängte sich die Armbrust über seine rechte Schulter und sah sich dann um.

Vor dem Gebäude stand eine riesige Eiche, welche direkt vor einem Fenster stand, das offen war. Ein Stirnrunzeln begleitete diese Erklärung.

Er musste nicht lange im Schatten des Mondes warten, als plötzlich die Tür zum Gasthaus sich öffnete und der Wirt ängstlich hinausspähte. Als Coriel den Schatten gewahr wurde, begann er zu zittern und zeigte auf das Fenster, wo der Baum davor stand. Dann drehte er sich um und war so schnell im Haus verschwunden, als würde ein echter Schatten hinter ihm her sein.

Der Mann mit der Armbrust ging zu dem Baum, erkannte, dass ein Seil am untersten Ast hing und wieder lächelte er. Abermals sah es grimmig und gefährlich aus.

Mit geschickten Händen und Füßen zog er sich am Seil hoch und saß kurz darauf auf dem dicken unteren Ast. Er erhob sich vorsichtig, ging bis zu dem Fenster und spähe von der Seite hinein, während er ganz flach atmete, um sich nicht zu verraten. Mit verengten Augen sah er, wie zwei Betten im Zimmer standen, die besetzt waren. Der Mond schien direkt auf das Gesicht einer Frau, auf dessen Stirn ein blauer Tropfen prangte und er wusste, dass der Wirt nicht gelogen hatte. Sein Blick ging zu dem anderen Bett, das in der Nähe stand und sein Lächeln wurde mörderisch. Es würde sehr einfach sein, seinen Auftrag zu erfüllen.

Er nahm die Armbrust von seiner Schulter und atmete tief durch, während er zu zielen begann. Nichts an ihm zitterte. Seine Hände waren ruhig; sein Arm angespannt und seine Augen fast zusammengekniffen.

Als Erstes nahm er die Frau ins Visier, die den Tropfen im Gesicht hatte und als er sich sicher war, dass sein Bolzen nicht daneben gehen würde, zog er an den Abzug. Sirrend verließ der Bolzen die Waffe.

 

Es war ein leises Zischen, dass Thanai aus ihrem Halbschlaf riss und ohne, dass sie viel nachdachte, hob sie instinktiv die rechte Hand. Sie richtete sich auf, ihr Blick fiel durch das Fenster und sie konnte den Mann erkennen, der leise fluchte. Sofort war sie hellwach und sie sprang aus dem Bett, während sie nach dem Luftsträngen griff.

Ein leises Stöhnen ließ sie innehalten und sie stellte sich so hin, dass sie sowohl das Fenster nicht aus den Augen verlor, jedoch auch zu ihrer Freundin blicken konnte.

Zhanaile richtete sich gerade auf und ihr Gesicht verzog sich schmerzhaft, als sie einen Bolzen aus ihrer Schulter zog. Hätte Thanai nicht instinktiv reagiert und die Luftbahn des Bolzen verändert, hätte dieser glatt ihr Herz getroffen.

Wut kam in Thanai auf und sie widmete ihre Aufmerksamkeit den Mann ihr gegenüber, während sie sich fragte, wie dieser Attentäter wissen konnte, wo sich ihr Zimmer hatten, als plötzlich der Wirt in ihren Sinn kam. Der Mann, der die ganze Zeit ängstlich zu ihnen geblickt hatte. Nun kam in ihr die Frage auf, wieso. War er voller Angst gewesen, weil er etwas geplant hatte, um sie zu schaden, oder einfach nur, weil sie seinen Schankraum gelüftet hatte.

»Wenn ich den in die Finger bekomme«, presste sie wütend hervor und ignorierte den fragenden Blick ihrer Freundin.

Der Attentäter verzog sein Gesicht und Wut stand in seinen Augen geschrieben. Es war ihm deutlich anzusehen, dass ihm dem Verlauf der Situation überhaupt nicht gefiel. Der ließ seine Armbrust fallen und zog stattdessen einen Dolch.

Die Wut in Thanai wurde größer. Es war nicht das erste Mal, dass ein Attentäter des »Schwarzen Blutes« versuchte, sie zu töten und dennoch fragte sie sich immer wieder von vorne, wieso diese Männer es eigentlich wieder und wieder versuchten. Bis jetzt war noch kein Attentäter erfolgreich gewesen.

Der Mann sprang durch das offene Fenster ins Zimmer und erfasste mit einem Blick, dass die Luftwächterin die gefährlichere war. Die andere Frau mit dem Tropfen war verletzt, und wenn er Glück hatte, würde das Gift auch bald wirken.

»Der große Herr wird mir beistehen«, rief er laut und hob seine Hand mit dem Dolch, während er seine Gegnerin nicht aus den Augen ließ.

Zhanaile zuckte zusammen, als sie die Worte vernahm, und schien erst jetzt zu begreifen, was eigentlich los war. Sie versuchte den Schmerz in der Schulter zu ignorieren und warf einen besorgten Blick zu Thanai, deren Gesicht finster wie eine Gewitterwolke aussah.

»Überlass den Typ mir«, zischte Thanai und öffnete sich den Luftsträngen um ihr herum. Sie suchte nach einem geeigneten Strang, den sie nutzen konnte. »Du rührst dich nicht von Fleck, Zhanaile! Wir wissen nicht, ob der Bolzen vergiftet war.« Was höchst wahrscheinlich der Fall war. Die Wut in der Luftwächterin wurde immer größer, immer greifbarer für sie und endlich hatte sie eine Person vor sich, an der sie diese auslassen konnte. Einen Mann, der es verdient hatte, dass sie ihren inneren Sturm losließ. »Das Schwarzblut gehört mir!«

Die Wasserwächterin nickte und lehnte sich gegen eine Wand, da leichter Schwindel in ihr aufkam. Sie konnte deutlich aus der Stimme ihrer Freundin heraushören, dass Thanai kurz davor war, einen gewaltigen Sturm loszulassen. Thanai war wütend, und wenn sie dies war, konnte es sehr unangenehm werden. Zhanaile versuchte sich so wenig zu bewegen und sah den Mann genauer an. Er trug schwarze Kleidung; selbst sein Haar und Bart war schwarz und die wenigen freien Stellen des Gesichtes waren mit Kohle dunkel gefärbt. Ein perfekter Attentäter, der nachts schwer zu erkennen war.

Ein Schaudern befiel Zhanaile. Es war nicht das erste Mal, dass sie einen gegenüberstand und dennoch war geschockt, dass sie einen vom Schwarzen Blut gegenüberstand. Sie schloss die Augen. Es gab nur zwei große Fraktionen, die gegen die Wächterschaft waren und mit allen Mitteln versuchten, diese zu schaden: Die Sekte des Schwarzen Blutes und die »Erleuchteten«. Eine Sekte voller Mörder, Hexer und Attentäter und ein Orden von Gläubigen, die nicht an die acht Geweihten der Elemente glaubten, sondern nur einen einzigen Herrn anpriesen. Während die Erleuchteten sich damit begnügten, gegen die Wächterinnen zu predigen, waren die von den Schwarzen Blute wesentlich aggressiver und schreckten auch vor Morde nicht zurück.

Mit einem leisen Triumphschrei rannte der Attentäter auf Thanai zu und hielt dabei seinen Dolch griffbereit. Zhanaile öffnete die Augen, verzog kurz ihr Gesicht und sah zu ihrer Freundin, die den Mann mit einem ruhigen Lächeln erwartete. Als der Mann auf sie zurannte, verdichtete Thanai einige Luftstränge in ihrer Nähe und hielt kurz darauf so etwas wie einen Dolch in ihrer Hand. Ein Dolch, der nur aus Luft bestand und dennoch so hart, wie Stahl war. Sie parierte den ersten Stoß ihres Gegners und ließ die Luft um ihre freie linke Hand aufwirbeln. Ein kleiner Wirbelsturm bildete sich um ihre linke Faust, die sie hob und in das Gesicht des Mannes schlug.

Der Attentäter wich den Schlag aus und ließ sich zurückfallen, wobei er seine Gegnerin nicht aus den Augen ließ. Er wusste, dass er vorsichtig sein musste, denn diese Frau vor ihm war gefährlicher als die verletzte in seinen Rücken. Er kniff die Augen zusammen und sprang wieder auf die Beine.

»Für den großen Herrn!« Dem Mann war es egal, dass er gerade mit seinen Leben spielte. Für ihn war nur wichtig, dass er es wenigsten schaffte, eine der beiden Frauen zu töten. Er musste wenigsten so viel schaffen, denn ansonsten würde er Schande über seinen Orden und seine Vorfahren bringen. Und auch über seine Nachkommen, denn seine Linie würde durch seinen neu geborenen Sohn weiterexistieren. »Für das Schwarze Blut!«

Er schrie laut auf und sprang die Luftwächterin an. Alle Gefahr vergessend und nur seinen Auftrag in Gedanken.

Zhanaile wollte warnend etwas rufen, doch sie brachte keinen Ton heraus. Sie sah den entschlossenen Ausdruck im Gesicht des Mannes und musste schlucken. Sie wusste, dass alle Leute beim Schwarzen Blut fanatische Anhänger waren, doch das was sie in dessen Augen sah, ging schon darüber hinaus. Sie suchte in der Umgebung nach Wassersträngen und wollte nach ihnen greifen, als ihr bewusst wurde, dass eine Art Barriere um ihr herum war. Sie verspürte einen heftigen Schmerz in ihrer Schulter und stöhnte auf. Der Schmerz raste durch ihren Körper.

»Zhanaile! Ich sagte, dass du dich nicht bewegen sollst. Ich kümmere mich um den Mann«, schrie Thanai, als sie hörte, wie ihre Freundin aufstöhnte und noch größere Wut durchströmte sie. Niemand verletzte ihre Freunde und kam ungeschoren davon. Als der Attentäter auf sie zusprang, ließ sie den Dolch in ihrer Hand verschwinden und ergriff einen Luftstrang vor ihr und schleuderte ihn in Richtung des Angreifers. Ein Windstoß erfasste den Mann und er wurde gegen due Wand geschleudert. Der Wind jedoch hörte nicht auf, sondern presste ihn förmlich dagegen und mit einen Mal wurde ihm bewusst, dass er vielleicht einen Fehler begangen hat. Den Fehler, zu denken, dass die Wasserwächterin die gefährlichere von den beiden war. Er hätte die Luftwächterin verletzten sollen und nicht die andere Frau.

»Niemand greift uns an und kommt ungeschoren davon«, schrie Thanai und der Wind in den Raum wurde immer stärker. Ihr kurzes Haar wurde aufgewirbelt und um ihr herum entstand ein Wirbel. Lose kleine Gegenstände, wie Kleidung, zwei Bücher und eine Vase wurden umher geschleudert und alles traf den Mann. Er war die Stelle, wo der Sturm alles hinleitete.

»Niemand verletzt meine Kameraden, ohne dafür zu bezahlen«, schrie die Luftwächterin und all die gestauchte Wut in den letzten Tagen, der Frust, die Ungeduld und die Zerrissenheit tief in ihr wurde mit einem Mal losgelassen. »Niemand vom Schwarzen Blut taucht hier auf und versucht uns zu ermorden, ohne dafür Rechenschaft abzulegen!«

Der Wind löste den Mann von der Wand und ließ ihn hoch zur Decke schweben. Dort wurde er gegen die Wand gepresst. Sein Gesicht wurde immer röter, seine Kleidung zerriss und trotz dass der Attentäter versuchte, nicht zu schreien, öffnete er seinen Mund und schrie seine Pein hinaus. Knochen knacksten, Blut schoss aus seiner Nase und Ohren.

»Thanai! Nicht!«

Zhanaile versuchte sich zu erheben, und zu ihrer Freundin zu gelangen. Doch der Schmerz ihrer Schulter ließ sie zusammenzucken und der Wind verhinderte, dass sie sich aufrichten konnte. Sie konnte erkennen, dass Thanai dabei war, all ihre negativen Emotionen freizulassen. Dabei entstand die Gefahr, dass sie die Kontrolle über den Sturm verlieren könnte und dieser könnte sich im ganzen Dorf ausbreiten. »Thanai! Beruhige dich«, schrie Zhanaile gegen das Tosen des Sturmes an. »Hör auf!«

Thanai konnte leise vernehmen, dass ihre Freundin etwas sagte, doch sie war viel zu wütend, um zu verstehen, was es war. Das Einzige, was in ihren Gedanken schwebte, war, dass dieser Mann versucht hatte, Zhanaile zu töten und dass das Schwarzen Blut wieder einmal versuchte der Wächterschaft zu schaden. Wieso versuchen wir das Gleichgewicht der Welt in der Balance zu halten, wenn der größte Teil der Menschen uns lieber tot sieht oder am liebsten meiden würde. Normalerweise war es der Luftwächterin egal, was die anderen von ihnen dachten. Sie wusste, dass einige sie bewundern, einige sie respektieren und andere sie fürchten. Dass ein paar von den Menschen sie auch töten will, war ihr auch bekannt. Meistens ignorierte sie es. Sie war stolz eine Wächterin zu sein. Eine Hüterin der Luft. Doch jetzt konnte sie es nicht als gleichgültig abtun, denn nicht nur der Mann über ihr an der Decke hatte sie verraten, sondern auch der Wirt.

»THANAI!«

Plötzlich spürte die Lüftwächterin, wie jemand sie von hinten umarmte und fest hielt. Sie wollte sich dagegen wehren, als sie eine leise Stimme neben ihrem rechten Ohr vernahm.

»Beruhige dich, Vria! Lass die Luftstränge fallen ... er ist tot ...«

Langsam drangen die Worte in Thanais Bewusstsein und sie erkannte, dass Zhanaile sie festhielt. Sofort ließ sie die Stränge der Luft los und der Mann fiel mit einen lauten Knall auf dem Boden. Er blieb reglos liegen, während Blut aus seiner Nase und Ohren floss. Seine Augen starrten in die Leere. Thanais Beine gaben nach und sie sackte auf dem Boden. Ihr Atem ging schwer und Schwindel befiel sie. Sie erkannte, dass viel zu heftig ins Gleichgewicht eingewirkt hatte, und spürte nun die Konsequenzen. Ihr Magen rebellierte und kurz darauf übergab sie sich. Sie konnte sich rechtzeitig vorbeugen, sodass nichts auf ihrer Kleidung landete. Es rauschte in ihren Ohren.

Zhanaile hockte sich neben ihrer Freundin und hielt sie immer noch umarmt. Sie war sich nicht sicher, ob es nur eine Pause war, oder ob Thanai wieder in den Strom der Luft gerissen würde. Dann jedoch sah sie, wie sich Thanai übergab und Erleichterung durchfuhr sie. Das Gefährlichste war nun vorbei. Während Thanai würgte, hielt Zhanaile sie weiterhin fest und sah dann zu dem Mann, der auf dem Boden lag. Mitleid verspürte sie nicht, denn immerhin war der Mann ein Attentäter und Anhänger des Schwarzen Blutes. Er hätte sie ohne zu zögern getötet und dabei keinerlei Reue verspürt. Deswegen würde sie es auch nicht bei ihm spüren. Sie schloss die Augen, als ein heftiger Schmerz sie abermals durchfuhr und sie fragte sich, was für ein Gift sie wohl durchströmte. Hoffentlich war es kein Gefährliches, denn sie mussten so schnell wie möglich nach Greisarg gelangen, um Akara nicht zu verpassen. Sie konnten es sich nicht leisten, einige Tage hier im Dorf zu verharren. Vor allen dann nicht, wenn man versucht hatte, sie zu töten.

Thanai wischte sich den Mund ab und schloss kurz die Augen, bis der Schwindel endlich vorbei war und das Rauschen in ihrem Ohr verging. Dann öffnete sie diese wieder und wandte sich ihrer Begleiterin zu, die neben ihr auf dem Boden hockte und schwer atmete. Sofort stieg Sorge in ihr auf.

»Zhanaile! Alles in Ordnung«, fragte sie überflüssigerweise und erhob sich, wobei sie ihre Freundin mit sich hochzog. Sie bugsierte sie auf ein Bett und sah sie genau an.

Zhanailes Blick war leicht trübe geworden und der Bolzen steckte immer noch in der Schulter. Die Luftwächterin fluchte leise und ging schnell zu der Tasche ihrer Begleiterin. Dort drin fand sie ein kleines Paket, dass Mullbinden und eine gelbliche Paste enthielt. Etwas, was gegen die meisten Gifte half. Dann sorgte sie dafür, dass Zhanaile sich hinlegte, wobei sie feststellte, dass ihre Freundin zu schwach war, um überhaupt Widerstand leisten zu können. Mit besorgten Blick und leicht zitternden Händen zog sie den Bolzen raus, schmierte die Paste auf die Wunde und verband die Schulter. »Ruh dich aus, Zhanaile«, sagte sie leise und deckte dann ihre Freundin zu, ehe sie sich erhob und sich im Raum umsah. Sie erkannte, dass sie wirklich zu sehr hatte mitreisen lassen. Nichts lag er mehr an seinen Platz, einige Dinge waren zerbrochen und der tote Attentäter lag immer noch auf dem Boden. Als ihr Blick auf dem Mann fiel, durchfuhr sie wieder Wut und sie dachte an den Wirt.

»Der kann was erleben!«

Sie ging neben den Mann auf die Knie und begann mit geschickten Händen ihn zu untersuchen. Sie fand mehrere eingenähte Taschen, ein kleines Glas mit einer honigartigen Flüssigkeit und einige Steckbriefe. Auf zwei war ihr und Zhanailes Gesicht zu sehen. Auf den anderen die Gesichter anderer Wächterinnen und auch das von Akara. Thanai hob eine Augenbraue als ihr Blick auf eine Notiz neben Akaras Gesicht fiel: Vorsicht! Gefährlich! Belustigung durchfuhr die Luftwächterin. Dies war in der Tat die Wahrheit. Wenn Mitglieder des Schwarzen Blutes Akara angriffen, würde es feurig werden. Wenn Akara herausfinden würde, dass einer nun Zhanaile verletzt hatte, würde ein Inferno entstehen.

Thanai warf die Steckbriefe auf dem Boden. Wenn Akara nicht weg sein würde und sie deswegen sie suchen müssten, wäre dies gar nicht passiert.

»Thanai?«

Das leise Flüstern ließ die Luftwächterin innehalten und sie wandte sich zum Bett. Sie erkannte, dass ihre Freundin doch nicht schlief. »Hey...du sollest etwas schlafen ...«, sagte Thanai und trat an das Bett. Als sie in Zhanailes Augen blickte, stieg Sorge in ihr auf. »Ruh dich aus!«

Zhanaile nickte leicht, doch verzog ihr Gesicht. »Versprich mir, dass du den Wirt nichts tust, Thanai. Du weißt, dass er keine Wahl hatte. Die vom Schwarzen Blut können sehr überzeugend sein.«

Thanais Gesicht wurde finster. Sie wusste, dass ihre Freundin recht hatte. Wahrscheinlich hatte der Attentäter ein Familienmitglied des Wirts als Geisel genommen oder gedroht, sein Gasthaus den Boden gleichzumachen, wenn er nicht kooperiert. Dennoch war es nicht verzeihlich. Die Wächterinnen sorgen dafür, dass das Gleichgewicht der Welt in Balance blieb und dies war schon schwierig genug, ohne, dass die Menschen, die sie eigentlich beschützen sollten, sie hintergehen. »Thanai?«

Zhanaile nickte wieder. »Ja ... keine Sorge, Zhanaile. Ich werde ihm nicht schaden. Einen kleinen Denkzettel vielleicht verpassen, aber ich krümme ihn kein Haar. Doch du schläfst jetzt erst einmal! Oder willst du, dass ich eins von Inùe Tränke dir verabreiche?«

Wie erhofft, trat ein leichtes Lächeln in Zhanailes Gesicht und sie schüttelte leicht den Kopf. Jedenfalls deutete Thanai die Bewegung als ein Schütteln, denn die Wahrheit war, dass Zhanaile kaum in der Lage war, ihren Kopf richtig zu bewegen. Thanai beugte sich vor, strich eine Strähne aus Zhanailes Gesicht und seufzte leicht, als sie sah, dass dieses Mal ihre Freundin vollkommen eingeschlafen war. Sie erhob sich und sah zu dem toten Mann. Plötzlich wollte sie nicht, dass er weiter dort liegen blieb. In dem Zimmer, wo ihre Freundin schlief. Sie beugte sich über den Mann, ergriff ihn unter die Arme und zerrte ihn zur Tür. Diese öffnete sie und spähte in den Gang. Sie erkannte, dass dieser leer und verlassen aussah. Entweder befürchtet der Wirt, dass ich ihn töten werde, wenn ich ihn sehe, oder aber er denkt, dass der Attentäter uns getötet hat. Sie hatte eigentlich erwartet, dass der Wirt im Gang warten würde, um zu erfahren, was passiert war, weshalb sie überrascht war, dass dies nicht der Fall war. Andererseits war dies nicht schlecht. So würde sie nicht in Versuchung kommen, den Besitzer des Gasthauses etwas anzutun und konnte ihr Versprechen halten.

Thanai zerrte den toten Attentäter aus dem Zimmer und ließ ihn im Gang liegen. Wenn der Wirt sich doch entscheiden würde, hier nachzusehen, würde er diesen sofort sehen. Hoffentlich wird es ihm eine Lehre sein. Sie wandte sich von den Toten ab und ging wieder ins Zimmer. Dort angekommen, begann sie leise die Unordnung aufzuräumen. An Schlaf konnte sie in diesen Augenblick nicht mehr denken.

 

Am nächsten Morgen ging es Zhanaile ein wenig besser. Sie war zwar noch blass und die Wunde an ihrer Schulter sah nicht gerade schön aus, aber sie konnte aufstehen und sogar gehen, ohne, dass sie die Hilfe ihrer Freundin brauchte. Als sie beide die Treppe hinter zum Schankraum gingen, stand der Wirt hinter den Tresen und sah sie beide mit weit aufgerissenen Augen an. Angst und Panik war in ihnen zu lesen. Für einen kurzen Augenblick war Thanai gewillt, ihr Versprechen zu brechen und dem Mann die wahre Macht einer Luftwächterin zu zeigen, doch Zhanaile hielt sie am Arm fest.

»Lass uns von hier verschwinden ... wir müssen Akara finden, ehe sie ein Schiff findet, das den Kontinent verlässt.« Zhanaile hatte einen flehenden Blick aufgesetzt und hoffte, dass dies reichte. Sie wollte nicht, dass Thanai wieder die Beherrschung verlor, so wie in der Nacht.

Thanai atmete tief durch und ignorierte den Wirt. Sie folgte ihrer Freundin und war erleichtert, dass der Stallbursche sein Wort gehalten hatte. Die Pferde standen eingespannt vor den Wagen und die Fahrt konnte sofort beginnen. Sie zwang Zhanaile sich im Wagen hinzulegen und stieg dann selber auf den Kutscherblock, um heute die Pferde zu führen. Sie wusste, dass ihre Freundin sich ausruhen musste.

Sie ergriff die Zügel und gab den Pferden das Zeichen, dass sie lostraben konnten. Sie wollte so schnell wie möglich das Dorf Eisende hinter sich lassen. Sollte der Wirt sich um den toten Attentäter kümmern. Sie selber würde später, wenn sie in Greisarg waren, eine Nachricht zu der Ersten Wehenden schicken, damit diese entscheiden konnte, was aus dem Wirt werden sollte. Sie selber hatte eine andere Aufgabe. Sie musste Akara finden und ihre Freundin zu einer richtigen Heilerin bringen, damit diese sich die Wunde an der Schulter genauer anschauen konnte. Sie hatte zwar die Wunde nach besten Gewissen verarztet, doch kannte sich nicht wirklich damit aus.

Ich bin Kriegerin und keine Heilerin!

Als der Wagen das Dorf verließ, sah sie nicht einmal zurück. Sie hatte nicht vor, in nächster Zukunft Eisende wieder zu betreten. Kaum war das Dorf hinter ihnen, vernahm sie bekannte Flügelschläge und kurz darauf ließ sich ein Falke auf ihrer Schulter nieder. Dieser knabberte an ihr Haar und kräzte wieder. Es war ein freundlicher Ton und klang fordern.

»Du hast recht. Lass uns von hier verschwinden, Vlair ... und Akara finden!«

Ihr Falke kräzte, als würde er ihr zustimmen und zum ersten Mal an diesen Tag tauchte ein leichtes Lächeln in ihrem Gesicht auf. Sie genoss den Wind in ihren Haaren und ließ die Pferde schneller traben. Sie hatten keine Zeit mehr zu verlieren!

 

Kapitel Drei

Die Gabe

 

Ich sah den Raben und wusste, dass das Ende nicht mehr fern war.

 

Thorkel Gransen,

Bauer von Ardask

 

 

Saren Helsen wurde von dem Laut der Glocke geweckt. Sie schlug die Augen auf, erkannte, dass die Sonne noch nicht aufgegangen war, und stöhnte leise auf. Wer konnte es sein, der so früh am Morgen vor der Tür stand und sie weckte. Als ein weiterer Glockenschlag zu ihr schwang, schloss sie die Augen und verzog ihr Gesicht. Es war nicht selten, dass jemand zu ihnen wollte und etwas in ihr sagte, wer es sein musste.

»Wenn es der verdammte Jäger ist, gibt es Ärger«, murmelte sie und erhob sich. Sie ergriff einen Umhang und warf ihn sich über die Schulter. Zeit, um ihr Nachtgewand gegen etwas Züchtigeres auszutauschen, hatte sie nicht, und da sie ahnte, wer sie so früh weckte, machte es ihr auch nichts aus.

Sie verließ ihre Schlafkammer und zog den Umhang fester um sich. Da die Sonne noch nicht aufgegangen war und der Winter vor der Tür stand, war die Luft noch kalt und strich über ihr Gesicht. Ein Blick zu der Tür, welche zu der Kammer neben ihren Zimmer führte, sagte ihr, dass ihre jüngere Schwester noch nicht auf war. Ein leichtes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht und sie stieg leise die Treppe hinunter.

Unten angekommen trat sie sofort zur Tür und öffnete sie. Ihr Blick wurde finster, als sie erkannte, wer vor der Tür stand. Sie zog die Tür etwas weiter auf und verschränkte die Arme.

»Ich hätte es wissen müssen! Nur eine Person kommt auf die Idee, so zeitig bei uns vorbeizukommen.« Saren funkelte den Mann missmutig an. »Dir ist schon klar, dass du uns geweckt hast, Aram?«

Der junge Mann schenkte dem Mädchen ein Lächeln und deutete eine Verbeugung an. »Es schmerzt mein Herz, das ich euch geweckt habe, Saren, sowie auch eure Schwester. Aber ich habe vor ...«

»Jaja«, unterbrach Saren den Mann. »Ich weiß, wieso du hier bist. Ich bin ja nicht blöd. Komm rein!«

Sie trat beiseite, um Aram Platz zu machen und als der Mann im Haus verschwunden war, schloss sie die Tür wieder.

Da der Flur nicht besonders groß war, drückte sich Saren an die Wand, um ihren Gast Platz zu machen. Am Flur selber schlossen sich drei Zimmer an, sowie eine Treppe, die zum ersten Geschoss führte. Dort befanden sich nochmals vier kleinere Zimmer und im Keller der Vorratsraum.

Aram lehnte seinen Bogen an die Wand, als er ihn abstellte, und lächelte dann freundlich zu Saren.

»Wie geht es dir und deiner Schwester?«

Saren warf einen Blick zur Treppe, ehe sie den Mann in die Küche führte, wo noch kein Feuer brannte und deswegen auch hier noch kalt war. Jedoch nicht unangenehm kalt, denn der Herbst war gerade erst dabei zu kommen und die Reste des vergehenden Sommers brachten immer noch genügend Wärme mit, um nicht gleich zu frieren.

»Aleitha geht es gut. Sie hat sich zwar vor einigen Tagen ihre linke Hand aufgeschnitten, als sie Rüben schneiden wollte, aber es ist nichts Ernstes ... trotz, dass es stark geblutet hatte. Die Weise Nana meint, dass der Schnitt nur oberflächlich war und dieser schnell heilen wird.« Saren warf einen kurzen Blick zu dem Mann und dann zu der Feuerstelle, dessen Asche kalt war. »Heißen Tee kann ich dir leider nicht anbieten, Aram. Dazu bist du einfach viel zu zeitig da.«

Der Jäger schüttelte den Kopf. »Das weiß ich doch, Saren. Mach dir darüber keine Gedanken. Ich wollte heute nur zeitig unterwegs sein, um eine große Beute zu machen. Vielleicht werde ich in die Berge gehen. Dort wurden in letzter Zeit viele Froiziegen gesehen.«

Das Mädchen nickte. Sie hatte davon gehört, und während beide auf Aleitha warteten, hörte sie zu, wie der Mann erzählte, was in den letzten Tagen im Dorf Ferren alles passiert ist. »...Außerdem geht das Gerücht um, dass Zek der Meiren hübsche Augen macht. Ich glaube, den Jungen hat es schwer erwischt und Meirens Eltern freuen sich sehr, denn Zek wird später immerhin Schmied sein. Er wäre demzufolge eine gute Partie für das Mädchen ... Die alte Thona hat vor zwei Tagen nun endgültig Larren aus dem Gasthaus geworfen. Der Mann konnte wieder einmal nicht seine Rechnungen bezahlen und selbst bei Thona bricht irgendwann der Geduldsfaden.« Aram sah belustig drein. »Larren hat natürlich zuerst gefleht und gebettelt, dass Thona ihn wieder reinlässt. Als dies nicht geholfen hat, hatte er begonnen, ihr schöne Augen zu machen und als dies auch nichts gebracht hatte, sie zu verfluchen.« Der Jäger schüttelte den Kopf. »Der Mann wird es einfach nicht lernen.«

Saren runzelte die Stirn. Sie kannte Larren schon ihr ganzes Leben und wusste ziemlich gut, dass der Mann einfach nichts lernen kann. Früher, so hieß es, war er ein Soldat gewesen, doch dann kam er irgendwann in das Dorf, hatte sich in einen kleinen Schuppen, der leer stand, gemütlich gemacht und war einer der besten Kunden des Gasthauses Grüne Wiese geworden. Jedenfalls so lange, bis sein Geld gereicht hatte. Dann hatte er begonnen, zu betteln oder kleine Aufgaben im Dorf zu erledigen, um sich übers Wasser zu halten. Da er ein Trinker war, reichte das Geld nie lange und so wurde er nach und nach zu einem Säufer, der jeden ergatterten Pfennig vertrank. Nur durch das Mitleid der Dorfbewohner hatte er es zu verdanken, dass er nicht schon längst verhungert ist. Selbst die Besitzerin des Gasthauses, die alte Thona, gab abends die Überreste des Tages. Saren verzog angewidert ihr Gesicht. Sie hatte nicht viel für den alten Säufer übrig und wartete irgendwie darauf, dass er eines Tages aus seinen Suff nicht mehr erwachte. Die Dorfheilerin, Nanareia, meinte, dass dies höchstwahrscheinlich bald passieren würde, wenn er seine Angewohnheiten nicht bald ändern würde.

»...Ach ja und Torben will diesen Herbst noch in die Hauptstadt fahren, um dort seine Felle und Leder zu verkaufen. Wenn ihr also etwas von der Stadt braucht, solltet ihr ihn Bescheid sagen, damit er es mitbringen kann.«

Sie nickte, als plötzlich leichte Schritte zu vernehmen waren und kurz darauf ein Mädchen von zwölf Jahren die Treppe herunter kam. Sie trug ein Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte und darüber hatte sie eine Schürze gebunden, die blau und mit weißen Blumen verziert war. Das Kleid selber war ebenfalls in bläuliche Töne gehalten und ihr langes blondes Haar wurde von einem hellblauen Band auf dem Rücken zusammengehalten.

»Aleitha!« Rief Saren und trat in den Flur hinaus, um ihre jüngere Schwester zu umarmen. Dabei lächelte sie über das ganze Gesicht und strich anschließend durch das Haar des Mädchens.

»Ich wünsche dir einen schönen Morgen, holdes Fräulein«, sagte Aram und verbeugte sich vor Aleitha, während er zwinkerte.

Aleitha kicherte leise, ehe sie den Mann genauestens betrachtete und ihr Blick anschließend zu dem Bogen fiel, der immer noch an der Wand hing. Sie runzelte die Stirn. »Ihr habt vor, heute jagen zu gehen, Meister Aram?«

Saren verdrehte die Augen, als sie die vornehmen Worte ihrer Schwester vernahm, und sah dann zu dem Mann. Diesen schien es zu gefallen, doch das wunderte Saren überhaupt nicht. Jeder fand Gefallen an Aleitha, denn das Mädchen schaffte es, jeden in seinen Bann zu ziehen. Selbst Saren konnte ihr nichts abschlagen. Sie liebte ihre Schwester innig und würde sie gegen jeden verteidigen. Jetzt jedoch sah sie Aram genauer an. Der Mann verbeugte sich ein zweites Mal.

»Ihr habt recht, ich habe vor, auf die Jagd zu gehen. Jedoch wollte ich fragen, ob es sicher genug ist.« Er setzte einen verzeihenden Blick auf. »Ihr wisst ja, dass die Geburt von Marie bald bevorsteht und da möchte ich kein Risiko eingehen.«

Während Aleitha plötzlich einen sanften Blick im Gesicht hatte, runzelte Saren die Stirn. Seit dem Moment, wo Aram erfahren hatte, dass er Vater werden würde, ließ er keine Gelegenheit aus, dies alles zu sagen. Dabei klang seine Stimme immer voller Stolz. Sarens Herz wurde schwer. Er würde ein guter Vater werden, da war sie sich sicher. So gut, wie ihr Vater es gewesen war, bevor er ...

»Beeile dich Aleitha ... du weißt, dass wir noch viel zu erledigen haben, ehe der Herbst vollends kommt«, sagte Saren, um ihre Gedankengänge zu unterbrechen. Sie wollte nicht an ihren Vater denken, denn wenn sie an ihn dachte, musste sie automatisch auch an ihre Mutter denken und daran, dass sie nun alleine war. Sie sah zu ihrer Schwester und schüttelte den Kopf. Nicht ganz alleine, aber dennoch nahe daran.

Aleitha zuckte zusammen und sah ihre ältere Schwester an. Saren hatte das Gefühl, dass sie ahnte, woran sie gerade gedacht hatte und war froh, dass ihre Schwester nicht näher darauf einging. Ihre jüngere Schwester nickte und dann konzentriert zu dem Jäger Aram. Saren hatte keine Ahnung, wie ihre Schwester es genau machte, doch Aleitha hatte ihr erklärt, dass sie in sich nach einem bestimmten Gefühl suchte und sich von ihm leiten ließ. Dass sie dann Personen leuchten sah und somit wusste, dass diese sicher waren. Saren konnte nicht viel dazu sagen, und wenn sie ehrlich zu sich selber war, dann war es ihr auch ein wenig Unheimlich.

Plötzlich schrie Aleitha leise auf und schloss ihre Augen.

Saren hörte den Schmerz in den Schrei und umarmte fest ihre Schwester.

»Schsch ... alles ist in Ordnung«, murmelte Saren und hielt Aleitha fest in den Armen. Sie konnte das rasende Herz ihrer Schwester spüren und wusste sofort, dass dies bedeutet. Sie sah Aram an, der bleich geworden war. »Ich glaube, dass du heute besser nicht auf die Jagd gehen solltest.«

Der Jäger nickte. Er war immer noch bleich und schluckte, ehe Sorge in seinen Augen trat. Er beugte sich vor. »Ist mit Aleitha alles in Ordnung?«

Saren warf ihn einen scharfen Blick zu, doch dann erinnerte sie sich daran, dass er bald Vater werden würde und sie war in inneren froh, dass er den Weg hierher gefunden hatte. Denn wenn er wirklich auf die Jagd gegangen wäre, dann ... Saren schüttelte den Kopf, während sie ihre Schwester fest in den Arm hielt und sie leicht wiegte.

»Geh jetzt, Aram! Ich kümmere mich um Aleitha, doch bitte geh! Du kannst ihr sowieso nicht helfen«, sagte Saren leise und sah dabei nur ihre Schwester an. »Versprich nur, dass du heute nicht auf die Jagd gehst.«

»Natürlich«, murmelte der Jäger und trat in den Flur. Er sah nochmal kurz zu den Schwestern, doch erkannte, dass er nur stören würde. Er ergriff seinen Bogen und wandte sich zur Tür. »Ich danke dir, Aleitha.« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer und Saren konnte hören, wie er das Haus verließ.

 

Lange Zeit nach dem Gehen des Jägers standen beide Geschwister in den Flur. Saren hielt ihre kleinere Schwester in den Arm und drückte sie fest an sich. Saren strengte sich an, Geborgenheit auszustrahlen und schloss die Augen. Sie selber spürte eine innige Wärme, wenn sie Aleitha in den Armen hielt, und wünschte sich, dass dieser Moment nie enden würde. Seit dem Tod ihrer Eltern vor vier Jahren waren sich beide Schwestern sehr nahe gekommen.

Es war ein freundlicher Tag gewesen und ihre Eltern hatten sich vorgenommen, in dem nächst gelegenem Dorf etwas bei einer guten Schneiderin anfertigen zu lassen. Normalerweise wären sie alle zusammengegangen. Die Töchter und die Eltern, doch an den morgen hatten Aleitha hohes Fieber gehabt und Saren musste auf ihrer kleinen Schwester aufpassen und Zuhause bleiben. Am Anfang war Saren darüber enttäuscht und wütend gewesen, doch dann hatte sie ihrer kleinen Schwester Geschichten erzählt und der Tag war sie im Flug vergangen. An Anfang war es ihr nicht aufgefallen, doch als sie dann großen Hunger und gesehen hatten, dass der Mond schon hell leuchtete, war Saren sehr unsicher geworden. Ihre Mutter hatte an morgen noch deutlich gesagt, dass sie noch vor Sonnenuntergang wieder da sein wollten. Dieser jedoch war schon lange vorbei. Dann kamen einige Dorfbewohner zu ihnen und überbrachten die fürchterliche Nachricht. Es hatte einen Bergrutsch gegeben und in diesen Moment hatten ihre Eltern den Weg am Hang genommen. Die angrenzende Zeit verging irgendwie für Saren wie in einen Traum. Man hatte die Körper ihrer Eltern geborgen, gewaschen und dann feierlich an einen Abend den Flammen übergeben. Aleitha hatte die ganze Zeit geweint, doch Saren war wie betäubt gewesen. Sie konnte es immer noch nicht fassen und wollte es nicht akzeptieren. Dann jedoch war das Fieber bei Aleitha wiedergekommen und die Angst, dass sie auch noch ihre kleiner Schwester verlieren könnte, hatte sie aus ihrem Trancezustand geweckt. Ihre Schwester wurde wieder gesund und seit vier Jahren, versuchte Saren den Haushalt zu führen und sich um ihre Schwester zu kümmern. Sie baute im Garten Beete an, pflegte die Obstbäume und ging in den Wald Fallen stellen. Zwar war sie nicht besonders gut darin, doch es reichte aus, um sich und ihre Schwester zu ernähren. Dann jedoch, knapp zwei Mondzyklen nach Aleithas schweren Fieber, passierte es das erste Mal.

Sie waren beide zu einem Dorf gegangen, und während Saren sich mit einigen Leuten unterhalten hatte, war Aleitha plötzlich ruhig geworden und hatte einen fremden Mann die ganze Zeit angestarrt. Das Mädchen wurde immer bleicher, begann zu zittern, und als Saren dies gemerkt hatte, war sie sofort besorgt gewesen. Doch egal wie sehr Saren gefragt oder gedrängt hatte, das Mädchen hatte nichts gesagt. Später, als sie zu Hause waren und Saren ihre Schwester zu Bett gebracht hatte, hatte sie dann Saren gefragt, ob sie langsam verrückt wurde. Saren hatte nicht gewusst, was sie darauf antworten sollte, doch nach mehreren Fragen, endlich herausgefunden, was ihre kleine Schwester überhaupt gesehen hatte.

Aleitha hatte bei dem fremden Mann sehen, dass er zuerst gestrahlt hatte, dann jedoch immer grauer geworden, so als würde ein Schatten ihn umhüllen. Kurze Zeit war sie sich sogar so sicher gewesen, dass sie so etwas sie einen leicht durchschauenden Schatten hinter seinem Kopf gesehen hatte. Ein Schatten, der dabei war, ihn zu verschlingen. Saren hatte schweigend zugehört, jedoch keine Ahnung gehabt, was dies bedeutete. Im Gegenteil, sie war erschrocken darüber, doch zeigte dies nicht. Aleitha war ihre Schwester und sie würde nicht zulassen, dass sie etwas voneinander trennte.

Am nächsten Morgen drang die Nachricht zu ihnen, dass der fremde Mann über der Nacht gestorben war, da es einen Streit zwischen zwei Männer gegeben hatte. Der Mann wurde erstochen.

Während Saren dies als einen Zufall abgetan hatte, wurde Aleitha immer ruhiger und in sich gekehrter wurde. Am Anfang hatte dies Saren nicht gemerkt, doch als dann eines Tages ihre Schwester zu ihr kam und meinte, sie solle verhindern, dass eine Händlergruppe den Rein-Pass nehmen würde, war sie mehr als erstaunt gewesen. Da jedoch Aleitha so sehr gedrängt hatte, sie möge es verhindern, schlug Saren den Händlern vor, eher den Hasen-Pass zu nehmen. Er war breiter und seine Straßen fester, sodass deren Wagen nicht stecken bleiben würden. Zu ihrer Überraschung willigten die Männer ein und entschieden sich gegen den Rein-Pass. Aleitha war mehr als erleichtert, und nachdem sie die Gruppe genauer betrachtet hatte, nickte sie. Später erfuhr Saren, dass der Rein-Pass durch eine Felsenlawine zugeschüttet wurde und ihr wurde bewusst, dass die Händler gestorben wären, wenn sie diesen Pass genommen hätten. Daraufhin sprach sie ihre Schwester an und diese erklärte ihr mit fester Stimme, dass sie in den letzten Monden gemerkt hatte, wenn jemand starb. Dass sie es erkennen konnte und auch wenn Saren dies nicht wirklich glaubte, so sagte sie nichts dagegen. Ein Jahr verging und je mehr Aleitha den Bewohnern sagte, dass sie etwas nicht machen sollten, was sie gerade vorhatten, desto deutlicher wurde für Saren, dass alles stimmte. Die Bewohner von Ferren nahm diese Gabe von Saren erfreut auf. Sie kamen immer, wenn sie eine weite Reise oder andere Dinge vorhatten und fragten, Aleitha, ob es gefährlich für sie werden würde. Aleitha gab die gewünschten Auskünfte und das Dorf akzeptiere sie. Die Sorge von Saren, dass die Leute ihre Schwester verdammen würden, trat nie ein.

Heute war Aleitha und ihre große Schwester ein Teil des Dorfes und jeder Bewohner half ihnen, wenn die Ernte einmal dürftig gewesen war, oder wenn etwas am Haus repariert werden musste. Saren mochte es nicht, diese Almosen anzunehmen, doch die Leute meinten, dass die Vorhersage ihrer Schwester viel mehr Wert als Gold sei. Sie sollte die Hilfe und Gabe demzufolge als Bezahlung ansehen.

Was jedoch kein Bewohner merkte, dafür aber Saren, war, dass es Aleitha immer mehr schmerzte und innerlich zerfraß, wenn sie jemanden betrachtete und sah, dass er sterben würde. Auch wenn sie dann verhinderte, war es in ihren Wissen verankert. Das Wissen, das diese Person eigentlich hätte sterben müssen. Doch auf das Drängen ihrer älteren Schwester, dass sie es sein lassen sollte, ging sie nicht ein. Sie wollte unbedingt helfen, auch wenn es sie innerlich zerstörte.

 

»Aleitha?«

Saren trat einige Schritte zurück und blickte ihre Schwester genau an. Sie sah den Schmerz in den Augen der Jüngeren und wünschte sich, sie könnte ihr helfen. Es ließ sie innerlich aufkochen, dass sie hilflos zusehen musste, wie sich ihre kleinere Schwester quälte. Immer wieder auf das Neue, weil die Dorfbewohner zu ihr kamen und sie fragten. Saren schloss die Augen. Sie sollte diesen ganzen Fragen Einhalt gebieten, doch sie wusste, dass ihre Schwester dagegen sein würde. Ihre kleine Schwester, die allen helfen wollte und dabei schweigend litt.

»Am besten legst du dich noch einmal hin, Aleitha«, sagte Saren und schenkte ihrer Schwester ein Lächeln. »Du musst heute nicht im Garten helfen. Es ist nicht viel zu machen und das bekomme ich auch alleine hin.«

Ihre Schwester sah sie mit großen Augen an und ein bekannter Ausdruck trat in ihrem Gesicht. Sie wusste, dass Saren log, es aber auch nur machte, weil sie sich Sorgen um ihre Schwester machte. Aleitha schüttelte den Kopf.

»Nein ... es geht mir gut«, sagte sie leise und zog die Schulter ein wenig zusamme, als sie sah, wie Saren die Stirn runzelte. »Wirklich! Es kam nur unerwartet. Normalerweise sehe ich bei Aram überhaupt nichts und so ... es geht mir gut!« Sie verschränkte die Arme und funkelte Saren an.

Zuerst sagte Saren nichts, sondern blickte ihre Schwester schweigend an. Dann jedoch brach sie in ein lautes Lachen aus und hielt sich den Bauch. Verwirrung stand in Aleithas Blick, doch dann sah sie finster drein. Sie mochte es überhaupt nicht, wenn ihre Schwester sich über sie lustig machte.

»Lass das!« Sie stieß Saren an die Schulter und drehte sich um. »Hör auf zu lachen. Und ich werde heute im Garten arbeiten. Ob es dir nun gefällt oder nicht!« Mit diesen Worten ging sie die Treppe hinauf, um die Betten zu machen. Dies machte sie immer. Saren kümmerte sich um das Frühstück und Aleitha sich um die Betten.

Kaum war Aleitha im oberen Geschoss verschwunden, hörte Saren auf zu lachen und Sorge trat wieder in ihr Gesicht. Sie hatte nicht gelacht, weil sie Aleithas Worte lustig gefunden hatte, sondern weil sie so die wirkliche Sorge in ihr überspielen wollte. Sie seufzte und ging wieder in die Küche. Die Feuerstelle schrie förmlich danach, entfacht zu werden und auch, wenn sie vorhatte, den ganzen Tag draußen im Garten zu arbeiten, musste sie dafür sorgen, dass ein Feuer brannte. Schon alleine, um gutes Feuer zum Mittagkochen zu haben.

Sie verließ das Haus durch den Hintereingang und ging zu einen kleinen Schuppen, wo drinnen Holz sich stapelte. Es war nur ein kleiner Stapel, und da der Herbst vor der Tür, und somit auch bald der Winter, stand, musste in den nächsten Wochen unbedingt neues Feuerholz beschaffen werden. Saren hasste es, in den Wald zu gehen, kleinere Bäume zu fällen und diese dann kleiner zu hacken. Sie übernahm die schwerste Aufgabe und ihre Schwester musste dann die Holzscheite in den Schuppen tragen und dort stapeln. Öfters halfen die Männer des Dorfes dabei, doch da die meisten um diese Zeit selber ihr Holzvorrat auffrischen mussten, blieb Saren nichts anderes übrig, als es zu machen. Nachdem sie einige Scheite in einem kleinen Korb gelegt hatte, fügte sie dünne Äste zum Anzünden dazu und ging wieder in die Küche. Sie versuchte nicht an Aram zu denken, dessen Entscheidung, heute zu ihnen zu kommen, das Leben gerettet hatte und auch nicht an Aleitha, deren Schmerzen sie nicht lindern konnte. Stattdessen versuchte sie ihre Gedanken auf ein kommendes Fest zu richten, welches in zwei Wochen stattfinden würde. Ein Fest, worauf sich vor allen Aleitha schon freute.

In der Küche angekommen, kniete sie sich vor der Feuerstelle nieder und fegte die Asche beiseite. Dann nahm sie getrocknete Holzspäne, Feuerstahl und Stein. Sie schlug den Stahl mehrfach gegen den Stein, Funken sprühten und kurz darauf brannte ein kleines Feuer. Saren legte einige Scheite auf dieses, stellte etwas zu Essen für ihre Schwester auf dem Tisch und ging dann in den Garten. Sie selber hatte keinen großen Hunger.

Als sie das Haus verließ und in den Garten trat, hielt sie kurz inne. Sie stockte, denn ein seltsames Gefühl kam in ihr auf. Ein Gefühl, das sie überhaupt nicht mochte. Es war eine kleine Vorahnung. Eine Ahnung, dass etwas passieren würde. Etwas, was überhaupt nicht gut war. Sie sah sich aufmerksam im Garten um, beäugte jeden Baum und Busch, doch konnte nichts finden, dass sie misstrauisch machen würde. Was der Grund für ihr seltsames Gefühl sein würde. Hinter sich konnte sie hören, wie ihre Schwester die Treppe runter ging und dann in die Küche ging. Kurz darauf stand sie hinter Saren.

»Wieso isst du nichts, Saren?« Saren sah sich immer noch aufmerksam im Garten um, sodass sie Aleitha nicht hörte. Dies gefiel ihr überhaupt nicht. Etwas war im Argen. Etwas, was ihr eine Gänsehaut verursachte.

»Saren!«

Das Mädchen zuckte zusammen und sah dann über ihre Schulter. »Ja?«

»Ich habe dich gefragt, ob du nichts essen willst.«

»Kein Hunger«, murmelte sie und mit einem letzten Blick von dem Garten, wandte sie sich ihrer Schwester um. »Du weißt doch. Ich esse selten etwas zum Frühstück!«

Aleitha sah sie mit zusammengekniffenen Augen an, ehe sie sich umdrehte und in die Küche ging. Saren folgte ihr. Mit einem Gefühl, dass jemand sie im Rücken beobachten würde.

 

 

Kapitel Vier

Störungen in der Luft

 

Es war, als würde etwas reißen, und zwar tief in einem, sodass nur Schmerzen übrig blieben.

 

Rae Luvàr Thanai Reman,

Erste Sturmbezwingerin,

Herbst im Jahre 2596

 

Mit halb zusammengekniffenen Augen blickte Nolwine Leysen auf die Straße und seufzte dabei innerlich leise auf. Sie fühlte sich überhaupt nicht gut und dass schon seit einigen Tagen. Die Heiler von ihrem Konvent hatten sie untersucht, doch festgestellt, dass alles in Ordnung mit ihr war. Ihr Vater, der Erhellte des Konvents hatte gemeint, dass sie einfach nur aufgeregt war und der ganzen Sache keinen weiteren Augenblick geschenkt. Nolwine wollte ihren Vater glauben, wollte, dass es ihre Nervosität ist und dennoch ahnte sie, dass viel mehr dahinter stecken musste.

Sie hörte, wie jemand hinter ihr sein Pferd anspornte und kurz darauf konnte sie das freundliche Gesicht Balestrano erkennen, der in selben Alter wie sie war und ebenfalls kurz davor stand, in den Rang eines Erleuchteten erhoben zu werden. Nolwine freute sich schon darauf, denn ihr ganzes Leben hatte sie auf diesen Tag hinaus gearbeitet. Sie wollte den Weg ihrer beiden älteren Geschwister folgen, den ihrer Eltern und ihrer Großeltern: Ihr Leben den Einen Gott zu widmen und dabei helfen, diesen den anderen Ungläubigen näher zu bringen. Sie schloss die Augen, verließ sich darauf, dass ihre Stute wusste, wohin sie ging und stellte sich vor, wenn sie endlich das Gelübde einer Erleuchteten ausgesprochen hat.

„Nolwine?“

Balestranos fragende Stimme riss sie aus ihren Gedanken und sie öffnete die Augen wieder. Sie sah zu ihrem Jugendfreund und lächelte leicht. Er fuhr fort, wobei seine Stimme einen besorgten Ton annahm.

„Ist alles in Ordnung, Nol? Du siehst sehr blass aus.“

Sie legte ihren Kopf etwas schräg und betrachtete ihn einige Sekunden schweigend, ehe sie nickte. „Ja … nur leichte Kopfschmerzen. Aber der Hochgeleuchtete Adiran meinte, dass dies nur die Aufregung sei.“ Ihr Lächeln wurde intensiver. „In wenigen Tagen sind wir endlich Erleuchtete, Strano!“

Er nickte erfreut, doch seine Augen behielten den sorgevollen Blick.

Nolwine seufzte. „Es geht wirklich. Wenn wir da sind, werde ich mich hinlegen und dann wird alles besser werden. Da bin ich mir ziemlich sicher.“

Balestrano nickte abermals und dieses Mal wechselte sein Blick zu einem erfreuten. Auch ihm war anzusehen, dass er sich auf seine Erhebung freute. Er spornte seinen Hengst an und ließ kurz darauf Nolwine hinter sich, um mit an der Spitze der Gemeinschaft reiten zu können.

Die junge Frau seufzte innerlich leise, griff an ihren Kopf und fühlte, wie Schuldgefühle in ihr aufstiegen. Du sollst immer die Wahrheit sprechen! Gerade hatte sie gegen das sechste Gebot des Kodex der Zehn verstoßen und wusste, dass sie damit ihre Seele in Gefahr gebracht hatte. Sie würde wohl heute Abend den Hochgeleuchteten Adiran diesen Verstoß melden und ihre Strafe abarbeiten.

Je weiter sie in Richtung Nordosten und damit näher Greisarg kamen, desto schlimmer wurden die Kopfschmerzen. Irgendwann waren sie so heftig, dass Nolwine sich nicht mehr genau konzentrieren konnte. Sie schloss immer wieder die Augen, versuchte an nichts zu denken, doch dies brachte keine Besserung. So heftig waren sie Schmerzen noch nie gewesen! War es die Strafe dafür, dass sie Balestrano angelogen hatte? Angst stieg in ihr auf und ihre Finger verkrampften sich um die Zügel. Sie hatte ihren Freund nicht anlügen, sondern nur beruhigen wollen.

Hoher Herr! Bitte verzeih mir meine Sünde!

Plötzlich ertönten Rufe und sie zuckte leicht zusammen. Nolwine öffnete die Augen wieder und sah dann nach vorne. Sie stockte.

Der Weg vor ihnen wurde von unheilvollen Gestalten versperrt und nur ein Wort hallte durch Nolwines Gedanken: Banditen! Angst kroch in ihr auf, als sie sah, wie der Hochgeleuchtete Adiran sein Pferd mutig den Männern entgegen traben ließ und vor ihnen anhielt. Der ältere Mann breitete die Arme aus.

„Lasset uns Frieden halten, meine Söhne und den freudigen Tag nicht mit einer Untat begehen.“

Einer der Diebe fing an laut zu lachen, während ein anderer seine Armbrust hob.

„Hört mal zu: Wenn ihr Leben wollt, dann übergibt uns alles, was ihr besitzt: Pferde, Vorräte, Gold, Schmuck und so weiter.“ Der Blick des Anführers ging durch die Reihen und blieb dann bei Nolwine stehen. „Und das tolle junge Weib! Ihr anderen dürft dann unbeschadet weiterziehen.“ Er sah den alten Mann wieder an. „Wie ihr sieht, kann ich sehr friedfertig sein.“

Als Nolwine diese Worte hörte, wurde die Angst in ihr größer und eine riesige Kälte breitete sich in ihr aus. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Balestrano sein Pferd näher an ihren brachte und die Diebe wütend anfunkelte.

Adiran hob wieder die Arme. „Meine Söhne. Dies könnt ihr nicht wirklich meinen. Weicht von euren falschen Pfad und kommt ins Licht! Sucht Vergebung bei den großen Herrn und er wird euch seine Gnade zuteil…“

Weiter kam der Hochgeleuchtete nicht, denn der Anführer hatte eine kurze Handbewegung gegeben und kurz darauf surrte die Armbrust.

Nolwine schrie auf, als sie sah, wie der Bolzen sich in die Brust des Mannes bohrte, der für sie wie ein Onkel gewesen war. Doch was sie noch mehr schockierte war, dass Balestrano wütend aufbrüllte und sich mit seinen Pferd auf dem Armbrustmann stürzen wollte.

Dann geschah alles sehr schnell.

Ein Gefühl als wollte ihr Kopf bersten, raste durch Nolwine und erschwerte jedes freies Denken. Je mehr sie versuchte, diese Kopfschmerzen zu unterdrücken, desto mächtiger wurden sie. Es schien sie verschlingen zu wollen und dann erreichte es einen Punkt, wo das Mädchen glaubte, jetzt sei alles zu spät und sie schrie ihren Schmerz hinaus.

Zuerst schien die Zeit stehen zu bleiben und alle starrten Nolwin an. Die Diebe, Balestrano und die anderen ihrer Reisegruppe.

Dann kam der Wind. Erst schwach, doch dann immer stärker. Er blies über Feld, zwischen den Personen und wurde mit jedem Herzschlag, der verging, immer heftiger und gewaltvoller. Die Diebe sahen sich ängstlich um, denn sie wussten nicht, was geschah. Der Mann, der die Armbrust in der Hand hatte, zuckte plötzlich und schrie auf. Eine Windböe erfasste ihn und er wurde hochgeschleudert. Er schrie, während er gegen einen Baum am Feldrand prallte und benommen auf dem Boden liegen blieb.

Nun schienen die anderen zu begreifen, dass der Wind nicht normal war und eine Panik begann unter den Dieben. Der Mann, der der Anführer war, schrie seinen Leuten befehle zu. Balestrano wandte sein Pferd und sah zu den Hochgeleuchteten, der in sich gesackt war. Doch er atmete flach. Der junge Mann sah sich dann zu Nolwine um. Er sah sie. Erkannte, dass ihr Blick ins Leere ging und irgendwie kam es ihm vor, als würde der Wind von ihr kommen. Angst stieg in ihm hoch, und auch wenn er tief in Inneren Gefühle für sie hegte, schnappte er sich die Zügel von Adirans Pferd und ließ seinen Hengst losgaloppieren. Weg von dem Feld. Weg von dem Sturm und vor allen weg von Nolwine, der nicht mehr zu retten war.

Der Wind wurde immer noch stärker und um Nolwine bildete sich ein Sturm. Sie jedoch war aus irgendeinem Grund völlig unberührt. Sie verspürte zwar einen Lufthauch, doch dann auch nur ganz sanft. Es war ihr, als würde sie jemanden leise flüstern hören. Sie strengte sich an, diese Stimme zu verstehen und sie nahm an, dass es sich hierbei um eine weibliche Stimme handelte. Aber sie verstand nichts und sie erkannte diese auch nicht.

Die Diebe um sie herum rannten kopflos umher. Suchten einen Ort, wo sie sich festhalten konnten, doch sie konnten nichts finden. Nur am Rande nahm Nolwine wahr, wie ihre Reisegefährten voller Panik fliehen und sie zurückließen. Der Sturm hielt lange an. Immer mehr Menschen wurden gegen Stämme, auf dem Boden und woandershin geschleudert, wo sie reglos liegen blieben. Bäume bogen sich, zerbrachen und kleinere wurde entwurzelt. Es war eine gewaltige Zerstörung, die entstand.

Dann wurde der Sturm weniger und der Wind flachte ab. Erst langsam, dann immer schneller. Als die letzte Böe verstummt war, herrschte eine große Stille.

Nolwine fiel vom Pferd und presste die Hände auf ihren Ohren, denn ihr Kopf dröhnte unablässig und die Schreie hallten noch lange in ihr nach. Tränen liefen über ihr Gesicht. Tränen, die teilweise aus Blut bestanden ... Dann breitete sich eine Hitze in ihren Körper aus und sie krallte ihre Hände in den Boden. Schmerzen schienen ihren ganzen Körper zu befallen, ehe sie langsam abklangen und das Mädchen sich umblickte. Überall sah sie die Menschen, die verstreut reglos dalagen. Sie sah aufgewirbelte Erde und entwurzelte Bäume. Ein Schrei voller Angst entfuhr ihr. Sie blickte sich suchend um. Wo war Balestrano? Wo waren ihre Gefährten? Panik stieg in ihr auf und sie rappelte sich auf. Während sie um ihre eigene Achse drehte, konnte sie immer wieder die Gesichter, welche vor Schmerzen verzogen waren, sehen. Ausdrücke, die sich in ihren Geist brannten. Während die Tränen über ihr Gesicht rannen, fühlte Nolwine sich plötzlich ganz eigenartig und alles um sie herum begann, sich zu drehen. Sie ging einige Schritte, stolperte und fiel hart zu Boden, wobei sie auf ein Schwert eines Diebes fiel, dessen spitzes Ende in ihren rechtem Oberkörper bohrte. Der Schmerz durchfuhr sie und während sie schrie, hüllte Dunkelheit sie ein.

 

Der Wagen rollte über die Straße, welche nach Greisarg führte und rumpelte dabei immer wieder, da sie über ein Schlagloch nach dem anderen fuhren. Am Anfang hatte Thanai versucht, diese auszuweichen, doch je weiter sie in den Nordosten kamen, desto schlimmer wurde die Straße. Eigentlich war dies ein Unding, denn immerhin war die Stadt eine bekannte Hafenstadt. Normalerweise würde man annehmen, dass deswegen alle Straßen, die nach Greisarg führten, gut ausgebaut waren, doch dies war nicht der Fall. Die Frau fluchte leise auf, als sie wieder über ein Loch fuhren, und sah dann über ihre Schulter zu dem Stoff, der über den Wagen. Sorge stand in ihrem Gesicht geschrieben und diese war nicht einmal unbegründet. Der Schrei eines Falken riss sie aus ihren Gedanken und sie sah in den Himmel. Hoch oben flog Vlair, ihr Falke und stieß wieder einen Schrei aus. Die Frau runzelte die Stirn, denn sie hatte keine Ahnung, was der Vogel jetzt von ihr wollte, als sie plötzlich einen Ruck durch die Stränge der Luft vernahm. Sie ließ die Pferde hart anhalten, während sie sich wunderte. Sie kniff die Augen zusammen, ehe sie aufkeuchte. Ein starker Schmerz rann durch einen bestimmten Strang und schien sie innerlich zerbersten zu wollen.

»Was soll ...« Sie brach ab, als eine neue Welle Schmerzen durch sie zog und dann alles abrupt endete. Ungläubig sah sie nach Osten, wo ein weites Feld sich anschloss und fragte sich, was dort passiert war. Sie sah zu ihren Falken. »Vlair! Flieg in die Richtung. Ich will wissen, was los ist!«

Der Falke krähte abermals, ehe er sich im Flug drehte und in die Richtung flog, in der Thanai gezeigt hatte. Als der Vogel aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden war, erhob sie sich und stieg durch den Riss im Stoff in den Wagen. Auf der linken Seite war ein einfaches Strohlager und dort drauf lag eine Frau mit langen blonden Haaren. Ihr Gesicht war schweißnass und ein provisorischer Verband lag um die linke Schulter. Thanai hockte sich neben der Frau hin, berührte sie leicht am Gesicht, um sie zu wecken. »Zhanaile?«

Das fragende Wort hing in der Luft und war voller Sorge.

Die Luftwächterin war besorgt um ihre Freundin, denn seit den Angriff im Wirtshaus, hatte sich die Wunde entzündet und Zhanaile lag die meiste Zeit in einen dämmerartigen Zustand. Sie konnte kaum schlafen, denn die Schmerzen, die das Gift verursachte, hielten sie wach, und wenn sie doch einschlief, dann nur kurz, weil sie dann Träume kamen. Alpträume, über die sie nicht sprechen wollte. In denen der fünf Dörfer, die sie passiert hatten, hatte Thanai nach einer Heilerin gefragt, doch die Antwort war dieselbe gewesen. Entweder war die Heilerin gerade nicht anwesend gewesen, oder aber vor kurzen verstorben und bisher hatte sich keine neue gefunden. Es war zum Verzweifeln! Die Luftwächterin wusste, dass ihre Begleiterin dringend eine fachkundige Heilerin brauchte, denn nun gab es keine Zweifeln mehr, dass der Bolzen vergiftet gewesen war.

Thanai sah, dass die Augenlider von Zhanaile leicht zuckten, ehe sie die Augen ein wenig öffnete. Ihr Blick war milchig und schien durch Thanai durchzugehen. Dann jedoch blinzelte sie und ein wacher Ausdruck trat in ihren Augen.

»Thanai ... sind wir schon da?«

Die Stimme klang schwach und war kaum zu verstehen, wenn Thanai dies nicht erwartet hätte. Sie beugte sich weiter vor und strich eine schweißnasse Strähne aus Zhanailes Gesicht.

»Nein ... leider noch nicht ...«, sagte Thanai und meinte ihre Worte. »Ich habe in der Nähe eine Störung mitbekommen, die ich auf dem Grund gehen möchte.« Sie hielt inne und war sich unsicher. Sie konnte nicht ihre Freundin alleine hier lassen. Das war viel zu gefährlich! Andererseits musste sie unbedingt herausfinden, wer oder was die Störung verursacht haben könnte. »Luftstränge wurden verwendet und dass auf eine brutale Art und Weise. Es kann sein, dass irgendwo welche zerrissen sind.«

Dies war eine gefährliche Sache. Die Stränge, die die Welt durchzogen und die jeweiligen Elemente repräsentierten, waren auf der einen Seite sehr stark und robust, konnten aber auch sehr schnell zerreißen, wenn etwas nicht stimmte. Dies war gefährlich, denn wenn gleich alle Stränge an einem Ort rissen, entstand ein sogenannter Riss. Der Riss führte in das sogenannte Nichts und von diesen aus konnten dann Schatten in die Welt dringen. Schatten, die Zerstörung, Leid und das Böse mit sich brachten. Aus diesem Grund wurde die Wächterschaft der Elemente gegründet, damit diese sich um die Stränge des Gleichgewichtes kümmern und es pflegen konnten. Dass Thanai nun die Vermutung hat, dass ein Luftstrang gerissen ist, bedeutete nichts Gutes.

Zhanailes Augen weideten sich kurz und sie versuchte nach den Strängen des Wassers in der Nähe zu schauen, doch war dazu nicht in der Lage. Sie war zu schwach dafür und das Gift verhinderte, dass sie ihre Stränge richtig ergreifen konnte. Erschöpft schloss sie kurz die Augen. Am liebsten würde sie wütend werden, doch selbst dies schien sie nicht zu schaffen.

»Wenn ein Strang gerissen ist, sollest du es überprüfen«, murmelte die Wasserwächterin. Sie öffnete die Augen wieder, doch ihr Blick sah verschwommen aus. »Und zwar so schnell wie möglich....«

Thanai verzog ihr Gesicht, als sie erkannte, dass ihre Freundin sich sehr anstrengen musste, um überhaupt Worte herausbringen zu können. Ihre Sorge jedoch wurde von Wut abgelöst. Wut über das »Schwarze Blut« und Wut über Akara. Wenn sie nicht verschwunden wäre, wäre dies alles nichts passiert!

Sie beugte sich vor. »Ich werde dies überprüfen, doch dann wärst du hier alleine, denn ich kann den Wagen nicht mitnehmen. Das ist gefährlich. Wir haben keine Ahnung, ob noch mehr vom »Schwarzen Blut« unterwegs sind und ich bin nicht gewillt dieses Risiko einzugehen. Außerdem...«

Sie brach ab, denn Zhanaile ergriff sie hart an dem Arm. »Du musst gehen! Es ist deine Pflicht als Luft-Wächterin der Sache auf dem Grund zu gehen. Du kennst den Schwur, den wir alle leisten. Und wenn wirklich ein Strang gerissen ist. Daraus könnte ein Riss entstehen und dies wäre fatal. Denke an all die Dörfer in der Nähe und die Bewohner. Diese würden den Schatten hilflos ausgeliefert sein. Selbst wenn die Feuerwächterinnen in der Nähe sind.« Zhanaile hielt kurz inne und musste tief Luft holen. Schweiß glänzte auf ihrer Stirn. »Du musst es überprüfen!«

Die Luftwächterin erwiderte nichts darauf, denn sie wusste, dass ihre Freundin recht hatte. Es war ihre Pflicht, etwas dagegen zu unternehmen und sie konnte dieser nicht entkommen. Doch dies wiederum würde bedeuten, dass sie ihre Freundin in Stich lassen musste. Nicht gerade in Stich, aber dafür alleine zurück. Sie schloss die Augen. Ihre Pflicht war wichtiger als die Freundschaft, dass spürte sie jetzt in diesen Moment. Sie war eine Luftwächterin! Sie war dafür verantwortlich, dass die Stränge der Luft intakt blieben und wenn es eine Störung gab, dann musste sie etwas dagegen unternehmen. Mit schweren Herzen öffnete sie die Augen und sah ihre Freundin an.

Es kam nicht oft vor, dass Wächterinnen von verschiedenen Elementen so eine innige Freundschaft hatten, wie sie, Zhanaile und Akara. Vor allen die Freundschaft zwischen Zhanaile, einer Wasserwächterin und Akara einer Feuerwächterin überrascht die meisten, denn Feuer und Wasser waren die gegensätzlichen Elemente, sodass auch die Wächterinnen meistens kaum miteinander auskamen. Zwar gab es keinen Hass oder Konkurrenzdenken zwischen den einzelnen Elementen, doch tiefe innige Freundschaften kam meistens nur innerhalb des Elements vor. Wäre es nicht so, dass Thanai so eine innige Verbundenheit zu Zhanaile verspüren würde, würde sie ohne zu zögern zu der Störung hingehen, doch so ... Sie seufzte und erhob sich. »Ich werde mich beeilen, Vria Zhanaile! Und ich werde eine Luftspeere um den Wagen errichten, sodass niemand dir schaden kann.«

Thanai hatte keine Ahnung, ob ihre Freundin sie verstanden hatte oder nicht, denn deren Augen waren wieder geschlossen und sie atmete leise. Vielleicht war sie schon wieder eingeschlafen, oder hatte anderweitig keine Kraft mehr, um die Augen offen zu halten. Die Luftwächterin ergriff ein Tuch, dass in einer Schale eingeweicht hatte, und legte es dann auf die Stirn von Zhanaile, ehe sie einen Stab ergriff, der in der Ecke des Wagens lag. Dann ging sie hinaus.

Draußen wehte der Wind und spielte mit ihren Haaren, während sie zu den beiden Pferden ging, die den Wagen zogen. Sie ergriff dessen Schulter, führte die Tiere mit den Wagen zum Straßenrand und verankerte die Zügel dann in der Luft, sodass die Pferde nicht plötzlich wegrennen würden. Dann ging sie zu dem hinteren Pferd, löste dessen Zügel von Wagen und schwang sich auf dem Sattel, wobei sie den Stab auf dem Steigbügel abstützte. Sie ließ den Hengst einige Meter in die Wiese traben, drehte sich dann um und schloss kurz die Augen. Als sie diese wieder öffnete, leuchteten ihre Augen grau und ihre Pupille war erweitert.

Thanai betrachtete alle Luftstränge um ihr herum, die sich in der Gegend befanden. Es war so, als würde die Umgebung blass und verschwommen erscheinen und nur die Stränge der Luft waren hervorgehoben. Sie hob die Hand mit dem Stab und fixierte mit ihren Blick vier Luftstränge, die ein vages Viereck um den Wagen samt Pferden bildeten. Dann hob sie ihre freie Hand, ergriff einige Stränge, die vor ihr waren und sich zu den vieren zogen. Sie verband ihre eigenen inneren Luftstränge mit diesen in ihrer Hand und berührte dann mit der Stabspitze die Stränge, die sie festhielt. Ein leichtes Vibrieren erfasste diese Stränge und als auch die herausgesuchten vier leicht in Schwingung versetzt waren, brachte Thanai sie mit einem Ruck zum Stilstand. Die Stränge erstarren regungslos und bildeten somit eine harte unsichtbare Mauer um den Wagen und den Tieren.

Die Luftwächterin entließ die Stränge und trennte die Verbindung zwischen sich und der Luft. Dann öffnete sie die Augen und wandte ihren Blick in die Richtung, wo die Störung hergekommen war.

 

Als Nolwine wieder erwachte, stellte sie verwundert fest, dass sie in ihren Erbrochenen lag und es still war. Es war eine unheimliche Stille, wie sie noch nie gehört hatte und während sie sich fragte, was überhaupt passiert war, merkte sie, dass ein Gefühl der Übelkeit in ihr hochstieg. Dann kam alles schnell. Sie musste sich wieder übergeben, obwohl nichts mehr da war, was sie hätte ausspeien können und ein Schwindelgefühl befiel sie, dass so heftig war, dass sie leise aufschrie. Sie wollte sich erheben, doch merkte sie, dass sie kein einziges Körperglied berühren konnte. Panik kam in ihr hoch und die Erinnerung an das Geschehende fiel über sie herein.

„Nein…nein…“, wollte sie schreien, doch nur ein Flüstern kam heraus, wobei bei jedem Wort eine neue Welle Schmerz in ihren Kopf erwachte. Ein Schluchzen entfuhr ihr.

Sie wollte sich wieder aufrichten, doch es war so, als würde sie versuchen eine Wand wegzuschieben. Nichts rührte sich und der Schmerz in ihr wurde immer heftiger. Dann fingen die Krämpfe an, und wenn sie es gekonnt hätte, dann hätte sie all ihre Pein hinausgeschrien. So jedoch konnte sie nur wimmern und war alles hilflos ausgeliefert.

Es dauerte lange, ehe sie wieder von einer gnädigen Dunkelheit erfasst wurde.

 

In der Ferne konnte sie Vlair, ihren Falken spüren und ahnte, dass er den Platz erreicht hatte, wo etwas vorgefallen war. Sie merkte, dass er aufgeregt war, sodass sie den Hengst zu einem schnelleren Trab anspornte.

Die Felder um ihr herum lagen brach da und vereinzelt ragten gelbliche Halme aus dem Boden. Ein Zeichen dafür, dass vor kurzem noch Getreide hier gewachsen war. Da nun jedoch Herbst war und der Winter nicht mehr lange fern war, lag nun alles wie ausgestorben aus. Dies kam Thanai sehr gelegen, denn so würde in der Gegend um die Störung keine Unschuldigen sein, wenn wirklich das Gleichgewicht verschoben ist.

Je näher die Luftwächterin mit ihrem Hengst zu der Stelle kam, desto mehr spürte sie die Störung in ihren eigenen Luftsträngen. Es war so, als würde etwas an ihren Strängen ziehen und versuchen mit Gewalt all ihre Luft herauszureißen. Ein Stöhnen entfuhr ihr und sie hielt ihr Pferd an, während sie ihre Augen zusammenkniff. Ihr Blick strich über die Landschaft vor sich. Was sie sah, ließ sie entsetzt inne halten. Bäume waren entwurzelt, mehrere Menschen lagen reglos auf dem Boden und eine unnatürliche Stille hüllte alles ein. Sie konnte einen alten blattlosen Baum erkennen, wo auf einem hohen Ast Vlair saß. Der Falke krähte etwas und schien sehr aufgeregt zu sein. Immer wieder ging sein Kopf in eine bestimmte Richtung. So, als würde er ihr etwas zeigen wollen. Ihre Augen wanderten zu der Stelle und sie hielt inne.

Einige Meter von dem Baum entfernt lag eine reglose Gestalt auf dem Boden und genau von dieser gingen die Störungen der Luftstränge aus.

 

Wäre es möglich gewesen, dann wäre Nolwine zusammengezuckt, als sie plötzlich Schritte vernahm. Doch sie war sich nicht sicher, denn der Schmerz in ihr benebelte ihre Sinne und sie dachte, dass sie nun den Verstand verlor. Doch dann war sie sich sicher, dass sich jemand neben ihr befand und wenig später hörte sie eine mitleidige Stimme. „Es wird alles gut … es wird alles gut.“

Nolwine hätte am liebsten laut aufgelacht, doch das Einzige, was sie zustande brachte, war ein weiteres Wimmern. Dann wurde sie plötzlich, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, so herumgedreht, dass sie nach oben zu dem Himmel starrte und verschwommen eine über sich gebeugte Gestalt erkennen konnte. Panik stieg wieder in ihr hoch und sie wollte schreien, doch das Einzige, was sie erreicht war, dass sie kaum Luft bekam und ein neuer Krampfanfall sie heimsuchte. Wenn sie nicht schon vorher alle Tränen vergossen hätte, dann würde sie jetzt wieder in Strömen weinen.

„Ganz ruhig“, sprach die Gestalt sanft und legte ihre rechte Hand auf Nolwines Stirn, die von Fieberschweiß ganz feucht war. „Es wird alles wieder gut.“

Plötzlich spürte Nolwine, wie der Schmerz nachließ und ihr Blick klarer wurde. Nun erkannte sie, dass die Gestalt eine Frau war, die sie mit konzentriertem, aber auch mitfühlenden Gesichtsausdruck zu ihr niedersah. Dann nach Stunden, wie es für das Mädchen schien, verklang das letzte Übelkeitsgefühl und nur ein leichtes Summen blieb in ihren Kopf zurück. Verwirrt sah sie die Frau an, auf deren Stirn sich Schweiß gebildet hatte. Doch sie lächelte leicht.

 

Kaum hatte sich Thanai neben dem Mädchen niedergelassen, wusste sie, was dieses gerade durchmachte. Sie selber verspürte öfters solche Schmerzen, sodass deutliches Mitgefühl für die Person in ihr aufkam. Sie drehte die junge Frau auf dem Rücken, sah wie deren Augen vor Schmerzen trübe waren, und legte ihre rechte Hand auf die Stirn der anderen. Die Luftwächterin schloss kurz die Augen, konzentrierte sich und als sie wieder diese öffnete, verband sie einen ihrer eigenen Luftstränge mit dem des Mädchens. Kaum war ihr Gleichgewicht mit dem der Fremden verbunden, sah sie wie sehr die Luftstränge in dem Mädchen verschoben waren und sich immer wieder aufbäumten.

Langsam begann Thanai die Luftstränge des inneren Gleichgewichtes der Fremden zu beruhigen, und zu besänftigen. Es dauerte nicht lange und der verkrampfte Ausdruck in den Augen des Mädchens löste sich. Kurz darauf fiel sie in einen tiefen Schlaf.

Vorsichtig löste Thanai die Verbindung und erhob sich.

Es war mit wenigen Blicken zu erkennen, dass die Männer, die hier tot verstreut lagen, Gesetzlose sein mussten. Ihr Aussehen verriet dies und zwei erkannte sie von Flugblättern. Thanai schüttelte den Kopf. Sie hatte nun eine leichte Ahnung, was hier passiert sein musste. Ihr Blick fiel zu der Schlafenden und als sie deren Kleidung erkannte, ahnte sie, dass es kompliziert werden würde.

Die Gesetzlosen mussten versucht haben, das Mädchen anzugreifen und diese hat unbewusst zu den Luftsträngen gegriffen, um sich zu verteidigen. Es war selten, dass die Gabe der Luft so spät bei jemand zu Tage kommt, aber es kam immer wieder vor. Je älter man war, desto gefährlicher und schmerzhafter war der Übergang, wenn die eigenen Stränge sich mit dem Strängen des umgebenen Gleichgewichtes verbanden.

Die Luftwächterin sah das Mädchen genau an und schätzte es auf knapp fünfzehn Jahre. Sie vermutete, dass dieses Kind in den letzten Wochen von Schmerzen und Schwindel geplagt war. Thanai schüttelte den Kopf. Das Mädchen hatte Glück gehabt. Wenn sie nicht zufälligerweise in der Nähe gewesen wäre, wäre das Kind in den nächsten Stunden qualvoll gestorben. Dennoch war es eine ungünstige Zeit. Sie selber musste Akara finden und nach Sardenthal bringen. Dann musste sie noch dringender Zhanaile zu seiner Heilerin bringen. Sich jetzt noch um eine zukünftige Luftwächterin zu kümmern, die unter Erleuchteten aufgewachsen war, würde alles nur noch komplizierter machen.

Hoffentlich sind einige Luftwächterinnen in Greisarg. Sie könnten es übernehmen, das Kind nach Neirhain zu bringen!

Seufzend ging Thanai zu dem Hengst und setzte die Schlafende vorsichtig auf diesen. Dann nahm sie ihren Stab, setzte sich hinter den Mädchen und pfiff kurz. Vlair kam vom Baum und flog auf ihre Schulter. Sie sah ein letztes Mal zu den Toten und nahm sich vor, im nächsten Dorf den Bewohnern Bescheid zu sagen. Sollten sie sich um diese dann kümmern. Sie musste jetzt dringend wieder zu Zhanaile und dann weiter nach Greisarg reisen.

Kapitel Fünf

Vorbereitungen für den Winter

 

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie sind immer um uns herum und beeinflussen alle Zeiten.

 

Silwyana ra`Jorsen ai`Zen,

Drulthara,

Sommer im Jahre 114 vor der Nebelwand

 

„Vier Kupferstücke und nicht mehr“, sagte Saren und starrte den Händler wütend an. Sie zeigte auf ein Stück Käse, dass nicht besonders groß war und auf eine Frucht, die ebenfalls mickrig aussah. „Selbst dass ist noch zu viel!“

Der Händler verzog sein Gesicht und warf einen Blick auf die beiden Produkte in seiner Sammlung. Er schüttelte den Kopf. „Nein. Schon die Frucht alleine ist soviel wert. Sie ist selten und kommt nur in Whyrea vor. Außerdem bezweifle ich, dass du eine Ahnung hast, wie die Preise sind“, fügte er hinzu und sah Saren verächtlich an. „Und der Käse selber kostet drei Kupferstücke. Er ist aus reiner Ziegenmilch hergestellt und besitzt besondere Kräuter. Auf dem Markt in Muratha könnte ich sogar bis zu fünf Kupferstücke bekommen.“

Dass der nicht rot wird, wenn er so lügt, fuhr es Saren durch den Kopf und schluckte ihre erste Entgegnung hinunter. Sie sah auf den Käse und dann zu der Frucht, während sie in der linken Hand ihren Geldbeutel hielt. Sie wollte ihrer kleinen Schwester eine Freude machen, nachdem sie heute Morgen das Schreckliche bei Aram gesehen hatte und war deshalb zum Markt gegangen. Sie hatte gehört, dass eine Händlerkarawane hier zwei Tage bleiben wollte und beschlossen etwas Außergewöhnliches zu kaufen. Doch leider waren exotische Waren immer teuer.

„Fünf Kupferstücke für beides“, sagte sie und zeigte dann auf die Frucht. „Diese sieht schon ziemlich matschig aus. Ich bezweifle, dass sie jemand hier kaufen würde und bis zum nächsten Dorf ist es eine Reise von drei Tagen. Dann würde sie noch schlechter aussehen und ihr würdest sie überhaupt nicht loswerden.“

Sie sah, dass der Händler einen nachdenklichen Blick aufgesetzt hatte und sich am seinen Kopf kratzte. Er verzog sein Gesicht. „Fünf Kupfer und sieben Eisent. Das ist die Grenze, sonst würde ich draufzahlen“, sagte er und kratzte eine Stelle an seinem Hals.

Saren presste die Lippen zusammen und trat einen Schritt zurück. Seit sie an dem Stand getreten war, musste der Mann sich überall kratzen. Fast so, als würde Läuse haben. Sie schüttelte den Kopf. „Fünf Kupfer und drei Eisent, aber mehr auch nicht!“ Sie verschränkte ihre Arme und kniff die Augen zusammen. „Wenn ihr denkt, dass ihr in Cariet für diese Speisen mehr bekommt, dann versucht es dort.“

Der Händler hielt mit dem Kratzen inne und sah zu seinen Waren, ehe er mit den Schultern zuckte. „Ich bin heute mal großzügig“, meinte er und schenkte Saren ein breites Lächeln. „Aber nur, weil ich dich mag.“

Es gelang Saren nur schwer, ein Würggeräusch zu unterdrücken und kramte die Münzen aus ihren Beutel. Ihr Herz wurde schwer, als sie das Geld dem Händler gab und dafür im Gegenzug die beiden Produkte bekam. Sie wusste tief im Inneren, dass sie immer noch zu viel bezahlt hatte, doch wollte unbedingt ihrer Schwester eine Freude machen.

Da wird es wohl in nächster Zukunft nur Kräutersuppe geben. Saren hasste es, wenn sie ihrer Schwester nicht etwas Gutes zu Essen bieten konnte, doch wusste gleichzeitig, dass ihre Schwester sich niemals beschweren würde.

Nachdem sie den Käse und die Frucht, deren Name sie nicht einmal kannte, gut verstaut hatte, wandte sie sich von dem Stand ab und ging zwischen den anderen Händlerständen. Eigentlich hatte sie vorgehabt, endlich mal ein gutes Oberteil für sich selber zu kaufen, doch diesen Gedanken verwarf sie wieder. Es würde noch reichen, wenn sie ihre eigenen Flicken würde und zur Not gab es noch die Kleidung ihres Vaters, die sie kürzen konnte. Zwar sahen diese auch nicht mehr gut aus, doch es würde reichen müssen. Allerdings musste sie dringend einen warmen Mantel für ihre Schwester kaufen, ehe der Winter begann. Aus dem letzten war sie herausgewachsen und die Mäntel ihrer Eltern waren schon vor zwei Jahren in etwas anderes verwandelt wurden.

Saren seufzte. Eigentlich brauchte sie auch einen, doch dies wäre erst recht nicht drin.

Ihr Weg führte zu einem Stand, wo Kleidung angeboten wurde und sah sich dort um.

In ihrem Geldbeutel waren noch elf Eisent, acht Kupferstücke und ein Silberstück. Sie wusste, dass es nicht viel war und hoffte, dass sie wenigsten einen Mantel bekommen würde. Sie wollte nicht, dass Aleitha frieren würde.

Eine ältere Frau, welche wohl die Besitzerin des Standes war, trat auf sie zu und verzog das Gesicht, als sie Saren betrachtete. Dies wunderte das Mädchen nicht, denn ihr war klar, dass ihre Kleidung einen nicht gepflegten Eindruck zeigte. An vielen Stellen waren Flicken zu erkennen, oder Risse, die noch nicht versorgt worden waren.

„Womit kann ich ihnen helfen“, fragte die Händlerin und nichts an ihrer Stimme ließ daran zu erkennen, wie sie dachte. Ganz im Gegenteil, denn sie klang freundlich.

Viel wirst du bei mir nicht holen können, fuhr es Saren durch den Kopf und begann das Fleischen um einen Mantel, der in ihr Auge gesprungen war.

 

Wenn es etwas gab, das langweiliger war, als Holz zu hacken, dann war es das Sammeln von Waldbeeren. Saren beugte sich runter, schaute eine Pflanze ganz genau an und suchte nach kleinen bläulichen Früchten, welche gut schmeckten und zur Genüge hier im Wald wuchsen. Das Suchen war eine gute Beschäftigung, wenn sie eine Pause vom Holzhacken machte, denn dazu musste sie nichts Schweres tragen. Außerdem konnte sie dadurch ihren Hunger ein wenig stillen.

Drei Beeren. Mehr war an der einen Pflanze nicht zu finden und Saren richtete sich wieder auf. Sie beugte ihren Rücken durch und sah sich um. In der Nähe steckte ihre Axt im Baum und noch etwas entfernter konnte sie das Rascheln im Unterholz vernehmen. Es war Aleitha, die ebenfalls nach Beeren suchte.

Saren seufzte. Seit dem Besuch von Aram waren drei Tage vergangen und sie war froh, dass ihre Schwester sich langsam wieder im Griff bekam. Saren verstand, dass es schwer war, wenn man sah, dass jemand sterben würde, den man kannte, doch dies machte sie einfach nur wütend. Wütend darüber, dass ihre Schwester immer nachgab und ihre Gabe anwandte. „Verdammt“, rief plötzlich Aleitha und Saren hob eine Augenbraue. Es war selten, dass sie hörte, wie ihre Schwester fluchte und gleichzeitig war es auch erleichternd. Wenn Aleitha in einer Laune war, wo sie fluchte, dann bedeutete es, dass sie nicht mehr in düsteren Gedanken gefangen war.

Saren lachte leise auf und begann sich in Richtung ihrer Schwester zu bewegen, wobei sie den Untergrund fest im Blick hielt. Immer wenn sie eine Pflanze sah, die noch Beeren trug, beugte sie runter und überprüfte, ob diese schon reif waren. Ihre Ausbeute jedoch war gering. Zum einen begaben sich viele Bewohner von Ferren in dem Wald und suchten nach diesen Beeren und zum anderen war es schon spät im Jahr, sodass die Reifezeit schon längst vorbei war. Dennoch gab es ein paar Pflanzen, die immer noch trugen und dies wollte Saren auf jeden Fall nutzen.

Sie sah in ihren Korb und sah, dass der Boden gerade mal bedeckt war. Was hieß, dass es nicht viele Beeren waren, denn der Korb war klein und die Früchte nicht klein.

Sie seufzte abermals und ihr Blick ging zu der Axt, die immer noch im Holz steckte. Vielleicht sollte sie mit dem Sammeln aufhören und sich ihrer eigentlichen Aufgabe widmen? Ihre Arme protestierten zwar immer noch, doch darauf dufte sie einfach keine Rücksicht nehmen. Saren setzte einen ergebenen Blick auf und stellte ihren Korb auf einem Baumstumpf. Sie spuckte in ihre Hände und ergriff den Griff der Axt. Es war nicht leicht, doch die Axt gab nach und glitt mit einem Ratsch aus dem Stamm.

»`leitha! Ich hacke weiter. Pass also auf, dass du Abstand hältst«, rief sie ihrer Schwester zu und wandte sich dann wieder zu dem kleinen Baum, dessen Krone von einem Sturm zerstört wurde und halb tot war. Mit anderen Worten ein guter Baum, den sie fällen konnte, ohne auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein.

Sie hob die Axt und legte all ihre Kraft in den Schlag. Mit einem dumpfen Geräusch grub sich die Blattscheide in das Holz und kleine Splitter flogen zur Seite. Saren wollte abermals ausholen, als ein ungutes Gefühl sie ereilte und sie auf die Axt starrte, die noch in dem Baum steckte. Ihr Kopf begann zu dröhnen und sie stöhnte leise auf. Es war ihr so, als würde sie das Rauschen ihres Blutes hören und dann war es ihr so, als würde jemand ihre Seele ergreifen und mit brutaler Gewalt hinausschleudern.

 

Schmerzen erfüllte Saren und Dunkelheit umhüllte sie. Angst kam in ihr auf. Außer den Schmerzen spürte sie nicht. Es war ihr so, als würde sie keinen Körper besitzen und dies schien sie noch mehr zu verunsichern, als die Frage, woher diese Schmerzen kamen. Sie presste ihre Zähne zusammen, doch spürte dies nicht.

„Was zum …“

Plötzlich hatte sie das Gefühl, das sie fallen würde und kam hart auf dem Boden auf. Die Luft wurde aus ihre Lungen gepresst und ein erneuter Schmerz durchfuhr sie. Sie keuchte und rollte sich auf dem Bauch.

Es war eine Höhle, in der sie sich befand und sie fragte sich, wie sie hierher gekommen war? Wage nahm sie wahr, dass sie plötzlich ihren Körper wieder spürte und sie erhob sich.

Wo war sie?

Schwerfällig richtete sie sich auf und sah sich um. Die Höhle, in der sie sich befand, war riesig. So groß, dass sie nicht das andere Ende erkennen konnte. Erhellt wurde diese von mehr als hundert Schalen, in denen Öl brannte und die flackernden Flammen einen angenehmen Schein bildeten. Inmitten der Höhle befanden sich unzählige Personen, welche in Schwarzen Umhängen gekleidet waren und immer mehr wurden. Neben jeder Schale, die an den Wänden standen, befand sich ein maskierter Wächter in tiefschwarzer Rüstung und das Schwert erhoben. Saren schluckte. Sie war sich sicher, das sollte jemand versuchen hier Unfug zu machen, dann würde dieser schnell ergriffen werden. An der Nordseite der Höhle befand sich ein Podest, wo ein schwarzer großer Altar mit goldener Verzierung zu erkennen war. Neben den Podest standen auch zwei Wächter, die starr nach vorne schauten. Auf dem Altar waren zwei Personen. Gefesselt und bewusstlos. Es waren zwei wunderschöne Frauen mit langem rotem Haar. Sie waren in roten Gewändern gekleidet und ihre Hände befanden sich auf ihren Oberkörpern. In ihnen klemmten jeweils eine schwarze und eine rote Rose. Der Altar war mit einem schneeweißen Tuch bedeckt. Über diesen hing eine riesige Flagge. Sie grau mit einem schwarzen Symbol: Ein Kreis mit vier Punkten. Sarens Herz begann zu Klopfen und sie sah sich nach einem Ausweg um, doch so sehr sie sich auch umschaute, sie konnte keinen finden. Von wo waren die Personen hergekommen? Sie duckte sich hinter eine Säule und wunderte sich, warum bisher niemand sie angesprochen hatte. Immerhin trug sie keine schwarze Kleidung, sodass es offensichtlich war, dass sie nicht hierher gehörte. Sie sah sich weiter um.

Immer mehr verschleierte Gestalten drangen in die Höhle, sodass diese sich bald füllte. Woher diese kamen, wurde Saren nicht ersichtlich. Es schien tatsächlich so, dass sie einfach erschienen. Lange dauerte es auch nicht und die Höhle war voll. Mehr als einhundert Anhänger in weiten schwarzen Kutten gehüllt. Ihre Gesichter waren durch eine Kapuze verborgen. Es wurde geflüstert und getuschelt, als eine Person im blutroten Gewand vor den Altar trat. Er hob die rechte Hand.

Sofort ertönte ein lautes Geräusch, weil zwei Gestalten mit Knüppeln gegen eine riesige Scheibe schlugen. Der Gong vibrierte und ließ seinen Laut verhallen. Mit einem Schlag herrschte völlige Stille.

Saren schluckte. Sie hatte keine Ahnung, was dies alles zu bedeuten hatte und wollte einfach nur noch weg von hier.

Träume ich? Ja, das muss es sein. Ich muss eingeschlafen sein.

Der Gedanke war nicht besonders erleichternd, doch er half ihr nicht, in Panik zu verfallen. Sie sah zu dem Mann in dem blutroten Gewändern.

Der Priester im blutroten Gewand warf nun beide Arme in die Luft und schrie, wobei seine Worte in der ganzen Höhle hallten:

„Der Tag ist nicht mehr fern! Der Tag unserer Rache! Der Sieg ist zum greifen nah! Hört mich an, Brüder und Schwester des Schwarzen Blutes. Hört meine Worte und lasst euch sagen, dass Ruhm und Ehre auf uns warten. Unser aller Herr, der Herrscher der Schwärze, Hrath wird uns beistehen, wenn wir die falschen Priesterinnen und ihre Brut ausrotten. Wenn wir uns das holen, was unser ist und die Glorie des Meisters hierher bringen werden. Das ganze Land wird ein Hort des Schwarzen Blutes werden und wir, die Gemeinschaft des Schwarzen Blutes, werden uns endlich erheben. Die Anhänger der falschen Götter waren es, die uns jagen ließen. All die ganzen Jahrtausenden von Jahren wurden wir verfolgt und getötet. Und zwar von niemand anderes als von der Wächterschaft selber. Die, die falsch ist und jeden ins Unglück stürzt!

Wir sind die Zukunft! Wir sind es, die den Gnaden des wahren Gutes in dieses Land bringen werden. Die falschen Priesterinnen sagen, dass wir im Unrecht sind. Ich aber sage euch, dass sie es sind, die in Unrecht sind und uns alle verraten haben. Lass uns das Land befreien! Befreien von den Wächterinnen, die nur Unglück bringen! Um dies zu erreichen, müssen wir das Übel an der Wurzel greifen: Tot den Wächterinnen und ihre Anhängerinnen!“

Die letzten Worte schrie der Priester hinaus. Seine Stimme zitterte vor Hass und sein Gesicht, welches im Halbdunkeln verborgen war, was vor Zorn verzehrt. Er ließ die Arme sinken und für eine ganze Zeit herrschte Schweigen. Dann aber warf er wieder die Arme in die Höhe und schrie:

„Nieder mit falschen Priesterinnen!“

Sofort stimmte die Menge zu. Es gab viele Rufe und Schreie. Man stampfte auf den Boden und verfluchte die Wächterschaft. Aber auch die Geweihten Houar, Ethron, Vraja und und all die anderen, welche falsch waren und nur Unglück brachten. Die Menge tobte und war aufgebracht. Zufrieden lächelte der Priester und mit einem Feuer im Auge sah er seine Untergebenen an. Nur ein weiteres Wort von ihm und sie würde losstürmen. Sie würde den kürzesten Weg zum nächsten Tempel nehmen und diesen schreiend niederbrennen.

Als dies Saren merkte, wurde es ihr angst und bange. Hier wurde gerade ein Mob geschaffen, der morden wollte. Und zwar Priesterinnen. Saren war nicht gläubig und hatte auch nicht viel mit den Geweihten zu tun, doch der Gedanke, Priesterinnen anzugreifen, verursachte Übelkeit in ihr.

Nachdem die Anhänger des Schwarzen Bundes ihre Gebete, Flüche und Wünsche leise vor sich hingemurmelt hatten, kam es zu einem Höhepunkt. Der Priester in dem blutroten Gewand trat zu dem Altar, wo die beiden Personen lagen. Sein Gesicht verzehrte sich für einige Augenblicke hasserfüllt, ehe er sich wieder unter Kontrolle hatte und aus einen Gewand einen Dolch hob, dessen Klinge gewellt war. Er ging zu einer der bewusstlosen Frauen und hob den Dolch hoch. Dessen Spitze ziele genau auf das Herz.

Saren öffnete den Mund und schrie. Zu spät wurde ihr bewusst, dass es keine gute Idee war, doch da war es auch schon zu spät. Zu ihrer Überraschung reagierte niemand auf ihren Schrei. Es herrschte Stille und jeder Anwesende starrte gebannt auf das Podest.

Verwirrt verzog Saren ihr Gesicht und wusste nicht, was sie machen sollte. Sollte sie vorrennen? Doch wenn sie dies tat, würde man sie spätestens dann sehen. Sie schloss die Augen, spürte, das Tränen in ihr aufkamen und hockte sich hinter der Säule.

„Ich will hier weg…“, murmelte sie und öffnete ein klein wenig die Augen. Vielleicht war es ein Missverständnis und man würde nicht die Frauen töten. Sie sah wieder zu dem Podest. »Nun ist es so weit.“, schrie der Priester. „Heute werden zwei Missgeburten, die sich Wächterinnen nennen, sterben, ehe sie noch mehr Unheil anrichten können. Die Brut von Ethron und die Brut von Thràk wird heute sterben und der Weg zur Befreiung wird näher kommen.«

Stille breitete sich in der Höhle aus. Jeder blickte gebannt zu dem Hohepriester, der mit feierlichem Ausdruck in dem Gesicht, den Dolch höher hob und dann mit voller Kraft in den Herzen der ersten Frau rammte. Er umrundete schnell den Altar und stach den Dolch ein zweites Mal zu, um auch das Lebenslicht der anderen Frau auszuschalten. Als er die Waffe dann wieder erhob und von der Blut tropfte, ertönte ein lauter Jubel. Die ganze Menge schrie begeistert auf.

Saren schrie ebenfalls. Vor Angst und Panik. Ihr Blick war auf den Dolch gerichtet. Sie schrie und schrie.

„Saren!“

Sie spürte, wie jemand an ihre Schulter griff und sie zuckte zusammen, während sie lauter schrie.

„Saren! Wach auf!“

Plötzlich verspürte sie wieder ein Ziehen. Als würde jemand ihre Seele ergreifen und mit voller Wucht in die Finsternis schleudern.

 

„Saren. Wach doch bitte auf“, drang eine weinerliche Stimme an Sarens Ohren und sie spürte, dass wieder jemand ihre Schulter ergriff. „Saren! Bitte!“

Blinzelnd öffnete Saren ihre Augen und schloss sofort wieder, als grelles Licht sie blendete. Sie wartete zwei-drei Herzschläge und öffnete ihre Augen erneut. Verwirrt erkannte sie, dass ihre kleine Schwester neben ihr Kniete und weinte. Warum weinte Aleitha?

„`leitha“, flüsterte Saren und wunderte sich, wieso ihre Stimme heißer klang. Sie hob ihre Hand und wischte die Tränen weg.

Aleitha ergriff ihre Hand und drückte sie an ihre Brust.

„Saren! Den Geweihten sei Dank!“

„Was ist passiert“, fragte Saren und wollte sich aufrichten, doch ein scharfer Stich ging durch ihren Kopf. Sie stöhnte auf und lehnte sich wieder zurück. Sofort wurde der Schmerz weniger. „Warum weinst du?“

Ihre kleine Schwester riss die Augen auf und sah für einen Moment verloren aus. So, als würde sie nicht wissen, was sie antworten sollte. Doch dies währte nur für einen Augenblick, denn in den Augen sammelten sich neue Tränen.

„Du…du…“, begann Aleitha und musste schlucken. „Du bist einfach umgekippt und ich konnte dich nicht wecken. Es war so, als wärest du nicht da gewesen … du … du hast nicht mehr geleuchtet, aber warst auch nicht düster. Es war so, als wärest du überhaupt nicht anwesend.“

Saren sah ihre Schwester mit weit aufgerissenen Augen an. Sie konnte nicht glauben, was sie da gerade gehört hatte und wusste jedoch gleichzeitig, dass es die Wahrheit war. Wage konnte sie sich an den Traum erinnern, den sie gehabt hatte. Traum? Saren war sich ganz unsicher, ob es sich wirklich um einen Traum gehandelt hatte. Wenn es jedoch kein Traum war, was war es dann gewesen?

„Mir geht es gut“, sagte sie leise und schenkte ihrer Schwester ein Lächeln. „Mach dir keine Sorgen, `leitha. Ich bin nur müde … schon die letzten Tage. Vielleicht sollte ich einfach mehr schlafen.“

Dass ihre Schwester ihr diese Worte nicht wirklich abnahm, konnte Saren erkennen, doch was sollte sie dazu sagen? Dass sie keine Ahnung hatte, was gerade passiert war? Dass sie das Gefühl hatte, als würde jemand ihre Seele herausreißen?

Du hast nicht mehr geleuchtet, aber warst auch nicht düster.

Saren war klar, was ihre Schwester damit gemeint hatte und wunderte sich selber. Wenn Aleitha ihre Gabe anwandte, dann sah sie, wer lebte und wer in kürze sterben würde. Manchmal war es aber auch so, dass sie ohne es zu wollen sah, wenn jemand den Tod geweiht war. Dann sah sie, wie die Person immer düsterer wurde.

Ich war weder hell, noch düster? Ha! Dann war ich nicht am leben und nicht tot …Aleitha musste sich irren.

Sie versuchte sich ein zweites Mal aufzurichten und war froh, dass es ihr gelang.

„Lass uns nach Hause gehen … ich wird nicht mehr Holz hacken oder irgendetwas sammeln, `leitha. Machen wir Schluss für heute!“

Ihre Schwester nickte und erhob sich. Kurz darauf half sie ihrer Schwester aufzustehen. Die Sorge in Aleithas Augen verschwand nicht, doch sie sagte nichts weiter. Darüber war Saren mehr als froh.

 

 

Kapitel Sechs

Schmerzhaftes Erwachen

 

Wenn dein Glaube stark genug ist, dann kannst du über dein eigenes Leben bestimmen.

 

Adiran Krelin,

Hochgeleuchtete vom Konvent in Saharten,

Herbst im Jahre 2597

 

 

Es war so, als triebe sie auf einen Fluss voller eiskaltem Wasser und die Kälte fraß sich in ihren Körper, pikste wie tausend kleine Nadeln und sorgten dafür, dass sie nicht ruhig schlafen konnte. Sie warf sich hin und her, weinte leise und versuchte die Schmerzen zu entkommen. Völlige Dunkelheit herrschte um sie herum und sie konnte sich nicht orientieren, wo sie sich befand. Das einzige was sie außer den Schmerzen wahrnahm, war eine Stimme, die ab und zu ertönte. Es war eine freundliche Stimme, die beruhigend auf sie einsprach und ihr ein Gefühl der Geborgenheit vermittelte.

Sie wusste nicht, wie lange sie in dem kalten Wasser sich befunden hatte, doch spürte sie nach einiger Zeit, dass die Schmerzen weniger wurden und dann urplötzlich aufhörten, so als wären sie nie da gewesen. Benommen und langsam öffnete Nolwine die Augen. Zuerst nahm sie alles verschwommen wahr, doch dann konnte sie Stoff über sich erkennen und etwas in ihren Kopf schlussfolgerte, dass sie sich in einen Zelt befinden musste. Dann jedoch merkte sie, dass der Untergrund auf dem sie sich befand, sich bewegte. Doch kein Zelt? Verwirrt stützte sie sich mit einer Hand ab und richtete ihren Oberkörper auf. Dabei überkam ihr ein Schwindelgefühl, doch sie versuchte dies zu ignorieren. Sie merkte, dass ihre ganze Kleidung völlig nass war. Wie konnte dies geschehen? Verunsicherung machte sich in ihr breit, doch als sie sich erinnern wollte, war es so, als würde sie auf eine Blockade treffen. Sie schüttelte leicht den Kopf und sah sich um.

Nolwine erkannte, dass sie sich in einem Reisewagen befinden mussten. Sie konnte das Klappern von Hufen vernehmen und das Holpern des Wagens, wenn er durch ein Schlagloch fuhr. Der Wagen war innen klein. Es gab auf jeder Seite ein Bett. Auf eins befand sie sich und als sie zu den anderen blickte, erkannte sie, dass dieses ebenfalls belegt war. Eine Frau, welche lange braune Haare besaß und auf deren Stirn ein blauer Tropfen prangte. Nolwine runzelte die Stirn. Sie sah dann zu dem Ende, wo sie den Kutscherblock hinter den Stoff vermutete.

Wo war sie? Und wer waren die Fremden?

Sie kniff die Augen zusammen. Es gab immer noch eine Blockade in ihren Gedanken. Eine Blockade, die sie verunsicherte. Sie konnte sich noch daran erinnern, dass sie auf dem Weg nach Greisarg war, um dort endlich zu einer Erleuchteten ernannt zu werden. Doch dann…

Ein scharfer Schmerz raste durch Nolwines Gedanken, doch kurz darauf kamen die Erinnerungen. Sie stürzten über sie ein wie ein reißender Damm. Sie erinnerte sich an die Diebe, daran, dass der Hochgeleuchtete Adiran verletzt worden war. Vor allen jedoch erinnerte sie sich klar daran, was dann passiert war. An den Sturm, der aufgetaucht war und an den Tod der Diebe. Daran, dass Balestrano und alle anderen ihrer Reisegruppe in Panik geflohen waren.

Nolwine hockte ihre Beine an und umfasste sie. Sie legte den Kopf auf ihre Knie und Tränen liefen über ihr Gesicht. Was hatte sie getan? Hatte der Eine sie dafür bestraft, dass sie gelogen hatte? Sie weinte lange lautlos und als die Tränen endlich versiegten, sah sie sich wieder um. Sie konnte sich verschwommen an eine Gestalt mit einer Tätowierung im Gesicht erinnern. Hatte diese ihr geholfen? Nolwine sah wieder zu der Frau im Bett. Eine Frau mit einem Tropfen auf der Stirn.

Plötzlich riss Nolwine die Augen auf und ihr wurde es eiskalt. Diese Frau musste eine Wächterin sein!

Ängstlich sah sie zu der Stelle, wo sie die Pferde vermutete und Panik kam langsam in ihr auf. War die andere Person, die den Wagen lenkte, auch eine Wächterin? Eine Frau, die dem Bösen verfallen war und gegen die Gebote des Einen handelte?

Ich muss hier weg!

Sie stand schwankend auf, versuchte ihr Gleichgewicht im schwankenden Wagen zu halten und ging zum Ende des Wagens, wo sie den Stoff beiseiteschob. Nolwine erkannte, dass ein Pferd so angebunden war, dass es den Wagen folgen musste. Sie sah über ihre Schulter und vermutete, dass zwei andere Pferde den Wagen zogen. Dann fiel ihr Blick wieder auf das einzelne Pferd. Eine Idee formte sich in ihren Gedanken.

Falls es ihr gelingen sollte, die Zügel des Pferdes zu lösen und sich auf das Pferd zu setzen, ohne dass die Wagenlenkerin es mitbekam, könnte sie vielleicht fliehen. Dazu jedoch müsste das Pferd schweigen alles mit sich geschehen lassen und dies war die Frage, ob es sich gefallen lassen wird. Was habe ich schon zu verlieren.

Nolwine sah sich abermals im Wagen um. Sie hatte erkannt, dass die zweite Frau im Bett bewusstlos war. Ihre Stirn war schweißnass und sie hatte einen Verband um eine Schulter. Wahrscheinlich war sie verletzt. Dies bedeutete, dass diese Frau ihr nicht gefährlich werden konnte. Wenn sie also keinen allzu großen Krach machte, könnte sie vielleicht doch fliehen.

Sie nahm ein dickes Messer, das in einer Scheide an einen Hacken hing und nahm sich ebenfalls einen dicken Umhang, denn ihren eigenen konnte sie nicht finden. Dann drehte sie sich wieder dem Ausgang zu und schob den Stoff beiseite. Sie sah, wie die Ohren des Pferdes zuckten.

»Brav…ganz brav mein Lieber«, murmelte sie und fummelte an den Zügeln, um den Knoten zu öffnen. Zum Glück waren die Zügel nicht allzu gespannt, sodass sie kurze Zeit später die Zügel vom Wagen gelöst hatte.

Das Pferd, es war schwarz, sah sie aufmerksam an, doch gab keinen Laut von sich.

Nolwine zog so an den Zügeln, dass das Pferd ganz nah am Wagen kam, aber dennoch neben ihm lief. Sie gab sich einen Ruck, sprang auf das Tier und hielt die Zügel so straff, dass das Tier stehen blieb.

Der Wagen vor ihnen, fuhr weiter und als das Pferd keinerlei Anstalten zu machte, zu wiehern oder dem Wagen zu folgen, fiel Nolwine ein Stein vom Herzen. Sollte es wirklich so einfach sein?

Sie wartete, bis der Wagen vor ihr hinter einem Hügel verschwand und sah sich um.

Neben den Pfad auf dem sie sich befanden, gab es Felder und nur in der Ferne waren vereinzelte Bäume zu erkennen.

Wo war sie?

Lange überlegte Nolwine nicht. Sie hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde und die Frau würde merken, dass sie geflohen war. Demzufolge wollte sie keine Zeit verschwenden und lenkte das Pferd auf das Feld, das sich rechts von ihr befand. Dann gab sie das Tier die Sporen, welches kurz auf wieherte und in einen leichten Trab verfiel.

 

Es war Vlair, der Thanai darauf aufmerksam machte, dass der Hengst verschwunden war. Zuerst hatte die Luftwächterin gedacht, dass es sich hierbei um einen seiner Scherze handelte, doch dann fiel ihr das Mädchen ein, das im Wagen war. Die Erleuchtete, welche vor zwei Tagen in den Luftsträngen gewirkt hatte. Thanai stöhnte leise auf. Sie hätte daran denken müssen, dass das Kind versuchen würde, zu fliehen.

Sie riss scharf an den Zügeln und beide Pferde hielten an. Mit einem Ruck kam der Wagen zu stillstand.

Thanai drehte sich um, zog den Stoff beiseite und sah in den inneren des Wagens. Ein leiser Fluch entfuhr ihr. Das Bett, wo das Mädchen gelegen hatte, war leer.

»Das darf doch nicht wahr sein!« Sie stieg in das Innere des Wagens und sah dann hinten nach draußen. Der Hengst fehlte wirklich. »Ausgerechnet jetzt. So kurz vor Greisarg!«

Thanai wurde wütend. Heute Abend hätte sie die Stadt Greisarg erreicht, wenn jetzt dieser Zwischenfall nicht gewesen wäre. Sie sah zu Zhanaile, die bewusstlos in ihrem Bett lag und dann nach draußen. Sie musste das Mädchen finden. Es war ihre Pflicht als Luftwächterin, denn solange das Kind nicht lernte mit der Gabe umzugehen, könnte es immer wieder Störungen im Gleichgewicht hervorrufen.

»Vlair! Such die Gegend ab! Das Kind wird nicht allzu weit gekommen sein können.« Der Falke krähte als Bestätigung und kurz darauf spürte Thanai, wie sich der Vogel entfernte. Sie wandte sich zu Zhanaile, legte eine Hand auf ihre Stirn und ihr Blick verdüsterte sich. Ihre Freundin bräuchte wirklich bald eine Heilerin. Thanai hoffte, dass es keinen Unterschied machen wird, wenn sie erst morgen früh eine Heilerin auftreiben würde. Sie strich sanft durch Zhanailes Haar, ehe sie sich erhob und dann aus dem Wagen stieg. Sie umrundete ihn und sah dann beide Zugpferde an. Ihr Blick fiel auf dem Wallach und sie trat zu ihm.

Es dauerte nicht lange und sie hatte ihn aus dem Zuggeschirr befreit. Ein zweiter Sattel wurde schnell auf seinen Rücken gespannt und neue Zügel angelegt. Da der Wallach ein ruhiges Gemüt hatte, machte er keine Anzeichen sich dagegen zu wehren. Die Stute jedoch stampfte kurz mit dem rechten Vorderbein auf. Ihr gefiel es anscheinend nicht, dass sie beim Wagen warten musste.

Als der Wallach fertig gesattelt war, holte Thanai ihren Stab aus dem Wagen und brachte wieder vier Luftstränge um das Gefährt zum Stillstand. Abermals erschien eine unsichtbare Barriere, sodass Zhanaile und die Stute in Sicherheit waren.

Thanai schwang sich auf dem Wallach und gab ihm dann die Sporen. Sie folgte die Richtung, in dem Vlair verschwunden war.

 

Nolwine lag halb, saß halb auf dem Pferd und hatte keine Ahnung, in welche Richtung dieses galoppierte. Sie hatte nur einen einzigen Gedanken und der hieß, bloß weg von hier und dabei war es ihr egal, wo sie landen würde. Je mehr jedoch die Zeit verrann, desto schlechter wurde es ihr. Immer wieder kamen Phasen auf, in denen es schwarz vor ihren Augen wurde oder sie völlig orientierungslos war. Ebenfalls tauchte der Schmerz wieder auf. Jedoch nur langsam und schwach, doch dem Mädchen war klar, dass er garantiert wieder heftiger werden würde. Sie lehnte ihren Kopf auf dem Hals des Tieres und wenig später war sie eingeschlafen. In ihren Träumen sah sie die Frau, wie sie mit einem brennenden Stock auf sie einschlug. Sie selber schrie und flehte die andere an, sie mögen doch bitte aufhören.

Wie lange Nolwine geschlafen hatte wusste sie nicht, doch als wie erwachte, konnte sie erkennen, dass es Nacht geworden war. Da sie sich erinnern konnte, dass es noch hell gewesen war, als sie eingeschlafen war, wurde ihr klar, dass sie einige Kerzenstriche durchgeschlafen haben musste. Der Schmerz in ihr war nicht stärker geworden, doch dafür überkam sie ein Gefühl der Übelkeit und ihr Magen knurrte. Innerlich fluchte sie, dass sie nicht daran gedacht hatte, etwas Essbares mitzunehmen. Doch der Gedanke, dass sie einfach nur hatte fliehen wollen, ließ sie nicht anhalten und nach etwas Essen zu suchen.

Der Mond schien blass und wurde immer wieder von kleinen Wolken verdeckt. Hoffentlich würde es nicht anfangen zu regnen, dachte Nolwine, als sie einmal einen klaren Gedanken fassen konnte. Dann machte das Pferd plötzlich einen großen Sprung, wobei das Mädchen das Gleichgewicht verlor und laut aufschreiend zu Boden fiel. Sie kam hart auf und sofort verstärkten sich die Schmerzen. Nur verschwommen nahm sie wahr, dass das Tier ohne sie weiter ritt. Voller Verzweiflung blieb sie zurück.

Die erste Zeit verbrach sie damit, indem sie auf dem Boden lag und überlegte, was sie tun sollte. Sie fühlte sich auf einmal unendlich schwach und deshalb wusste sie, dass sie nicht lange durchhalten würde, wenn sie nun anfing zu laufen, geschweige denn zu rennen. Sie würde nicht weit kommen.

Die Zeit verging, ohne das Nolwine genau wusste, wie viel und was sie machen sollte. Sie wollte hier unbedingt weg, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Fremden sie einfach davonließen und je länger sie hier an diesen Ort verharrte, desto sicher war es, dass man sie finden würde. Dann fasste sie ein Entschluss und spannte ihren Körper an. Obwohl ihr ganzer Körper wieder schmerzte, stemmte sie sich in die Höhe und tat ein paar Schritte. Schwankend konnte sie ihr Gleichgewicht wahren und so lief sie los. Erst einmal ganz langsam, Schritt für Schritt, doch als sie dann sicherer wurde, steigerte sich ihre Geschwindigkeit.

Während sie bedächtig vorankam, kamen in ihren Geist das Gesicht von der tätowierten Frau und dann das von der Bewusstlosen. Beide haben eigentlich nicht so ausgesehen, als würden sie Dämonen sein. Wenn Nolwine also nicht gewusst hätte, welcher Gruppe diese Frauen angehörten, dann wäre sie ohne Probleme bei ihnen reingefallen. Tränen stiegen wieder in ihr hoch, als sie an die Schmerzen dachte, die die Frau bei ihr verursacht hatte. Wie konnte man so nett aussehen und dann so scheußlich sein? Sie wischte sich die Tränen ab und betete zu allen Einen Gott, dass er sie beschützen möge. Dass er ihr helfen möge und ihr verzieh, dass sie Balestrano angelogen hatte. Vor allen daran, dass er verhinderte, dass die Frauen sie finden würden. Die Frauen sollten sie in Ruhe lassen! Dann dachte sie Balestrano, ihren Freund und ein lauter Schluchzer kam aus ihrer Kehle. Was hatte sie nur gemacht? War sie wirklich an diesen Sturm schuld gewesen? Hatte sie ihn und die anderen in so eine Panik getrieben? Waren er und die anderen eigentlich in Sicherheit?

Während ihr die Tränen unkontrolliert über das Gesicht flossen, fingen die Schmerzen an noch unverträglicher zu werden. Jeder weitere Schritt verursachte ein Brennen und sie wurde langsamer. Zum Schluss war es so schlimm, dass sie sich regelrecht quälen musste, um ihre Beine weiter zu bewegen. Schritt für Schritt. Sie wurde immer langsamer und bald darauf lagen Sekunden zwischen ihren Bewegungen. Minuten vergingen und als sie ihren rechten Fuß wieder aufsetzen wollte, knickte ihr Bein weg und fiel auf die Erde. Kleine spitze Steine zerkratzten ihr Gesicht und ihr Ellenbogen riss auf. Blut tröpfelte auf den Boden. Ihre Kleidung stank mittlerweile nach Schweiß und fühlte sich noch durchnässter an. Nolwine blieb einige Zeit auf dem Boden liegen, atmete mehrfach tief ein und versuchte ihre Kräfte zu sammeln, doch sie merkte, dass es gar nichts gab, was sie noch hätte sammeln können. Sie fühlte sich so schwach wie ein neugeborenes Kalb, das erst seit zwei Sekunden am Leben war. »Ich muss hier weg«, flüsterte sie und wischte sich mit dem Arm die Tränen aus dem Gesicht. Sie wollte unbedingt weiter.

Der Mond stand nun am höchsten Punkt des Firmaments als sie, immer noch liegend, ein schwaches Geräusch vernahm. Es wurde lauter, sodass sie wusste, dass jemand immer näher kam. Panik stieg ganz langsam wieder in ihr hoch. Dann hörte sie Rauschen von Flügeln und wenig später kam ein Falke in ihr Blickfeld. Nolwine hielt den Atmen an und zuckte zusammen, als das Tier ein lautes Krätzen ausstieß. Sie zitterte am ganzen Körper, dass nicht nur an der Kälte lag, die in ihr kroch. Mit angstvollen Augen starrte sie den Vogel an. Das Tier landete vor auf dem Boden und sah sie mit leuchtenden Augen an. Durch das Licht des Mondes sah er regelrecht unheimlich aus.

Sie kroch ein-zwei Schritte von ihm weg, doch damit erreicht sie nur, dass er ihr folgte und sie selber vor Schmerzen aufstöhnte. Warum musste sie so viel Pech haben? Als Minuten verstrichen waren legte der Falke seinen Kopf schräg und beobachtete sie genau.   Seine Federn schimmerten im Mondlicht und am seinen Kopf waren sie etwas heller als am restlichen Körper. Seine Augen hatten eine gelbliche Farbe und wenn sich Nolwine nicht täuschte, dann war er viel größer als diejenigen, die sie sonst immer gesehen hatte. So einen großen Falken hatte sie noch nie gesehen. Der war auch riesig gewesen. Dem Mädchen war nicht bewusst, ob der Vogel sie überhaupt richtig wahrnahm, denn seit er gelandet war, hatte er sich nicht ein einziges Mal berührt oder überhaupt Notiz von ihr genommen. Vorsichtig kroch Nolwine wieder ein wenig weg, doch der Falke folgte ihr, wobei er jedoch in die Richtung blickte, aus der er gekommen war. Nach Stunden, so schien es dem Mädchen, konnte sie in der Ferne einen Reiter erkennen und damit wurde ihr klar, dass ihre Flucht überhaupt nichts gebracht hatte. Sie fing an zu weinen und schluchzte hemmungslos, denn nun wusste sie, dass es kein Entkommen gab. Ihr ganzer Körper bebte, obwohl sie selber kaum noch Kraft hatte und sie schloss die Augen. Vielleicht war alles besser zu ertragen, wenn sie einfach nicht hinsah.

Das Pferd kam immer näher und kurz vor ihr verstummten die Geräusche der Hufen. Jemand kam mit Schwung auf dem Boden auf und sie hörte hastige Schritte. Sie öffnete die Augen und sah die Frau, die die Tätowierung im Gesicht und kurzes blondes Haar hatte. Ihr Gesicht war von Besorgnis gezeichnet.

»Oh Kind, was hast du nur getan?« Sie kniete sich neben Nolwine, doch diese hörte auf zu weinen und kroch weiter zurück. Ein Ausdruck von Entschlossenheit trat in ihre Augen. Kampflos würde sie sich nicht ergeben und das würde sie der anderen Frau auch klar machen. Sie nahm einige Steine in der Hand und mit der anderen Hand zog sie den Dolch, den sie die mitgenommen hatte. Was ihr nun am meisten verwunderte war die Tatsache, dass die Frau zwar ihre Reaktionen gemerkt hatte und ihr deshalb nicht noch näher kam, sie jedoch auch nicht wütend wurde. Im Gegenteil, ihre Besorgnis wurde immer mehr.

Thanai wusste, dass wenn sie dem Mädchen zu nahe kam, würde diese entweder in bodenloser Panik verfallen oder sie würde ihre Steine oder das Messer verwenden. Die Frau wusste, wieso das Kind solches Abwehrverhalten aufgefahren hatte. Das Kind war unter Erleuchtete aufgewachsen und Thanai kannte all die Märchen und Geschichten über die bösen Hexen von verfluchten Orten, die Dämonen anbeteten. Die Frau ließ sich auf dem Boden nieder, setzte ein Lächeln auf und betrachtete das Kind, in dessen Augen man abwechselnd Panik und Entschlossenheit erkennen konnte. Dann nahm sie ihren Wasserschlauch von ihren Gürtel und hielt ihm Nolwine hin.

»Du hast bestimmt großen Durst, mein Kind.«

Doch Nolwine sah überhaupt nicht auf den Schlauch, sondern nur auf die Frau. »Ihr werdet mich nicht bekommen!« Sie presste diese Worte hervor und hoffte, dass sie nicht allzu ängstlich klangen. »Lasst mich in Frieden, ihr Hexen!«

Die Frau seufzte und erhob sich, wobei das Mädchen zusammenzuckte. Doch Thanai ging nur zu dem Wallach, wo sie eine Decke, die auf dem Sattel gebunden war, nahm. Dann war sie mit schnellen Schritten, ohne das Nolwine überhaupt reagieren konnte, bei dem Kind und hatte die Decke um dessen Schulter gelegt. Nolwine schrie auf, doch als sie merkte, dass nichts Schlimmes passierte, beruhigte sie sich wieder. Währenddessen hatte sich die Frau wieder hingesetzt.

»Du kommst aus der Nähe von Sahart, nicht wahr?«, sprach Thanai und achtete nicht auf den verduzten Gesichtsausdruck des Mädchen. »Ich bin in Kohort geboren und war einige Male an in Sahart. Ein paar Verwandte wohnen dort. Meine Eltern waren Händler und reisten öfters nach Sahart. Wenn ich also deinen Akzent richtig gedeutet habe, musst aus der Gegend kommen, die nahe an der Grenze von Sardeil und Zharken liegt?«

Ein Stirnrunzeln kam in Nolwine auf und sie betrachtete die Frau vor sich. »Ihr kommt aus Klohort? Die Frau nickte. »Warum seit ihr dann bei diesen Hexen…keiner,, der in Klohort aufwächst, würde sich mit diesen abgeben! Sie beten Dämonen an und verspeisen unartige Kinder.« Nun blickte sie herausfordernd auf die Fremde. »Das hat mir meine Mutter erzählt! Und auch das ganze Konvent!«

Thanai nickte. Sie hatte mit dieser Entgegnung gerechnet. Sie konnte sich noch deutlich daran erinnern, dass sie auch all das gedacht hatte. Vor vielen Jahren als sie noch in Klohort gelebt hatte. Zwar waren ihre Eltern keine Erleuchteten gewesen, doch der Glaube, das die Wächterinnen böse waren, hatten sie ebenfalls gehabt. Thanai konnte also sehr gut nachvollziehen, was das Mädchen gerade durchmachte. Hinzukam, dass das Kind direkt bei den Erleuchteten aufgewachsen war. Die Luftwächterin atmete tief ein. »Meine Mutti hat mir das auch immer erzählt, als ich noch ein Kind war. Ich habe ihr voll vertraut, denn sie sagte die Wahrheit so wie sie sie kannte.« Ihre Augen blickten plötzlich ins Leere, als sie sich erinnerte.

»Jeden Abend hat mir meine Mutter von den Gräueltaten der sogenannten Hexen erzählt und ich hatte danach immer Angst, ins Bett zu gehen. Dachte dann würden sie kommen und mich holen. Als ich dann jedoch neun Jahre alt war, wurde mir schnell bewusst, dass nicht immer alles so ist, wie andere dies denken, mein Kind. Ich habe eine `Hexe´ getroffen und sie hat mir erzählt, dass ihr obersten Anliegen ist, andere zu helfen. Die Kinder, die zu ihnen kommen, kommen freiwillig und bleiben auch freiwillig dort, um zu lernen. Die eine Frau wollte mich unbedingt mitnehmen und nach vielen Gesprächen miteinander wurde mir bewusst, dass sie nichts Böses wollen.« Nun sah sie Nolwine direkt an und Besorgnis kam wieder in ihren Blick, als sie erkannte, dass das Mädchen immer bleicher wurde und dies jedoch nichts mit dem Gesagten zu tun hatte. Thanai sprang auf und legte eine Hand auf die Stirn des Kindes, das zusammenzuckte und sie wegdrücken wollte. »Das ist überhaupt nicht gut«, murmelte die Frau und presste mit den Händen das Mädchen zu Boden. Dieses schrie voller Panik auf. »Du musst dich hinlegen, mein Kind! Bitte, es wird dir schon nichts geschehen, doch du brauchst jetzt unbedingt Ruhe…«

Nolwine, die immer mehr Angst bekam, fing an um sich zu treten und erwischte dabei die Frau, die deshalb kurz ihren Druck nachließ. Das Mädchen schlug die Hände weg, erhob sich und ging ein paar Schritte, ehe sie vor Schmerz aufschrie und wieder hinfiel. Ihr ganzer Körper brannte nun. Dann verspürte sie wieder die Hände der Frau und plötzlich war so, als würde etwas von diesen Händen ausgehen. Je mehr das Gefühl von den Händen ausging, desto weniger wurden die Schmerzen, ehe sie ganz aufhörten. Verwundert sah sie die Frau an, auf dessen Stirn sich Schweiß gebildet hatte.

»Du solltest wirklich etwas trinken, mein Kind«, meine Thanai und hielt ihr noch mal den Wasserschlauch hin. Dieses Mal nahm Nolwine den Schlauch und nahm ein paar Schlucke. Das Nass tat in ihrer Kehle gut. Dann wurde ihr bewusst, dass die Frau ja ihre Schmerzen gelindert hatte und mit einem Mal glaubte sie daran, dass die andere ihr vielleicht wirklich nur Gutes wollte. Sie wurde rot vor Scham.

»Es tut mir Leid«, flüsterte sie und sah die andere an. Diese jedoch lächelte nur und ein Ausdruck aus Erschöpfung trat in ihr Gesicht.

»Ich weis, was du durchmachst, mein Kind. Die meisten aus Stadten, in denen die Erleuchtete die Herrschaft haben, haben diese Furcht und es ist ihnen ja nicht einmal zu verdenken.« Sie nahm das Mädchen bei den Schultern und half ihr, sich aufzurichten. »Wir sollten jetzt am besten zurückreiten und du solltest unbedingt schlafen, also versuche es auch während des Ritts. Du braucht den Schlaf jetzt mehr als alles andere.«

Sie half Nolwine in den Sattel und setzte sich dann dahinter, worauf sie dann die Zügel peitschte. Das Pferd wieherte kurz auf und galoppierte los. Der Ritt dauerte lange und Nolwine in einen Halbschlaf verfiel, wobei sie ihren Kopf auf die Brust der Frau gelegt hatte. Sie verspürte nun eine große Müdigkeit mit einem Hauch von Erleichterung. Vielleicht waren die `Hexen´ doch nicht so schlimm, wie ihr Konvent immer gesagt hatte. Außerdem heißt es bei den Erleuchteten, dass man anderen eine Chance geben sollte und Nolwine hatte nun vor, diese Frau eine zu geben.

Die Sonne ging langsam auf, als sie im Lager ankamen. Das Mädchen bekam dies nicht mehr mit, denn sie schlief nun fest. Thanai brachte das Kind in den Wagen und legte es ins Bett. Die Luftwächterin war selber sehr müde, doch dachte nicht daran, zu schlafen. Sie trat zu Zhanaile, überzeugte sich, dass es ihr gut ging und machte sich dann daran, den Wallach wieder einzuspannen. Um den Hengst würde sie sich kümmern, sobald sie in Greisarg und Zhanaile bei einer Heilerin war.

 

Kapitel Sieben

 Fremde

 

Hrean wird meinen Pfad erleuchten und mir in meiner Einsamkeit beistehen.

 

Rae Louà Arthjansè Zeiren,

Erste Begleidende,

Winter im Jahre 2597

 

 

Das Pferd schnaubte, als Chaidra an die Zügel zog und es anhalten ließ. Der Braune begann zu tänzeln, denn es gefiel ihm überhaupt nicht, dass er aus einem schönen Galopp rausgerissen wurde. Doch Chaidra zog fester und der Hengst kam zum Stillstand, während er ein zweites Mal schnaubte. Sie klopfte auf seinen Hals und drehte sich im Sattel um, um hinter ihr zu blicken. Hinter ihr befand sich ein zweites Pferd, das von einem Mann geritten wurde. Dieser sah sie halb belustigt und halb müde an. Es war eine lange Reise gewesen, denn sie waren noch vor Morgengrauen aufgebrochen und hatten den ganzen Tag durchgeritten. Alles an der Frau bezeugte dies: ihre Augen, die müde schauten; ihre Muskeln, die verkrampft waren und ihr Hunger, denn sie hatten kaum Pausen gemacht, um ordentlich zu essen. Dafür sind sie jedoch ein ganzes Stück weitergekommen.

Chaidra sah wieder nach vorne und blickte dann in das kleine Tal, das sich vor ihr erhob. In Gedanken rief sie sich eine Landkarte vor dem inneren Auge und schaute nach, wo sie sich ungefähr befinden mussten. Vor fünf Tagen hatten sie Muratha, die Hauptstadt von Murais verlassen und waren seitdem unablässig nach Norden gereist. Die ältere Frau freute sich schon darauf, wenn sie endlich den verlassenen Dreibogen im Gebirge erreichen würden. Dieser würde sie schnell und sicher nach Jenath bringen. Von dort aus war es dann nur noch eine Reise von knapp acht Tagen und sie würde endlich wieder in Kardsen sein. Sie freute sich schon darauf.

Ein leises unterdrücktes Lachen ertönte und Chaidra sah zur Seite. Der Mann grinste sie nun offen an.

»Weißt du, dass du niedlich aussiehst, wenn du so gedankenverloren ins Weite starrst«, fragte er und lachte erneut auf, als sie ihn wütend anfunkelte. Er hob abwehrend die Hände. »Komm schon, Schwesterchen. Du kennst mich doch.«

»Leider wahr«, murmelte Chaidra und sah dann wieder zu dem Tal. Sie konnte an dem einen Ende ein kleines Dorf erkennen und zeigte dorthin. »Wir werden hier zwei Tage bleiben. Die Pferde müssen sich ausruhen und ich könnte ehrlich gesagt endlich mal ein warmes Bett gebrauchen.«

Seitdem sie Muratha verlassen hatten, haben sie immer im Freien übernachtet und Siedlungen gemieden. Chaidra wusste, dass sie in diesen nicht gerne gesehen war, sodass sie die meiste Zeit immer unter freien Himmel nächtigte. Zwar würde niemand sie mit offener Gewalt drohen, doch die verstohlenen Blicke, die immer auf ihr geworfen wurden, sagten mehr als genug. Chaidra hoffte sehr, dass es nicht allzu schlimm in diesem Dorf werden würde. Ihre Pferde brauchten wirklich Ruhe und sie selber auch. Selbst Kadalin, ihr Bruder, wirkte erschöpft und würde dringend eine Pause gebrauchen.

Ohne dass ein weiteres Wort gesprochen werden musste, ließ Chaidra ihren Hengst wieder antraben und kurz darauf folgte Kadalinihr.

Sie folgten einen schmalen Pfad, der direkt in das Tal führte und dessen Richtung zum Dorf zeigte. Während sie ritten, schwiegen sie und Chaidra fuhr immer wieder abwesend über den schwarzen Stoff, der die obere Hälfte ihres Gesichtes verdeckte. Ein Zeichen ihres Standes. Ebenfalls berührte sie den schwarzen Wanderstab, der am Sattel befestigt war und ihr Herz wurde schwer. Selbst wenn sie es wöllte, würde es ihr nicht gelingen, dass zu verbergen, was sie war. Jeder kannte diese Zeichen und wusste, wofür diese standen.

Plötzlich spürte sie etwas Schweres auf ihrer Schulter und kurz darauf zwickte jemand in ihr rechtes Ohr. Die Traurigkeit ihres Herzens verschwand, und sie lächelte leicht. Sie wandte ihren Kopf leicht und sah das schwarz glänzende Gefieder eines Raben. Sanft strich sie über die dunklen Federn. Selbst wenn jeder sie meiden würde, würde sie dennoch nicht alleine sein. Rax, ihr Rabe würde sie überall folgen. Das tat er schon ihr ganzes Leben und auch wenn niemand anderen ihn sehen konnte, so würde er sie nie alleine lassen.

Kadalinzischte plötzlich auf und Chaidra sah ihren Bruder verwundert an. Er griff an ihren Oberkörper vorbei und nahm die Zügel ihres Pferdes. Gemeinsam hielten sie an.

»Was ist los, Kad?«

Er schüttelte den Kopf, legte den Zeigefinger auf seine Lippen und horchte auf die Umgebung. Chaidra blieb ruhig. Sie sah, dass ihr Bruder in Sicherheit war und dies zählte für sie.

Plötzlich brach aus dem Dickicht vor ihnen ein schwarzer Eber hervor und ein Pfeil sirrte an ihm knapp vorbei. Die beiden Pferde wieherten auf, doch blieben am Ort. Wieder ertönte ein Rascheln und dieses Mal brach ein Mann in grünlichen Kleidern zwischen den Büschen hervor. In der Hand hielt er einen gespannten Bogen und er sah leise fluchend den fliehenden Eber hinterher. Erst dann bemerkte, dass er nicht alleine auf dem Pfad war. Er riss die Augen auf und starrte vor allen Chaidra an.

Innerlich zuckte Chaidra zusammen. Sie hatte gewusst, dass dies so kommen würde, und dennoch schmerzte es.

Doch dann lächelte der Jäger breit über das Gesicht und sah ihren Bruder an. Ehrliche Freude war in seinem Gesicht zu sehen.

»Willkommen…willkommen«, sagte er und deutete eine leichte Verbeugung an. »Herzlich willkommen in unseren bescheidenem Tal. Mein Name ist Aram. Darf ich sie in unser Dorf Ferren einladen?«

Chaidra starrte den Mann ungläubig an. Sie versuchte so etwas sie Spott in ihm zu erkennen, doch er schien alles ehrlich zu meinen. Sie sah zu ihrem Bruder, der ebenfalls überrascht schien. So wurden sie noch nie begrüßt. Ihr Bruder vielleicht, aber nicht sie selber.

Der Jäger Aram sah sie beide fragend und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass er auf eine Antwort seiner Frage wartete. Sie riss sich zusammen.

»Das wäre sehr freundlich, Herr Jäger. Wir haben eine lange Reise hinter uns und würden uns gerne ausruhen«, sagte sie und lächelte dabei.

Aram nickte. »Dann seit ihr hier richtig. Die Grüne Wiese von Thona ist das beste Gasthaus, was es in Ferren gibt.« Er hielt kurz inne und sah dann verlegen aus. »Naja…eigentlich ist es das Einzige, aber es ist wirklich gut!«

Die ältere Frau konnte nicht anders als den jungen Mann zu mögen. Er schien ganz ruhig zu sein und ohne Unbehagen mit ihr zu reden. Erst jetzt spürte Chaidra, wie sehr sie dies vermisst hatte. Sie sah den Mann an, während ihr Bruder sagte, dass sie sich auf das Gasthaus freuen würden. Der Jäger bot sich an, ihnen den Weg zu zeigen und fügte noch lachend hinzu, dass er heute wahrscheinlich sowieso nichts mehr erlegen würde.

 

Der Weg in das Dorf Ferren war nicht weit, sodass sie nicht lange brauchten und die ersten Häuser erreichten. Einige Personen, Männer und Frauen, standen vor diesen und gingen arbeiten nach, da das Wetter sehr freundlich war. Männer hackten Holz, schnürten Felle zusammen oder verbesserten die Gebäude. Zwei Männer hobelten auf einem Platz an einem noch undefinierbaren Möbelstück und aus der Ferne klangen Schmiedegeräusche. Die Frauen wuschen an einen kleinen Bach Wäsche, hängten sie auf oder arbeiten in kleinen Beeten. Die große Arbeit auf den Feldern, die sich rings um das Dorf befanden, war schon größten Teils abgeschlossen, sodass dort kaum jemand zu finden war.

Jeder der Bewohner schaute auf, als Aram mit den Gästen kam und jeder grüßte herzlich. Niemand schien an Chaidras Kleidung Anstoß zu nehmen oder negativ darauf zu reagieren. Kadalin warf immer wieder verwirrte Blicke zu seiner Schwester, doch Chaidra war selber verunsichert. So wurde sie wirklich noch nie begrüßt worden. Sie sah kurz zu ihremBruder, sah, dass es ihn in nächster Zeit gut gehen würde, und schloss darauf, dass sie nicht in einer Falle kommen würden. Doch wenn die Bewohner nicht darauf aus waren, sie zu überfallen, wieso reagierten sie dann so freundlich auf Chaidra? Auf ihre Stellung?

Als ein kurzer Gedanke durch ihren Kopf schoss, hob sie die Augenbrauen und sah die Personen, an denen sie vorbeiritt, genauer an. Das Dorf hier befand sie sehr abgelegen von anderen Siedlungen. Konnte es deswegen sein, dass diese Leute deswegen nicht auf sie abneigend reagierten, weil sie einfach nicht wussten, was ihre schwarze Halbmaske und der schwarze Stab an ihrer Seite bedeutete? Sie wandte ihren Blick zu den großen Bergzügen, die das Tal umschlossen und nickte zu sich selber. Wahrscheinlich kamen kaum Personen nach Ferren und die Bewohner hatten wirklich keine Ahnung davon, dass Chaidra eine Todwächterin war. Traurigkeit kam in ihr auf. Dies würde auch bedeuten, dass es keinen Begleiter für die Verstorbenen gab. Wer weiß, wie die Todstränge des Gleichgewichtes auf dem Friedhof aussahen. Vielleicht sollte sie einen Blick auf diesen werfen.

»My Lady?«

Arams fragende Stimme riss Chaidra aus ihren Gedankengang und sie sah sich um.

Sie drei waren auf einen großen Platz angekommen, der sich wohl in der Mitte des Dorfes befand. Auf diesen befand sich ein großer Brunnen und auf der östlichen Seite ein gut gebautes Haus, wo auf einem großen Schild »Zur Grünen Wiese« stand. Sie hatten das Gasthaus des Dorfes erreicht.

Kadalin stieg schon von seinem Pferd, während seine Schwester sich seine Schwester noch umschaute. Er nickte den Jäger freundlich zu, kramte ein Silberstück aus einen seiner Gürteltaschen und reichte sie ihm den Mann.

Aram hob abwehrend die Hände.

»Das ist doch nicht nötig, werter Herr«, sagte er. Er sah sogar teilweise geschockt aus. »Ich habe ihnen doch nur den Weg gezeigt, den ich sowieso selber gehen musste.«

Chaidra schwang sich nun ebenfalls von ihrem Reittier und trat an den jungen Jäger heran.

»Es ist wahrscheinlich unsere Schuld, dass euch der Eber entkommen ist. Nehmt bitte das Silber als Wiedergutmachung dafür. Außerdem habt ihr uns hier freundlich willkommen geheißen.« Und dieses Gefühl ist viel mehr wert als ein Silberstück, fuhr es Chaidra durch den Kopf. So gut hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt.

Obwohl es Aram anzusehen war, dass er sich dabei unwohl fühlte, nahm er das Silber und steckte es ein. Dann zeigte er auf das Gasthaus. »Wie gesagt, Thona`s Grüne Wiese ist wirklich sehr zu empfehlen. Vor allen der Eintopf, den sie macht. Kann ich selber bezeugen«, sagte er und winkte dann einen jungen Burschen herbei, der gerade aus einer Seitentür des Gasthauses kam. »Zaram! Hier sind Gäste. Kümmere dich um die Pferde!« Während der Bursche näher kam, wandte sich Aram den beiden Gästen zu. Er verbeugte sich leicht. »Ich muss jetzt leider gehen. Es warten noch ein paar Dinge auf mich, die erledigt werden müssen.«

Er verabschiedete sich von den beiden, drehte sich um und war kurz darauf zwischen zwei Gebäuden verschwunden.

Chaidra nahm den schwarzen Wanderstab vom Sattel, ehe ihr Bruder den Burschen, Zaram, einige Anweisungen gab, wie er sich um die beiden Pferde zu kümmern hatte. Dann nahm er die wichtigsten Satteltaschen und trat zu seiner Schwester. Ein offenes Lächeln lag auf seinem Gesicht.

»Ich muss sagen, dass ich sehr angenehm überrascht bin. Ferren scheint sehr nette Bewohner zu haben.«

Seine Schwester nickte. »Es liegt abgeschieden«, sagte sie und gab ihm somit zu verstehen, was sie vermutete, dass niemand negativ auf sie reagierte. »Ich weiß deshalb nicht, inwiefern sich ihre Haltung ändern wird, wenn ihnen bewusst wird, was ich bin.«

Sein Gesicht nahm einen sanften Ausdruck an. »Was du bist, Schwesterchen? Du bist meine kleine Schwester und eine sehr nette Frau. Du hilfst den Verstorbenen ihren Weg zu finden und sorgst dafür, dass das Gleichgewicht in Reinen ist. Wenn andere Leute nicht erkennen können, wie gut du bist, dann ist es ihre eigene Schuld!«

Sie legte lächeln ihre Hand auf seine Wange. »Danke, Kad! Ohne dich wäre ich schon längst verzweifelt. Danke, dass du zu mir stehst.«

Er nickte und an seinen Ausdruck erkannte sie, dass er nicht plante, in nächster Zukunft etwas daran zu ändern. Er ergriff die Satteltaschen fester und gemeinsam gingen sie auf das Gasthaus zu.

 

Saren Helsen blickte auf die frischen Brotlaibe und fuhr sich mit der Zunge über ihre Lippen. Sie berührte kurz den Geldbeutel an ihren Gürtel, spürte, dass nur wenige Kupferstücke und Eisente noch vorhanden waren. Sie seufzte, ging zu der Ecke des Tisches, wo die Brote vom Vortrag zu finden waren, ehe sie Schritte hinter sich hörte. Sie sah auf und sah in die freundlichen Augen der Bäckerin.

»Saren! Schön dich wieder zu sehen«, sagte Katleyn und meinte ihre Worte so sehr, dass ihr gesamtes Gesicht strahlte. »Du bist viel zu selten hier im Dorf.«

Ohne dass Saren es wollte, wurde sie rot. Diese Worte stimmten, denn in den letzten Tagen hatte sie den größten Teil im Wald zum Holzhacken verbracht oder in ihren Garten, um die letzten Beete zu ernsten. Ihre jüngere Schwester versuchte so viel wie möglich zu helfen, doch vor drei Tagen war ein Reisender im Dorf gestorben, denn er hatte nicht auf sie hören wollen. Aleitha hatte den Mann davor gewarnt, so spät das Tal verlassen zu wollen, doch er hatte sich nicht davon abbringen lassen. Am nächsten Tag hatte man ihn gefunden. Er war auf einen schmalen Pfad abgerutscht und einige Meter in die Tiefe gefallen. Es war nicht hoch gewesen, doch seine Landung war so ungünstig gewesen, dass sein Genickt brach.

Obwohl Aleitha wusste, dass sie nichts anderes hätte tun können, als den Mann zu warnen, gab sie sich dennoch die Schuld und verbrachte die meiste Zeit in ihren Zimmer, oder in der Küche, wo sie Obst einkochte.

Es schmerzte Saren immer mehr, wenn sie so ihre Schwester sah und fragte sich immer wieder, was sie unternehmen könnte, um sie aus ihrer Trauer herauszuholen. Sie schloss kurz die Augen, atmete tief ein und sah dann Katleyn an. »Ich weiß. Es tut mir auch Leid, aber es gibt viel zu erledigen, ehe der Winter kommt. Aleitha geht es zurzeit nicht besonders gut und so bleibt das meiste an mir hängen«, sagte sie, doch ihre Worte klangen nicht vorwurfsvoll. Sie würde ihrer Schwester nie Vorwürfe machen. Die Bäckerin nickte. Ihr Gesichtsausdruck wurde mitfühlend, denn so wie fast alle im Dorf hatte sie mitbekommen, wie sehr Aleitha versucht hatte, den Mann von seinen Vorhaben abzubringen. Die Dorfbewohner wussten um Aleithas Gabe, sodass sie ohne näher zu fragen, auf sie hörten, wenn sie etwas sagte, doch bei Durchreisenden war dies anders. Diese glaubten nur, dass Aleitha sich wichtig machen wollte und selbst die Beteuerungen der Bewohner half selten dabei.

»Ich hoffe, dass es ihr bald wieder besser geht«, sagte Katleyn. »Vielleicht sollet ihr beide heute Abend zur Grünen Wiese kommen. Soweit ich gehört habe, will Zek es endlich offiziell machen. Er und Meiren wollen ihre Verlobung heute im Gasthaus feiern und beide Elternteile sind sehr glücklich darüber. Es wird eine feine Feier geben.« Sie nahm ein frisch gebackenes Brot und wickelte es in einen Tuch ein. Dies hielt sie Saren hin. »Nimm das Brot hier. Es ist ganz frisch und wenn es etwas gegen Trauer hilf, dann ist es frisch gebackenes Brot!«

Saren starrte das Brot an und ihre Augen verdunkelten sich ein wenig. Sie wusste, dass Katleyn es nur nett meinte, doch es gefiel ihr nicht besonders, wenn die anderen ihr etwas kostenlos überlassen. Sie hatte dann immer das Gefühl, sie würde betteln.

Katleyn schenkte ihr ein Lächeln. »Nun nimm schon, Saren. Du musst es nicht immer als etwas Schlechtes ansehen, wenn wir euch etwas überlassen. Immerhin haben wir dir und deiner Schwester sehr viel zu verdanken. Ich habe gehört, dass vor fünf Tagen Aram bei euch war und ihr ihn somit das Leben gerettet habt. Aram ist ein feiner Mann und wird auch ein netter Vater werden. Marie ist überglücklich. Also nimm das Brot und mach dir keine weiteren Gedanken.«

An Katleyns Tonfall erkannte Saren, dass Wiederspruch nicht viel helfen würde. Sie seufzte ergeben und nahm das Brot der Bäckerin ab.

»Übrigens hast du schon gehört? Es sind zwei Reisende gekommen und haben bei Thona ein Zimmer gemietet«, sagte Katleyn. Sie klang nicht neugierig, denn von Klatsch und Tratsch hielt sie nicht viel. Aber da Gäste wirklich selten nach Ferren kamen, war es ihr nicht zu verdenken, dass sie doch ein klein wenig neugierig war.

Saren hob die Augenbrauen. Sie hatte nichts davon gehört, und wenn es nach ihr ginge, dann würde sie alles daran setzten, dass Aleitha von den Fremden nichts mitbekam. Nur so würde sie verhindern können, dass sich etwas wie vor drei Tagen wiederholen würde. Dann wiederum hatte Katleyn recht. Wenn heute Abend in der Grünen Wiese gefeiert wird, würde es Aleitha gut tun. Auch auf der Gefahr hin, dass sie dann auf die Fremden traf.

»Was für Fremde«, fragte sie.

»Oh…ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass es ein Mann und eine Frau ist, wobei die Frau in ganz schwarz gekleidet sein soll. Sie trägt sogar eine schwarze Halbmaske und hat einen schwarzen Stab bei sich.« Katleyn legte ihren Kopf schräg. »Ich fragte mich, ob sie jemanden Wichtiges verloren hat und deswegen in Trauer ist.«

Schwarze Kleider fuhr es Saren durch den Kopf. Manche Leute haben wirklich einen seltsamen Sinn für Kleidung. Dann jedoch gab sie Katleyn recht. Vielleicht war diese Fremde ja wirklich in Trauer und dann war es von Saren nicht nett, wenn sie so dachte.

»Vielleicht sehen wir sie ja«, sagte Saren und wandte sich zur Tür. »Ich werde versuchen Aleitha zu überreden, heute Abend ins Gasthaus mitzukommen. Es würde ihr wirklich gut tun.«

Sie verabschiedete sich von der Bäckerin und trat dann auf die Straße. Das eingewickelte Brot legte sie in einen Korb und sah sich dann um. Sie befand sich nahe der Dorfmitte, spielte kurz mit den Gedanken zum Gasthaus zu gehen, um einfach einen Blick auf die Gäste werfen zu können, doch verwarf dann diesen Gedanken. Sie wollte nicht neugierig erscheinen und musste außerdem wieder zurück nach Hause. Im Garten warteten noch zwei Apfelbäume darauf, abgeerntet zu werden.

Saren wandte sich in die Richtung, die aus dem Dorf führte, und machte sich auf dem Rückweg. Sie nickte ein paar Dorfbewohner freundlich zu, welche sie grüßten und winkte dann zum Schmied, der grüßend seinen Hammer hob. Jedoch blieb sie nicht auf ein oder zwei Gespräche stehen, sondern verließ auf geraden Weg das Dorf. Wenn sie schon heuten Abend sich amüsieren würde, musste sie noch bis dahin einiges erledigen. Vor allen musste sie es schaffen, Aleitha zu überreden mitzukommen. Alleine würde sie nicht gehen. Sie hoffte sehr, dass ihre Schwester erkennen würde, dass ein Fest genau das ist, was sie brauchte.

 

Nachdem Kadalin die letzten beiden Satteltaschen auf das Zimmer gebracht und sich überzeugt hatte, dass es den Pferden gut ging, stellte er sich neben der geschlossenen Tür und sah seine Schwester an. Diese saß auf dem Bett, ihr Gesichtsausdruck schwankte zwischen Verwirrung und Freude, da sie immer noch nicht richtig glauben konnte, wie sie empfangen worden sind.

»Ist mal etwas ganz anderes«, sagte Kadalin nach einer Zeit des Schweigens und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und das habe ich positiv gemeint.«

Chaidra nickte. In ihren Händen hielt sie ihren Wanderstab und fragte sich wieder, ob es sein konnte, dass dieses Dorf so abseits lag, dass wirklich niemand erkannte was sie war. Dies war für sie selber gesehen sehr schön, denn sie konnte nun sicher sein, dass die Ruhetage hier wirklich entspannt werden würden. Doch auf der anderen Seite war dies traurig. Kannten die Leute nicht das Gleichgewicht? Hatten sie wirklich keine Ahnung von den Wächterinnen, die dafür sorgten, dass alles so blieb, wie es war?

»Chaidra?«

Kadalins fragende Stimme riss sie wieder aus den Gedanken und sie sah ihren Bruder auffordernd an.

»Wie wäre es, wenn wir etwas essen werden? Ich glaube, dass sie jetzt schon das Abendessen servieren würden. Außerdem wird es ein Fest heute Abend geben … irgendeine Bekanntmachung einer Verlobung.«

Seine Schwester nickte und erhob sich. Etwas Warmes zu Essen wäre wirklich das richtige, was sie gebrauchen konnten. Dann jedoch blieb sie stehen und runzelte die Stirn.

»Was ist«, fragte Kadalin und hob eine Augenbraue.

»Es ist Rax. Er spürt die Gegenwart eines anderen Raben. Ist sich jedoch nicht sicher.« Kadalins fragender Ausdruck wurde intensiver, doch seine Schwester achtete nicht darauf. Sie sah selber verwirrt aus. »Ich verstehe das nicht. Wenn wirklich eine andere Todwächterin hier wäre, dann müssten die Bewohner doch wissen, was ich bin.«

Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wissen sie, dass ihr keine Vorboten der Schatten seid, sondern hilfsbereite Personen.«

Sie warf ihm einen zweifelnden Blick zu, während sie mit den rechtem Zeigefinger auf ihre Lippen tippte. »Rax selber ist sich unsicher. Vielleicht ist es ein Kind, dessen Kräfte sich gerade erst entwickeln.« Sie sah ihren Bruder nun ernst an. »Wenn dies der Fall ist, müssen wir herausfinden, wer es ist! Es ist nicht gut für ein Kind, lange noch richtig angeleitet zu werden, mit den Todsträngen zu hantieren. Dies könnte bleibende Schäden verursachen. Wahrscheinlich weiß das Kind nicht einmal, was es kann und bringt sich damit in eine nur noch größere Gefahr.«

Kadalin nickte. Er wusste, wenn seine Schwester sagte, dass es gefährlich für die Betroffene war, dann mussten sie schnell handeln. Er zeigte zur Tür. »Ein Grund mehr in den Schankraum zu gehen. Informationen findet man immer dort. Vor allen, wenn es ein kleines Dorf. Hier kennt bestimmt jeder jeden. Es dürfte also nicht schwer sein, sie zu finden.«

Chaidra nickte nun selber. Sie legte ihren Stab auf das Bett und wandte sich zur Tür zu, welche ihr Bruder geöffnet hatte.

Der Schankraum, den sie kurz darauf betraten, war zwar nicht sehr groß, verströmte dafür jedoch eine freundliche Atmosphäre. Sie beide gingen zur Theke, wo eine kräftige Frau dahinter stand und dabei war, einige Gläser mit einem Tuch trocken zu reiben. Als sie die Ankömmlinge sah, lächelte sie über das ganze Gesicht und stellte das trockene Glas auf dem Tresen.

»Ich hoffe, das Zimmer ist in Ordnung«, fragte sie, während sie ein anderes nasses Glas nahm. »Wir bekommen ist allzu viele Besucher von außerhalb.«

Chaidra lächelte die Wirtsfrau an. »Das Zimmer ist wundervoll.« Sie sah, dass die Wirtin sich freute. »Ich wollte nachfragen, ab wann mit Abendessen gerechnet werden könnte?«

Thona, die Wirtin, lachte leise. »Kommt ganz darauf an. Wenn ihr etwas Warmes wollt, dann dürfte dies noch zwei Kerzenstriche dauern. Wenn ihr jedoch erst einmal eine kalte Platte – sprich Brot, Käse und Wurst haben wollt, dann sofort.«

Die Antwort auf die Frage wurde von Kadalins Bauch vorweggenommen, denn ein leises Knurren entfuhr ihm. Während er rot wurde, lachte Chaidra laut auf und auch die Wirtin fiel ein.

»Nun…ich denke, wir würden erst einmal eine Kleinigkeit kaltes essen«, sagte Chaidra und klopfte ihren großen Bruder auf den Rücken. »Ich möchte nicht, dass mein großer noch verhungert.«

Kadalin wurde noch röter. Er murmelte etwas, was die Frauen jedoch nicht verstanden und warf seiner Schwester einen bösen Blick zu. Diese jedoch grinste ihn nun offen an.

Die Wirtin versicherte, dass gleich etwas zu essen kommen würde, und bat ihre Gäste sich an einen der Tische gemütlich zu machen. Chaidra suchte sich einen Tisch aus, von dem aus sie die Tür und auch die Theke im Auge behalten konnte. Ohne ein weiteres Wort setzte sich Kadalin ebenfalls und verschränkte die Arme. Er bemühte sich um einen wütenden Gesichtsausdruck, doch Chaidra kannte ihren Bruder gut genug, um zu wissen, dass er nicht wirklich böse auf sie war.

Thona brachte ihnen einen Teller voll frisch geschnittenem Brot und einen Zweiten, der mit Käse und Wurst belegt war. Beide stellte sie ab und kam kurz darauf mit einer Schale voller Früchte. Als dann Kadalin ein Bier und Chaidra sich Tee bestellte, bekamen sie die Getränke wenig später.

Ihr Bruder begann mit dem Essen, doch Chaidra sah sich im Schankraum um. Sie fragte sich, wessen Raben Rax gespürt hatte und hoffte, dass es noch nicht zu spät für die Betroffene wäre. Sie selber wusste, wie es war, wenn es einem bewusst wurde, was mit einem geschah. Es war nichts Angenehmes!

Der Abend brach langsam an. Mittlerweile hatte auch Chaidra sich zwei Scheiben Brot gegönnt, während sie jeden betrachtete, der durch die Tür kam. Am Anfang waren es am meisten Männer, sodass sie nicht auf diese achtete, doch dann kamen Frauen und kurz darauf auch Kinder. Chaidra betrachtete alle Mädchen, die hereinkamen und achtete auf Rax, der über der Tür auf ein Hirschgeweih saß und jeden Ankömmling genau ansah. Auch er hielt nach dem Mädchen mit dem Raben Ausschau.

Als der Schankraum sehr voll war und nur noch sporadisch Gäste kamen, stand ein älterer Mann auf und rief einen Trinkspruch auf die frisch Verlobten. Diese, eine junge Frau mit langen blonden Haaren, wurde rot und ihr Verlobter grinste breit. Chaidra erkannte mit einem Blick, dass beide sich wirklich liebten. Andere riefen Trinksprüche aus, ein Mann begann auf einer Blockflöte zu spielen und einige Lieder wurden laut gesungen.

Je weiter der Abend fortschritt, desto sicherer wurde sich Chaidra, dass die gesuchte Person nicht da war und wahrscheinlich auch nicht kommen würde. Sie warf einen kurzen Blick zu ihren Bruder, der etwas entfernt bei drei Männern stand und sich mit ihnen unterhielt. Sie erhob sich vom Tisch und trat auf die Theke zu, wo einige Frauen sich leise unterhielten. Dabei erkannte sie, dass eine der Frauen hochschwanger war. Sie redete gerade.

»Ich kann es immer noch nicht glauben! Wenn Aram nicht zu Aleitha gegangen wäre, dann … dann wäre ihm etwas zugestoßen! Schon alleine der Gedanke daran ist…« Sie brach ab, als sie schluchzte und eine andere Frau sie leicht beruhigend umarmte.

»Es ist aber nichts geschehen«, sagte sie leise und hielt die Schwangere fest. »Aleitha hat immer geholfen, und wenn der Fremde vor drei Tagen ebenfalls auf sie gehört hätte, dann würde er auch noch leben!«

Chaidra runzelte die Stirn, als sie dies hörte und trat an die Theke, wo Thona gerade dabei war, zwei Krüge zu füllen und diese einen älteren Mann zu geben. Chaidra setzte sich auf einen Stuhl an der Theke und sah Thona fragend an.

»Ich konnte nicht umhin zu hören, dass die eine Frau gerade gesagt hat, dass ein Fremder vor drei Tagen gestorben ist?«

Die Wirtin sah plötzlich grimmig aus und nickte. »Ja. Eine furchtbare Sache. Er wollte spät Abends noch weiterreisen und ist dann auf einen schmalen Pfad ausgerutscht. Das Ergebnis war, dass er in die Tiefe stürzte und sein Genick gebrochen wurde.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn er auf Aleitha gehört hätte, würde er noch leben!«

Nun hörte Chaidra dies schon zum zweiten Mal. Sie legte ihren Kopf etwas schräg. »Was meinen sie damit?«

Thona füllte einen neuen Krug nach und reichte sie einen anderen Mann, ehe sie antwortete. »Aleitha hat ihm gesagt, dass etwas passieren würde und ihm geraten die Nacht im Dorf zu verbringen. Er hat aber nicht darauf gehört.«

»Und diese Aleitha hat gewusst, dass er einen Unfall haben würde?«

Die Wirtin nickte. »Ja. Sie wusste, dass er sterben würde, wenn er das Dorf im Dunkeln verließ. Wenn er also auf sie gehört hätte, dann wäre er noch am Leben.«

Chaidra wurde es eiskalt, als sie dies hörte. »Und was ist das mit diesen Aram gewesen?«

»Aram ist unser Jäger und er wollte vor einigen Tagen im Gebirge jagen gehen. Jedoch war er vorher bei Aleitha und hat sie gefragt, ob es sicher wäre. Sie jedoch hat gesehen, dass er sterben würde, wenn er dies unternehmen würde. Also war er an diesen Tag nicht jagen, und ihm ist nichts geschehen.«

Verwirrung machte sich in Chaidra breit, als sie dies hörte. »Und passiert das öfters, dass diese Aleitha erkennt, dass jemand sterben wird?«

Thona nickte und so etwas sie Achtung trat in ihren Augen. »Ja. Seit ungefähr vier Jahren. Am Anfang waren wir alle sehr skeptisch, doch dann wurde uns klar, dass sie die Wahrheit sagte. Wenn wir deswegen etwas großes Vorhaben oder Gefährliches, dann fragen wir sie vorher, ob es sicher ist. Viele der Gäste und Durchreisende glauben ihr nicht und diese finden dann immer den Tod. Wenn Aleitha jedoch uns etwas sagt, dann hören wir auf sie.«

Nun war Verwirrung in Chaidra komplett. Sie lehnte gegen die Stuhllehne und schloss die Augen. Todwächterinnen erkannten, wenn jemand sterben würde, doch egal was sie sagen oder machen würden, sie könnten es nicht verhindern. Es waren ihnen bestimmt, den Tod zu sehen, doch nicht ihn zu verhindern. Was auch der Grund war, warum jeder ihnen misstraute. Wenn also Aleitha eine Todwächterin wäre, dann würde sie nie den Tod verhindern können. Was sah sie dann aber? War sie eine Zeitwächterin und konnte kurz in die Zukunft sehen? Wenn dies wäre, würde sie dennoch nicht den Tod verhindern können, denn genauso sie die Todwächterinnen den Tod nicht verhindern können, so können die Zeitwächterinnen nicht die Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft verhindern. War diese Aleitha dann vielleicht eine Lebenswächterin? Erkannte sie, wenn jemand krank war und sagte dann nur rechtzeitig bescheid, damit dem Betroffenen geholfen werden konnte? Doch auch dies war nicht schlüssig, denn Lebenswächterinnen konnten keinen Unfall erkennen. Auch die anderen Elemente: Geist, Feuer, Wasser, Erde und Luft konnte Chaidra ausklammern. So blieb die Frage: Was war Aleitha? Erkannte sie wirklich, wenn jemand starb, und konnte es verhindern? Oder bildete sie sich das alles ein und hatte bisher immer nur Glück gehabt?

Chaidra öffnete die Augen.

»Diese Aleitha? Ist sie hier?«

Thona sah sich kurz im Schankraum um und schüttelte dann den Kopf. »Nein. Ihre Schwester ist auch nicht da. Ich vermute, sie wollten nicht auf das Fest kommen.«

Enttäuscht seufzte Chaidra. Sie musste wirklich dringend, dieses Mädchen treffen und erfahren, was es mit ihr auf sich hat. Sie fragte Thona, wo dieses lebte und nahm sich vor, am nächsten Morgen sofort das Haus aufzusuchen. Wenn es sich um Aleitha wirklich um eine Todwächterin handelte, dann würde Rax einen Raben bei ihr spüren. Wenn sie etwas anderes war, dann würde sie keinen besitzen. Aber egal, was sie war. Was Aleitha tat, war unnatürlich. Personen, denen der Tod bestimmt war, durften nicht überleben, denn dann würde das ganze Gleichgewicht aus den Fugen geraden. Doch so sehr sich auch Chaidra auf die Todstränge hier im Dorf konzentrierte. Sie konnte keinen Fehler erkennen. Mit anderen Worten: Wenn Aleitha wirklich den Tod verhinderte, dann ohne auffällige Störungen im Gleichgewicht.

Ich muss dringend mit ihr reden!

 

Kapitel Acht

 Wächterin des Todes

 

Wahrheit? Du sollest mit diesen Begriff vorsichtig sein, denn nie in deinen ganzen Leben wirst du die vollkommene Wahrheit wissen. Dies können nur Vamorial und Valaisheatà de`Azzthroel, die Chronisten der Schicksalsweberin.

 

Rae Sir Neiselle Urzen,

Hohe Tante,

Herbst im Jahre 101 vor der Nebelwand

 

Chaidra zog den Umhang fester um ihre Schulter und sah dann zu dem Haus, das sich in einen kleinen Garten befand. Während das Haus in einen schäbigen Zustand befand, Putz blätterte von den Wänden, das Dach sah undicht aus, sah der Garten gepflegter aus. Es waren Beete angelegt, die schon abgeerntet waren, einige Obstbäume standen vor dem Haus und unter einem Vordach lehnte eine Axt gegen die Wand.

Die Todwächterin sah den Ort genau an. Sie hatte erfahren, dass die Eltern der Schwestern tot waren und diese alleine hier an diesem Ort lebten. Chaidra wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie fand es bemerkenswert, das die Ältere es schafte sich um alles zu kümmern, doch fragte sich gleichzeitig, ob es gut war, dass diese Mädchen ohne Erwachsene aufwuchsen. Zwar hielten die Dorfbewohner ein Auge auf sie, doch dies ersetzte nicht eine Familie.

Kadalin öffnete die Tür im Zaun und betrat den Garten. Er war am diesen Morgen besonders ruhig gewesen. Chaidra wusste nicht, woran das lag und wenn sie endlich Gewissheit über das Mädchen hatte, würde sie ihn fragen. Sie folgte ihrem Bruder, schritt auf dem schmalen Weg, der sich zwischen den Beeten befand und zum Haus führte.

An der Tür angekommen, verharrte Kadalin und besah sich das Holz des Gebäudes genau an. Stirnrunzelnd fuhr er über das Holz, doch sagte nichts.

Chaidra sah neben der Tür eine Glocke hängen, betätigte sie und wartete dann. Zuerst herrschte Stille auf der anderen Seite der Tür und die Todwächterin fragte sich, wie am besten das kommende Gespräch beginnen sollte. Einfach mit der Tür ins Haus zu fallen und direkt zu fragen, wäre nicht gut. Zum einem würden die Betroffenen sich bedrängt fühlen und zum anderen, wollte sie, dass diese Aleitha Vertrauen zu ihr aufbaute. Vor allen, wenn es wirklich stimmte und das Mädchen den Tod sehen kann.

Es dauerte einige Zeit, bis die beiden Geschwister ein Rumpeln hinter der Tür und dann näherkommende Schritte vernehmen konnten. Kurz darauf wurde ein Riegel an der Innenseite der Tür zurückgeschoben und die Tür öffnete sich.

»Was`n los«, murmelte eine junge Frau und blickte hinaus. Ihr Gesicht sah verschlafen aus. »Wenn du das bist, Aram, kannst du wieder verschwinden!« Die Wächterin sah das Mädchen an, vermutete, dass es die ältere Schwester war, und lächelte leicht. Sie hatte erfahren, dass die Ältere sehr beschützerisch gegenüber der Jüngeren ist.

»Ich wünsche ihnen einen wunderschönen Morgen«, sagte Chaidra und verbeugte sich leicht, während sie ihren Ellenbogen Kadalin in die Seite rammte. Er sah sie verdutzt an, ehe er sich ebenfalls verbeugte.

Saren starrte auf die beiden und es bauchte eine Weile, bis sie bemerkte, dass sie diese Personen nicht kannte. Sie riss die Augen auf und all ihre Müdigkeit war vergessen. Das mussten die Fremden sein, von denen Katleyn gesprochen hat. Was wollen die hier? Sofort stieg Misstrauen in ihr auf und sie kniff die Augen zusammen.

»Morgen«, sagte sie und nahm erstaunend wahr, dass Katleyn recht hatte. Diese eine Frau trug wirklich komplett schwarze Kleidung. Ob das irgendein Trend außerhalb des Dorfes war. »Was wollt ihr hier?«

Normalerweise war Saren freundlicher gegenüber Reisenden, doch eine leise Stimme tief in ihr riet sie zur Vorsicht. Sie verschränkte die Arme und lehnte sich gegen den Türrahmen. So lange sie nichts Genaueres wusste, würde sie die Fremden nicht ins Haus lassen.

Chaidra tauschte einen Blick mit ihrem Bruder. Sie konnte die Abneigung deutlich spüren, doch auch gleichzeitig, dass diese nicht durch ihre Stellung hervorgerufen worden war. Die junge Frau war einfach misstrauisch gegenüber Fremde. Die Wächterin dachte darüber nach, was sie von der Wirtin gestern gehört hatte und konnte es sogar nachvollziehen. Sie lächelte.

»Mein Name ist Chaidra Riel und dies hier ist mein Bruder Kadalin«, stellte sie sich vor. »Ich würde mich gerne ein wenig mit dir unterhalten.«

Dies war nicht einmal gelogen. Sicher, sie wollte an erster Stelle mit Aleitha reden, doch ihr war bewusst, dass sie erst einmal ihre ältere Schwester überzeugen musste, dass sie nichts Böses im Sinn hatte.

Saren sah die beide genau. Immer wieder rief die Stimme in ihr, sie solle hineingehen und die Tür schließen. Sie solle die Fremden einfach ignorieren und sich nicht mit ihnen einlassen. Doch als sie den Blick der Frau sah, wurde sie unsicher. Diese Frau war es wohl gewöhnt, dass man ihr nicht widersprach und außerdem ahnte Saren, dass sie die beiden nicht ausschließen konnte. Spätestens wenn Aleitha davon erfuhr, würde es Ärger geben.

Ein Seufzer entfuhr Saren und sie stieß sich vom Türrahmen ab.

»Macht es aber kurz«, sagte sie und öffnete die Tür noch weiter. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«

Mit diesen Worten deutete sie auf die beiden, dass sie eintreten sollen und schloss nachdem beide drinnen waren, die Tür. Sie führte ihre Gäste in die Küche, wo wieder über Nacht das Feuer ausgegangen war. Ohne auf die beiden Fremden zu achten, kniete sie sich neben der Feuerstelle und begann Holz aufzuschichten. Als sie dann Feuerstein und Eisen in die Hand nahm, drehte sie sich um.

»Was sollt ihr«, fragte sie abermals und wandte sich dann wieder Aufgabe zu. Schnell schlug sie das Eisen auf dem Stein, Funken entstanden und kurz darauf loderte eine kleine Flamme auf. Sie nickte zufrieden, legte mehr dünne Äste auf dieses und sah zu, wie das Feuer größer wurde.

Die Todwächterin wartete bis die junge Frau fertig war und suchte nach den richtigen Worten. Ihr war klar, dass sie das Mädchen nicht verschrecken durfte, aber auch gleichzeitig mehr erfahren musste. Aber sie sollte sie es anstellen? Sofort mit der Frage ins Haus rennen, oder aber erst einmal warten und sich über belanglose Dinge zu unterhalten. Sie sah zu ihrem Bruder, der intensiv das Feuer anblickte und dann zu dem Holzstapel daneben.

»Bald wird der Winter kommen«, fing er an und deutete auf den Stapel. »Habt ihr genug Holz für diesen?«

Seine Frage war freundlich gestellt und dennoch zuckte Saren zusammen. Sie sah ihn misstrauisch an. Wieder schrie die Stimme in ihr, dass sie diese Leute aus dem Haus jagen sollte.

»Trotz dass es sie nichts angeht, wir haben einiges und werden in den nächsten Tagen noch den Rest aufstocken.«

Eine Aufgabe, worauf sich Saren überhaupt nicht freute, doch etwas, das notwendig war. Da Aleitha nicht sehr stark war, blieb es an Saren die Axt zu schwingen und der Gedanke, dass sie heute dies wieder den ganzen Tag tun musste, gefiel ihr überhaupt nicht.

Kadalin nickte, so als hätte er diese Antwort erwartet. Er sah kurz zu seiner Schwester, sah, dass sie ihn verwirrt ansah und lächelte. Sein Blick ging wieder zu dem Mädchen, dass immer misstrauischer aussah.

»Da meine Schwester gerne mit ihnen reden würde und ich dabei mehr oder weniger nur störe … wenn sie mir ihren Holzplatz zeigen, dann würde ich gerne ihren Holzvorrat aufstocken.«

Chaidras Augen weideten sich ein wenig, als ihr bewusst wurde, was ihr Bruder beabsichtigte. Er wollte eine gute Tat unternehmen und somit dem Mädchen zeigen, dass sie nichts Böses im Sinn hatten. Eine wirklich gute Idee. So würde es ihm nicht langweilig werden und sie hätte genügend Zeit, um sich mit den Kindern zu unterhalten. Außerdem würde ihr Bruder dies als ein Muskeltraining ansehen. Etwas, was er während des Rittes nicht so viel bekommen hatte. Sie sah zu Saren und Überraschung trat in ihre Augen, als sie die offene Abneigung in ihr sah.

»Wir brauchen keine Hilfe«, zischte Saren und verschränkte die Arme. Sie hasste es, wenn jeder dies dachte und ihnen Almosen geben wollte. Vor allen Fremde, die davon gehört hatten, dass sie und Aleitha alleine lebten und niemanden hatten, der sich um sie kümmerte. Die Dorfbewohner wussten dies und gingen mit ihren Hilfsangeboten sparsam um. Meistens machten sie welche, wenn kurz zuvor Aleitha ihnen wieder das Leben gerettet hatte. Damit konnte Saren leben, doch von vollkommen Fremden, die gerade erst einen Tag da waren und Saren überhaupt nicht kannte. Nein, von solchen wollte sie nichts haben.

Kadalin stutzte, denn er hatte erwartet, dass sie sich freuen würde. Doch die Ablehnung in der Stimme und die verspannte Haltung. Er seufzte. Dies war ein Kind, das einfach zu stolz war, um Hilfe anzunehmen. Mit anderen Worten, mit seinem Hilfsangebot hatte er sie eher verschreckt, als für sich gewonnen. Er sah zu seiner Schwester und zuckte mit den Achseln.

»Wenn dass so ist, dann möchte ich mich natürlich nicht aufdrängen«, sagte er und fasste einen Plan in seinem Kopf. »Chaidra, ich werde wieder gehen. Ich würde ja wie gesagt nur stören und werde stattdessen zu ihren Pferden schauen.«

Chaidra sah in nun überrascht an. Dies kannte sie von ihrem Bruder gar nicht. Einfach so schnell aufzugeben, doch dann erkannte sie in seinen Augen, dass er einen Plan hatte. So schnell würde er nicht von seinen Vorhaben abkommen. Sie wusste zwar nicht, was er vorhatte, doch ahnte, dass er dennoch helfen würde. Nur so, dass es das Mädchen nicht mitbekam.

»Natürlich, Kadalin. Vielleicht kannst du unsere Vorräte aufbessern. Wie ich hörte, gibt es um diese Zeit viele Beeren in dem umgrenzenden Wald.«

Ihr Bruder nickte, verabschiedete sich freundlich von Saren und verließ das Haus. Sein Weg führte um das Haus, wo er die Stelle zum Feuerhacken erkannte. Er nahm die Axt in die Hand und ging damit in Richtung Wald.

 

Es war der Geruch von Tee, der Aleitha weckte und sie richtete sich im Bett auf. Ihr Kopf tat weh, was wohl daran lag, dass sie die letzten Tage sehr oft geweint hatte. Es schmerzte ihr immer wieder, wenn sie es nicht schaffte, jemanden zu überzeugen, einen anderen Weg zu gehen. Wenn sie sah, dass jemand starb und sie es nicht verhindern konnte. Sie schloss die Augen, atmete tief ein und versuchte nicht mehr daran zu denken. Es war die Entscheidung des Händlers gewesen und sie hatte ihr Möglichstes getan. So sagte es jedenfalls Saren und Aleitha wusste, dass ihre Schwester recht hatte.

Ihre große Schwester. Aleitha wüsste nicht, was sie ohne sie machen würde. Wahrscheinlich wäre sie schon längst in große Verzweiflung ausgebrochen, wenn sie alleine gewesen wäre. Doch Saren war immer da, wenn sie sie brauchte. Sie gab ihr Halt, sorgte dafür, dass sie nicht alleine mit diesem Schmerz fertig werden musste, und versuchte sie immer wieder aufzumuntern. Aleitha wusste, dass Saren es überhaupt nicht gefiel, dass sie anderen mit ihrer Gabe half, doch Aleitha konnte es nicht anders. Sie musste helfen. Es war ein Drang, den sie nicht unterdrücken konnte.

Mit einem Seufzen erhob sich Aleitha und sie stieg aus dem Bett. Heute würde sie sich zusammenreißen! Sie musste endlich ihrer Schwester mehr helfen, denn der Winter stand vor der Tür und es musste noch einiges erledigt werden. Sie wollte nicht, dass Saren alles alleine machen musste. Nein, heute würde sie sich große Mühe geben, und versuchen nicht mehr an das Geschehene zu denken.

Aleitha zog sich schnell um, ehe sie dann ihr Zimmer verließ und die Treppe runter ging. Bei halber Höhe blieb sie stehen. Sie konnte Stimmen aus der Küche vernehmen. Zu einen ihre Schwester, die sehr wütend klang und dann eine unbekannte.

Aleithas Herz zog sich zusammen. Saren hatte gemeint, dass Fremde gestern ins Dorf gekommen waren. Waren diese hier, weil sie ihre Gabe in Anspruch nehmen wollte, oder waren sie hier, um sich wie viele anderen lustig über sie zu machen? Beiden war sehr schmerzhaft für Aleitha.

»Jetzt hören sie mal zu! Ich hab keine Ahnung wer ihr seid, aber diese Dinge gehen sie ja nun überhaupt nicht an. Lassen sie Aleitha in Frieden«, erklang die wütende Stimme ihrer Schwester. Ein hartes Aufschlagen ertönte. Saren musste etwas mit Wucht auf dem Tisch gestellt haben.

»Ich bitte vielmals um Verzeihung, wenn ich unhöflich erscheine, aber es ist wichtig, dass ihr diese Frage beantwortet«, sagte eine freundliche Stimme, die dabei bemüht war, den netten Tonfall beizubehalten. »Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber …«

»Aber dass sind sie«, erwiderte Saren. Ihre Stimme klang sehr nahe daran, die Geduld zu verlieren.

Aleitha ließ den Rest der Treppe hinunter. Wenn sie verhindern wollte, dass ihre Schwester gleich ganz und gar unhöflich werden würde, müsste sie jetzt eingreifen. Sie seufzte auf dem Weg zu Küche. Saren war immer darauf bedacht, dass niemand etwas ihr antat und würde auch alles daran setzten, um sie in Sicherheit zu wissen. Selbst wenn es Aleitha selber nicht wollte.

Das jüngere Mädchen öffnete die Tür zur Küche und holte tief Luft.

»Guten Morgen, Saren«, grüßte sie ihre Schwester und unterbrach dabei ihre Schwester, die wohl gerade sagen wollte, dass die Fremde das Haus verlassen sollte. Dann wandte sich Aleitha der fremden Frau zu und stockte. Diese Frau war ganz in Schwarz gekleidet und sah ehrlich gesagt unheimlich aus. Wer war diese Frau? »Guten Morgen«, setzte sie etwas gedämpfter hinzu.

 

Chaidra musste ernsthaft mit sich ringen, um nicht doch die Geduld zu verlieren. In diesen Moment wünschte sie sich, dass die Bewohner des Dorfes wusste, was ihre Stellung bedeutete. Dann wäre es vielleicht einfacher, um etwas aus dem Mädchen herauszubekommen. Das die ältere Schwester einen sehr großen Beschützerinstinkt gegenüber ihre Schwester besaß, war nach kurzer Zeit sehr deutlich geworden. Sie blockierte alle Fragen ab, die etwas mit ihren kleineren Schwester zu tun hatte und machte deutlich, dass Chaidra hier unerwünscht war.

»Jetzt hören sie mal zu! Ich hab keine Ahnung wer ihr seid, aber diese Dinge gehen sie ja nun überhaupt nicht an. Lassen sie Aleitha in Frieden«, sagte das Mädchen und kniff die Augen wütend zusammen. Sie nahm den Teekessel vom Feuer, füllte eine Tasse und knallte diese auf dem Tisch. Ihre Wut war nun sehr deutlich zu erkennen.

Chaidra holte tief Luft, um sich zu beruhigen.

»Ich bitte vielmals um Verzeihung, wenn ich unhöflich erscheine, aber es ist wichtig, dass ihr diese Frage beantwortet«, sagte sie und war froh, dass ihre Stimme immer noch ruhig und freundlich klang. »Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber …«

»Aber dass sind sie«, erwiderte Saren. Ihre Stimme zitterte vor Wut und Chaidra schluckte heftig. Dies lag aber daran, dass sie es nun überhaupt nicht gewohnt war, dass man sie einfach so unterbrach. Sie wollte neu ansetzten, doch das Mädchen fuhr einfach fort. »Sie kommen einfach hierher, stellen Fragen, die sie nichts angehen und wollen dann behaupten, dass sie nicht unfreundlich sind? Wer soll dies denn bitte schön glauben. Wenn sie also nicht auf der…«

Schon nach den ersten Worten hörte Chaidra nicht mehr zu. Sie spürte sie Unruhe von Rax und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Ihr Rabe vermittelte ihr, dass er hier im Gebäude einen anderen Raben verspürte und damit stand es für Chaidra fest. Hier in diesen Raum lebte eine angehende Todwächterin.

Plötzlich öffnete sich die Tür und ein junges Mädchen von knapp zwölf Jahren trat in die Küche. Sie sah blass aus, doch lächelte breit.

»Guten Morgen, Saren«, grüßte sie und sah dabei das ältere Mädchen an. Ihre Stimme klang dabei sehr fröhlich. Dann wandte sich das Mädchen Chaidra zu und sie hielt inne. Ihre Augen weideten sich ungläubig. Etwas gedämpfter kam dann: »Guten Morgen!«

Chaidra war nicht überrascht. Jeder, der nicht wusste, wofür diese Kleidung stand, reagierte erst einmal so. Sie legte ihren Kopf etwas schräg und betrachtete das Mädchen. Es war leicht zu erkennen, dass das Kind gerade großen geistlichen Schmerz durchmachte. Was wohl an die Ereignisse vor vier Tagen lag, wo sie versucht hatte, einen Händler das Leben zu retten. Dies ihr aber nicht gelungen war.

Plötzliche Eiseskälte durchbrach Chaidras Gedanken. Bei dem Mädchen handelte es sich tatsächlich um eine Todeswächterin. Doch wie passte dann alles zusammen. Wie war es möglich, dass das Kind den Tod anderer sah und dann dafür sorgte, dass er nicht eintrat. Das war etwas völlig Unmögliches. Unsicher, wie sie darauf reagieren sollte, starrte Chaidra das Kind an.

 

Durch Aleithas Begrüßung völlig aus dem Konzept gebracht, hielt Saren in ihren Worten inne. Sie war gerade dabei gewesen, diese fremde Frau aus dem Haus zu jagen. Seit der Mann verschwunden war, hat diese Frau immer seltsamere Fragen über Aleitha gestellt. Fragen, die Saren überhaupt nicht gefiel, sodass sie immer wütender geworden war. Niemand würde so neugierig gegenüber ihre Schwester sein!

Nachdem Aleitha auch die Fremde begrüßt hatte, merkte Saren, dass diese bleich geworden war. Warum? Und warum war diese Frau so an Aleitha interessiert.

Saren nahm einen weiteren Krug und füllte Tee in diesen. Sie reichte das Getränk ihrer Schwester.

»Morgen, Schwesterchen! Ich hoffe, du hast gut geschlafen.«

Zu ihrer Freude nickte Aleitha. Die letzten Nächte hatte das Mädchen nicht besonders gut geschlafen und Saren musste immer wieder nachts zu ihr ins Bett kommen, um sie beruhigen. Diese Nacht jedoch war sie nicht durch Schreie geweckt worden. Endlich mal eine Nacht, wo Aleitha durchgeschlafen hatte.

»Ich nehme an, ihr seit Aleitha?«

Bei der Stimme der Frau begann es wieder in Saren zu kochen. Diese Frau sollte ihre Schwester in Ruhe lassen! Saren holte tief Luft, um nun endgültig diese Person aus ihrem Haus zu jagen.

»Ja, dass bin ich«, antworte Aleitha, ehe Saren zu Wort kam. »Kann ich ihnen helfen?«

Aus der Wut in Saren wurde Resignation. Warum musste ihre jüngere Schwester immer so hilfsbereit sein, auch wenn es ihr tief im Inneren schadet? Wieso konnte sie nicht einmal >Nein< sagen und sich um sich selber zu kümmern. Saren erkannte, dass diese Frage der fremden Frau freute. So als würde sie wissen, dass sie nun endlich auf alle Fragen eine Antwort bekommen würde, die Saren so beharrlich ausgeschwiegen hatte. Warum hätte Aleitha nicht etwas länger schlafen können?

»Aleitha? Ich möchte dich etwas fragen«, begann die Frau und sah dabei sehr aufmerksam aus. Saren schnaubte innerlich. Bestimmt kommt eine Frage, die sie nicht beantwortet hatte. »Besitzt du einen Raben?«

Saren riss die Augen auf. Was war dass denn für eine Frage? Wieso sollte denn ihre kleine Schwester einen Raben besitzen? Sie besaßen keine Haustiere, auch wenn ihre jüngere Schwester immer wieder danach gefragt hatte. Doch Saren war da hartnäckig geblieben. Sie konnten sich kein Haustier leisten, denn manchmal war es schon schwierig genug, sich um sich selber zu kümmern. Da brauchten sie nicht noch einen Esser mehr. Natürlich würde Saren gerne den Wunsch ihrer Schwester erfüllen, doch an erster Stelle musste sie an sie beide denken.

Zu Sarens Überraschung wurde Aleitha ganz blass und begann zu zittern. »Wo…woher…«, stammelte sie und brach dann ab. »Woher ist das weis«, fragte die Fremde und klang nun ganz sanft.

Aleitha nickte.

Die Frau atmete tief durch. »Weil ich selber einen besitze.«

Aleitha wurde noch bleicher. Das war für Saren genug.

»Was reden sie da für einen Blödsinn«, fuhr sie die Fremde an. »Aleitha hat keinen Raben. Wir haben überhaupt keine Haustiere und …« Sie brach ab, als sie den Blick von Aleitha sah. Ihre kleine Schwester sah nun völlig schuldbewusst aus. »Oder Aleitha?«

Saren hatte plötzlich Angst. Es ging ihr nicht darum, dass ihre Schwester ein Haustier hatte, sondern eher darum, dass ihre Schwester es ihr nicht gesagt hatte. Dass ihre Schwester es nicht gesagt hatte. Dass würde doch Aleitha nicht machen? Ihr etwas verschweigen?

»Aleitha?«

»Ich … ich …« Aleitha brach in Tränen aus. Völlig überrascht trat Saren zu ihrer Schwester und berührte sie kurz an der Schulter.

»Aleitha … was ist los? Wenn du dir doch ein Haustier zugelegt hast, dann ist das in Ordnung. Du hättest es auch sagen können … irgendwie wären wir damit fertig geworden.«

 

Als Chaidra die Szene vor sich sah, wurde ihr erst recht deutlich, wie sehr die beiden Geschwister füreinander da waren. Sie sehr Saren sich um ihre jüngere Schwester sorgte und auf sie aufpasste. Chaidra musste an ihren Bruder Kadalin denken. Er hatte sich auch um sie gekümmert, als alle anderen sich von ihr abgewandt hatten. Als fest stand, dass sie eine Todwächterin war und die anderen Angst vor ihr bekamen. Doch Kadalin war treu geblieben. Er hatte sie verteidigt und als sie ihre Ausbildung gemacht hatte, ihr immer wieder Briefe und kleine Geschenke geschickt. Ohne ihren Bruder wäre sie wohl schon vor langer Zeit in tiefer Verzweiflung gefallen.

Nun sah Chaidra, dass Saren wie Kadalin war. Dass dieses Mädchen für ihre Schwester da war und sich vom ganzen Herzen um sie kümmerte. Für die Todwächterin wurde es klar, dass Aleitha sehr viel Glück gehabt hatte. Die Dorfbewohner haben ihre Gabe freundlich aufgenommen und sie nicht verstoßen. Ihre eigene Familie – sprich Saren – hat sich nicht von ihr abgewandt. Etwas, was nur sehr wenigen angehenden Todwächtern vergönnt war.

Dass Aleitha ihrer Schwester nichts von den Raben erzählt hatte, verstand Chaidra sehr. Niemand konnte den Raben sehen. Nur die Todwächterin selber. So wie nur sie Rax sehen konnte, konnte Aleitha nur ihren eigenen Raben sehen. Diejenigen, die doch den Raben sahen, waren dem Tode geweiht. Was auch der Grund dafür war, dass Raben in vielen Teilen des Landes verhasst waren und getötet worden. Selbst Raben, die jeder sehen konnte, sodass klar war, dass dieser kein Todesbote war.

»Aleitha?«

Es war nur ein Wort von Saren, doch ein Wort, das all ihre Sorge und Liebe zum Ausdruck brachte. Ein Lächeln erschien auf Chaidras Gesicht. Es war schön zu wissen, dass das Mädchen nicht alleine war. Doch dann verschwand ihr Lächeln. Dies erklärte immer noch nicht, wieso sie Tode verhindern konnte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch hielt inne, als Aleitha zu sprechen begann. Dabei sah sie ihre Schwester flehend an.

»Saren, ich … ich wollte es dir sagen, aber …« Das Mädchen brach ab. Große Angst stand in ihren Augen. »Ich hatte Angst, dass du … dass du mich allein lassen wirst.«

Aleitha nahm ihre Schwester in die Arme und strich ihr beruhigend über die Haare. »Das brauchst du nicht, Schwesterchen. Ich werde immer für dich da sein und das wirst sich nie ändern.«

Obwohl es Chaidra danach drängte, endlich zu erfahren, wie es Aleitha schaffte, den vorherbestimmten Tod zu verhindern, hielt sie sich zurück. Ihr war klar, dass dies ein wichtiger Moment in Aleithas Leben war. Wie würde Schwester darauf reagieren, dass Aleitha von einem Raben begleitet wurde, den nur das kleine Mädchen sehen konnte. Würde sie ihr glauben? Würde sie ihre Schwester als verrück ansehen?

»Du hast also einen Raben«, begann Saren, weil sie merkte, dass ihre Schwester nicht von alleine sprechen wollte. »Wo ist er? Ich habe ihn noch nie gesehen.«

Chaidra verzog ihr Gesicht. Das war genau die Stelle, die für Aleitha wohl am schlimmsten war. Ihrer Schwester gestehen zu müssen, dass Saren nie den Raben sehen würde. Hoffentlich erweise.

»Ich … ich …« Aleitha brach wieder ab, doch atmete dann tief ein. »Ich weis. Er ist hier im Raum und … Saren du kannst ihn nicht sehen. Niemand sieht ihn.«

Sarens Gesicht wurde ausdruckslos. Das war genau der Moment, wo es sich entscheiden würde. Wie wird sie reagieren. Wird sie es annehmen? Chaidra spürte, dass sie aufgeregter wurde. Sie hatte schon so oft gesehen, wie selbst die besten Freunde und Familienmitglieder sich von jemand abgewandt hatten, weil sie es nicht glauben wollten. Oder, weil sie einfach zu große Angst davor hatten.

»Ich kann ihn nicht sehen«, sagte Saren leise und zögerlich. »Wie meinst du das?«

Verzweiflung machte sich in Aleithas Gesicht breit. »Ich weis nicht. Ich weis nur, dass niemand den Raben sehen kann. Selbst Mama und Papa konnten ihn damals nicht sehen und…«

»Moment«, unterbrach Saren ihre Schwester. »Mama und Papa? Soll das heißen, dass du schon damals den Raben hattest. Den, den niemand sehen kann?« Sarens Stimme war bar von jeder Emotion und Chaidra konnte nicht ausmachen, wie die Ältere dies aufnahm.

Aleitha nickte. »Ja. Papa hat gemeint, dass er deswegen etwas besonders sein musste. Aber es ist unheimlich. Er ist immer da.«

Saren schwieg daraufhin. Es war ihr anzusehen, dass sie nicht wusste, was sie darauf sagen sollte. Vielleicht wollte sie ihrer Schwester glauben, doch dies war nicht einfach. Chaidra seufzte leise. Nun war es an der Zeit, die beiden aufzuklären. Dies war wohl das Beste. Aleitha zu erklären, dass sie eine Todwächterin war und deswegen sehen konnte, wenn jemand starb. Vielleicht würde Chaidra dann erfahren, wie es möglich war, dass das Mädchen diese Tode dann verhinderte. Etwas, was sie unbedingt wissen wollte. Sie holte tief Luft. Die Erklärung würde nicht einfach werden. Für niemanden.

 

Kapitel Neun

 Greisarg

 

Und ich sah den Hafen von Greisarg. Da wusste ich, dass dies das Juwel von Sardeil ist, auch wenn die Hauptstadt Sa Harten ist.

 

Ibrem Gres,

Händler,

Sommer 2403

 

Nolwine blickte auf die Stadt Greisarg und fragte sich, ob es Zufall war, dass ihr Weg nun doch in diese Stadt geführt hatte. Ebenfalls fragte sie sich, ob Balestrano und die anderen Erleuchteten heil hier angekommen waren und wie es ihnen ging. Sie wollte unbedingt ihren Freund wiedersehen, doch hatte Angst, wie er reagieren würde. Seitdem sie vor zwei Kerzenstrichen aufgewacht war, hatte sie versucht, etwas von der Wächterin zu erfahren. Was los sei und wieso sie diese Schmerzen verspürte. Doch die Frau hatte gemeint, dass sie später alle Fragen beantworten würde. Jetzt jedoch war es am wichtigsten, dass sie zu einer Heilerin gelangen würden. Nolwine, die erkannt hatte, in was für einen schlechten Zustand sich die bewusstlose Frau befand, sagte darauf nichts mehr. Sie schwieg und betrachtete dabei Greisarg, wobei sie immer näher kamen.

Greisarg war eine Hafenstadt, die sich im Land Sardeil befand und für den Handel mit anderen Städten bekannt war. Entgegen den meisten Städten von Sardeil besaß Greisarg eine mächtige Stadtmauer, die weit ins Meer hineinreichte und man somit nur durch ein großes Tor in den Hafen gelangte. Es gab unzählige Schiffe in diesen Hafen; kleine, welche dazu dienten nahe den Küsten zu fahren, oder große mit denen man bis nach Drukard oder sogar Eisargen gelangte und die mit Handelswaren beladen waren. Um in die Stadt zu gelangen, musste man durch eines der vier Tore gehen, welche an den wichtigsten Handelsstraßen zu finden waren. An diesen gab es Wachmänner, die dafür sorgten, dass alles in Ordnung war und man nur mit einem guten Grund die Stadt betrat. Ebenfalls war es wichtig, dass Fremde die Waffen an den Toren abgeben mussten, es sei denn, man hatte eine Erlaubnis. Als sie die Stadt erreichten, kamen sie dem Westtor immer näher und Nolwine erkannte, dass drei Männer in Uniform auf der Straße standen und sich unterhielten. Doch dann schienen sie zu erblicken und sie versperrten den Weg mit ihren Hellebarden. Nolwine fragte sich, was nun passieren würde, denn sie war noch nie in Greisarg gewesen.

Thanai sprang vom Kutscherblock und baute sich vor den Wachen auf. Die Hände waren in den Hüften gestemmt.

»Wer glaubt ihr, seid ihr denn?«, fauchte sie die Wachen an. Ihre Augen glühten vor Zorn. »Wie könnt ihr es wagen, und uns aufzuhalten? Habt ihr eine Ahnung, was ihr gerade im Begriff zu tun seid, Männer?« Das letzte Wort betonte sie so, als wäre es eine Beleidigung.

Die Wachen wurden bei jedem Blick immer bleicher und zum Schluss sahen sie so aus, als würden sie einen leibhaftigen Dämon gegenüberstehen. Sie verbeugten sich tief und gaben ihnen den Weg frei, wobei sie sich lautstark entschuldigten.

Thanai schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit mehr und setzte sich wieder auf dem Block. Dann warf sie einen letzten zornigen Blick auf die Männer und befahl den Pferden weiterzureiten. Sie sah Nolwine an, welche mit offenem Mund sie anstarrte. Ein leises Lachen entfuhr Thanai, während sie das Tor passierten.

»Schau nicht so. Die Wachen wissen, dass sie uns Wächterinnen nicht aufhalten dürfen und es ist nicht zu übersehen, dass ich eine bin«, sagte die Luftwächterin und zeigte dabei auf die Tätowierung in ihrem Gesicht. »Ich hätte es verstanden, wenn ich eine Kapuze aufgehabt hätte, aber deutlicher kann ich mein Gesicht ja nun wirklich nicht zeigen. Außerdem haben wir nicht mehr viel Zeit. Zhanaile muss nun wirklich dringend zu einer Heilerin.«

Nolwine öffnete den Mund, doch schloss ihn dann wieder. Sie sah zu den Wachen zurück, die wieder vor dem Tor standen und einen anderen Wagen anhielten. Dann sah sie zu der Wächterin.

»Ich weiß, dass im Kovent-Haus Heiler gibt«, sagte sie.

Thanai warf ihr einen skeptischen Blick zu, ehe sie wieder zu der Straße sah. »Da bin ich mir sicher, aber um nicht unhöflich zu klingen: Ich bezweifle, dass die Leute dort Zhanaile helfen werden. Wir werden zu einem kleinen Gebäude der Wächterschaft gehen. Wenn wir Glück haben, ist eine Lebenswächterin dort. Oder jemand anderes. Heiler sind eigentlich immer anwesend.«

Nolwine senkte den Kopf. Sie hatte nicht nachgedacht, als sie den Vorschlag gemacht hatte. Natürlich hatte diese Frau recht. Es wäre wirklich ungewöhnlich gewesen, wenn die Erleuchteten die kranke Wächterin geheilt hätten. Doch dann fragte sie sich, wieso diese es nicht machen sollten. Sagt der Eine nicht, dass es die Pflicht der Erleuchteten ist, jedem zu helfen, der in Not ist? Wären sie da nicht verpflichtet, die Kranke zu heilen?

Die Luftwächterin führte den Wagen zu einem Wirtshaus, auf welches mit großen Buchstaben Zum Weißen Kaninchen stand. Der Wirt befand sich gerade davor und unterhielt sich mit einem Soldaten.

»Rae Luvàr, es ist mir eine Ehre, sie hier begrüßen zu dürfen«, sprach der Wirt, nachdem er die Ankömmlinge erkannt hatte, und sprang vor, damit er Thanai die Hand zum Absteigen bot. Danach verbeugte er sich tief und seine Augen leuchteten vor Freude. »Ihr beehrt uns, indem ihr hier seit, Herrin!«

Thanai lächelte. Sie deutete auf die Pferde.

»Meister Drean! Schön sie hier zu sehen. Könnten sie sich um die Pferde kümmern? Wissen sie außerdem, ob eine Heilerin bei den Wächterinen anwesend ist?« Bei der letzten Frage deutete sie auf das Haus, das sich neben dem Gasthaus befand.

Der Wirt nickte.

»Ja…soweit ich weiß, sind zwei Rae Lithar und eine Rae Sir anwesend. Habt ihr eine Verletzte«, fragte er und sah dabei Nolwine interessiert an.

Die Luftwächterin seufzte erleichtert auf, als sie die Antwort vernahm, und deutete dann auf den Wagen. »Ja. Eine Freundin ist verletzt. Es geht ihr nicht besonders gut.«

Drean nickte abermals. »Verstehe.« Er drehte sich um und rief »Erren!! Bransen!!«, ehe er sich wieder Thanai zuwandte. »Ich werde Erren zu den Wächterinnen vorschicken und bescheid sagen, dass eine Heilerin benötigt wird. Bransen wird eure Freundin hineintragen.« Dann sah er beinahe entschuldigend an. »Leider muss ich ihnen mitteilen, dass in euerem Gebäude alle Zimmer belegt sind. Sehr viele Rae Vashen sind in den letzten Tagen angekommen. Wegen irgendeiner anstehenden Ernennung in Sardenthal.«

Thanai hob eine Augenbraue, doch war nicht wirklich überrascht. Die Ernennung der ersten Flammenträgerin war für die Feuerwächterinnen etwas sehr Wichtiges. Kein Wunder also, wenn sehr viele dabei sind, nach Sardenthal zu reisen. Sie sah den Wirt an.

»Ich hoffe, dass ihr dann Zimmer für uns habt, Meister Drean? Denn wenn es stimmt, werden die anderen wohl kein Platz für uns haben«, sprach die Luftwächterin und lächelte den Mann zu. »Selbstverständlich, Rae Lùvar! Alles zu ihren Diensten. Sie werden zufrieden sein, das versichere ich ihnen!« Joan Drean konnte nicht oft genug sagen, dass er nur das Beste für sie hat und persönlich für ihr Wohl sorgen würde. Als dann zwei Burschen erschienen, schickte er den jüngeren los, um eine Heilerin zu besorgen und gab dann den zweiten die Anweisung, Zhanaile erst einmal in einem Raum in Gasthaus zu tragen. Er führte dann Thanai und Nolwine über eine Treppe in einen Gang, wo seine besten Zimmer lagen und meinte, dass alle frei wären und sie somit ihnen zur Verfügung standen.

Nolwine bekam ein eignes Zimmer, dass nahe der Treppe war und nachdem sie versprochen hatte, das Wirtshaus nicht ohne Bescheid zusagen verlassen würde, ließ man sie allein. Immer noch erschöpft von den Schmerzen warf sie sich auf das Bett. Dort blieb sie liegen und ein seltsames Gefühl stieg in ihr auf. Jedoch nur ganz kurz, sodass sie sich nicht sicher war, ob dies nur ihre Müdigkeit verschuldete, oder ob es etwas anderes war. Sie setzte sich auf und ging zum Fenster, wo sie erkennen konnte, dass der eine Falke von der Wächterin sich vor dem Wirtshaus auf einem Baum niedergelassen hatte. Nolwine fragte sie sich, warum der Falke so treu war und wieso er mit Thanai zusammen reiste. Dies werd ich Thanai später fragen! Seufzend öffnete sie das Fenster und betrachtete die Straße vor dem Gebäude. Dort liefen die verschiedensten Personen. Es gab reiche Adlige, die mit ihren Gefolgte unterwegs waren, oder auch nur einfache Handwerker, die gerade dabei waren, ihre letzten Geschäfte für den heutigen Tag abzuschließen. Doch dann sah sie eine kleine drahtige Gestalt, die ihre Aufmerksamkeit erregte und sie runzelte die Stirn. Konnte dies wirklich sein? Sie betrachtete die Gestalt ganz genau, als sie sah, wie diese einen Arm hervor zucken ließ und schnell in den Beutel eines abgelenkten Adligen griff. Ein kleiner Stoffbeutel wechselte so den Besitzer und wenig später war der Dieb verschwunden. Es würde wahrscheinlich nicht lange dauern, bis der Adlige seinen Verlust bemerken und wütend werden würde.

Nolwine war verblüfft. Sie hatte schon oft von Dieben gehört, aber selber noch nie mit welchen zu tun gehabt. Sie schüttelte den Kopf, ehe sie weiter das Treiben auf der Straße beobachtete. Wieder musste sie an Balestrano denken und fragte sich, ob er wohlbehalten in der Stadt angekommen war.

Nachdenklich blickte das Mädchen aus dem Fenster, ehe sie einen Entschluss fasste, schnell zur Tür lief und dann kurz innehielt. Sie sollte das Wirtshaus nicht verlassen, doch sie musste unbedingt herausfinden, ob ihre Reisegefährten gut angekommen sind. Und ob es den Hochgeleuchteten Adiran gut ging. Hin und her gerissen, was sie machen sollte, riss sie letztendlich die Tür auf und rannte die Treppe hinunter, wobei ihr ein seltsamer Gedanke kam. Vielleich konnte das hiesige Konvent ihr helfen. Sie dachte zwar nicht mehr daran, dass Thanai ihr schaden wollte, aber ganz wohl war es ihr bei ihr auch nicht. Als sie aus dem Wirtshaus war, rannte sie zwei Straßen weiter, da sie nicht wusste, ob man ihr weggehen bemerkt hatte, sodass sie sicher gehen wollte. Sie blieb einige Minuten stehen, lauschte und sah hoffnungsvoll in die Richtung, wo sie hergekommen war. Doch es kam niemand! Erleichtert lehnte sie sich gegen eine Wand und überlegte, wo sich das Konvent hier in Greisarg befand. Sie wusste es nicht, doch nachdem sie drei Personen gefragt hatte, wusste sie, wohin sie gehen musste.

 

Eine Feuerbrust, so heiß wie im innersten eines aktiven Vulkans, raste auf die Stadt zu. Schreie hallten durch die Straßen, Wimmern erfüllte die Gassen und Stöhnen erklangen auf den Wegen. Das Feuer kam näher…immer schneller und größer wurde es. Erbarmungslos zerstörte es alles, was sich auf ihren Weg befand. Häuser stürzten ein, Bäume brachen und Menschen verbrannten. Es war eine unvorstellbare Hitze, die selbst den mächtigsten Mann zu Boden brachte.

Sie rannte…sie rannte vor dem Feuer davon. Sie war schnell, doch das Flammenmeer wurde immer schneller. Zerstörung und Tod erblickte sie überall, während sie vor dem Grauen wegrannte…

 

»Gott…nicht schon wieder«, flüstere Akara, während sie am Tisch saß und auf ihr Mittag wartete. Sie griff sich gegen die Stirn und kniff die Augen zusammen, um die schrecklichen Bilder aus ihrem Gedächtnis zu bekommen. Doch diese, eingebrannt wie das Mal eines Pferdes, blieben im Hintergrund, bereit wieder auszubrechen, wenn sie die Hitze spüren würde.

Akara lehnte sich zurück und betrachtete den Schankraum. Obwohl der Winter vor der Tür stand und die große Handelssaison vorbei war, war das Wirtshaus recht gut besucht. Zwei Adelsfamilien mit ihren Wächtern und Bediensteten hatten sich hier einquartiert, sowie umherziehende Söldner und diejenigen, die für eine Nacht eine Bleibe suchten, ehe sie am nächsten Tag wieder weiterzogen. Der Wirt und seine Angestellten hatten viel zu tun, um jeden Gast gut zu versorgen, sodass es nicht selten war, dass einer etwas länger auf sein Essen warten musste.

Mit einem Kopfschütteln nahm sie den Krug voll Wein und trank ausgiebig, während sie sich fragte, wie lange sie noch auf ihr Essen warten musste. Wie schon gesagt, war das Wirtshaus voll, aber dennoch war es ihr sie kein Grund so lange warten zu müssen. »Meine Dame…ihr Essen«, ertönte es und ein junger schlanker Bursche mit tiefschwarzen Haaren stellte das Essen vor ihr ab. Dabei grinste er frech und in seinen Augen blitzte es belustigt auf.

»Danke«, erwiderte sie freundlich, doch der Blick in ihren Augen zeigte deutlich, dass der Junge es nicht übertreiben sollte. Es war so, als würde ein Feuer in ihnen lodern. Ein Feuer, das bereit war, auszubrechen.

Zu dieser Erkenntnis war der Bursche wahrscheinlich auch gekommen, denn er verbeugte sich schnell und wandte sich so abrupt ab, dass er mit seinem Herrn zusammenstoß. Dieser wurde hochrot und schlug mit einen `Kannst du nicht aufpassen´ den Jungen. Dieser duckte sich schnell und verschwand in der Küche.

Das Essen war alles andere als gut zu bezeichnen, aber wenn man an vieles gewöhnt war, machte es keinen Unterschied, ob man ein gutes Steak aß, oder ein zähes Stück Fleisch, das an den meisten Stellen noch roh war. Ebenfalls war der Gemüseeintopf, welcher aus ein paar Möhren und Kartoffeln ansonsten nur aus Wasser bestand, zum Fürchten. Lustlos und in Gedanken versunken, aß Akara, während sie ihre Gedanken freien Lauf ließ. Je weiter die Mittagsstunde zurücklag, desto weniger wurden die Gäste, da die meisten ihre freien Nachmittage an der Küste oder im Wald verbrachte…entweder um Geschäfte zu machen, oder um sich zu amüsieren. Akara bestellte sich einen erneuten Krug voller Wein und war froh, dass der Wirt nichts dagegen sagte. Die Mittagsstunde war gerade erst vorüber und es war selten, dass jemand um diese Zeit schon seinen vierten Krug bestellte. Doch nachdem Akara vor sechs Tagen den Wirt gezeigt hatte, dass sie zahlen konnte, sagte er nichts und brachte ihr immer wieder ein volles Gefäß.

Die junge Frau kniff die Augen zusammen und blinzelte in das Licht einer Kerze, die auf ihren Tisch stand.

Feuer…immer wieder Feuer…

Mit einer Handbewegung losch sie die Kerze und schloss die Augen ganz. Sie war wütend. Sie spürte die Hitze in ihr. Ihr inneres Feuer, das hinauswollte und dann zerstörerisch sein konnte. Es machte sie wütend, dass sie einfach kein Schiff fand, dass diesen Kontinent verließ und nach Zhareilt reiste. Sie wollte Greisarg verlassen, denn sie hatte die Gerüchte vernommen. Immer mehr Feuerwächterinnen kamen und waren auf dem Weg nach Sardenthal, um die Ernennung der neuen Flammenträgerin beizuwohnen.

»Ich muss hier weg«, flüsterte sie und öffnete die Augen, als der Wirt einen neuen Krug vor ihr abstellte. Als er weg war, nahm sie den Krug und leerte sie zur Hälfte mit einem Zug. Sie sog die Luft heftig ein, als sie den Krug wieder abstellte. »Die werden mich noch finden.«

Wer die neue Flammenträgerin werden sollte, wusste Akara genau und dies galt es zu verhindern. Sie wollte es nicht und musste fliehen. Leise lachte Akara auf. Fliehen? Wohin sollte sie fliehen? Die Feuerwächterinnen werden sie überall suchen. Im Grunde genommen war sie überrascht, dass sie noch niemand suchte. Oder, dass man sie noch nicht gefunden hatte. Sie nahm abermals den Krug, doch trank nur einen Schluck. Da war es gut, dass viele Feuerwächterinnen sich zurzeit in Greisarg aufhielten. So würde man sie nicht anhand von Feuersträngen aufspüren können, denn diese waren sowieso unstetig.

Nachdem Akara ihr Mal beendet und den Krug geleert hatte, bezahlte sie und erhob sich. Mit zielstrebigen Schritten ging sie in ihrer gemieteten Kammer, wobei sie aus ihren Augenwinkeln deutlich den verachteten Blick des jungen Burschen erkennen konnte. In ihrem Zimmer angekommen, zog sie ihr Hemd aus und warf es in die Ecke, ehe sie eine Schale mit eiskaltem Wasser vor sich stellte und ihr Gesicht wusch. Der Schmerz, welches das kalte Nass hervorrief, war für sie wunderbar. Er zeigte, dass das alles hier Realität war. Dass sie hier und jetzt war. Die letzten Bilder der Erinnerung verzogen sich nun ganz.

Ein neues Hemd wurde aus einem Reisebeutel gesucht und übergezogen, ehe sie eine Strähne hinter ihr rechtes Ohr klemmte. Sie nahm dann einen kleinen Dolch aus ihrer Satteltasche und steckte ihn in die Stiefel, sodass man ihn nicht von außen erkennen konnte. Sie brauchte eigentlich keinen Dolch, doch diese Waffe hatte sie von einer sehr guten Freundin. Sie nahm die Waffe immer und überall mit. Vor allen jetzt, da sie nicht in den Feuersträngen wirken wollte. Sie wollte nicht, dass die anderen Wächterinnen sie so finden würden. Danach betrachtete sie sich im Spiegel, der schon einige Risse zeigte, sodass es ein wunder war, dass dieser noch nicht auseinandergefallen war. Sie sah ihr Gesicht, das von den roten brustlangen Haaren eingerahmt war und die Augen, die leicht rötlich schimmerten. Sie schlug auf dem Spiegel, der daraufhin noch mehr Risse zeigte. Sie verließ ihr Zimmer und das Gasthaus. Ihr Kopf fühlte sich schwer und zugleich leicht an. Ihr war bewusst, dass sie es wohl wieder einmal übertrieb, doch der Rausch, den sie tief in sich verspürte, war wundervoll. Er half ihr, alles zu vergessen. Das Feuer. Die Zerstörung. Die Toten.

 

Als Nolwine vor dem Gebäude des hiesigen Konvents stand, war sie unschlüssig. Was sollte sie machen? Sollte sie einfach klopfen? Doch wie werden die Erleuchteten auf sie reagieren? Werden sie Verständnis haben und ihr helfen? Sie hob die Hand, um zu klopfen.

»Nolwine?«

Das Mädchen zuckte zusammen und wirbelte herum. Sie konnte Balestrano erkennen, der sie mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht anblickte. Da war Erleichterung, doch auch Misstrauen und ein schwacher Hauch von Angst.

»Strano«, sagte Nolwine und trat auf ihn zu. Er wich zurück und sie hielt inne. Schmerz durchfuhr sie. »Ich bin es, Balestrano.«

Er legte den Kopf schräg und sah dann zum Gebäude, ehe er sprach. Seine Augen hielt er auf das Gestein fixiert.

»Du solltest besser gehen, Nol. Es gibt sehr viel Gerede über dich. Du hast etwas Unnatürliches gemacht. Etwas, dass gegen den Kodex ist. Wenn du nicht gehst, werden sie dich gefangen nehmen und dir etwas antun.«

Als Nolwine dies hörte, wurde es ihr eiskalt. »Strano ich…ich habe doch gar nichts getan. Ich…«

»Lüg nicht«, fuhr Balestrano sie an. Sein Blick war plötzlich hasserfüllt. »Du bist eine Hexe. Genauso wie die sogenannten Wächterinnen. Du hast die Luft beschmutzt, als du sie als Waffe genutzt hast. Du bist unnatürlich. Ich sollte dich melden, damit wir durch das Reinigungsritual an dir durchführen können, aber ich weiß, dass es schmerzhaft und qualvoll ist. Also verschwinde, ehe ich vergesse, dass wir Freunde waren! Komm nie wieder zu einem Konvent! Dein Name wurde heute Morgen aus der Liste gestrichen.« Er sah sie an und aus dem Hass wurde Traurigkeit in seinen Blick. »Du bist nicht mehr willkommen. Wer dich findet, soll dich reinigen. Du weißt, was das heißt. Also geh.«

Tränen liefen über Nolwines Gesicht und sie musste ein heftiges Schluchzen unterdrücken. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte und wusste gleichzeitig, dass es wahr war. Mit einem Gefühl, das sie alles verloren hatte, drehte sie sich um und rannte in eine Seitenstraße.

 

»Hundertachtundvierzig, hundertneunundvierzig, hundertfünfzig.”

Akara drückte sich vom Boden ab und landete auf den Füßen. Sie fühlte sich aufgebraucht und leer. Mit einem Handtuch wischte sie sich den Schweiß ab und sah sich um. Sie befand sich auf einem Platz vor der Stadt Greisarg, der von Bäumen umsäumt und leer war. Sie fühlte den frischen Wind. Er fuhr durch die Bäume und zerzauste ihr Haar. Traurig sah sie in den Himmel.

Wann wird es aufhören, weh zu tun? Wann werden die Schmerzen vergehen!

Wütend darüber, dass sie die Erinnerungen einfach nicht vergessen kann, schlug sie mit der Faust auf einem Baum, der neben ihr stand. Ein Knirschen war zu vernehmen.

Ihr Geweihten! Sie schaute zum Himmel. Was wollt ihr von mir? Habt ihr mir nicht genug angetan…lasst mich einfach in Frieden! Vor allen du, Ethron. Sucht dir einen anderen, der dir dient!

Mit einem nun hasserfüllten Blick wandte sie sich vom Himmel ab und blickte sich auf dem Platz um. Egal, was sie ansah, oder was sie machen wollte, immer wieder kam ihr diese Erinnerungen in den Sinn.

Plötzlich war ein Schrei zu vernehmen und Akara rannte zum Rand des Platzes zurück. Auf der Straße konnte man vier Reiter erkennen, die ein seltsames Symbol auf ihren Umhängen trugen. Geschrien hatte eine alte Frau, die sie fast nieder galoppiert hatten und nun in die Stadt ritten. Die Soldaten hielten sie nicht auf.

Akara riss die Augen auf, doch kurz darauf zuckte sie die Schultern.

Das geht mich nichts an. Außerdem gibt es genügend andere Wächterinnen, die sich darum kümmern können, falls diese Leute gefährlich sind.

Sie fing an wieder Liegestützen zu machen, um nicht an die Reiter oder an die Erinnerungen zu denken. Selbst wenn die Reiter etwas in Greisarg anstellten, es ging ihr nichts an. Sie konnte sich nicht um alles kümmern. Selbst wenn sie es wollte. Es würde sie einfach zerstören.

»Dreiundzwanzig, vierundzwanzig, fünfundzwanzig…”

 

Nolwine blieb irgendwann stehen und fühlte sich elendig. Ihre Brust schmerzte und sie würde am liebsten laut weinen. Dann jedoch verspürte sie ein seltsames Gefühl und ein Stechen kam in ihren Kopf auf. Sie hatte keine Ahnung wieso, aber plötzlich drehte sich alles um ihr herum, und ein säuerlicher Geschmack trat in ihren Mund. Ihr wurde Übel, und ehe sie wusste, was überhaupt geschah, verspürte sie eine Hand auf ihrer Schulter und sie schrie leise auf. Schnell wandte sie den Kopf und sah in das wütende Gesicht von Thanai. Neben ihr stand eine andere ihrer unbekannten Frau, die jedoch eher besorgt als wütend aussah. »Ich-ich…«, fing Nolwine an, doch wieder durchfuhr ihr das Gefühl sie wurde bleich.

Thanais wütender Ausdruck wurde plötzlich ebenfalls besorgt, doch dann kam ein nachdenklicher Blick in ihre Augen und sie tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Lippe. »Könnte dies schon möglich sein?« Sie sah zu der Fremden und flüsterte ihr etwas in dem Ohr, worauf diese die Augen ungläubig weidete und dann zustimmend nickte.

Nolwine jedoch bekam dies nicht mit, weil sie plötzlich in der Menschenmenge einen anderen Erleuchteten sah. Einen, mit dem sie früher sehr viel Zeit verbracht hatte. Doch dann kamen ihr Balestranos Worte in den Sinn und sie wusste, dass sie nicht einfach zu dem Mann gehen konnte. Hin und her gerissen, was sie machen sollte, wollte sie wieder in Tränen ausbrechen.

»Ich weis nicht, was ich tun soll«, brach es aus Nolwine laut hervor und sorgte dafür, dass die beiden Frauen in ihrer Diskussion innehielten und sie verwirrt ansahen. »Ich weis es einfach nicht« Dann kam das Bedürfnis wieder zu rennen und sie lief los, wobei sie die Frauen überrascht stehen ließ. Sie rannte und rannte und wusste nicht, wohin. Doch es war ihr auch egal, denn sie hatte einfach keinen Nerv. Die Gebäude um sie herum ignorieren, blieb sie erst wieder stehen, als am Hafen angelangt war und vor ihr das Wasser lag. Dort brach sie in sich zusammen und weinte. Sie wusste einfach nicht mehr weiter. Hin und her gerissen fragte sie sich, was die beste Lösung war. Sollte sie versuchen mit dem Hochgeleuchteten Adiran zu reden und das Missverständnis zu klären, oder sollte sie zu den Wächterinnen gehen, wo sie nicht wusste, ob sie ihnen wirklich trauen konnte.

Als es dunkel wurde, fing es an zu regnen. Es war der erste Regen seit fast fünfzehn Tagen und das Mädchen sah nach oben. Immer mehr Tropfen segelten hinunter, wobei einige auf ihrer Nase landeten. Zitternd stand sie auf und atmete tief ein. Sie wusste, dass jetzt der Zeitpunkt war, eine Entscheidung zu treffen. Würde sie zu Thanai gehen und mit den Wächterinnen agieren, oder würde sie aus der Stadt fliehen, in der Hoffnung, man würde sie nicht finden und dann wahrscheinlich für den Rest ihres Leben auf der Flut vor ihnen zu sein. Vor den Wächterinnen und vor den Erleuchteten. Kälte stieg immer mehr in ihr auf und es dauerte nicht lange, da fror sie. Ihre Zähne klapperten und sie wunderte sich, wie schnell es doch kalt werden konnte, wenn der Winter naht. Mit einem letzten Blick auf das Wasser drehte sie sich um und wenig später fand sie die Gegend, wo sich das Zum weißen Kaninchen befand. Dort angekommen zögerte sie wieder. Noch konnte sie umkehren. Doch für wie lange? Und sollte sie für den Rest ihres Lebens auf der Flucht sein?

Sie betrat das Gasthaus.

Drinnen war es warm. Sofort stieg die Wärme in ihr auf und sie seufzte. Sie ging in den Schankraum, wo sie Thanai erkennen konnte. Ihr erster Impuls war, zu ihr zu gehen und sich zu entschuldigen, doch dann stieg Angst in ihr hoch, da sie sich vorstellen konnte, dass diese sehr wütend auf sie sein musste. Obwohl sie wusste, dass ein warmes Bett in dem Zimmer über ihren Kopf war, ging sie wieder hinaus und legte sich neben einer Wand auf den Boden. Sie fühlte sich schlecht, dass sie weggegangen war, und glaubte plötzlich, dass sie einfach kein Recht hatte, ein warmes Zimmer zu haben. Sie schloss die Augen. Einige Minuten später hörte sie Schritte, die immer lauter wurden und kurz hinter ihr aufhörten.

»Du holst dir noch den Tod, Nolwine, wenn du hier draußen schläfst!« Nolwine blickte auf und sah die Luftwächterin, die sie mit einem besorgten Blick betrachtete. Das Mädchen stutzte. Sollte sie nicht eher wütend sein? »Außerdem bezahle ich nicht das Zimmer umsonst!« Nun kam ein säuerlicher Ausdruck in ihre Augen, der jedoch nur kurz dauerte. »Morgen früh werde ich dir alles erklären und bis dahin sollest du ordentlichen Schlaf bekommen.«

Nolwine nickte und erhob sich. »Es tut mir Leid.«

Ein kurzes Lächeln erschien und die Frau schüttelte leicht den Kopf. »Es ist viel geschehen in den letzten Tagen und einiges hat sich für dich geändert…da ist es nur natürlich, wenn du dir unsicher bist. Nun aber genug geredet, du gehst jetzt ins Bett! In dein Zimmer ist noch eine Kleinigkeit zu essen und danach wird geschlafen.«

Nolwine nickte und verschwand nach oben. Nun war sie neugierig. Was würde Thanai ihr erklären? Was war die Erklärung für ihre Schmerzen und was würde die Zukunft ihr bringen.

 

Der Regen kühlte Akaras Kopf und sie sah in dem Himmel. Das Gefühl der Nässe tat ihr gut und sie musste wehmütig an eine Freundin denken. Sie seufzte tief und machte sich auf dem Weg zu dem Gasthaus. Sie fühlte sich zerschlagen, denn sie hatte den ganzen Nachmittag fast nur Liegestütze gemacht. Ihre Muskeln schmerzten, ihr Kopf rief nach einem weiteren Krug Wein und ihre Gedanken waren unruhig. Sie bog um eine Ecke, als plötzlich ein bekannter Gestank in ihre Nase stieg. Sofort spannte sich alles in ihr an und kurz darauf hörte sie ein lautes Kreischen.

 

Kapitel Zehn

 Flammenmeer

 

Wenn der Sturm der Flammen erwacht, dann ist es so, als würde ein Vulkan ausbrechen. Ungebändige Hitze, tanzende Flammen und inmitten dieser eine Person, welche eins mit dem Feuer ist.

 

Rae Vashà Rillia Nensen,

Feuertänzerin,

Frühling im Jahre, 2595

 

 

Mit besorgtem Blick stand Thanai neben dem Bett und sah dabei zu, wie die Lebenswächterin Zhiria Hlen ihre Freundin Zhanaile untersuchte. Tief innen fürchtete die Luftwächterin, dass es doch zu spät war und sie viel eher eine Heilerin hätte auftreiben müssen. Neben der Sorge mischte sich die Wut. Sie hatte die Wächterinnen hier gefragt, ob diese wüssten, wo sich Akara befand. Wie schon fast erwartet, wusste natürlich keiner, wo die Feuerwächterin sich befand. Da jedoch in den letzten Tagen kein Schiff nach Zhareilt aufgebrochen war, war die Chance sehr hoch, dass sich Akara noch in der Stadt befinden musste. Wenigsten etwas!

Dennoch befürchtete Thanai, dass es nicht einfach werden wird, sie zu finden. Wenn Akara nicht gefunden werden wollte, dann war es immer schwierig. Sie seufzte, doch wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der jetzigen Situation zu, als sie erkannte, dass Zhiria sich von Zhanaile erhob.

»Und?«

Die Luftwächterin fürchtete die Antwort und betete zu dem Geweihten Houa, dass es nicht zu spät war.

Zhiria warf einen letzten Blick auf Zhanaile, ehe sie ein leichtes Lächeln aufsetzte.

»Macht euch keine Sorgen. Sie hat zwar noch hohes Fieber, doch sie scheint sehr widerstandsfähig zu sein. Ich werde ihr ein Gegengift verabreichen, und wenn sie viel ruht, dann wird sie wieder völlig gesund werden.« Sie hielt kurz inne, ehe sie fortfuhr. »Ich nehme an, dass die Paste, die ihr immer auf ihre Wunde gegeben hat, das schlimmste verhindert hat.«

Erleichterung durchfuhr Thanai, als sie diese Worte hörte und sie wollte ihre Freude Ausdruck verleihen, als ein Kreischen die Luft erfüllte. Gleichzeitig hörte sie eine stille Warnung von Vlair und einen großen Ruck, der durch die Luftstränge ging. Ihr erster Gedanke, dass das Mädchen Nolwine für die Störung verantwortlich sein könnte, verflog, als ihr ein bekannter Gestank in die Luft stieg. Sie fluchte und warf einen Blick zu Zhiria, die ebenfalls eine Störung wahrgenommen hat. Die Lebenswächterin war bleich und ihr Gesicht schmerzhaft verzogen. Thanai vermutete, dass irgendwo in der Nähe Personen starben.

»Ihr bleibt bei Zhanaile«, gab sie die Anweisung zu Zhiria und diese nickte, obwohl sie als Lebenswächterin nicht auf eine Wächterin der Luft hören müsste. Thanai drehte sich um, rannte aus der Tür und ergriff gleichzeitig die Stränge der Luft. Innerlich bereitete sie sich auf einem Kampf vor.

 

Eigentlich wollte Akara sich aus dem Ärger, die die fremden Reiter verursachen könnten heraushalten, doch dann drang der Gestank von Schatten in ihre Nase und sie hörte das Kreischen. Ohne lange nachzudenken, rannte sie in die Richtung los, wo sie die Schatten vermutete und verflucht gleichzeitig das Schicksal. Sie war zornig und die Ruhe, die sich durch die körperliche Ertüchtigung erreicht hatte, war wie verflogen. Das Feuer tief in ihr begann aufzulodern und Hitze erfüllte die junge Feuerwächterin. Sie erreichte die Stelle, wo sich ein großer Riss über eine Straße zog und Schatten hervorkamen. Nur wage wurde ihr bewusst, dass sich in der Nähe die Niederlassung der Wächterschaft befand. Für sie existierte nur noch die Schatten. Sie rannte auf die Schatten zu, bereit zu kämpfen und die unschuldigen Menschen zu verteidigen, dich sich hier aufhielten.

Plötzlich trat ein einzelner Schatten aus den Reihen der anderen hervor. Wenn man genau zuschaute, dann erkannte man, dass es sich bei dem Geschöpf um einen schattenbesetzten Mann handelte. Ein Mensch, der seine Seele und Körper mit dem eines Schattens teilte. Er deutete der Feuerwächterin an, dass diese sich ihn stellen sollte. Akara verzog ihr Gesicht, schloss für einen Herzschlag die Augen und hielt ihre rechte Hand aus. Kurz darauf brach eine Stichflamme aus ihrer Handfläche hervor, wurde größer und verdichtete sich. Aus dem unkontrollierten Feuer wurde ein Flammenschwert.

Var`zar, die ewige Flamme.

Akara fixierte den Halbschatten und beobachtete jede einzelne Bewegung des Gegners. Sie vergaß alles um sich, denn nur der Gegner schien für sie zu existieren und sie hörte nur noch ihren eigenem Atmen, dass Knistern ihres Feuers, sowie das Knirschen der Schritte von dem Feind. Ihre Flamme Var`zar hatte sie erhoben und ihr Dolch steckte noch als Reserve in Gürtel. Sie spürte den Griff ihrer Klinge und in ihr erwachte ein weit gefürchtetes Feuer. Ja, es gab keine Zweifel, sie fühlte sich so gut, dass sie vor dem schattenbesetzten Menschen keine Angst hatte - diesen würde sie mit einer Leichtigkeit besiegen! Ihr Gegner schritt zuerst einige Halbkreise, während er die Wächterin beäugte. Er wusste, dass diese Feuerwächterin viel mehr Reserven hatte, als es vielleicht aussah, denn Akara hatte schon viele seiner Kameraden zu Boden geschickt. Er atmete tief ein, zog seine Klinge heraus und wog diese in der rechten Hand. Dann nahm er einen Fuß zurück und griff plötzlich an, indem er nach vorn sprang.

Die junge Feuerwächterin, die dies schon kommen sah, wartete ab, ehe sie sich duckte, abrollte und schnell wieder aufsprang. Sie schlug mit Var`zar nach vorne und ein Klirren entstand, als beide Klingen aufeinandertrafen. Funken sprühten und Akara ließ sich unerwartet nach hinten fallen. Wie erwartet sprang der Halbschatten wieder zu ihr hin und wollte sie mit dem Griffknauf auf dem Kopf schlagen, doch Akara stieß sich nach vorne ab, warf Var`zar zu Seite, ergriff den Griff des gegnerischen Schwertes und blockte den Schlag ab. Danach wandte sie ihre eigene Kraft an, drückte den Griff gegen die Richtung und voll in die Magengrube des Menschen hinein, als dieser das eigene Schwert nicht mehr halten konnte. Dieser verzog das Gesicht, taumelte einige Schritte zurück und war aber wieder sofort im Konzept und holte mit der Klinge aus. Die Waffe jedoch sauste in das Leere, denn Akara hatte während dieser Zeit ihr eigenes Schwert wieder an sich genommen und war einige Schritte zurückgegangen. Sie atmete schwer, doch gab sich keine Ruhe, sondern fing an wie eine Wilde auf seinen Feind einzuschlagen. Dieser blockte immer wieder die Schläge ab, wobei Funken sprühten und rammte plötzlich die freie Hand als Faust vor. Akara torkelte zurück und landete unsanft auf dem Boden.

Nur die Ruhe bewahren ... nur die Ruhe bewahren...! Lass die Wut nicht überhand gewinnen. Es wird dir nicht helfen, wenn du die Geduld verlierst! Halte die Kontrolle über die Flammen.

Wütend sprang sie wieder auf, trieb den Halbschatten immer weiter von sich weg und deutete einen Schlag in die Magengegend an, doch anstatt dorthin zu schlagen, sprang sie über den schattenbesetzten Mensch hinweg und drehte sich schnell um. Danach schlug sie mit der flachen Seite der Klinge in den Rücken, stellte den Gegner ein Bein und schlug nochmal zu, ehe dieser reagieren konnte. Der Feind landete deshalb auf dem Boden und stöhnte leise auf. Als er jedoch wieder aufspringen wollte, verspürte er plötzlich eine scharfe Kante an seiner Kehle und er blickte langsam auf. Vor ihm stand Akara mit grimmigem Gesichtsausdruck und sah ihn auffordernd an. Doch dann verlor sie für eine Sekunde die Kontrolle über die Flammen in sich und sie taumelte, ohne es zu wollen, einige Schritte zurück. Ihr Herz begann zu rasen und sie keuchte.

Ihr Gegner sprang wieder auf und schlug mit dem Schwert nach vorne, sodass Akara noch weiter zurückweichen musste und gequält aufschrie. Dann hatte sich der Feuerwächterin wieder unter Kontrolle und ihr Gesicht verzehrte sich hasserfüllt, als er den Mann vor sich betrachtete. Der begann von vorne.

Am Anfang war der Halbschatten deutlich im Vorteil, doch dieser hielt nicht gerade lange an und er wurde immer mehr von Akara gedrängt. Diese teilte mal Schläge auf, dann deutete sie Flinten an oder sie schaffte es, ihren Gegner eine mit der Faust zu verpassen. Beide Kämpfer waren so vertieft, dass sie nicht merkten, wie die Zeit verging.

Akara bekam immer mehr Schwierigkeiten. Der Wein, den sie heute zu viel getrunken hatte, begann stärker zu wirken. Ihre Sicht spielte ihr einen Streich und sie musste sich öfters mehr auf ihr Gehör als auf seine Sicht verlassen. Dann sah sie, wie ihr Feind grinsend näher kam und ohne, dass Akara etwas unternahm, merkte sie, wie jemand ihre Hand führte. Sie stieß sie vor, drehte sich dabei und kurz darauf lag sein Gegner tot vor ihm zu Boden. Akara atmete schwer, spürte, wie das Feuer in ihr stärker aufflammte Amulett und dann durchfuhr ihr ein starker Schmerz.

Verdammt, Ethron! Lass mich in Frieden, Geweihter!

Der Feuerwächterin versuchte das Feuer tief in ihr zu beruhigen, doch es wurde immer stärker. Die Wut in ihr wurde größer. Sie blickte auf den Riss vor sich, auf die anderen Schatten, die den Kampf tatenlos zugesehen hatten und das Feuer wurde mächtiger. Akara schrie ihre Pein hinaus und mit einem Mal stand die Straße in Flammen.

 

Dass das Schwarze Blut einen direkten Angriff auf eine Stätte der Wächterin anführte, geschah so selten, dass Thanai für einen Moment mehr als überrascht war, als eine Horde Schatten das Haus der Elemente, angriff. Kurz darauf kam Erleichterung, denn dies bedeutete, dass Zhanaile in Sicherheit war, da sie sich im Gasthaus befand. Doch das Gasthaus befand sich direkt neben dem Haus der Elemente. Also war es nicht wirklich sicher.

Sie hörte ein ersticktes Keuchen und wirbelte herum. Oben an der Treppe stand das Kind Nolwine und starrte mit schreckensgeweihten Augen auf die Szene, welche sich auf der Straße abbildete. Schatten drängten sich Wächterinnen entgegen.

»Nolwine!« Thanai musste den Namen des Mädchens dreimal sagen, ehe sie die Aufmerksamkeit des Kindes hatte. »Du gehst sofort in dein Zimmer und verlässt es nicht!«

Nolwine nickte. Sie schien erleichtert, wandte sich um und verschwand.

Die Luftwächterin nahm die Stränge der Luft fester in die Hände, trat aus dem Gasthaus und warf sich den Schatten entgegen. Sie war nicht nur eine Luftwächterin, nein sie war auch die Erste Sturmbezwingerin. Die Erste Kriegerin der Luft!

In ihren beiden Händen erschienen Dolche, welche nur aus Luftsträngen bestanden und mit ihnen wirbelte sie geschickt herum. Sie hatte gerade einen Schatten halb geköpft, als eine gewaltige Hitze die Straße erfüllte und plötzlich alles in Flammen stand. Thanai schrie auf, wirbelte die Luft um ihr herum so, dass die Flammen sie nicht berührte, und sah sich verwirrt um.

Andere Wächterinnen, allen voran Feuerwächterinnen hielten inne und starrten auf die Schatten, welche nacheinander in dem Flammenmeer umkamen. Ratlosigkeit stand in ihren Gesichtern, ehe daraus Schrecken wurde.

Thanai erkannte sofort, weshalb. Zwar schadeten die Flammen die Wächterinnen nicht, doch sie fraßen sich in den angrenzenden Gebäuden. Die Feuerwächterinnen kämpften plötzlich nicht mehr gegen die Schatten, sondern gegen ein Feuer, das so stark wütete, dass selbst Thanai es nur mit Schwierigkeiten von sich halten konnte. Es schien so, als wäre das Feuer leicht aus der Kontrolle. Als wäre es zornig.

»Akara«, fluchte sie. Dies war die einzige Erklärung. In der Nähe musste sich Akara Sorhain befinden und ebenfalls gegen Schatten kämpfen.

Die Luftwächterin war jedoch nur teilweise beruhigt. Dies bedeutete zwar, dass die Schatten sie nicht mehr schaden würden, doch wenn Akara wieder einmal betrunken war und nun kämpfte, konnte sie die Gefahr werden. Ihr Blick ging auf das Gasthaus und sie wurde bleich. Es stand auch in Flammen.

»Zhanaile!«

Sie wollte auf das Haus zurennen, als sie erkannte, wie Personen aus dem Eingang gehetzt kamen. Einer trug auf dem Arm die bewusstlose Wasserwächterin; dicht gefolgt von Zhiria. Es kamen immer mehr Personen heraus, doch egal wie lange Thanai wartete, das Mädchen Nolwine erschien nicht.

»Verdammt«, fluchte Thanai. »Halte dich zurück, Akara!«

 

Eine Pause war der Feuerwächterin nicht gegönnt, denn aus der Menge der verblieben Schatten trat ein weiterer Krieger hervor. Seine Rüstung zeigte an, dass er ebenfalls ein schattenbesetzter Mann war, sowie ein guter Krieger war. Akara verzog das Gesicht.

Im Gegensatz zu ihrem ersten Gegner, verbeugte sich der Mann und stellte sich sogar vor.

»Mein Name ist Viors Devsjr und du wirst die Ehre haben, von meiner Klinge den Tod zu finden, falsches Weib!«

Akara sah den Mann an und wusste, dass es diesmal ernster werden würde, denn Viors sah nicht gerade aus, als würde er auf Tricks reinfallen. Sie jedoch hatte keine Angst. Das Feuer in ihr. War um ihr herum und erfüllte sie mit Kraft. Und so wie sie zornig war, so waren es auch die Flammen.

Beide Gegner nickten sich an.

Akara atmete tief ein, nahm ihre Klinge halbschräg vor sich und stellte sich zum Kampf bereit hin. Sie beobachtete Viors genau und wusste nicht so recht, was sie von diesem Krieger halten soll, denn dieser stand lässig da, schwang sein Schwert und blickte gespannt die junge Feuerwächterin an, dabei nickte er nochmal. Durch Akara schoss große Wut und sie rannte auf ihren Gegner zu. Dieser rannte auch los und in der Mitte des Platzes trafen sie sich und ein harter, spannender Kampf begann, der meistens sogar mit den Fäusten, anstatt mit den Schwertern ausgeführt wurde.

Die restlichen Schatten, die immer wieder den tobenden Feuer auswichen, grölten, hielten öfters den Atem an und sie feuerten lautstark ihren Champion Viors an. Hass auf die Feuerwächterin durchdrang die Menge. Sie schrien, einige bereiteten sich vor, sich ebenfalls in den Kampf zu werfen, doch dann hob ihr aller Anführer, der oberste Priester, die Hand und Ruhe kehrte ein.

Es war ein Austeilen von Schlägen und ebenso ein Einstecken. Schon bald war es so, dass beide nach kürzester Zeit aus mehreren Wunden bluteten und viele blaue Flecken hatten. Die Kleidung des Halbschattens war an mehreren Stellen angesengt und auch sein Haar kohlte ein wenig. Viele Staubwolken stiegen auf, sodass man sogar einige Zeit lang gar nichts sah und man unruhig wurde. Jeder der Schatten kannte Viors Devsjr und man jubelte schon auf, um den Sieg des Mannes zu feiern. Doch als sich die Staubwolke wieder legte, sah man, dass beide Schwerter zu Seite gefegt waren und die beiden sich nun kämpfend im Sand wälzten. Mal befand sich Viors über der jungen Feuerwächterin, ein anderes Mal war es genau umgedreht und so bekam man einen wechselhaften Anblick. Doch dann war zu erkennen, dass Akara immer wütender wurde und den Schatten, der sich über ihr befand, zur Seite stieß, wegrollte und mit Var`zar in der Hand wieder aufsprang. Ihr Gesicht war schweißüberströmt und sie blutete aus mehreren Wunden. Jedoch wischte sie das Blut gleichgültig mit dem Handrücken weg und rannte auf Viors zu, der seine eigene Klinge auch genommen hatte.

Die Minuten vergingen und die Zuschauer wurden langsam unruhig. Sie alle wussten nicht, wie lange Viors es noch aushalten konnte, denn dieser hatte bis jetzt zwar noch nie gegen eine Wächterin verloren, doch diese falsche Feuerwächterin Akara schien anders als die anderen zu sein. Sie war besser in den Künsten des Schwertkampfes unterrichtet worden als andere. Müdigkeit suchte man jedoch verzweifelt in Viors Gesicht und deshalb wurde noch nicht in den Kampf eingegriffen. Dann sahen die Schatten, wie Akara gefährlich nach hinten taumelte, und ein Grinsen breitete sich auf ihren Gesichtern auf.

Der Schlag kam so unerwartet, weshalb Akara ihn nicht ausweichen konnte und sie ihn voll abkam. Sie japste nach Luft, taumelt und bekam, ehe sie reagieren konnte, noch einen Schlag ab, der so ungünstig kam, dass sie in die eigene Zunge biss. Das Gesicht vor Schmerz verzogen wurde sie immer wütender und ihre sonst blauen Augen mit einem hellen Stich rot bekamen eine tiefrote Farbe. Der Alkohol in ihr tobte stärker und gewann über ihre innere Flamme. Ihre Beine knicksten unter ihr ein und sie sank auf dem Boden, doch gab sie dennoch nicht auf, sondern warf sich plötzlich vor. Viors, der dachte, er hätte seinen Gegner endlich zu Boden gebracht, war völlig überrascht und reagierte zu spät. Da lagen nun beide auf dem Boden und es war klar, dass derjenige, der zuerst auf den Beinen war, gewinnen würde. Gespannt hielten alle Zuschauer den Atem an...

Blitzschnell sprang Akara hoch, schwang Var`zar und hielt dessen Klinge an die Kehle des Menschen, der verdutz schaute. Doch ehe Viors etwas sagen konnte, schloss Akara die Augen und zog die Klinge über die Kehle. Mit einem Röcheln starb der schattenbesetzte Mensch.

Akara öffnete ihre Augen wieder und starrte keuchend auf den toten Krieger. Sie war zornig, doch erlebte auch gleichzeitig ein Hochgefühl. Niemand würde sie so einfach töten können! Sie sah auffordernd in die Menge.

»Na! Noch jemand da, der es mit mir aufnehmen will, ihr verdammten Schattenküsser!«

Ihre Worte riefen Wut unter den Reitern und Schatten hervor. Jeder zog seine Waffe, doch dann hob ihr Anführer eine Hand. Sein Gesicht war hassverzehrt.

»Du hast gut gekämpft, falsches Weib! Aber dies wird dir nicht nützen! Wir sind dir zahlenmäßig überlegen. Du wirst sterben. Wenn du jedoch aufgibst, dann werden wir deinen Tod schnell und schmerzlos machen.«

Akara starrte den Mann ungläubig an. Erwartete der Schattenbesetzte wirklich, dass sie dies machen würde. Sie schüttelte den Kopf. Nie in ihrem Leben würde auf diese Bedingen eingehen.

Nach einiger Zeit schweigen, schüttelte der Anführer den Kopf.

»Wie du willst! Narlam Nain erledige sie!«

Mit einem Seufzen wandte sich Akara den Schatten zu, der auf sie zukam. Er tätigte gerade nur wenige Schritte, ehe sie ihn den Weg abschnitt und sich nun auf das Feuer in ihr verließ. Sie warf es auf ihm zu und er verschwand durch ein zerbrochenes Fenster. Akara riss verdutzt die Augen auf, ehe sie den Mann folgte. Sie wollte ihn tot sehen!

 

Entsetzen erfüllte Nolwine und es steigerte sich immer mehr. Zuerst war es die Schatten, die alles zerstörten, was ihnen in den Weg kam und nun das Feuer. Es war von einem Augenblick zum anderen da und versperrte ihr den Fluchtweg. Sie die Luftwächterin es ihr gesagt hatte, war sie in ihr Zimmer gegangen und war auch froh darüber gewesen, dass sie sich nicht den Schatten stellen musste. Doch nun stand die Tür in Flammen, sowie das Fenster. Über die Hälfte des Raumes stand in Feuer und der Rauch wurde immer heftiger. Sie begann zu husten und krümmte sich.

Kommt nun doch das Ende?!

Sie wusste nicht, wie lange sie nun schon den Rauch einatmete, doch sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. In ihren Kopf begann es zu drehen und ihre Lungen schienen zu brennen. Dann hörte sie plötzlich ein Knacksen und sie riss den Kopf hoch.

Die Tür zu ihrem Zimmer zerbarst und ein seltsamer Mann rannte hinein. Aus irgendeinen Grund schienen die Flammen ihn nichts auszumachen. Der Mann sah sie, hielt inne und hob ein Schwert mit gezackter Klinge.

Nolwine wich zur Tür zurück, doch kam nicht weit. Sie wollte schreien, doch der Rauch erschwerte ihr dies.

Dann jedoch hielt der Mann inne und drehte sich um.

In Türrahmen erschien eine junge Frau. Ihre Haare waren so rot wie das Feuer und ihre Augen schienen zu brennen. Voller Erstaunen und Schrecken stellte sie fest, dass die Feuer aus ihr zu kommen schien.

»Verdammter Schattenbesetzter! Du entkommst mir nicht«, schrie die Frau, ehe sie Nolwine erblickte. Schock stand in ihrem Gesicht. »Was machst du denn hier? Ich denke, dass Gebäude ist verlassen.«

Die Frau hob eine Hand und plötzlich schien das Feuer von Nolwine weg zu weichen. Auch der Rauch um ihr herum wurde weniger und Nolwine konnte tief einatmen.

Wer ist diese Frau, fragte sich Nolwine, doch war froh, dass das Feuer ihr nicht mehr zu schaden schien.

 

»Lasst dieses Kind in Ruhe, sonst ...«, sprach Akara, hob Var`zar etwas höher und machte eine schwingende Bewegung.

»Was kümmert es dich«, knurrte Narlam Naim, stampfte auf dem Boden und hob sein Schwert etwas höher. Er schloss die Augen, murmelte etwas leise, ehe er Akara wieder ansah. »Ihr Wächterinnen verursacht doch tagtäglich den Tod anderer!«

Akara wurde noch wütender. Hass erfüllte sie, doch sie versuchte, ihn nicht gewinnen zu lassen. Wenn sie die Beherrschung vollends verlor, dann würde das Kind hier auch sterben.

Plötzlich erschienen zwei andere Schatten direkt neben Narlam. Er grinste sie an.

Dann sprang einer der beiden Schatten vor, brüllte wütend und schwang ein Schwert. Doch leider konnte er nicht so gut kämpfen wie brüllen, sodass er einige Augenblicke später röchelte und tot nach hinten kippte. Narlam sah sie unruhig an. Er war verwirrt. Er hatte damit gerechnet, dass diese Frau von den Kämpfen mit den anderen erschöpft wäre. Doch dies sah nun nicht so aus. Er zischte einen Befehl.

Der andere gerufene Schatten brüllte auf und rannte nun auf die Frau zu. Diese seufzte, sprang in die Luft und stieß ihre Flamme vor, rollte sich ab und stand wieder auf. Ihr Gesicht war verzogen, denn wieder machte sich der Alkohol in ihr bemerkbar.

Der eine Schatten stand verdutzt da, starrte auf die Brust, aus der eine Klinge ragte und sackte in sich zusammen. Er war sofort auf der Stelle tot.

»Nun zum Letzten!«, murmelte Akara, drehte sich um und blickte Narlam an. »Ihr habt einfach keine Ahnung, mit wem ihr euch überhaupt anlegt.« Ihre Stimme lallte plötzlich ein wenig, doch sie fixierte den schattenbesetzten Mann. Ihr Gesicht verzog sich zu einem hässlichen Grinsen. »Ich bin der Feuersturm!«

Narlam starrte auf die toten Schatten, dann zu der Frau und rannte plötzlich los. Jedoch in die entgegnete Richtung und von Akara weg. Er versuchte, aus dem Fenster zu springen.

Abschätzend sah Akara den Schatten nach, hob die Hand und griff nach dem Feuer. Sie verharrte, zielte und warf mit aller Kraft Flammen nach vorne. Diese flogen einige Meter weit und krachte mit einem lauten Knistern in den Schädel des Fliehenden. Kurz vor dem Fenster brach er tot zusammen.

Akara atmete tief durch und musste sich an einen nahestehenden Balken festhalten, denn plötzlich begann alles, um ihr herumzudrehen. Der Alkohol, der Blutverlust und der Kampfesrausch forderte nun sein Tribut! Sie schloss kurz die Augen und drehte sich um, blickte das Mädchen an und merkte, dass diese am ganzen Körper zitterte. Akara hob fragend eine Augenbraue, doch merkte dann den ängstlichen Blick, mit dem das Kind sie betrachtete. Erkenntnis trat in Akaras Augen. Bestimmt glaubte das Kind nun, dass sie das nächste Opfer werden sollte.

»Keine Angst«, murmelte Akara und kämpfte wieder gegen den Schwindel in ihr an. »Ich ... ich ... tu dir nichts und ...«

Plötzlich brachen Akaras Worte ab und sie sackte zu Boden, wobei sie die Flammen mit sich nahm.

 

Thanai atmete erleichtert auf, als mit einem Schlag alle Flammen verschwanden. Sie erkannte, dass kein Schatten mehr da war, und nahm an, dass der Kampf nun vorüber war. Dann jedoch musste sie an das Mädchen denken und rannte in das Gasthaus.

»Nolwine!«

Obwohl von der Treppe kaum noch etwas da war, gelang sie mithilfe der Luftstränge in die erste Etage. Sie erkannte von Weiten, dass die Tür zu dem Zimmer des Kindes aufgebrochen war und Angst griff nach ihrem Herz. Hatte nicht das Feuer, sondern nun ein Schatten das Mädchen erwischt? Hatte sie das Kind in den Tod geschickt, indem sie ihr befohlen hatte, hier zu warten?

»Nolwine!«

An dem Türrahmen blieb sie stehen und starrte auf die Szene vor ihr: Zwei kleine helle Aschehaufen von ehemaligen Schatten auf dem Boden, ein toter Mann kurz vor dem Fenster, Nolwine, die an einer Wand gepresst stand und mit weit aufgerissenen Augen auf jemanden starrte. Thanai folgte den Blick und riss die Augen noch weiter auf. Das Feuer war nicht verschwunden, weil Akara es gelöscht hatte, sondern weil die Feuerwächterin bewusstlos geworden war. Besorgt beugte sie sich über ihre Freundin, doch verzog dann das Gesicht. Zwar blutete Akara, doch der wahre Grund war wohl eher der Geruch, der an ihr haftete. Ein Geruch, der von Alkohol zeugte.

Thanai schüttelte den Kopf und Wut machte sich in ihr breit. Es mag sein, dass Akara sie gerade alle gerettet hatte, doch wieder einmal war sie betrunken bei einem Kampf erschienen. Kein Wunder, dass die Flammen so unkontrolliert gewesen waren!

Vielleicht war es doch gut, wenn sie diese Frau nach Sardenthal bringen würde. Dort würde sie wenigsten keinen allzu großen Schaden anrichten.

 

Kapitel Elf

 Der Fürst

 

Und niemand verstand die wahre Bürde der Tod-Wächterinne, denn sie sind es, die für den sicheren Übergang sorgten. Ohne diese Frauen wäre unsere Welt von Geistern bevölkert und das Leben hätte keinen Sinn mehr.

 

Unbekannt,

Halb verkohltes Fragment gefunden nahe Muratha,

datiert zwischen 1700 ~ 2100

 

 

WUMM!

Mit festem Griff und kontrollierter Kraft schlug Saren die Axt in den Stamm der jungen Eiche und kniff die Augen bei dem Aufprall zusammen. Sie starrte auf die Blattscheide, die im Holz stecken blieb, und wusste für einen Augenblick nicht, was sie machen sollte. Ihre Gedanken waren unstetig und tief im Inneren fühlte sie sich verraten.

Sie ergriff den Stiel der Axt fester und zog sie wieder aus dem Stamm, ehe sie erneut zuschlug.

WUMM!

Sarens ganzer Arm erzitterte und sie ließ die Axt los, während sie einige Schritte zurücktaumelte. Sie konnte es einfach nicht verstehen, dass ihre Schwester ihr nie etwas erzählt hatte. Warum nicht? Hatte Aleitha Angst gehabt, dass Saren ihr nicht glauben würde? In all den letzten Jahren war sich Saren sicher gewesen, dass sie sich näher gekommen sind. Immerhin hatten sie niemanden mehr, außer sich beide. Und nun hatte Saren vor drei Tagen erfahren, dass Aleitha nie die ganze Wahrheit gesagt hatte.

Ein Rabe, den niemand sehen konnte, fuhr es Saren durch den Kopf und sie trat wieder zu dem Baum, den sie fällen wollte. Das Gleichgewicht der Welt. Todwächterin.

Saren schüttelte den Kopf. Was sollte sie von all den Gesagten halten? Es war ihr egal, ob Aleitha in der Lage war zu sehen, ob Personen gefährdet waren, oder nicht. Es war ihr auch egal, was andere von ihrer Schwester hielten. Für sie war es nur wichtig gewesen, Aleitha zu beschützen und für sie da zu sein. Nun heißt es jedoch, dass es noch andere gab, die ebenfalls sehen können, wenn Personen den Tod geweiht waren. So wie angeblich die Fremde, die alles offenbart hatte.

Plötzliche Angst durchfuhr Saren und sie starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Axt. Angst, dass ihre Schwester sie verlassen könnte und sie ganz alleine hier zurückblieb. Unbegründet war diese Angst nicht, denn durch diese Chandria hatten sie erfahren, dass es einen Ort gab, wo Aleitha lernen konnte ihre Gabe zu beherrschen. Im Grunde genommen hatte sogar Chandria sehr deutlich gemacht, dass Aleitha dorthin gehen müsste, damit sie alles lernen könnte. Zu Sarens Erschrecken war Aleitha nicht einmal von diesen Gedanken abgeneigt gewesen.

Die Angst in Saren wurde größer. Was sollte aus ihr werden, wenn Aleitha nicht mehr da war? Der einzige Grund, warum sie die letzten Jahre überstanden hatte, war, dass sie auf ihre kleine Schwester aufgepasst hatte. Dass sie jemand gehabt hatte, um dem sie sich kümmern konnte, und nun sollte dies alles vorbei sein?

Aus der Angst wurde Wut. Sie ergriff die Axt, zog sie abermals aus dem Stamm und rammte sie wieder hinein.

Wenn diese Frau nicht gekommen wäre, dann wäre alles noch in Ordnung. Aber so …

Das Knacken von Holz ließ Saren zusammenfahren und sie wirbelte herum. Niemand zu sehen.

Sie befand sich alleine im Wald und dafür hatte sie auch gesorgt. Die letzten Tagen seit dem Gespräch war sie immer zeitig aufgebrochen und den ganzen Tag über im Wald gewesen. Ihre Ausrede war, dass sie Holz für den Winter hackte, doch die Wahrheit war, dass sie einfach nicht wusste, was sie zu ihrer Schwester sagen sollte. Sie war innerlich verletzt und fühlte sich verraten, dass ihre kleine Schwester nie etwas über diesen Raben erzählt hatte. Sie war verwirrt, weil sie immer noch nicht glauben konnte, dass es mehr von Leuten mit dieser sogenannten Gabe gab. Sie war wütend auf diese fremde Frau, weil diese einfach in ihr Leben geplatzt war und sie hatte Angst, dass ihre Schwester sie alleine lassen könnte. Mit anderen Worten, sie war gefühlsmäßig in so einem Chaos, dass sie einfach nicht wusste, was sie ihrer Schwester erzählen sollte. Aleitha hatte versucht in den letzten drei Tagen mit ihr zu reden, doch Saren reagierte nicht darauf. Sie unterbrach immer ihre Schwester und ging dann, um etwas anderes zu erledigen. Zwar sah sie den Schmerz in den Augen ihrer Schwester, doch sie konnte nicht einfach darüber reden.

Saren war klar, dass sie nicht ewig Aleitha aus dem Weg gehen konnte und ebenfalls war ihr bewusst, dass es sogar sein könnte, dass wenn die Fremden wieder gingen, ihre kleine Schwester mitgehen würde. Wieder hallte ein lautes Knacksen durch den Wald und Saren sah sich abermals um. Dann ertönte plötzlich das Aufschlagen von Hufen.

Saren kniff die Augen zusammen und bemerkte, dass die Hufgeräusche immer näher kamen. Kurzerhand fällte die junge Frau eine Entscheidung. Sie nahm die Axt, versteckte sie zwischen dem Laub auf dem Boden und zog sich dann auf einem Ast von einem Nebenbaum. Kaum war sie oben, sah sie, dass in der Nähe mehrere Reiter anhielten.

Ein ungutes Gefühl ergriff Saren und sie hielt sie fest am Ast. Zwar konnte sie nicht viel erkennen, doch etwas sah ganz genau! Es war das Wappen eines Fürsten, der vor langer Zeit einmal im Tal vorbeigekommen war.

Was will der denn hier?

All ihre anderen Gefühle verschwanden und nur noch Wut erfühlte Saren. Sie hasste diesen Mann, denn er war einer derjenigen, die Aleitha geärgert und als wahnsinnig abgestuft hatten. Vor ungefähr ein Jahr oder so, war der Mann zusammen mit seinen Erben und einer Eskorte durch Ferren gekommen. Aleitha hatte bei dem Erben erkannt, dass dieser sterben würde und ihn daraufhin gewarnt. Der Sohn des Fürsten hatte diese Warnung ernst nehmen wollen, doch sein Vater nicht. Dieser war so erzürnt über diese Lügen gewesen, dass er sogar Aleitha geschlagen hatte.

Saren presste die Lippen aufeinander, als sie daran dachte, und ballte die eine Hand so sehr, dass ihr Knöchel weiß wurde.

Damals wollte Saren den Fürsten sofort anspringen und selber schlagen. Zum Glück jedoch hatte Aram und ein anderer Dorfbewohner sie davon abgehalten, denn im Nachhinein war Saren klar gewesen, dass diese Tat ihr Tod hätte bedeuten können. Vor allen, weil ihre Schwester sie mit weit aufgerissenen Augen angestarrt und gefleht hatte, sie solle es nicht machen. Später war Saren in den Sinn gekommen, dass Aleitha sie nicht gewarnt hatte, weil sie nicht wollte, dass Saren jemanden angriff, sondern weil sie gesehen hatte, dass Saren dies nicht überlebt hätte. Voller Wut war der Fürst dann aus dem Tal geritten und Saren war nicht in der Lage gewesen, es dem Mann heimzuzahlen.

Nun jedoch war der Fürst wieder hier.

Was wollte er?

Das ungute Gefühl in Saren wurde größer und sie atmete ganz langsam, denn die Reiter kamen in einen langsamen Trab in ihre Nähe. Stimmen ertönten.

»Nicht mehr lange und diese Hexe wird dafür zahlen«, fauchte der Fürst und seine Stimme klang hasserfüllt. »Einfach so meinen Sohn zu verhexen, dass er sterben würde …«

Eiseskälte erfüllte Saren und sie starrte den Reiter hinterher, die langsam zwischen Bäumen verschwanden. Hatte sie gerade richtig gehört? Ohne zu wissen woher, wusste Saren sofort, wer mit Hexe gemeint war. Wut und das ungute Gefühl verschwanden. Stattdessen tauchte Saren in eine riesige Angst.

Sie sprang vom Baum, ergriff die Axt und rannte los.

 

Obwohl Aleitha den Apfel in ihrer Hand anstarrte, sah sie ihn nicht wirklich nicht. Ihr Blick richtete sich in die Ferne, doch sie sah auch nicht den Kamin oder etwas anderes in der Küche. Sie wollte auch nichts sehen, denn das Wissen, dass ihre Ängste wahr geworden waren, erfüllte sie voll und ganz.

Sie war alleine und dies lag daran, dass ihre Schwester sich von ihr abgewandt hatte. All die Jahre hatte Aleitha große Angst gehabt, dass dies passieren könnte, sobald Saren von den Raben erfuhr. Nun wusste ihre ältere Schwester davon und sprach deswegen kein einziges Wort mehr mit ihr.

Das Rauschen von Flügeln ertönten in Aleithas Ohren und sie wandte ihren Kopf. Ihr Blick fokussierte einen Raben, der sich auf einem Regal niedergelassen hatte und sie mit schwarzen Augen anstarrte.

Unterschiedliche Gefühle durchfuhren Aleitha. Sie wollte den Raben hassen, denn er hatte dafür gesorgt, dass sie nun alleine war, doch gleichzeitig fühlte sie sich in seiner Gegenwart wohl. Sie wusste nicht, wieso, doch ihr war sehr bewusst, dass dieser Vogel ein Teil von ihr war.

»Navah«, flüsterte sie den Namen des Rabens und er flog vom Regal auf ihre Schulter. Sanft strich er mit seinem Schnabel durch ihr Haar. Tränen stiegen in ihr auf. Der Verlust, den sie in sich spürte, war viel schlimmer als das Gefühl zu versagen, wenn doch einer starb, obwohl sie es verhindern wollte. Sie wollte nicht ihre Schwester verlieren und dennoch ahnte sie, dass dies geschehen war. In dem Moment, als Saren erfuhr, dass sie nie den Raben sehen würde.

Aleitha schloss die Augen und versuchte die Tränen zurückzuhalten. Stattdessen dachte sie über die Worte von Chaidra nach. Der Frau, die auch in der Lage war, zu erkennen, wenn jemand starb.

Ich bin nicht alleine.

Dieser Satz erschien in letzter Zeit häufig in Aleithas Gedanken und legte ein wenig das Gefühl des Verlustes. Doch was bedeutete dies? Wenn es andere gab, die so waren wie sie, dann hieß es, dass sie nicht alleine war. Warum fühlte sie sich aber so?

Sie dachte über den Ort nach, den Chaidra erwähnt hatte. Eine Stadt, wo nur Leute lebten, die wie sie waren und wo am ausgebildet wurde, um richtig damit umzugehen. Aleitha sehnte sich danach, diesen Ort zu besuchen. Sie konnte es sich nicht vorstellen, dass es so eine Stadt gab, und fragte sich, wie dort alles aussah.

Wenn sie jedoch diesen Ort aufsuchen würde, dann würde sie ihre Schwester zurücklassen müssen. In diesen Punkt war Chaidra sehr deutlich gewesen. Zwar könnte Saren sie besuchen kommen, doch Saren würde dort nicht leben dürfen und das war etwas, was Aleitha davon abhielt, sofort aufzubrechen. Sie wollte nicht von Saren getrennt sein.

Und was ist jetzt? Sie redet nicht mehr mit dir und geht dir aus dem Weg. Da kannst du auch gleich gehen. Wie schon oft in den letzten drei Tage, ertönte diese hämische Stimme und machte Aleitha immer wieder bewusst, wie stark der Bruch zwischen ihnen war. Nie hätte sie früher gedacht, dass es so kommen würde. Sie hatte die Angst davor gehabt, doch immer war Saren für sie da gewesen. Hatte sie im Arm gehalten und das Gefühl der Geborgenheit ihr vermittelt. Ein Gefühl, das Aleitha nun nicht mehr verspürte.

Für einen Moment lang wünschte sich Aleitha, dass diese Fremden nicht in Dorf gekommen sind. Dass diese ihr nichts erzählt hatte und alles noch so wäre wie vor vier Tagen. Ein Wunsch, der sich nicht mehr erfüllen wird.

Sie war nicht überrascht gewesen, als diese Frau ihr erklärt hatte, dass sie den Tod von anderen sehen konnte, denn dies hatte selber schon herausgefunden. Überrascht jedoch war sie gewesen, als es hieß, dass doch Personen ihren Raben sehen können. Doch wenn diese den Raben sahen, dann würden sie sterben. War das fair? Aleitha hätte es gerne, dass Saren ihren Raben sehen könnte, doch nun wollte sie dies nicht mehr. Abermals spürte sie, wie ihr Rabe durch ihr Haar fuhr und leise mit den Schnabel klapperte. Dann spannte er sich an und erhob sich in die Luft. Ein lauter Schrei entfuhr ihm.

Aleitha zuckte zusammen und verwirrt sah sie zu dem Raben, als plötzlich die Tür, die zum Hinterhof führte, aufgerissen wurde und Saren hineinstürmte.

 

Mit großer Verwunderung blickte Chaidra auf die vorbeigaloppierten Reiter und hob eine Augenbraue. Sie war überrascht, dass Fremde in diesem Dorf kamen und ihre Überraschung wurde größer als sie das Wappen der Reiter erkannte. Es war das Wappen eines Fürsten, der hier im Land Murai eine Stadt verwaltete und als sehr streitlustig galt. Ebenfalls gab es das Gerücht, dass er ein überzeugter Anhänger der Erleuchteten war. Aus diesem Grund befiel ihr ein schlechtes Gefühl, als sie die Reiter nachsah.

»Das ist nicht gut«, ertönte eine Stimme neben ihr und Chaidra sah sich um.

Es war der Jäger Aram, der neben ihr getreten war und die Reiter mit ausgerissenen Augen hinterher starrte. Schock stand in seinem Gesicht.

»Was ist nicht gut«, fragte Chaidra.

Der Jäger zuckte zusammen und deutete dann in die Richtung, wo die Reiter verschwunden waren. »Das ist Fürst Andriak. Er war vor ungefähr einem Jahr hier gewesen und Aleitha hat vorausgesagt, dass wenn sie nicht von ihrem Vorhaben abkommen, der Sohn des Fürsten sterben würde. Natürlich haben diese ihr nicht geglaubt. Der Fürst hat so sehr gezetert, dass er zum Schluss Aleitha geschlagen hatte. Saren wollte sich daraufhin sofort auf dem Mann stürzen, doch dies konnten wir verhindern. Danach haben der Fürst und seine Männer das Dorf verlassen.« Aram sah die Todwächterin an. »Ich könnte mich irren, doch ich fürchte, dass sie zu Aleitha und Saren unterwegs sind. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie gute Absichten haben.«

Bei den letzten Worten griff etwas Kaltes nach Chaidras Herz und sie starrte den Mann ungläubig an. Dieser schlug seine Hand gegen seine Stirn, als würde ihm etwas einfallen und er begann zu rennen. In die Richtung, wo die Reiter verschwunden waren und das Haus der Schwestern sich befand.

»Kadalin!«

Chaidra rief nach ihren Bruder und begann selber zu rennen. Sie ahnte, was der Fürst wollte und wenn sie sich nicht beeilen würden, dann würde es Saren und ihrer Schwester nicht besonders gut ergehen. Es war immer das gleiche! Keiner verstand den Unterschied, dass Todwächter den Tod sehen können, ihn aber nicht verursachten. Viele glaubten, dass sie es waren, die töteten, doch dies war nicht der Fall.

Ihr Bruder kam aus einem Gasthaus und sah, dass seine Schwester rannte. Er folgte ihr ohne zu zögern. Unterwegs erklärte Chaidra alles Kadalin und er wurde schneller. Ein fester Ausdruck stand in seinem Gesicht.

Die Todwächterin war nicht verwundert und konnte nur noch hoffen, dass er rechtzeitig zu den Geschwistern kommen würde. Sie wusste immer noch nicht, warum Aleitha es schaffte, den vorherbestimmten Tod eines Menschen zu verhindern. Außerdem war dieses Mädchen eine angehende Todwächterin, also eine von ihrer Priesterschaft. Chaidra würde nicht zulassen, dass dieser Fürst ihr schaden würde.

 

 

Erleichterung erfüllte Saren, als sie erkannte, dass ihre Schwester am Küchentisch saß und es ihr gut ging. Sie durchquerte den Raum und drückte ihre Schwester fest an sich. »Saren … was …«

Saren schloss die Augen und verstärkte die Umarmung. Sie sog die Stimme ihrer Schwester ein und musste plötzlich gegen ein Zittern ankämpfen. In diesen Moment wurde es ihr sehr deutlich. Es war egal, dass Aleitha sie angelogen und Dinge verschwiegen hatte. Es war egal, dass es andere gab, die dieselbe Gabe besaßen. Das was zählte war, dass sie ihre kleine Schwester war und es an Saren lag, dafür zu sorgen, dass ihr nichts passierte.

Sie löste die Umarmung und trat einige Schritte zurück. Bei der Verwirrung, die in Aleithas Augen stand, musste Saren plötzlich lächeln. Dann jedoch verschwand das Lächeln abrupt und sie schnappte sich einen Lederrucksack, der neben dem Kamin stand.

»Aleitha! Pack deine Sachen, wir müssen von hier verschwinden!«

Saren begann Brot und harten Käse, sowie einiges an Obst in den Rucksack zu stopfen. Als sie jedoch erkannte, dass ihre Schwester reglos am Tisch saß, hielt sie inne.

»Aleitha! Pack dein Zeug. Der dämliche Fürst Andriak ist auf dem Weg hierher. Er denkt, dass du seinen Sohn getötet hast, und will nun Rache haben«, fuhr sie ihre Schwester an und sah, wie diese zusammenzuckte. Die Augen ihrer kleinen Schwester weideten sich, als sie sich an den Fürsten erinnerte und ihr die Bedeutung der Worte bewusst wurde. Sie begann zu zittern.

Saren atmete tief ein, warf einen Blick aus dem Fenster, ehe sich zu ihrer Schwester trat.

»Du brauchst keine Angst haben, `leitha. Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht«, sagte sie und strich eine Strähne aus Aleithas Gesicht. »Aber wir müssen packen und von hier verschwinden. Er könnte jeden Augenblick hier sein und dann wird es gefährlich!«

Aleitha schüttelte den Kopf und die Angst verschwand aus ihrem Gesicht.

»Nein…Saren, wir können nicht gehen. Das ist unser Zuhause«, sagte sie leise und verzog dann ihr Gesicht. Dann jedoch trat Hoffnung in ihre Augen. »Chaidra…wir können zu ihr gehen. Sie wird den Fürsten alles erklären und …«

Bei den Namen fackelte Wut in Saren auf, doch sie unterdrückte diese. Nun lag es an ihr, den Kopf zu schütteln. »Nein! Wir gehen nicht zu dieser Frau. Dafür ist keine Zeit. Wir werden nicht ins Dorf gehen … da können wir auf den Fürsten treffen, `leitha! Nein, wir packen unser Zeug und verlassen das Dorf. Später, wenn der Fürst weg ist, dann können wir diese Frau aufsuchen. Doch jetzt müssen wir erst einmal fliehen.«

Für einen Moment sah es so aus, als würde Aleitha widersprechen, doch dann nickte sie. Sie erhob sich vom Stuhl und stürmte die Treppe nach oben, um zu packen.

Saren atmete erleichtert aus und fuhr dort, weiterhin nützliche Dinge in den Rucksack zu stopfen. Messer, getrocknetes Fleisch, Feuerstein und Eisen und andere Sachen. Als sie den Rucksack schloss, rannte sie ebenfalls die Treppe hoch und schnappte sich einen Leinenbeutel. In diesen stopfte sie einige Kleidungsstücke und war in dem Moment fertig, als ihre Schwester zu ihr trat. Sie trug einen kleineren Lederrucksack auf dem Rücken und blickte Saren mit gehetztem Blick an. Saren beugte sich zu ihrer Schwester.

»Alles wird gut. Hast du gehört? Ich werde nicht zulassen, dass dir jemand etwas antun wird«, flüsterte sie. Saren meinte diese Worte. Sie würde alles unternehmen, um für die Sicherheit ihrer Schwester zu sorgen. Sie warf den Leinensack über ihre Schulter und ergriff Aleithas Hand.

Gemeinsam rannten sie die Treppe hinunter und aus der Hintertür. Kurz darauf waren beide im angrenzenden Wald verschwunden.

 

Es dauerte nicht lange und Chaidra konnte schon von Weiten hören, dass der Fürst und die Reiter vor dem Haus der Schwestern waren. Sie wurde langsamer und trat dann neben ihren Bruder, der auf das Haus schaute. Sie folgte seinen Blick und sah, dass einige Soldaten im Haus waren. Einer kam gerade heraus und schüttelte den Kopf.

Erleichterung erfüllte die Todwächterin, doch nur für einen Augenblick. Wenn die Schwestern nicht hier waren, dann mussten sie sich in der Umgebung befinden. Sie warf Fürst Andriak einen scharfen Blick zu. Er saß auf einer schwarzen Stute und sein Gesicht war vor Zorn verzogen.

»Entzündet das Haus und sorgt dafür, dass sie gefunden werden! Ich will diese Hexe haben!«

Ein Soldat nickte und dies war genug für Chaidra. Sie trat vor dem Fürsten und stemmte ihre Hände in die Hüfte. Der Fürst sah sie, würde bleich und hob eine Hand, sodass der Soldat mit der Fackel inne hielt. Andriak beugte sich zu der Wächterin runter.

»Was wollt ihr hier, Hexe des Todes!«

Kurzzeitig entflammte Wut in Chaidra auf, doch sie unterdrückte diese. Sie zog die Augenbrauen zusammen, was zum Glück nicht durch die Maske zu sehen war. »Ihr werdet das Haus nicht entzünden und vor allen werdet ihr die Kinder in Frieden lassen. Diese stehen unter meinen Schutz und ich rate euch, nicht den Zorn der Wächterschaft auf sich zu ziehen.«

Andriaks Gesicht wurde hochrot und er ballte seine Hände. Sein Blick ging zu dem Haus und dann zu der Wächterin. »Verdammt Hexe. Glaubst du, du könntest das beschlossene Schicksal des Weibstücks ändern, was meinen Sohn getötet hat? Wollt ihr euer Werk vollbringen und auch noch mich töten?« Er breitete die Arme aus. »Nur zu, Hexe. Halte dich nicht zurück und zeige den naiven Dorfbewohnern, was ihr in Wirklichkeit seit.«

Chaidra schluckte ihre Wut runter und setzte ein verächtliches Gesicht auf. Sie spürte, dass ihr Bruder unruhig wurde und versuchte alle Soldaten des Fürsten im Blick zu halten. »Du bist armseelig, Fürst Andriak. Eine ganze Gruppe von Soldaten mitzubringen, obwohl du nur gegen zwei Kinder antreten willst. Das ist feige!« Sie holte tief Luft und hob ihren Stab. »Diese Schwestern stehen unter meinen Schutz und du wirst sofort gehen! Ich werde vergessen, was du geplant hattest, doch ich werde nicht zulassen, dass du sie weiterhin jagst. Wenn doch, dann wirst du die Wahrheit über uns Todwächtern erfahren! Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«

Der Fürst sah sie hasserfüllt an, doch gab einen Wink seinen Soldaten. »Wir werden uns wiedersehen, Todhexe!« Damit wandte er sein Pferd und ritt weg.

Kadalin trat an die Seite von Chaidra. »Ich glaube nicht, dass er einfach so aufgeben wird. Er weis nun, dass die Schwestern nicht hier sind und wird sie suchen.«

Chaidra seufzte. »Ich weis … aus diesem Grund müssen wir die beiden eher finden.«

Er nickte. »Natürlich. Ich werde nach Spuren suchen. Du packst derweil unser Zeug. Wenn ich sie gefunden habe, dann müssen wir so schnell wie möglich das Dorf verlassen, wenn wir nicht deren Bewohner in Gefahr bringen wollen.«

»Ja…das müssen wir wohl«, sagte sie leise und sah zu, wie ihr Bruder in den Wald verschwand. Sie selber warf Aram, der die ganze Zeit schweigend zugesehen hatte, einen Blick zu, ehe sie ins Dorf zurück ging. Sie konnte nichts anderes machen, als zu warten, bis Kadalin Spuren gefunden hat. Zwar schickte sie Rax ebenfalls auf die Suche, doch sie vermutete, dass ihr Bruder eher Informationen finden würde.

Hoffentlich geht es ihnen gut!

 

Aleitha kam es vor wie in einem Traum. Noch vor ein paar Minuten hatte sie sich Sorgen darum gemacht, dass ihre Schwester sie alleine lassen würde und nun befanden sie sich beide auf der Flucht. Angst hüllte sie ein, denn sie erinnerte sie klar und deutlich an diesen Mann, den Fürsten Andriak. Ebenfalls erinnerte sie sich daran, dass an diesen Tag, als sie den Sohn des Fürsten gewarnt hatte, der Tag gewesen war, wo sie das erste Mal gesehen hat, wie die Farben ihrer Schwester verblassten. Ein Zeichen dafür, dass sie den Tod geweiht war. Voller Panik hatte Aleitha ihre Schwester angefleht, sie sollte nicht den Fürsten angreifen und war erleichtert gewesen, als ihre Schwester davon abgesehen hatte. Als die Farben ihrer Schwester wieder erstrahlten.

Dies war ein Augenblick gewesen, vor dem sich Aleitha schon lange gefürchtet hatte. Zu sehen, dass ihre eigene Schwester kurz vor dem Tod stand. Unsägliche Erleichterung hatte Aleitha in den Moment erfüllt, als der Fürst das Dorf verlassen hatte und Saren noch lebte. Doch nun war der Fürst zurück!

Aleitha sah zur Seite und sah den verbissenen Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Schwester. Da wurde es ihr klar. Ihre Angst, Saren würde sie verlassen, war unbegründet. Ihre Schwester würde sie nie alleine lassen und sie beschützen.

Als beide das Ende des Waldes erreichten und zu einem kleinen Pfad kamen, der auf dem Tal führte, hielten beide an.

Aleitha stützte ihre Arme auf die Knie und atmete heftig. So lange und so schnell war sie noch nie gerannt. Sie versuchte das Seitenstechen zu ignorieren und sah zu ihrer älteren Schwester.

Saren hatte die Augen halb zusammengekniffen und starrte auf dem Pfad. Es war leicht zu erkennen, dass ihre Gedanken rasten. Das Knacksen eines Astes drang zu ihnen und Aleithas Angst verstärkte sich. Plötzlich war Saren neben ihr und trieb sie nach hinten, während sie in die Richtung starrte, wo das Geräusch herkam. Wieder ein Knacksen. Dieses Mal war es lauter und dann trat eine Gestalt aus dem Wald. Saren zog einen Dolch und hielt ihn vor sich, während sie mit ihren Körper ihre Schwester abdeckte. Dann jedoch ließ sie den Dolch langsam senken und starrte ungläubig auf die Person.

Aleitha beugte sich vor und sah an ihrer Schwester vorbei. Auch in ihrem Gesicht stand nun Ünglauben.

»Larren«, flüsterte sie und blickte auf dem Mann, den sie ihr ganzes Leben als Säufer kannte. Jetzt jedoch sah er nicht so aus, als würde er den ganzen Tag Alkohol trinken.

Er trug einen Ledertorso und seine Arme steckten in ledernde Armscheiden. Ein Schwert, das Aleitha noch nie gesehen hatte, hing auf seinem Rücken und ein Zweites an seinen Gürtel. Ein Holzbuckler hängte ebenfalls an seinen Gürtel. Sein Gesicht war sauber und seine schwarzen Haare fein säuberlich geschnitten. Auch sein Bart, der immer verfilzt ausgesehen hatte, war kein gestutzt. Dieser Mann war nicht der Mann, den das Mädchen all ihr Leben gekannt hatte.

»Larren«, wiederholte Saren das Wort ihrer Schwester und sah den ehemaligen Soldaten an. Sie war überrascht und wusste nicht, was sie machen sollte. Gehörte dieser Mann zu den Fürsten? Wollte er sie gefangen nehmen, um sie dann Fürst Andriak auszuliefern?

»Saren. Aleitha.« Er nickte beiden zu und sah dann über seine Schulter. Seine Stirn lag in Falten und seine Augen halb zusammengekniffen. Dann wandte er sich zu den beiden Geschwistern. »Wir müssen gehen. Andriak hat herausgefunden, dass ihr nicht im Haus seid, und lässt die ganze Gegend absuchen. Wenn wir nicht wollen, dass er uns findet, sollten wir so schnell wie möglich von hier verschwinden!«

Saren hob wieder den Dolch und Misstrauen stand in ihre Augen. »Woher sollen wir wissen, dass wir dir trauen können?«

Larren hob eine Augenbraue und nickte dann. Zufriedenheit lag in seinem Gesicht. »Misstrauen ist gut, Saren. Aber ich kann dir versichern, dass ich auf eurer Seite bin. Euch wird nichts passieren, aber dafür müssen wir so schnell wie möglich von hier weg.« Als der ehemalige Soldat erkannte, dass weder Saren noch Aleitha seinen Worten Folge leisten wollten, seufzte er. »Hört mir zu. Ich weis, dass ich keine besonders gute Reputation im Dorf habe. Jeder hält mich für einen Versager und Trinker, aber dies stimmt nicht. Ich habe meine Gründe, warum andere so von mir denken sollen und versicher euch, dass ich noch weis, wie man mit einer Waffe umgeht.« Er fixierte Saren und sein Ton wurde ernst. »Du hast die Wahl Saren: Entweder vertraut ihr mir und ich bringe euch in Sicherheit, oder aber ihr versucht es alleine. Nur werdet ihr da keine besonders große Chance haben, denn Andriak hat mehr als dreißig Gardisten mitgebracht und er will Aleithas Kopf! Er wird nicht ruhen, bis er ihn bekommen hat.«

Aleitha sah von Larren zu ihrer Schwester und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte Angst. Angst davor, was der Fürst mit ihr anstellen würde und gleichzeitig Angst, dass ihrer Schwester etwas gesehen könnte. Larren war früher ein Soldat gewesen. Er wusste, wie man kämpfte und sicher auch, wie man entkommen konnte. Aleitha zog am Ärmel ihrer Schwester.

»Saren … lass ihn uns helfen«, sagte sie und sah, wie Larren sich entspannte. Saren nahm nicht den Blick von den ehemaligen Soldaten. In ihrem Gesicht kämpften die unterschiedlichsten Gefühle. Wenn sie Larren sah, dann sah sie den Säufer und nun stand er in voller Kampfmontur und nüchtern vor ihr. Und bot sich an, ihnen zu helfen.

»Saren!«

Sie zuckte zusammen als sie die drängende Stimme ihrer Schwester vernahm. Sie sah zu Aleitha, erkannte die unterdrückte Angst und den leicht aufkommenden Hoffnungsschimmer. Nie, aber auch nie würde sie zulassen, dass ihre Schwester etwas geschehen würde. Langsam nickte sie.

»Gut«, sagte Larren und trat näher. »Wir werden nicht den Pfad nehmen. Dass wäre zu offensichtlich. Stattdessen werde wir uns so durch die Berge einen Weg finden, um das Tal zu verlassen.« Er sah beide Schwestern an. » Mir ist bewusst, dass es schwierig werden wird, doch auf diese Weise können wir den Häschern des Fürsten entkommen. Und das ist das Wichtigste.«

Aleitha nickte. Ihr graute es vor dem Gedanken, das Gebirge auf keinen Pfad zu durchqueren, doch sie wusste, dass Larren recht hatte. Auch Saren schien dies zu begreifen, denn sie erwiderte nichts darauf. Dass Misstrauen stand immer noch in ihren Augen, doch sie widersprach nicht.

Larren begann vorzugehen, danach kam Aleitha und Saren bildete den Schluss. Sie gingen nur knapp zweihundert Meter den Pfad entlang, ehe sich der ehemalige Soldat von diesen abwandte und sie auf einem kleinen Hügel führte, der den Bergen vorlagerte. Oben auf dem Hügel angekommen, drehte sich Aleitha kurz um und sah in die Richtung, wo sich ihr Zuhause befand. Verlassenheit kam in ihr auf, doch dann sah sie zu ihrer Schwester. Selbst wenn sie ihr Zuhause nun verließ, sie würde nicht alleine sein. Ihre Schwester war bei ihr und würde sie nicht verlassen.

Als Saren zu ihr blickte, lächelte Aleitha sie an. Verwunderung trat in Sarens Gesicht, doch dann erwiderte sie das Lächeln. Es war egal, was sie Zukunft bringen würde. Sie hatten sich gegenseitig und dies war das Wichtigste.

Mit erstarktem Mut, folgte Aleitha den ehemaligen Soldaten.

Teil 2

 

Glaube der Jeraren

 

 

Und es wird die Zeit kommen, wo wir uns erheben und unser Volk frei sein wird!

 

Ranolf Klass,

Geheimer Führer der Jeraren,

Sommer im Jahre 2483

Kapitel Zwölf

Der Herr von Valèax

 

Hass wird dich zerfressen, denn nie wird er dich im Inneren erfüllen!

 

Sprichwort in den Freien Landen

 

Sie war gewaltig! Eine riesige Burg, die in den Himmel ragte und von dicken roten Nebelschwaden umgeben war. Sie war unbeständig. Veränderte immer wieder ihre Form, wobei der Betrachter ein Gefühl von Übelkeit bekam, wenn er sie zu lange ansah. Nichts schien eine Ordnung zu haben, so als würde alles von den Gesetzen des Chaos beherrscht werden und dies war die Wahrheit, denn hier herrschte das Chaos!

Seit unzähligen Generationen befand die Burg sich in den Besitz der Draken, eine Königsfamilie und bekannter Gegner der Wächterschaft, sodass ein kein Wunder war, dass seit Jahrzehnten keine einzige Wächterin von den anderen Ländern nach Valeàx gekommen war. Die wenigen, die hier auf der Insel lebten, waren tiefste Anhänger des schwarzen Blutes, so wie auch ihr jetziger Herrscher: Adàin Draken.

Er war ein hagerer Mann und viel zu groß für sein Alter, dreißig. Sein Haar war blond und reichte ihn bis zur Schulter. Es wurde von mehreren schwarzen Strähnen durchzogen und sah fettig, sowie strähnig aus. Seine Augen waren grau, zeigten kein Erbarmen und starrten meistens in die für andere sehende Leere. Ein großer schwarzer Umhang befand sich auf seiner rechten Schulter. Seine Kleidung war schwarz silbrig und hatte einen leichten Stich von grüner Farbe. Ein schwerer dunkler Gürtel mit einer Gürtelschnalle, die einen Kreis mit vier Punkte zeigte, hielt seine Kostbarkeiten fest.

Der Herrscher beugte sich über ein großes Buch, dass in altem Leder eingefasst war und dessen Seiten schon vergilbt waren. Diese merkwürdigen Symbole, Zeichen und Figuren waren der Überbleibsel aus einer längst vergessenen Zeit und bildeten eine Sprache, die nur noch wenigen bekannt war und noch weniger beherrschten. Er beherrschte sie und wusste deshalb mehr, als die meisten wussten.

Neben ihm, vor einen Kamin lag ein eine seltsame Kreatur, die einen Löwenkörper, Skorpionschwanz und den Kopf eines Menschen besaß. Er riss gerade ein faustgroßes Fleischstück aus einer Gestalt, die früher einmal ein Mensch gewesen war. Er fraß genüsslich, als er plötzlich inne hielt und wenig später an der Tür klopfte. Ein Seufzen entfuhr dem Mann und er wandte sich vom Buch ab. Ehe man sich versah, hatte er die Tür erreicht und schon geöffnet, bevor der Ankömmling an dieser nochmal klopfen konnte. Mit erhobenen Augenbraunen blickte der Herrscher den Mann an, der sich tief verbeugte. Man konnte die Angst in den Augen des Mannes erkennen, als er sich wieder aufrichtete und einen schnellen Blick auf den Mantikor warf, ehe er seinen König wieder ansah.

„Mein Herr, es stimmt, was Meister Chreax gesagt hatte. Es ist wirklich geplant, dass dieser Feuersturm zur nächsten Flammenträgerin ernannt werden soll. Sie wurde gefunden und nun befinden sie sich auf dem Weg nach Sardenthal. Leider war es unseren Schattenkriegern nicht möglich gewesen, die Stadt Greisarg zu zerstören. Genau zu dieser Zeit war auch der Feuersturm dort anwesend gewesen. Jedoch war es uns möglich in Jareis einige Geistwächterinnen aufzugreifen. Sie wurden zu den Tränkemischern gebracht.“

Adàin nickte knapp und gab mit einer Geste zu verstehen, dass der andere Mann ihn den Raum folgen sollte. Dort setzte er sich hinter seinen Tisch, während der Mann stehen bliebt.

„Gut gemacht, Zor`zein … das in Greisarg ist nicht weiter schlimm. Niemand hätte mit dem Auftauchen des Sturms rechnen können. Doch das Ergreifen der Geistwächterinnen ist sehr gut. Und das ist nur der Anfang, mein guter!“ Der Herrscher grinste grausam. „Diese dämliche Priesterschaft wird nicht mehr lange existieren, denn sobald unser aller Herr wieder unter uns weilt, werden sie alle grausam sterben! Oh, es wird eine Sinfonie des Todes über sie kommen und wir werden die Zuschauer sein.“ Er hielt kurz inne, ehe er weitersprach. „Sorg dafür, dass immer wieder Risse geschaffen werden! Wir müssen dafür sorgen, dass die Wächterschaft nicht von unseren wahren Planen etwas mitbekommt. Wir müssen diese Pläne so lange wie möglich vor ihnen geheim halten!“

Zor`zein, der Mann nickte, verbeugte sich und verließ dann den Raum schnell, wobei man eine Erleichterung in seinen Augen erkennen konnte.

Adàin stand auf und wollte auch schon den Raum verlassen, als eine Stimme ihn zurückhielt.

„Eines Tages werde ich diesen Mann fressen als Zahlung für seine Frechheit! Einfach zu sagen, dass ich Recht hatte … ich habe immer Recht und das sollte dieser Zor`zein wissen! Es lag auf der Hand, dass der Sturm zur Flammenträgerin ernannt werden soll. Immerhin ist sie die Trägerin Var`zor.“

Der König stieß ein kurzes Lachen aus und wandte sich zu den Mantikor, dessen schwarze Auge funkelten und der Schwanz unruhig auf und ab zuckte. „Chreax, du sollest wissen, dass Zor`zein bestimmt nicht ungehobelt dir gegenüber ist…er hat doch schon Angst, wenn er nur hierherkommen muss, oder konntest du nicht seine Angst riechen?“ Dann wurde sein Blick hart. „Ich warne dich, du kannst dir jeden nehmen, den du willst, aber mein General wird in Frieden gelassen! Er ist ein fähiger Mann, auch wenn er immer fast die Hosen vor Angst voll macht, wenn er in deiner Gegenwart sein muss … Rühr ihn an und ich werde dich dorthin zurückschicken, wo ich dich befreit habe!“

Ohne darauf zu warten, dass der Mantikor etwas erwiderte, verließ er den Raum. Der Herrscher war ein Mann, dessen Ziele für ihn ein und alles waren und der über Leichen gehen würde, um sie zu erreichen. Es war seine Aufgabe dafür zu sorgen, dass sein Herr, der mächtigste Hexer, den es je gab, eines Tages wieder unter ihnen frei wandeln konnte. Damit dies geschehen konnte, musste einiges an Vorbereitungen getroffen werden. Um jedoch nicht umsonst diese Dinge vorzubereiten, wartete seine Familie seit Jahrhunderten auf die Vorzeichen, die die Rückkehr des Hexers verkündeten und nun ist endlich eins eingetreten, die Trägerin der verfluchten Feuerklinge wird Flammenträgerin. Nun war es an der Zeit, sich mehr mit den Vorbereitungen zu beschäftigen, denn das einzige, was die Rückkehr des Hexers hindern konnte, war die Existenz der Priesterschaft, die für die Ordnung und das Gleichgewicht stand. Die Priesterschaft musste abgelenkt werden und durfte nicht von den wahren Absichten erfahren!

 

Mit einem geschlossenen Ausdruck seines Gesichts machte sich Adain Draken auf dem Weg zu einem Turm, in dem niemand zutritt hatte. Alle, die es gewagt hatten, waren nie wieder gekehrt. Keiner wusste, wer oder was sich dort drinnen befand, nur, dass man diesen Turm lieber aus dem Weg ging.

Der Turm war relativ klein und hatte einen Durchmesser von zehn Metern. In der Mitte befand sich ein Schacht, der mehrere Meter in den Boden reichte und selber fünf Meter Durchmesser hatte. Um den Schacht gingen Stufen wie eine Wendeltreppe nach oben. Oben erreichte man ein Zimmer, in dessen Boden eine Falltür eingearbeitet war. Nur von dort aus konnte man in den Schacht gelangen, denn die Wände waren stark und magisch gesichert.

Der Herrscher hatte den Raum im Turm erreicht und zog einen Teppich beiseite, wo man darunter die Falltür erkennen konnte. Er murmelte einige leise Worte und vollführte mit den Händen komplizierte Bewegungen. Als er geendet hatte, trat er einige Schritte zurück. Sofort begann die Falltür rötlich zu leuchten und man konnte etwas leise hören. Es war wie ein zischen, nur, dass es leichte vibrierte. Dann schlug die Falltür mit einen lauten Knall auf und trat scheppernd auf dem Boden auf.

Einige Minuten verstrichen, ehe der Mann einige Schritte vortrat und in die Luke blickte. Seine Augen hatten einen seltsamen Ausdruck angenommen.

Weit unten konnte man ein Symbol erkennen: zwei ineinandergeschobene Dreiecke, die mit einem Kreis verbunden waren. An vier Ecken konnte man jeweils ein Symbol für die niederen Elemente erkennen: Feuer, Wasser, Erde und Luft. In der Mitte fand sich eine silberne runde Platte, die genau in der Mitte einen grünen Stein hatte. In den Kreis konnte man die Symbole der hohen Elemente lesen: Geist, Leben, Tod und Zeit. Die Symbole waren von weißer Farbe, der Rest des Bodens hatte einen tiefschwarzen Ton. Neben den Elementsymbolen sah man jeweils fünf rote kleine Steine, die einen kleineren Kreis bildeten.

Ein Gewitter zog auf und prasselte gegen das Fenster, das als Einziges in den Raum war. Blitzte erhellten das nun schwarze Firmament, Donnerschläge waren zu vernehmen und Regentropfen lagen auf der Glasscheibe. Der Wind fuhr heulend durch die Ritzen des Turmes und ließ lose Pergamentblätter durch die Luft schaukeln.

Der Herrscher hatte sich auf der silbernen Platte im Schacht gesetzt und hielt seine Augen geschlossen. Leise sprach er in einer längst ausgestorbenen Sprache und hielt dabei einen goldenen Dolch vor sich. Danach ritzte er blitzschnell seine linke Hand auf und tiefrotes zähflüssiges Blut floss aus der Wunde. Dieses rann auf der Handfläche entlang, ehe es auf dem Boden tropfte. Genau an der Stelle, wo sich der grüne Stein befand.

„Shirék dejor witush gwert frihoneu honrekaer!”

Singend hielt er die linke Hand vor, spürte, wie sich die Umgebung erhitzte und langsam die Luft schwerer wurde. Danach hatte man das Gefühl, als würde der ganze Schacht im Feuer stehen, doch sah man es nicht. Die rechte Hand hielt immer noch den Dolch in den Händen, auf dessen Klinge man rötliche Spuren erkennen konnte.

Nahe vor dem Herrscher verdichtete sich die Luft und wurde zu einer Wolke, die gräulich schimmerte. Es wurde immer heißer und unerträglicher, doch weder konnte man Schwäche, oder Angst in den Mann verspüren. Er saß einfach da, steif und unbeweglich. Dann öffnete er die Augen, stieß den Dolch mitten in den grünen Stein und schrie ein einzelnes Wort hinaus:

„Crjdrewjen!”

Lange und laut hallte das Wort durch den Schacht und selbst in den ganzen Turm.

Ein leichtes Beben entstand und als es immer stärker wurde, hatte sich die Wolke so sehr verdichtet, dass man eine Gestalt erkennen konnte. Es war ein sehr grausames Wesen, dass abnormal geformt und einen Körper aus Schlangenhaut hatte. Es stieß wütende Geräusche aus und man konnte deutlich hören, dass es ihm nicht gefiel, hier zu sein.

Der Herrscher stand langsam auf und ging einige Schritte vor. Dabei achtete er sehr darauf, dass er dennoch nahe der Platte blieb. Sein Gesicht war hämisch verzogen und er zeigte mit der rechten Hand auf das Wesen. Dabei ging sein Atmen stoßartig.

„Habe ich dich endlich, Kreg! Ich habe dich, Herr der Swejrschatten, gerufen und du wirst mir zu Diensten sein!”

Kreg, das unheimliche Wesen, schien gegen geistige Ketten zu kämpfen. Es versuchte sich auf dem Herrscher zu stürzen, doch erreichte es nicht. Ein lautes kreischendes Heulen war zu vernehmen und er stampfte wütend auf. Der Herrscher lachte leichte in sich hinein und schien diese Vorstellung gerade zu genießen. Er wartete einige Zeit, um den gefangenen Schatten wütender zu machen, ehe er nun auch noch die linke Hand hob. Man konnte einen hauchdünnen Rauch aus dieser kommen sehen. Es schien geradewegs zu den Schatten zu gehen.

„Du wirst mir dienen, denn ich habe dich aus dem Nichts geholt! Ich habe dir eine Gestalt gegeben! Du bist es mir schuldig! Einst warst du der Diener eines mächtigen Herrschers und nun wirst du mir alles beibringen, was du diesen beigebracht hattest! Denn wenn er zurückkommen wird, werde ich sein erster Diener sein!”

Der Schatten hielt inne und hörte aufmerksam zu. Danach konnte man ein lautes Lachen hören, dass sehr unbeherrscht klang.

„So, du einfältiger Herrscher! Wisse, wenn du mich gehen lässt, werde ich kommen und dich töten! Der Herrscher, von dem du sprachst, ist zum Schluss besiegt worden, denn er wollte einfach zu viel haben! Er hat die Priesterschaft unterschätzt und muss nun unter den Bann harren. Doch sage, wer bist du, dass du glaubst, du müsstest es Hrathor gleichmachen?”

Der Herrscher grinste in sich hinein und fragte sich wieder, wie die Wächterschaft es damals schaffen konnte, den Hexer zu bannen. Er kannte nicht den Namen der Wächterinnen, die den Hexer damals gebannt hatten. Wusste nicht, welche Elemente anwesend gewesen waren. Doch um diese Informationen würde er sich später kümmern.

Jetzt wollte er die Macht dieses Schatten und diese würde er auch bekommen. Er brauchte sie, um sein Vorhaben zu erreichen und nur aus diesem Grund hatte er sich vor einigen Jahren in die Kunst der Hexenmeister eingeweiht. Er stellte sich breitbeinig vor Kreg auf und zuckte dann die Schulter. Diese Gleichgültigkeit machte dem Dämonenherrn wütend. Er stampfte immer wieder auf und stoppte erst, als der Herrscher anfing zu reden.

„Wer ich bin, Schatten! Ich bin dein Herr und dein Verderben! Mein Name ist von keiner Bedeutung! Doch du darfst mich Herrscher nennen, so wie alle anderen es tun! Ich werde direkt hinter dem mächtigsten Hexer sein und du wirst mir dabei helfen. Wenn du dich weigerst, dann schicke ich dich wieder zurück und nehme mir dein Wissen mit Gewalt! Ich habe vor unser aller Herr hierher zu holen”

Die Art, wie er es gesagt hatte, ließ den Schatten verharren. Man konnte keine Angst, Furcht oder Überheblichkeit heraushören. Es war so ernst gesprochen, als würde der Herrscher wissen, was er tat und als würde er schon wissen, wie alles ausgehen würde. Kreg war ein mächtiger Schatten und sehnte sich wie alle anderen Schatten danach eine Gestalt zu haben und nicht im Nichts zu verweilen. Dennoch, wenn er diesen jungen ehrgeizigen Herrscher helfen würde, dann würde er sein eigenes Verderben helfen. Denn die Priesterschaft würde ihn wieder jagen, wenn sie von ihm erfuhr. Außerdem würde sein ehemaliger Meister, Hrathor nicht gut auf ihm zu sprechen sein. Kreg wusste einfach nicht, was er machen sollte. Noch war ein Gefangener und er zweifelte nicht daran, dass der andere ihn zurückschicken würde. Die Augen des Herrschers verrieten dies und zum ersten Mal in seinem schattigen Leben verspürte er Angst, dass dieser es sofort machen würde. Er hatte keine Wahl, denn genau in diesen Augenblick wusste auch der Schatten, dass er in die Augen seines Mörders blickte. Der Herrscher würde wahrscheinlich nicht nur zurückschicken, sondern ihn töten. Jetzt oder dann, wenn er ausgedient war.

„Also? Hast du dich entschieden!?”

Die messerscharfe Stimme des Herrschers holte Kreg aus seinen Überlegungen heraus und man konnte deutlich erkennen, dass es dem Schatten ganz unwohl in der Haut war. Er schüttelte sich heftig und sprach dann, wobei dessen Stimme zitterte:

„Meinem Herrn wird dies nicht gefallen! Er wird dich töten lassen und mir helfen!”

„Tatsächlich”, entgegnete der Herrscher und seine Augen nahmen einen seltsamen Glanz an. „Wenn ich richtig informiert bin, dann hast du damals den Hexer verlassen, als er dich am nötigsten gebraucht hatte. Er wird dich vernichten wollen. Aber sei unbesorgt, je mehr du kooperativ bist, desto länger lebst du...Ich werde ihn überzeugen, dass er dich verschont. Dein Wissen bekomme ich so oder so! Also? Wie hast du dich entschieden? Hilfst du mir freiwillig, oder soll ich dich erst töten und mir dann das holen, was mir gebührt!”

Der Schatten wurde unruhig. Er zögerte einige Sekunden, doch als einige Blitze aus der Hand des Herrschers auf ihm schossen, jaulte er auf und nickte dann. Dabei versicherte er den Herrscher, dass er ihm helfen würde. Er würde ihn alles sagen, was er wusste und sogar noch mehr, wenn er es möchte. So redete er dann einige Minuten, bis der Herrscher die Geduld verlor und er Kreg unterbrach.

„Schweig! Du wirst mir so viel von deiner eigenen Macht geben, sodass ich in der Lage bin, mit den Schatten von Swejr zu sprechen! Wenn du mich reinlegst, dann bist du des Todes, wenn du mir das gibst, was ich will, lasse ich dich gehen, bis ich dich wieder rufe. Solltest du mich allerdings verraten oder hintergehen, dann wirst du dir wünschen, der Hexer würde dich getötet haben, als er damals deinen Verrat erkannt hatte! Also gib mir die Macht über die Schatten!”

Die letzten Worte schrie der Herrscher hinaus und man konnte sehen, dass er mit der Geduld am Ende war und nur noch den anderen nicht getötet hatte, weil er ihn in seinen großen Spiel noch brauchte.

Der Schatten nickte heftig und spürte, dass die geistigen Fesseln abfielen. Er dachte kurzzeitig daran schnell zu verschwinden, doch wusste er, dass der Herrscher ihn bekommen würde. Früher oder später. Allerdings kannte er den Herrscher nicht und hatte dabei ein ungutes Gefühl. Kreg wusste viel über die Herrscher, sowohl gute als auch böse. Dieser schien keines von beiden zu sein.

Der Herrscher lächelte nun leichte, denn er konnte deutlich spüren, wie der Schatten ihn gegenüber Angst hatte und dies bereitete ihn Schadenfreude. Bald würde jeder ihn fürchten. Wenn der dann seinen Herrn, Hrathor freigelassen hatte, dann würde die Zeit …seine Zeit endlich anfangen!

„Ich gebe dir die Macht, aber es wird schmerzhaft sein ....”

Mit einer Hangbewegung stoppte der Herrscher den Schatten und machte damit Kreg deutlich, dass er nicht mehr zum Reden aufgelegt war, sondern nur noch die Macht haben wollte. Er erhellte leichte den Schacht und begab sich zu der Dreieckspitze, wo das Symbol des Lebens stand. Danach breitete er die Arme aus und stand mit festen Füßen da. Kreg verstand die Geste und ging langsam auf den Herrscher zu. Jetzt hätte er die Möglichkeit gehabt diesen zu töten, doch die Angst tief in ihm weigerte sich dies zu tun. Er berührte den Herrscher an der Brust.

Es war ein unerträglicher Schmerz, der durch den ganzen Körper von dem Herrscher fuhr. Er dauerte lange an, und schien jede einzelne Nervenzelle seines Körpers zu beiwohnen. Erst nach einer langen Zeit hörte der Schmerz auf und der Blick, der sich vorher verschleiert hatte, wurde wieder klar.

Der Herrscher zitterte am ganzen Körper und fühlte, wie eine seltsame Macht in seinem Blut umherging. Wie sie durch das Herz gepumpt wurde. Sein Atmen ging stoßweise und Schweiß befand sich auf der Stirn des Mannes. Und trotz das er sich schlecht fühlte, fühlte er auch einen gewissen Triumph. Er hatte endlich die Macht, für die der Schatten Kreg berühmt war. Er konnte endlich die Swejrschatten beherrschen. Noch befanden sie sich jenseits des Gleichgewichtes, doch bald würden sie in seinem Heer sein und neben dem Schwarzen Blut kämpfen.

Ein Lachen entfuhr ihm und es klang grausam. Man hatte das Gefühl, dass dieses eine Mitteilung versprach. Und zwar, dass er sein Ziel erreichen wird und niemand würde ihn daran hintern!

Er blickte auf und erkannte, dass Kreg ihn mit ängstlichen Blicken beäugte. Wieder lächelte er hinterhältig und fuchtelte mit der Hand.

„Ich halte mein Versprechen und lasse dich gehen! Wenn ich jedoch dich rufe ... und sei es auch nur dein Name ohne irgendwelche Beschwörungen, dann hast du zu kommen! Wenn nicht, dann beschwöre und töte ich dich!”

Mit den letzten Worten trat er auf die Platte, umfasste den Dolch und zog diesen mit einer gewaltigen Kraft heraus. Es gab ein leises zischen, Licht blitzte auf und hüllte alles in einen grellen Schein. Als sich das Licht gelegt hatte, sah man nur noch den Herrscher und dieser sah höchst zufrieden mit sich aus. Er lächelte und steckte vergnügt den Dolch ein. Danach murmelte er einige Silben und befand sich sofort in das Zimmer, das über den Schacht war. Er blickte aus dem Fenster und sah, dass die Nacht schon lange eingebrochen war. Auch hatte es aufgehört zu regnen.

Der Herrscher ging über den Hof seiner Burg und grüßte die entgegen kommenden Dienern oder Krieger. Er hatte eine äußerst gute Laune und dies merkten auch die anderen, sodass sie offener wurden. Und als ihr Herr ihnen dann auch noch den Rest der Nacht frei gab, da jubelten sie. Denn keiner hatte seit Tagen richtig und lange geschlafen.

Nach einem guten Essen hatte er sich dann in den höchsten Turm zurückgezogen, wo er sich wieder über das Buch gebeugt hatte. Er suchte nach Hinweise, die ihm sagen konnten, wer letztendlich den Hexer Hrathor gebannt hatte. Doch so sehr er auch suchte, er konnte die gewünschte Information einfach nicht finden. Wütend begann er im Zimmer Runden zu drehen und dachte nach. Er erinnerte sich daran, dass Zor`zein gemeint hatte, es wurden Geistwächterinnen gefangen genommen. Wenn jemand also das gesuchte Wissen besaß, dann wären sie es.

 

Kapitel Dreizehn

Die Rechte Hand

 

Sie regiert mit eiserner Hand und Härte. Mitleid zeigt sie nur selten und dann auch nur, wenn es ihren Zielen passte. Sei also vorsichtig, wenn du dich in der Nähe der Rechten Hand aufhältst. Sie braucht keinen besonderen Grund, um jemanden hinrichten zu lassen.

 

Kanvard Rikken,

Hauptmann in der jerarschen Armee,

Winter im Jahre 2596

 

Creusen war eine riesige Stadt, die an der Küste der Hyratischen See lag und es hieß, sie sei die größte Hafenstadt des Landes Creud`van, welche auch noch durch drei wichtige Fakten wirtschaftlich einen hohen Stand besaß. Zum einen gab es den Schiff- und Handelhafen, in denen die Schiffe von überall anlegten; selbst aus den fernsten Wesen kamen Ladungen mit den seltsamsten und kostbarsten Waren, die überall beliebt waren. Und trotz, dass es große Handelsgebüren gab, war der Hafen immer voll, sodass es sogar Tage gab, wo Schiffe draußen warten mussten, bis wieder eine Anlegestelle wieder frei geworden ist. Dies jedoch nahmen die Kapitäne und Händler gerne in Kauf, denn jede Ware, die in Creusen eingeschifft wird, wird später einen guten Preis erzielen. Ebenfalls ist die Schmiedegilde sehr stark vertreten, sodass Waffen von Creusen einen hohen materiellen Wert besaßen und überall begehrt waren. Man musste zu den besten der besten Schwertmeister oder zu dem Anhänger der Drachenkrieger gehören, um so eine Waffe tragen zu dürfen. Andere, die sich diese Ehre nicht erlaubt haben, wurden hart bestraft. Neben Creusen gab es auch noch Gisarion und Phönkor, die für ihre Waffen bekannt waren, doch diese reichten nicht an das Können der Creusener Schmiede heran. Das dritte, wodurch die Stadt berühmt wurde, war eine Tanzschule, die von allen Ländern Mitglieder besaß und die begabtesten Tänzer ausbildeten. Es hieß, dass diese Schule sich seit mehr als zwanzig Generationen in der Familie or`Majat befand und immer von der ältesten Tochter übernommen wurde. Der Hauptsitz befand sich in Creusen, doch hatte die Schule auch Ableger in mehr als zehn anderen Städten. Gab es Feste, Feierlichkeiten oder Wettbewerbe, dann wurden Gruppe, Paare oder einzelne Personen gemietet. Wegen den Hafen, der Schmiedekunst und der Tanzschule war Creusen für viele Leute ein Ziel oder ein weit entfernter Traum.

Was die Stadt ebenfalls berühmt machte, war, dass sie die Hauptstadt von des Jerarschen Reich war, obwohl diese Stadt sich in dem Land Creud`vans befand. Dies jedoch war für das Volk der Jeraren kein Hindernis, diese Stadt als ihre Hauptstadt anzusehen. Vor allen, da es hieß, dass die Herrscher des Landes durch den Verborgenen Herrscher der Jeraren gelenkt wurden. Damit jedoch keine Außenstehende misstrauisch wurde, halten sich die Jeraren seit Jahrhunderten im Verborgenen und wartete geduldig auf ihre Chance, wieder in den Vordergrund zu kommen.

Gwelan Flinkhand, ein junger Mann von knapp achtzehn Jahren gehörte dem Volk der Jeraren an. Jedoch verspürte er keine Zugehörigkeit zu diesem, denn er war Waise und lebte, seitdem er sich erinnern konnte, auf der Straße. Er war ein bekannter Dieb und nannte Creusen als sein Zuhause. Das einzige, was ihm mit dem Volk der Jeraren verband, war, dass seine Augen einen gelblichen Schimmer aufwiesen und seine Haare sehr hell waren. Jedoch nicht gerade in dem Moment, denn in der Stadt gab es viele Steckbriefe von ihm und auf seinem Kopf waren sogar drei Goldstücke ausgesetzt. Aus diesem Grund hatte er sein Haar mit Ruß gefärbt und diese kürzer geschnitten, als es auf den Bildern zu sehen war.

Da sein Äußeres nun anders aussah, verspürte Gwelan auch keine Angst, als er über den Markt ging und sich aufmerksam umschaute. Sein Blick ging immer wieder zu den drei Stellen, wo die Stadtgarde vertreten war und suchte dann zwischen den Passaten nach einem guten Opfer.

Sollte es die Dame sein, deren Gesicht so sehr mit Puder verdeckt war, dass sie unnatürlich aussah oder eher der dickliche Mann, dessen Geldbörse deutlich am Gürtel zu erkennen war? Gwelan schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen. Er vermutete, dass dieser Mann ein Diebesfänger war und mit Absicht seine Ersparnisse deutlich zeigte. Nicht mit mir! Ich falle nicht darauf rein! Langsam schritt er an Ständen vorbei und stellte sich vor einem Stand, wo ein Bauer mehrere Äpfel verkaufte. Er zeigte seinen Rücken diesen Stand und sah sich aufmerksam um. Der Bauer unterhielt sich gerade mit einem Kunden und niemand schaute in seine Richtung. Schnell ergriff Gwelan einen Apfel und war dann schon in der Masse verschwunden. Er ging noch einige Meter, ehe er seine Beute vor sich hob und betrachtete.

Es war ein guter Apfel, welcher rötlich schimmerte und lecker aussah. Sogar so lecker, dass Gwelans Mund wässrig wurde. Für ihn war schon so ein einziger Apfel ein gutes Essen und er biss herzhaft in die Frucht hinein.

Fruchtwasser lief über seine Mundwinkel, während er wieder den Mark betrachtete und sich Opfer weiterhin suchte. So ein Apfel war gut, aber besser war es, wenn er einige Geldstücke zusammenkommen würde. Vielleicht sogar soviel, dass er sich für eine Nacht mal ein gutes Bett leisten konnte. Also, wer sollte es sein?

In Gwelans Blick erschien ein Mann, der gut gepflegte Kleidung trug und dessen Gürteltasche offen war. Dies konnte der Dieb sehr gut erkennen. Die Lasche dieser Tasche lag lose und war nicht verbunden. Eine Kleinigkeit, um von dort etwas herausholen! Ein Lächeln erschien aufs Gwelans Gesicht und er betrachtete den Mann weiter. War er vermögend? Gehörte er zu dem Schlag von Menschen, die immer viel Geld mit sich trugen? Der junge Dieb wurde unsicher, je länger er den Mann betrachtete. Vielleicht würde es einfach sein, diesen Mann auszurauben, doch würde es sich lohnen? Gwelan hatte sich immer zur Gewohnheit gemacht, eine einzige Person am Tag zu erleichtern und dann für den Rest des Tages den Markt zu meiden. So verhinderte er, dass man ihn nachträglich erkennen und gefangen nehmen würde. Aus diesem Grund musste er sich sicher sein, dass er nicht wegen ein paar Kupferstücke ein Risiko einging.

Gwelan folgte den Mann und seine Augen begannen zu leuchten, als dieser an einen Stand mit teuerem Schmuck innehielt und die Waren betrachtete. Jemand, der sich solche anschaute, musste doch viel Geld mit sich tragen, um auch gleich bezahlen zu können und dass der Mann gleich bezahlen würde, war sich Gwelan sicher. Sein Opfer sah nicht so aus, als würde er es riskieren, dass die Ware weg war, wenn er mit genügend Geld zurückkam.

„Du wirst ein sein, mein Lieber“, flüsterte der junge Dieb und trat näher an den Stand heran, wo sich der Mann befand. Er tat so, als würde an den Stand daneben, frischen Fisch begutachten und warf seinen Blick immer wieder in die Richtung seines Opfers. Er sah, wie der Mann zu seiner Gürteltasche griff, und konnte das Geld da drin klimpern hören. Gwelans Laune wurde noch besser und er wurde in sein Vorhaben bestärkt. Plötzlich erregte eine andere Person seine Aufmerksamkeit und Gwelan vergaß den Mann vollkommen. Er richtete seinen Blick auf eine Frau und eine Stimme in ihm sagte, dass sie sein Opfer sein sollte!

Die Frau war hoch gewachsen und hatte lange braune Haare. Ihr Gesicht sah ernst drein und sie trug einen teuren Mantel. Eine Tasche, die in dem Mantel genäht war, war sehr ausgebeult und Gwelan vermutete, dass sich dort ihr Geld befand. Er atmete tief durch und vermutete, dass diese Frau wesentlich mehr Vermögen bei sich tragen musste, als sein erstes Opfer. Er sah zu dem Mann und schüttelte den Kopf. Nein! Dieser wäre es nicht wert, dass die Flinkhand ihn ausrauben würde!

Gwelan begann, der Frau zu folgen und sorgte dafür, dass sein Abstand nicht zu nah, aber auch nicht so groß war. Er wich einigen reichen Personen aus und achtete nicht mehr auf diese. Er hatte sein heutiges richtiges Opfer gefunden und würde sich nicht mehr ablenken lassen.

Die Frau verschwand in einer Gasse und Gwelans Lächeln wurde größer. Dies würde einfacher werden, als er gedacht hatte, und folgte ihr.

Diese Gasse führte zu einem etwas kleineren Markt, doch dieser kleinere Markt war für die Diebe ein wesentlich beliebteres Ziel, denn hier gab es so gut wie keine Gardisten. Es war der Markt, für die etwas Ärmeren, weshalb Gwelan seine Opfer nicht auf diesen suchte. Nein, er wollte immer die großen Fische haben und nicht Personen ausrauben, die gerade so viel verdienten, dass sie über die Runden kamen. Nein, so gemein war die Flinkhand nicht!

Dennoch freute sich Gwelan, denn hier befanden sich sehr viele Diebe und so würde er besser entkommen können, wenn doch Alarm geschlagen werden würde. Zwar hatte er nicht vor, es so weit kommen zu lassen, doch sicher war sicher.

Er beeilte sich immer mehr und sah in einer Menschenmenge zwei andere Diebe, die dabei waren jemanden auszurauben. Der eine sprach das Opfer an und lenkte es ab, während der zweite sich um den Geldbeutel des Opfers kümmerte. Eine gute Technik, doch sie zwang einen, dass man mit jemand zusammenarbeitete. Dies war etwas, was Gwelan nicht besonders gerne tat, denn seine Erfahrung hatte gezeigt, dass er am besten nur sich selber vertraute. Es kam nämlich öfters vor, dass einer der Diebe den anderen übers Ohr haute und mit der Beute alleine verschwand. Früher war das Gwelan öfters passiert, doch seitdem er alleine arbeitete, musste er sich darüber keine Sorgen machen und konnte immer die ganze Beute für sich behalten.

Er wünschte in Inneren, dass seine Kollegen erfolgreich sein würden. Zum einen, damit kein Aufstand entstehen und sein eigenes Opfer warnen würde und zum anderen, weil er wusste, wie es war, wenn man mal an einen Tag keinen Erfolg hatte. Dann wandte sich Gwelan sich wieder zu der Frau und lief völlig unauffällig neben ihr. Er merkte, dass sie den Ständen keine Beachtung schenkte, doch dies störte ihn nicht. Wenn sie nichts kaufte, hieß es, dass ihr Geld nicht weniger werden würde und somit auch nicht seine Beute.

Gleich ist es soweit!

Aufregung stieg in ihm auf und er befeuchtete seine Lippen mit der Zunge. Er trat näher zu der Frau und sah die Tasche, welche verführerisch zu ihm blickte und zählte in Inneren bis fünf. Er stieß die Frau an, und während er eine Entschuldigung murmelte, griff er in die Tasche und zog einen prall gefüllten Geldbeutel hervor. Er ließ ihn in seinen Ärmel verschwinden und wollte sich von ihr abwenden, als er merkte, dass er am Kragen ergriffen wurde. Kurz darauf spürte er etwas Kaltes an seinem Hals. Er riss seine Augen auf.

„Ganz ruhig, du Dieb, oder ich schneid dir die Kehle auf“, warnte ihn eine feste Stimme und er spürte, wie er zu einer Seitenstraße gestoßen wurde.

Die Passanten in der Umgebung schenkten weder Gwelan, noch der Frau Aufmerksamkeit, während sie ihn weiter vor sich herstieß und etwas an seinen Hals hielt. Gwelan wusste sofort, dass es sich dabei um einen Dolch handeln musste und er fragte sich, woher diese Frau diesen haben konnte. Panik stieg in ihm auf, doch er ließ sich nicht von ihr übermannen. Gut, man hatte ihn erwischt, aber die Frau schien nicht nach der Garde zu rufen. Dies war für ihn gut und für sie schlecht. Er musste nur abwarten, bis sich der Dolch an seinen Hals etwas lockerte und dann …

„Denk nicht einmal daran! Du würdest schneller tot sein, als dass du reagieren könntest“, sagte die Frau. Es schien so, als würde sie seine Gedanken lesen können.

War diese Frau eine Wächterin gewesen? Dies verneinte Gwelan sofort wieder. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sich eine Wächterin hier in Creusen aufhielt. Jeder weis, dass diese hier nicht besonders gerne gesehen waren und schon seit Jahrzehnten kam keine mehr hierher. Doch wer war dann diese Frau?

Vielleicht eine Soldatin? Jemand, der es gewohnt war zu kämpfen und schnell zu reagieren? Dies würde erklären, warum sie Gwelan so schnell ergriffen hatte.

Als die Frau die Seitenstraße erreicht hatte, stieß sie Gwelan an die Mauer eines Hauses und drehte ihn. Nun erkannte er, dass es sich wirklich um einen Dolch handelte und dieser sich sehr nahe an seinen Hals befand. Er schluckte und seine Zuversicht verschwand, als er in die Augen dieser Frau blickte. Noch nie in seinem ganzem Leben hatte er so kalte Augen gesehen und er wusste sofort, dass er einen Fehler begannen hatte.

„So, du Dieb“, zischte die Frau und nahm den Dolch etwas weg. „Gib es sofort wieder her!“

Zittern griff er sich in den einen Ärmel und holte den Geldbeutel hervor. Er reichte ihn der Frau und rief die Geweihten innerlich an, dass sie sein Leben verschonen würden. Die Frau riss ihn den Beutel aus der Hand und legte ihn wieder in ihre Tasche. Dann betrachtete sie den Dieb und dabei bemerkte Gwelan, dass diese Frau dem Volk der Jeraren angehörte. Mit anderen Worten zu seinem Volk. Doch was würde ihm diese Erkenntnis nützen? Die Jeraren lebten in der ganzen Welt zerstreut und kümmerten sich nicht mehr untereinander. Zwar gab es da den Verborgenen Herrscher, doch für Gwelan bedeutete es nicht viel. Er lebte auf der Straße und hatte kein Einfluss in das Leben seines Volkes.

Als die Frau langsam die Hand mit dem Dolch senkte, atmete Gwelan tief ein, doch bewegte sich so wenig wie möglich. Er wollte ihr keinen Grund geben, ihn doch noch abzustechen.

„Dein Name!?“

„Randor Sif“, sagte er leise und sah, wie die Frau die Augen zusammenkniff. Sie lächelte ihn kalt an.

„Und nun dein richtiger!“

Gwelan nickte und verabschiedete sich von seiner Freiheit. Diese Frau würde ihn aufliefern und sein Kopfgeld einsammeln, doch er wagte es nicht, sie noch einmal zu belügen. „Gwelan Flinkhand.“

Bei diesen Namen legte die Frau ihren Kopf schräg und betrachtete ihn abermals. Gwelan konnte deutlich erkennen, dass sie nachdachte.

„Du hast keine Ahnung, wer ich bin, oder?“

Diese Frage überraschte Gwelan, und er sah die Frau genau an. Dann schüttelte er den Kopf.

„Mein Name ist Lorantha Thorn. Der sagt dir sicherlich was.“

Eiseskälte brach in Gwelan aus. Dieser Name sagte ihn sicherlich etwas und er fragte sich, wen er von den Geweihten verärgert hatte, dass er ausgerechnet diese Frau ausgesucht hatte.

Lorantha Thorn war die Rechte Hand des Verborgenen Herrschers und die zweitmächtigste Person bei den Jeraren. Niemand würde es wagen, sie zu verärgern, denn sie stand in den Ruf, nicht geduldig und sehr ernst zu sein. Diese Frau hatte schon Personen aus niederen Gründen als Diebstahl hinrichten lassen und es hieß, dass sie ein Herz aus Eis besaß.

Das war es! Ich bin tot!

Er begann zu schwitzen und überlegte, ob er vielleicht eine Ausrede finden würde. Irgendetwas, was ihn retten könnte, doch bei dem Anblick dieser Frau versagte sein denken.

„Du bist dieser Dieb, von den Plakaten, nicht wahr“, fragte Lorantha plötzlich und sah ihn abermals abschätzend an.

Da Gwelan das Gefühl hatte, dass diese Frau auf eine Antwort wartete, nickte er. Für einen Augenblick fragte er sich, ob er vielleicht überleben würde, wenn er seine Dienste ihr anbieten würde. Doch was sollte so eine mächtige Frau mit einem Dieb wie ihm anstellen? Sie würde Personen in ihren Dienst haben, die wesentlich besser sind als er.

„Ein Jerarer sollte keinen anderen ausrauben“, sagte diese Frau und ihr Blick wurde finsterer.

Gwelan war es egal, welchem Volk seine Opfer angehörte, Hauptsache, er war erfolgreich und konnte überleben. Zwar waren seine Opfer selten Jerarer, doch dies lag eher daran, dass diese kaum reich waren und deswegen ihn nicht interessierte. Dass er jedoch ausgerechnet die Rechte Hand des Verborgenen Herrschers heute ausgesucht hatte, war wirklich ein Pech für ihn gewesen.

„Ich sollte dich ausliefern und dein Kopfgeld kassieren“, bemerkte die Frau und sie sah so aus, als würde sie dies in Erwägung ziehen. Ihr Blick fixierte den Dieb. „Dann hätte Creusen einen Dieb weniger und du würdest deine Strafe bekommen … du weist ja, was einem Dieb droht: Er würde seine rechte Hand verlieren.“

Gwelans Kehle war trocken, doch er hätte dennoch beinahe aufgelacht. Eine Hand verlieren? Die Stadtgarde würde ihn abstechen und sich nicht nur mit einer Hand von ihm zufriedengeben. Zwar war es Gesetz, das wenn ein Dieb gefasst werden würde, er eine Hand verlieren würde, doch nicht bei Flinkhand. Dieser Dieb hatte die Stadtgarde viel so oft an der Nase herumgeführt, als dass diese sich mit seiner Hand zufrieden geben würde. Zweifel kamen in ihm aus, doch er bezweifelte, dass es ihm nützen würde, wenn er dies der Rechten Hand sagen würde.

„Auf der anderen Seite, bist du mutig und ein Jerarer“, fuhr die Frau fort. „Ich mag es nicht, Jerarer auszuliefern.“

Neue Hoffnung keimte in Gwelan auf und er sah die Frau genau an. Würde sie ihn verschonen und gehen lassen? Nein, ein Blick in ihre Augen und er wusste, dass er einfach so gehen dürfte. „Ich nehme an, dass du keine Familie hast“, sagte sie, und als Gwelan nickte, fuhr sie fort. „Gut, dann mache ich dir ein Angebot: Ich werde dich nicht ausliefern, wenn du in unserer Armee beitrittst. Damit meine ich nicht die Armee von Creud`van, sondern unsere … die der Jerarer. Die Kaserne neben der Stadt gehört uns und dort sind nur Jerarer anzufinden. Geh dorthin und schreibe dich ein … dann werde ich vergessen, dass du versucht hast mich auszurauben.“

Mit allen hatte Gwelan gerechnet, nur nicht damit. Sie würde ihn nicht ausliefern, wenn er der jerarschen Armee beitrat? Er hatte noch nie darüber nachgedacht, ein Soldat zu werden, denn er konnte sich nicht die Basisausrüstung leisten, die man brauchte, um einzutreten. Und warum sollte er Soldat werden? Das Volk der Jeraren befand sich nicht im Krieg mit anderen … es war doch schon seit Jahrhunderten zerschlagen.

Als würde Lorantha seine Gedanken abermals lesen können, wurde ihr Gesicht grimmig. „Nicht mehr lange, Dieb und die Zeit wird kommen, dass wir uns erheben. Sie ist ganz nah und du kannst ein Teil davon werden.“ Sie breitete die Arme aus. „Entweder verabschiedest du dich von deiner Hand, oder aber du tritt der Armee bei. Deine Entscheidung!“

Gwelan dachte nach. Er wusste, dass er bei der Stadtgarde mehr als nur eine Hand verlieren würde. Da war die andere Alternative wesentlich verlockender. Doch wie sollte er sich die Ausrüstung leisten können.

„Ich … ich habe kein Geld, um mir den Eintritt leisten zu können“, brach er hervor. Es würde ihm nichts nützen, wenn er diese Frau anlügen würde. Diese jedoch wischte seine Worte mit einer Handbewegung weg.

„Darum werde ich mich kümmern, wenn du dich für die Armee entscheidest, also?“

Gwelan schluckte. „Dann werde ich gleich morgen zur Kaserne gehen und mich eintragen lassen“, sagte er. Dies war immer noch besser, als an der Stadtgarde ausgeliefert zu werden.

Lorantha nickte. „Gut … mitkommen“, sagte sie und drehte sich um. „Ich werde dir alles Nötige geben, damit du dies machen kannst.“ Sie hielt inne und warf einen scharfen Blick zu ihm, sodass er zurückwich. „Wenn du mich aber hintergehst, dann werde ich dich suchen und hinrichten lassen!“

Der Dieb nickte. Ihm war klar, dass wenn er am Leben bleiben wollte, er sich an die Worte dieser Frau halten musste.

 

Nachdem Lorantha aus dem Hause Thorn diesen Dieb ein Schreiben für den Kommandanten der Kaserne und Gold für die Ausrüstung geben hatte, warf sie ihn aus ihrem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Sie war wütend, dass jemand versucht hatte, sie auszurauben, wobei jedoch ihre Wut nicht auf dem Jungen gerichtet war. Nein, sie war wütend darüber, dass es schon so weit gekommen war, dass das Volk der Jeraren als Diebe herumlungerte, anstatt versuchte etwas für die anstehende Befreiung zu unternehmen.

„Immer dasselbe“, zischte sie und trat zu ihrem Schreibtisch. Ein Geräusch, wie von einer sich öffnen Tür ließ sie herumwirbeln. In der offenen Tür stand ein Mann, der einen teuren Umhang trug und dessen Gesicht von zwei Narben verziert wurde.

„Zor`zein!“ Sie hasste diesen Mann und seine Frechheit, dass er einfach so in ihr Arbeitszimmer getreten war, machte ihre Wut noch größer. „Was willst du hier?“

Der Mann schloss die Tür hinter sich und drehte sich dann zu Lorantha um. Ein schmieriges Grinsen war auf seinem Gesicht zu sehen. „Es ist mir wie immer eine Ehre, euch besuchen zu dürfen, Lady Lorantha“, sagte er und verbeugte sich. Seine Stimme klang falsch und seine Verbeugung war steif. „Ich bringe Nachricht von meinem Herrn Adain Draken.“

Wenn Lorantha noch einen Mann mehr hasste, als Zor`zein, dann war es Adain Draken. Dieser König von Valèax hatte zwar ein Bündnis mit dem verborgenen Herrscher geschlossen, doch Lorantha traute ihn nicht über dem Weg. Zwar war sie Mitglied des Schwarzen Blutes, doch sie sah Adain nicht als ihren Vorgesetzten an. Dies war der Verborgene Herrscher und das wusste Adain Draken auch. Lorantha war eine Jerarin, und solange es ihre Ziele half, dass sie auch ein schwarzes Blut war, dann nahm sie es im Kauf.

Dies ist Miriams Sache. Sie ist die fanatische Anhängerin des Schwarzen Blutes, fuhr es ihr durch den Kopf und sie dachte an ihre Schwester. Im Gegensatz zu Lorantha, war Miriam Thorn ein Schwarzes Blut mit Leib und Seele. Sie sprach immer in höchsten Tönen von Draken, doch Lorantha konnte einfach nicht ihre Meinung teilen.

„Ich fragte nicht noch einmal, Zor`zein. Was willst du hier“, zischte sie den Mann an.

„Wie gesagt, ich bringe Neuigkeiten“, sagte der Mann und schien sich nicht von der Laune der Frau beeindrucken. „Zum einen habe ich einige Wächterinnen, die gebrochen werden müssen … ich dachte mir, dass ich sie eurer Schwester überlasse. Außerdem meint mein König, dass die Zeit nah ist. Nicht mehr lange und wir werden den allmächtigen Hrath befreien und die Welt mit Krieg überziehen. Eurer Volk kann sich dann gegen die anderen stellen und sein Geburtsrecht zurück verlangen … nur noch ein wenig, Lorantha und der Kampf wird beginnen. Eventuell noch dieses Jahr, oder spätestens Anfang nächstes Jahr.“

Dies war eine Nachricht, die Lorantha sehr gefiel. Ihr ganzes Leben hatte sie darauf gewartet, dass der Krieg beginnen würde und nun war es fast soweit. Dass jedoch die Jeraren gezwungen sind, sich mit dem Schwarzen Blut einzulassen, um realtische Gewinnchancen zu bekommen, trübte ihre Laune. Erst die Unterdrücker und dann seit ihr dran, schwor sie sich und lächelte Zor`zein an. Ich werde es genießen, wenn ich euch eigenhändig töten werde. Wenn ich den Blick in deinen Augen sehen werde, wenn dir bewusst wird, dass ich dich und deinen König nur benutze. Ihre Laune wurde wieder besser.

„Das ist schön zu hören, Zor`zein. Meine Leute stehen bereit. Es liegt also nur noch an euch, dass es endlich beginnen kann.“

Zor`zein nickte und schien nichts von den Gedanken der Frau zu wissen. Er kramte einen Bericht hervor und hielt ihn Lorantha hin.

„Hier sind die Informationen für diese Wächterinnen. Was deine Schwester von ihnen erfahren muss und was dann mit ihnen geschehen soll. Ich nehme an, Miriam wird sich mit Freuden ihnen annehmen.“

Lorantha nickte und wusste nicht, was sie schlimmer fand. Dass Miriams Loyalität doch eher zu dem Schwarzen Blut galt als zu dem verborgenen Herrscher. Sie ergriff den Bericht und nahm sich fest vor, ein ernstes Wort mit ihrer Schwester zu reden, wenn sie diese in drei Tagen besuchen würde.

„Sonst noch was“, fragte sie Zor`zein hoffte, dass er verneinte. Sie wollte ihn endlich loshaben, durfte es aber nicht riskieren, dass sie ihn rausschmiss. Noch brauchten sie die Unterstützung von Adain Draken, doch wenn sie endlich festen Fuß hatten, dann würde es nicht mehr nötig sein. Ein Tag, worauf sich Lorantha schon freute.

Der Mann schüttelte den Kopf und sah traurig aus. „Leider nicht, Lady Lorantha. Ich muss sie auch gleich wieder verlassen, denn meine Kutsche wartet auf mich. Ich muss noch heute die Stadt verlassen und mich um wichtige Dinge kümmern.“

Lorantha heuchelte Enttäuschung. „Oh, dass bricht mir das Herz, aber vielleicht haben sie bei ihrem nächsten Treffen mehr Zeit? Dann können wir gemeinsam mal essen gehen.“

Eher würde ich den Verborgenen verraten, als dass ich am selben Tisch speisen würde, wie dieser Egel!

Zor`zein nickte heftig. „Ja, dass werden wir machen. Ich werde mir auch viel mehr Zeit nehmen, wenn ich wieder in Creusen sein werde. Jetzt jedoch muss ich gehen.“ Er verbeugte sich und verließ das Zimmer.

Lorantha schmiss den Bericht auf ihren Tisch und atmete tief durch. Nicht mehr lange. Nicht mehr lange und du musst ihn nicht mehr ertragen. Sie blickte noch lange zu der Tür, doch wandte sich dann ihren Aufgaben zu. Wenn es stimmte, dass noch im diesem Jahr die Aktion starten konnte, oder im Frühjahr, dann mussten noch einige Dinge vorbereitet werden. Sie nahm ein leeres Papier und schraubte ihr Tintenfass auf.

Zeit, einige Befehle im Umlauf zu bringen!

Kapitel Vierzehn

Gwelans Eintritt

 

 

Es ist ein langer Weg, um ein ordentlicher Soldat der Jeraren zu werden! Dafür heißt es Übung, Übung und nochmals Übung! Wenn ihr glaubt, dass ihr es nicht durchhaltet, dann seit ihr keine richtigen Soldaten!

 

Pendril Fotgarn,

Kommandant in Creudarn,

Sommer im Jahre 2596

 

Gwelan starrte auf das Gebäude und sein Herz schien so laut zu klopfen, dass er Angst hatte, es würde aus seiner Brust springen. Er blickte auf das dunkle Holz des Toren und fragte sich, wie es soweit kommen konnte, dass er sich nun hier befand und kurz davor war, in der vereinten Armee der Jeraren einzutreten. Seine Hand verkrampfte sich um den Brief, den er von der Rechten Hand bekommen hatte, und schalt sich einen Narren, dass er versucht hatte, diese Frau auszurauben. Warum hatte er sich diese ausgesucht und nicht doch den Mann genommen, den er als ersten im Ziel gehabt hatte.

Der junge Bursche schluckte und fuhr mit seiner freien Hand über seinem Hals. Deutlich spürte er die Klinge des Dolches dort und schalt sich abermals einen Narren. Er hatte sehr viel Glück gehabt, dass diese Frau beschlossen hatte, ihn am Leben zu lassen und stattdessen zur Armee zu schicken. Er schloss die Augen. So nah hatte Gwelan den Tod noch nie gespürt und er begann wieder zu zittern. Als Waise und Dieb hatte er nie ein einfaches Leben gehabt, doch irgendwie war es ihm immer gelungen, zu überleben und hatte nie direkt mit dem Tod kämpfen müssen. Nein, dass erste Mal, als er so eine große Angst gehabt hatte, war in dem Augenblick gewesen, als er in die Augen der Frau geblickt und ihren Dolch an seinem Hals gespürt hatte. Diese war wütend gewesen, doch hatte ihm zum Schluss vor die Wahl gestellt: Entweder würde er sich in der Armee einschreiben und somit immer genügend zu essen haben, oder er würde seine rechte Hand verlieren. Die Strafe, die jedem Dieb ereilte.

Gwelan hatte nicht lange nachgedacht und der Frau sofort versichert, dass er am nächsten Morgen zur Kaserne gehen und sich einschreiben würde. Daraufhin hatte die Frau ihn zu ihrem Gasthaus mitgenommen, eine Nachricht für den Kommandanten geschrieben und Gwelan drei Goldstücke gegeben, damit er die Ausrüstung vor Ort bezahlen konnte. Danach hatte sie ihn wieder weggeschickt und nochmal deutlich gemacht, dass sie es herausfinden würde, wenn er sich aus dem Staub machen würde.

Nun stand Gwelan vor der Kaserne und spielte kurz mit dem Gedanken, umzudrehen und wegzulaufen. Diese Frau würde ihn doch nicht überall suchen, oder? Sie war die Rechte Hand des Verborgenen Herrschers und musste sich um wichtigere Dinge kümmern, als einen flüchtigen Dieb zu suchen. Doch dann erinnerte er sich an den Blick dieser Frau und er verwarf seinen Plan. Diese Frau würde es wirklich zustande bringen, ihn zu suchen und dann würde sie sich wohl nicht nur mit seiner rechte Hand zufrieden geben.

Gwelan richtete sich ganz auf und hob seine Hand, um zu klopfen. Er hatte eine Chance bekommen, sein Leben als Dieb zu beenden. Als Soldat würde er Essen bekommen und hatte ein Dach über den Kopf. Was wollte er mehr haben?

Er klopfte und zuckte zusammen, als er den Hall des Klopfens vernahm. Hinter dieser Tür musste sich eine große Halle befinden, wenn das Geräusch sich so anhörte.

Schritte ertönten auf der anderen Seite des Tores und der junge Bursche versuchte seine Nervosität zu unterdrücken. Er hatte viele Gerüchte über die Armee gehört. Davon, dass neue Rekruten von Älteren schicksaniert wurden und keine eigene Rechte besaßen. Na und? Als Dieb hattest du auch keine Rechte und musstest zusätzlich noch Hungern!

Kurz darauf wurde die Tür einen Spalt geöffnet und ein älterer Mann trat heraus. Sein dunkles Haar war kurz geschnitten und schon von grauen Strähnen durchzogen. Über sein Gesicht verlief eine große Narbe und sein Blick sah grimmig aus.

„Ja?“

Gwelan wich einige Schritte zurück, ehe er sich zusammennahm und den Brief zu dem Mann hinhielt.

„Ich soll mich hier melden“, sagte er und war innerlich froh, dass seine Stimme nicht einmal zitterte.

Der Mann hob fragend eine Augenbraue und nahm das Schreiben entgegen. Dieses war mit dem Siegel der Rechten Hand versehen, sodass er nach einen anderen Burschen rief und diesen den Brief übergab. „Bring ihn schnell zum Kommandanten!“

Der junge Mann salutierte, nahm den Brief und war sofort wieder verschwunden.

Gwelan versuchte immer mehr seine Nervosität zu unterdrucken und hoffte, dass dieser Bär von einem Mann diese nicht bemerkten würde. Gleichzeitig war er von der Ansicht des Mannes beeindruckt. Er trug ein Kettenhemd und darüber einen Überwurf, welcher mit den Farben des Verborgenen Herrschers versehen war. Auch prangte dass alte Wappen der Jerarer auf seiner Brust. Seine Hände steckten in dunkle Lederhandschuhe und um seiner Hüfte befand sich ein Gürtel, wo sich ein Schwert befand.

Das ist ein richtiger Soldat, fuhr es Gwelan durch den Kopf und er fragte sich, ob er auch mal so aussehen würde.

„So … du bist also der Bursche, der die Rechte Hand ausrauben wollte“, sagte auf einmal der Mann und sein grimmiger Ausdruck verschwand. Stattdessen schob sich Belustigung in seinen Augen.

Gwelan riss die Augen auf. Woher wusste dieser Mann dies?

Der Soldat schien seine Überraschung zu merken und grinste. „So etwas spricht sich schnell herum. Außerdem hat unser Kommandant gestern Abend die Nachricht bekommen, dass wir heute einen neuen Rekruten erwarten dürfen. Und da du der erste bist, habe ich angenommen, dass du sein wirst.“

Das ungute Gefühl in Gwelans Magen wurde noch größer als er dies vernahm. Die Leute hier wussten, dass er versucht hatte, die zweitmächtigste Frau der Jeraren auszurauben? Ihm wurde es warm. Was dachten sie von ihm und würden sie ihn bestrafen? Er hatte davon gehört, dass einige Rekruten unter heftigen Schlägen gestorben sind, ehe sie überhaupt das erste Mal auf ein Schlachtfeld gehen konnten. Blühte ihm dasselbe? Hatte die Frau ihn nicht selber bestrafen wollen, sondern ihn weitergereicht?

„Jetzt werde mal nicht gleich weiß“, sagte der Mann und der Schalk in seinen Augen wurde intensiver. „Wir haben die Aufgabe, aus dir einen Soldaten zu machen und dich nicht in Hackfleisch zu verarbeiten. Wenn du dich also nicht ganz so dumm anstellst, dann wirst du es überstehen.“ Er kniff die Augen zusammen. „Wie lautet eigentlich dein Name, Bursche?“

„Gwe-Gwelan Flinkhand“, antwortete Gwelan und dieses Mal konnte er nicht das Zittern aus seiner Stimme verbannen. Er wurde rot.

Der Soldat hob abermals eine Augenbraue. „Flinkhand? Du bist also dieser Dieb, der seit Jahren Creudars unsicher macht. Da hast du dir aber viele Feinde bei den feinen Herrschaften gemacht. Aber mach dir darüber keine Sorgen, du bist jetzt einer von uns und wir werden auf dich aufpassen, dass die feinen Affen dich in Ruhe lassen!“

Diese Worte verursachten eine große Wärme in Gwelan, obwohl er nicht wusste, wieso. Noch nie hatte jemand zu ihm gesagt, dass er zu jemand gehörte, oder dass jemand auf ihm aufpassen würde. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch erschien ein zweiter Mann am Tor. Dieser trug im Gegensatz zu den Ersten, kein Rüstzeug, doch es war leicht zu erkennen, dass er eine hohe Stellung haben musste. Der erste Mann stellte sich strammer hin und salutierte.

„Kommandant!“

Der Neuankömmling nickte leicht zu den Ersten zu und wandte dann seine Aufmerksamkeit zu Gwelan, der wieder von Nervosität heimgesucht wurde. Es kam ihm vor, als würde dieser Mann ihn bis ins Herz blicken.

Minuten verstrichen, ohne dass der Mann etwas sagte und ihn stattdessen nur schweigend betrachtete. Dann seufzte er tief und sah den ersten Mann wieder an.

„Hauptman Gorden! Kümmert euch um den Burschen. Besorgt eine Ausrüstung für ihn und stellt ihn dann Zakarn vor. Er soll ihn der zweiten Gruppe heute Nachmittag so richtig rannehmen!“

Der erste Mann nickte und salutiert, und der Kommandant sah wieder zu Gwelan. „Willkommen in der Armee! Ich werde es dir nur einmal sagen, also höre gut zu: Wir mögen keine Diebe, und wenn du auch nur einmal etwas entwendest, dann wirst du hingerichtet. Die Rechte Hand hat dir eine Chance gegeben und du wirst nur die eine haben, habe ich mich verständlich ausgedrückt?“

Gwelan nickte, doch dies schien den Mann nicht zu gefallen.

„Ich habe gefragt, ob ich mich verständlich ausgedrückt habe, Bursche!“

„Ja, Sir“, rief Gwelan und war erleichtert, dass der Kommandant zufrieden nickte. Dann drehte er sich um und war im Inneren der Kaserne verschwunden. Zurück blieb Gwelan und der Hauptmann. Dieser klopfte den Jungen auf dem Rücken.

„Das wird noch. Pendril Fotgarn ist ein guter Kommandant und sehr gerecht. Wenn du all das machst, was man dir aufträgt, dann wird er keinen Grund haben sich zu beschweren. Ich selber heiße Harkon Gorden und bin im Rang eines Hauptmannes. Du wirst der zweiten Gruppe der Rekruten eingeteilt werden, sodass ich dein Vorsteher bin. Was bedeutet, wenn du Mist braust, ich diesen wegschaufeln darf.“ Sein Gesicht wurde etwas finster. „Und wenn dies geschieht, dann wird deine Strafe dafür schlimmer sein, als meine. Verstanden?“

„Ja, Sir“, sagte Gwelan und sah, dass der Schalk wieder in den Augen des Mannes trat.

„Gut! Dann wollen wir mal schauen, ob wir eine passende Ausrüstung für die bekommen.“ Er beäugte Gwelan. „Du siehst mager aus, aber dass werden wir in den nächsten Tagen ändern. Andererseits siehst du auch flink aus … mal schauen, vielleicht werde ich dafür sorgen, dass du ein Späher wirst.“ Sein Blick wurde nachdenklich. „Schon mal mit Waffen gekämpft?“

Für einen Moment dachte Gwelan nach und kam sich dann auf einmal sehr dumm vor. „Nein … dass heißt, ich habe zwar einen Dolch, aber ich versuche eher das Weite zu suchen, als zu kämpfen.“

Harkon nickte verstehend. „Ja … gegen die Stadtgarde mit einem Dolch anzutreten wäre Selbstmord.“ Sein Blick wurde wieder belustigend. „Und nur mit einen Dolch gegen die Rechte Hand, ist sogar noch wahnsinniger, aber ich vermute, dass dies nicht deine Absicht gewesen war. Denn es gibt einen Unterschied, zwischen Heldenmut und Dummheit.“

Gwelan wurde rot. „Ich wusste nicht, wer sie war“, murmelte er und sorgte dafür, dass er wieder rot wurde.

Harkon lachte laut auf. „Ja, dass haben wir uns schon gedacht. Nun denn, diesen Fehler wirst du bestimmt nicht wiederholen.“ Er ergriff Gwelan an der Schulter und schob ihn in Richtung Tor. „Dann wollen wir dir dein neues Zuhause zeigen!“

In dem Moment, wo Gwelan durch das Tor ging, hatte er das Gefühl, etwas hinter sich zu lassen. Und zwar sein Lebe als Dieb und irgendwie wusste er nicht, was er davon halten sollte. Er hatte Angst vor dem Ungewissen, doch gleichzeitig spürte er, dass er sich gut mit Harkon verstehen würde.

Er scheint nett zu sein und wenn er mein Vorgesetzter ist, dann kann es ja nicht allzu schlimm werden.

 

Sieben Kerzenstriche später war sich Gwelan nicht mehr so sicher. Er lag auf dem Rücken und seine Brust schmerzte dort, wo er kurz zuvor das Ende eines Stabes gespürt hatte. Seine Muskeln schmerzten und er hatte das Gefühl, als wäre er tagelang gelaufen.

Gut, Tage waren es nicht gewesen, aber nachdem Harkon ihn seine Ausrüstung und sein Nachtlager, dass er mit sieben anderen Rekruten teilen würden, gezeigt hatte, musste Gwelan sich bei diesen Zakarn melden, der für die Ausbildung der Neulinge verantwortlich war. Zakarn war ein kräftiger Mann und besaß nur noch sein rechtes Ohr. Dass linke wurde ihn bei seinen Kampf angerissen und der Mann war stolz darauf, denn das erste was Gwelan von dem Mann gehört hatte, war dieses Ereignis. Dann hatte Zakarn ihn so betrachtete, als wäre er ein Pferd, dass er kaufen wollte und dann den Kopf geschüttelt und Gwelan aufgetragen, dass er erst einmal auf dem Übungsplatz Runden laufen sollte, wobei er dem Jungen zwei Gewichte gegeben hatte.

Gwelan hatte zu laufen begonnen, während die anderen Rekruten Übungen mit einen Stab machten. Er war neidisch auf diese, doch sagte nichts und rannte stattdessen. Im Rennen war er gut. Jedenfalls hatte er das gedacht, doch nach kurzer Zeit war er sich nicht mehr so sicher gewesen. Durch die zusätzlichen Gewichte waren seine Arme immer schwerer geworden und seine Beine hatten schon nach kurzer Zeit begonnen, sich bei ihm zu beschweren. Dann, Gwelan wusste nicht mehr, nach wie vielen Runden, hatte Zakarn gemeint, dass er sich einen Stab suchen und zu den anderen Rekruten gesellen sollte.

Nun hatte Gwelan gedacht, dass die Übung richtig anfangen würde, doch kaum hatte er seine Waffen in den Händen gehalten, hatte Zakarn begonnen, auf ihm einzudreschen. Gwelan war so überrascht gewesen, dass er nicht schnell genug reagiert hatte und deswegen mit voller Wucht die Schläge einstecken musste. Der letzte Schlag hatte ihn dann auf dem Boden geworfen.

Zakarn sah ihn an und schüttelte abermals den Kopf. „Da haben wir eine Menge zu tun“, sagte er und hielt Gwelan die Hand hin, um ihm aufzuhelfen. Dann sah er sich um und zeigte auf einem Burschen, der fast gelangweilt dastand. „Du, Lucien, komm her. Gwelan wird dein neuer Partner sein. Ich will, dass du dich um ihn kümmerst und dafür sorgte, dass er die wichtigen Handgriffe lernt. Sonst wird er nicht lange bei uns überleben.“

Der Junge, Lucien, salutierte und trat dann zu Gwelan, welcher versuchte zu erkennen, ob Lucien wegen diesen Auftrag wütend war. Doch es gelang Gwelan nicht, in seinen Blick etwas zu erkennen. Zakarn wandte sich zu einer anderen Gruppe und Gwelan blieb nichts anderes übrig als das nachzumachen, was Lucien ihn zeigte.

Irgendwie hatte ich es mir anders vorgestellt, sagte er zu sich und eine hämische Stimme antwortete ihm. Was denn? Dachtest du, dass du sofort auf ein Schlachtfeld darfst und dann den Feind besiegst? In was für einer Fantasiewelt lebst du denn?

Er gab der Stimme recht. Er musste realisitischer rangehen und durfte es sich nicht leisten, negativ aufzufallen. Er hatte eine neue Chance bekommen und wollte aus seinem neuen Leben etwas machen. Und zwar wollte er nicht mehr als den Dieb: Flinkand bekannt sein, sondern als den Soldaten Gwelan, der der jerarchen Armee zum Sieg verhalf. Aus diesem Grund gab er sich mehr Mühe und hörte Lucien aufmerksam zu, während die Übung ihren Fortgang nahm

Am Ende des ersten Tages war Gwelan so geschafft, dass er kaum etwas zum Abendbrot runter bekam und als er dann in sein Bett fiel, schlief er auch sofort ein.

 

Kapitel Fünfzehn

Geachtete Familie

 

Die Familie Thorn? Von allen Adelsfamilien der Jerarer sind sie am meisten geachtet und auch gefürchtet. Immerhin ist die Rechte Hand ein Mitglied dieser Familie.

 

Clarisse Oysen,

jerarische Fürstin in Drukard,

Frühling im Jahre 2597

 

Es früh am Morgen, als eine Kutsche die Stadt Creusan verließ und den Weg in Richtung Osten einschlug. Die Kutsche wurde von vier weißen Stuten gezogen, welche gepflegtes Fell besaßen und ein stürmisches Gemüt besaßen. Jeder konnte erkennen, dass diese Tiere aus einer guten Züchtung waren und deswegen zu einer wichtigen Familie gehören mussten. Auch die Kutsche war ein Anzeichen dafür, denn sie prunkvoll aus und dennoch besaß sie keinen überbewerteten Tand, wie viele andere Wagen von reichen Adelsfamilien.

Lorantha Thorn sah aus der Kutsche und runzelte die Stirn, während sie nachdenklich ins Freie schaute. In der einen Hand hielt sie diesen Bericht für ihre Schwester und in der anderen ein kleines Paket, das sie eine ihrer Nichten schenken wollte. Während die Sonne langsam aufging, suchte sich die Kutsche ihren Weg durch einen großen Wald und die Pferde verloren dabei nicht an Geschwindigkeit. Die Rechte Hand hatte dem Kutscher sehr deutlich gemacht, dass sie auf dem schnellsten Weg zu den Anwesen der Familie Thorn wollte und der ältere Mann würde sich hüten, ihren Zorn auf sich zu lenken.

Die Frau lehnte sich im Wagen zurück und dachte nach. Sie war immer noch wütend, über das Erscheinen von Zor`zein und seine Einstellung, dass das Volk der Jeraren von dem König Draken abhängig war. Abermals malte sie sich in Gedanken aus, was sie diesen Mann antun würde, wenn die Zusammenarbeit nicht mehr notwendig sein und Lorantha endlich freier in ihrem Handeln sein würde.

Nicht mehr lange, wenn wir unseren Aufstand noch in diesem Jahr starten wollen.

Ihr gefiel zwar nicht der Gedanke, dass es inmitten des Winters sein sollte, doch dies würde nur bedeuten, dass andere Herrscher nicht damit rechnen würden. Und der Überraschungsmoment musste auf ihrer Seite sein.

Zuerst werden wir den schwachen König von Creud`van stürzen und das Land vollkommen unter die Herrschaft der Jeraren stellen. Danach werden wir nach und nach die anderen Ländern wieder in unseren Besitz bringen.

Lorantha war klar, dass dies ein langer und schwieriger Prozess werden würde, doch seit über zweitausend Jahren, wartete das Volk darauf, dass sie sich endlich erheben konnten. Sie wollten ihre Freiheit haben und nicht mehr unterdrückt leben.

Als die Kutsche den Wald verließ, erschien auf der rechten Seite des Weges eine hohe Mauer und Lorantha wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde. Sie sah auf die Mauer, die ihr Anwesen umgab und Vorfreute kam in ihr auf. Sie freute sich auf die Begegnung mit ihren Nichten und auch auf ihre Schwester, trotz, dass sie immer wieder Meinungsverschiedenheiten hatten.

Der Kutscher hielt die Pferde vor einem großen Tor in der Mauer an und zwei Wächter stellten sich strammer hin, ehe sie sich daran machten, das Tor zu öffnen. Sie hatten an der Kutsche erkannt, wer gerade angekommen war und keiner der beiden Männer wollte den Zorn der Rechten Hand sich auf sich laden.

Ihr Grinsen gefror, als sie durch das Tor fuhr und erkannte, dass einige Koniferen auf dem Anwesen nicht richtig gepflegt waren. Bei ihr mussten alle grünen Pflanzen genauesten zugeschnitten sein, doch dieses Mal hatte es der Gärtner nicht wirklich geschafft. Sie kniff die Augen zusammen und vermerkte sich innerlich, dass sie einen neuen einstellen wollte. Was mit dem alten geschah, wusste sie noch nicht, doch sicherlich würde sich etwas für den Versagen finden lassen.

Die Kutsche erreichte ein großes Gebäude, das mehrere Stockwerke besaß und deren Haustür man über eine große Treppe erreichte. Als die Kutsche hielt, eilte ein Diener aus dem Haus und öffnete die Tür, sodass Lorantha keinen Handgriff selber erledigen musste. Sie stieg aus und ignorierte dabei die helfende Hand des Dieners, der etwas nervös aussah. So wie alle ihre Diener, wenn sie zum Anwesend zurückkam.

Und dabei bin ich noch die Freundlichere. Miriam ist diejenige, die sich mit Folter und Giften beschäftigte.

Lorantha warf den Diener einen scharfen Blick zu, doch sagte nichts zu ihm. Sie ging die Treppe hinauf und oben angekommen, öffnete sich die Tür, ohne dass sie die Klinge berühren musste. Sie trat in das Haus ein.

„Willkommen, Herrin“, sagte eine leicht zitternde Stimme und Lorantha erkannte die Zofe von einer ihrer Nichten. Diese sah sie mit ängstlichen Augen an, als würde sie eine Strafe erwarten. Lorantha dachte nach, wem dieses halbe Kind noch einmal diente. Ist es Arianne oder Tanata? Nein, ich glaube es ist Khileisa. Ich muss mit dem Kind mich mal unterhalten. Auch diese Zofe entgegnete sie nichts, sondern wandte sich an den Hofmeister, der mit schnellen Schritten auf sie zukam.

„Andras, ich vermute meine Familie ist gerade bei dem Essen“, fragte sie und übergab ihren Mantel der Zofe, die zitternd neben ihr stand. Doch kaum hatte sie den Mantel, war sie verschwunden und ein erleichteter Ausdruck stand in ihren Augen. Lorantha beachtete sie nicht mehr.

Der Hofmeister, Andras Reysol, nickte und schien keine Angst zu haben. Der alte Mann wusste, dass er seine Aufgaben mit Zufriedenheit erledigte und brauchte deswegen nicht den Zorn seiner Herrinnen zu fürchten. „Ja, Herrin. Herrin Miriam sagte, dass ich sie zu ihnen geleiten soll.“

Lorantha hob eine Augenbraue als sie das hörte und schüttelte dann den Kopf. „Du hast sicherlich anders zu erledigen. Ich werde den Weg zum Speisezimmer auch alleine finden können“, sagte sie und hielt dann kurz inne, ehe sie mit harter Stimme fortfuhr. „Ich will, dass wir einen neuen Gärtner bekommen. Der alte soll in Gewahrsam genommen werden, bis ich mir etwas für ihm ausgesucht habe.“

Andras nickte und verbeugte sich, ehe er die Herrin alleine ließ und sich zurückzog.

Wie Lorantha es schon gesagt hatte, fand sie den Weg schnell und ohne Hilfe. Das Speisezimmer befand sich im ersten Stock und war eines der größten Zimmer, denn hier fanden auf manchmal Bälle oder Versammlungen statt. Dies war eine für Lorantha lästige Aufgabe, doch dafür gefiel es ihrer Schwester mehr, sodass es Miriam Thorn war, die die Veranstaltungen organisierte.

Ohne anzuklopfen trat Lorantha in das Zimmer und erkannte, dass an der einen Wand ein großer Tisch stand. An diesen saßen eine Frau, drei Mädchen im unterschiedlichen Alter und ein Junge. Um den Tisch selber standen Diener, die auf Anweisungen wartete und auf dem Holz unzählige Platten mit Speisen.

„Lor“, rief die Frau aus und erhob sich vom Tisch. Sie eilte auf Lorantha zu und umarmte sie heftig. „Schön, dass du auch mal wieder daheim bist. Du bist viel zu oft und zu lange unterwegs.“

Obwohl Lorantha Umarmungen überhaupt nicht leiden konnte, ließ sie es geschehen, wie ihre Schwester sie umarmte, und wartete einige Herzschläge, ehe sie sich aus der Umarmung wandte. Sie sah sich mit festem Blick im Raum um. Einige Diener waren aufgesprungen und holten ein neues Gedeckt für den Tisch. Sie liefen hektisch umher, als würden sie ihren Zorn fürchten. Lorantha trat an den Tisch und sah, dass Miriam sich wieder auf ihren Stuhl niedergelassen hatte. Auf den Teller ihrer Schwester lag eine halbe Forelle und Lorantha fragte sich, wie man Fisch zum Frühstück essen konnte. Dies war eine der Sachen, die sie bei ihrer jüngeren Schwester überhaupt nicht verstand. Ihr Blick ging dann zu den Kindern, welche ihre Nichten und Neffe waren.

Direkt neben Miriam auf der rechten Seite saß die älteste Tochter. Ihr Name war Arianne und sie hatte wie immer ihr ernstes Gesicht aufgesetzt. Im Gegensatz zu ihren Geschwistern und Mutter, trug sie ihr Haar kurz und trug auch Kleidung, die eher einen Jungen als einem Mädchen aus dem reichen Hause passen würde. Doch Arianne war nicht so ein Mädchen, das in schicken Kleidern rumlaufen wollte. Sie selber wollte praktische Sachen tragen, und da sie jeden Tag Waffentraining hatte, war dies auch verständlich. In Lorantha stieg stolz auf, denn Ariannes Ziel war es, auch in der Armee als Offizier einzutreten, auch wenn Miriam dies überhaupt nicht gefiel.

Neben ihr saß Tanata, die zweitälteste. Ihr Haar war ein wenig länger als Ariannes und sie trug ein Kleid, doch Lorantha war sich sicher, dass sie es nur tat, weil sie ihre Mutter nicht verärgern wollte. In Geheimen beneidete Tanata ihre ältere Schwester, doch sie war zu gut erzogen, um dies laut auszusprechen. Auch bei ihr kam in Lorantha Stolz auf. Dieses Mädchen lernte gerade alles, was es brauchte, um ein guter Anführer zu sein und Lorantha war sich sicher, dass ihre Nichte eines Tages ihren Platz einnehmen würde. Die Rechte Hand des verborgenen Herrschers zu sein, war nicht besonders einfach und man musste mit eiserner Hand regieren. Etwas, was Tanata schon sehr gut konnte und in ein paar Jahren würde ihr wissen sehr umfangreich sein.

Als Lorantha dann zu ihrer jüngsten Nichte blicke, verharrte sie kurz. Khileisa zählte dreizehn Jahre und sah sehr blass aus. Die Rechte Hand fragte sich, ob ihre Nichte krank sei, doch dies verwarf sie wieder. Wenn Khileisa wirklich krank wäre, dann würde Miriam sie nicht aufstehen lassen. In dieser Hinsicht war Miriam sehr beschützerisch gegenüber ihren Kindern. Khileisa hatte von allen Kindern das hellste Haar und ihre Augen waren ebenfalls am hellsten. Etwas, was selbst bei den Jeraren selten war, sodass die jüngste Tochter für Miriam einen besonderen Wert hatte. Sie trug von allen Kindern ihr Haar am längsten, welches an seiner Seite neben dem Gesicht einen geflochtenen Zopf besaß. Normalerweise fand Lorantha dies immer schön, doch mit hellen Haaren, hellen Augen und nun mit bleichem Gesicht, sah ihre Nichte eher unheimlich aus.

Wer weis was ihr fehlt!

Zum Schluss sah Lorantha ihren einzigen Neffen an. Er war gerade erst sechs geworden und war das jüngste Kind in der Familie. Lorantha selber nannte ihn einen Spätkommer. Zum einen, weil ihre Schwester ihn spät bekommen hatte und zum anderen, weil Lorantha das Gefühl hatte, dass der Junge immer lange brauchte, um etwas zu erledigen. Er hieß Lawarn und war trotz seiner Langsamkeit, für seine Schwestern immer ein kleiner Sonnenschein. Aus diesem Grund verhätschelten ihn auch seine Schwestern und Miriam musste schon mehrfach eingreifen, um dies zu unterbinden.

Loranthas Blick ging wieder zu ihrer Schwester, und zu dem Stuhl, der links neben ihr stand. Er war frei, doch in der letzten Minute war ein neues Gedeck aufgelegt worden. Die Rechte Hand seufzte, ehe sie sich niederließ.

Arianne sah kurz zu ihren Schwestern, ehe sie sich zu Lorantha wandte.

„Wir freuen uns, dass du wieder da bist, Tante“, sagte sie und in ihrem Blick war zu lesen, dass sie es sehr ernst meinte.

Die Frau nickte und wartete dann darauf, dass die Diener ihr heißen Ocrè einschenken würden. Danach ergriff sie ein warmes Brötchen und begann mit dem Frühstück. Für Geschäftliches würde auch nach dem Essen genügend Zeit sein.

 

„Geht es Khil nicht besonders gut“, fragte Lorantha, als sie mit ihrer Schwester alleine war, und sah Miriam an.

Ihre Schwester ging zu einem Schrank, suchte etwas in ihm und zog dann ein Buch, das in Leder gebunden war, hervor. Erst dann wandte sie sich zu ihrer Schwester.

Bei jeden anderen würde Lorantha sofort ihren Ruf gerecht werden und denjenigen strafen, dass er sie so lange warten ließ, doch bei ihrer Schwester machte sie eine Ausnahme. Jedenfalls dann, wenn sie alleine waren und niemand anderes anwesend war, der ein Gerücht verbreiten konnte.

„Ich weis es nicht“, antwortete Miriam etwas verspätet und sah nachdenklich drein. „Sie klagt über Kopfschmerzen und Übelkeit seit gestern Mittag. Ich nehme an, dass ihr Kaninchen nicht schlecht gewesen war, denn uns anderen geht es gut. Der betroffene Koch wurde schon bestraft und ich bin mir sicher, dass ihm nicht noch einmal so einen Fehler unterlaufen würde. Ich denke, dass es morgen Khil wieder besser gehen wird.“

Lorantha nickte, doch als sie an das Gesicht ihrer jüngsten Nichte zurückdachte, war sie sich unsicher. Doch es war Miriam, die sich am besten mit Gesundheit auskannte, sodass sie nichts dagegen sagte. Sie holte den Bericht hervor, den sie von Zor`zein bekommen hatte.

„Hier ist eine Aufgabe für dich … von dem fremden König“, sagte sie und betonte ihre Worte so, dass es Miriam auffallen musste, was sie davon hielt. „Soweit ich weis, wurden Wächterinnen gefangen genommen und nun will er, dass du Informationen aus ihnen herausholst und sie brichst.“

Bei diesen Worten trat ein Leuchten in Miriams Augen, dass Lorantha überhaupt nicht gefiel. Sie selber mochte auch keine Wächterinnen und war ebenfalls der Meinung, dass die Welt ohne sie besser dran wäre, doch der Fanatismus, mit dem ihre Schwester diese Frauen quälte, war ihr zuwider. Dennoch übergab sie schweigend ihrer Schwester den Bericht und war froh, diesen endlich loszuwerden. Sie unterdrückte das Gefühl, sich ihre Hände abwischen zu müssen.

„Danke, Lor. Ich werde mich darum kümmern.“ Miriam legte den Bericht auf dem Tisch und öffnete dann das Buch, das sie herausgesucht hatte. Sie hielt es ihrer Schwester hin. „Ich habe herausgefunden, dass unsere Leute in Ardask in Schwierigkeiten sind. Immer mehr Leute verschwinden und keiner weis so richtig, woran das liegt. Ich denke, dass wir deswegen in einigen Tagen eine Versammlung abhalten sollten. Ich selber habe schon die Einladungen verschickt und alle haben zugesagt.“

Wut kam in Lorantha auf, als sie dies hörte und zwar aus zwei Gründen. Zum einen, gefiel es ihr überhaupt nicht, dass wichtige Mitglieder ihres Volkes verschwanden und niemand wusste, woran das lag und zum anderen, das ihre Schwester wieder eine Versammlung einberufen hatte. Zwar war Lorantha dankbar, dass sie sich nicht darum kümmern musste, doch das änderte nichts an ihrer Meinung, die sie gegenüber manch andere Personen hatte, die zur Versammlung erscheinen würden.

„Wann findet sie statt“, fragte Lorantha und nahm das Buch ihrer Schwester ab. Sie las einige Zahlen und Bemerkungen, die dahinter standen.

„In sechs Tagen … ich vermute, dass du heute wieder in die Stadt zurückfahren willst?“

Deutlich konnte Lorantha die eigentliche Frage vernehmen, die lautete, ob sie in zwei Tagen auf dem Anwesen sein würde, wenn Khileisa ihren vierzehnten Geburtstag feiern würde. Die Rechte Hand dachte an ihr Arbeitszimmer in Creusen und an den Stapel Papiere, die sie durchgehen musste. Nun, da auch eine Versammlung anstand, würde noch mehr Arbeit auf sie zukommen.

„Ja, aber ich werde versuchen übermorgen wieder da zu sein“, sagte sie und klappte das Buch zu. „Die Leute, die verschwinden … weis das Blut etwas darüber?“

Abermals machte Lorantha an ihren Ton deutlich, was sie von dem Schwarzen Blut hielt, doch wieder zuckte Miriam nicht zusammen und tat so, als wäre nichts. Sie schüttelte den Kopf.

„Nein. Ich habe schon Anfragen nach Valèax geschickt, doch selbst durch das Reisen durch den Dreibogen wird es noch dauern, ehe Antwort zurückkommt. Ich hoffe, dass ich zu der Versammlung mehr wissen werde. Ich habe auch Zor`zein und Vlar`zark eingeladen.“

Immer mehr gefiel Lorantha der Gedanke an dieser Versammlung nicht, doch sie sagte nichts. Stattdessen fragte sie.

„Weist du, wo sich gerade Arianne aufhält?“

Miriams Blick wurde etwas düster, doch sie nickte. „Ja … sie ist auf dem Hof und wird wahrscheinlich wieder mit Jarlen trainieren.“ Sie fixierte ihre Schwester mit einem vorwurfsvollen Blick. „Warum musstest du sie ermutigen, das Kämpfen zu lernen. Wieso soll sie Offizierin werden? Der Krieg wird doch hoffentlich vorbei sein, wenn sie alt genug ist.“

Da war sich Lorantha überhaupt nicht sicher, doch sie sagte dies nicht laut. „Jemand aus der Familie sollte in der Armee sein. Schon alleine, um unsere Präsenz dort zu zeigen. Außerdem ist es Ariannes Wunsch.“

„Ja … und damit steckt sie Tanata an“, fuhr Miriam auf und sah plötzlich wütend aus. Diese Aussage überraschte Lorantha sehr. „Seit wann?“

„Offen seit ungefähr einem halben Jahr, doch im Geheimen? Weist du, dass sich Arianne und Tanata nachts treffen, damit Arianne ihrer kleinen Schwester zeigen kann, was sie am Tag gelernt hat?“ Miriam hob ihre Arme verzweifelt. „Ich denke, sie will irgendwann deine Nachfolgerin werden, Lor. Warum muss sie da unbedingt das Kämpfen lernen?“

Dies war eine irrsinnige Frage von Miriam, denn Lorantha hatte in ihrer Kindheit auch den Schwertkampf erlernt. „Was ist so schlimm daran, Miriam. Wenn Tanata sich verteidigen will, dann soll sie es doch lernen. Sie wird nicht zur Armee gehen … dass wird Ariannes Aufgabe sein.“

Der finstere Blick in Miriams Augen verschwand nicht, doch sie atmete tief durch. „Das hoffe ich sehr … wie gesagt, sie wird auf dem Hof sein.“ Sie sah ihre Schwester an. „Wirst du zum Mittag bleiben, oder nach deinem Gespräch mit Arianna wieder verschwinden?“

Die Frage klang nicht Vorwurfsvoll und dennoch hatte Lorantha das Gefühl einen zu hören. Sie nahm dies ihrer Schwester auch nicht übel, denn in den letzten beiden Jahren war sie die meiste Zeit in Creusan gewesen und sehr selten hier im Anwesend. Sie konnte sich auch nicht mehr erinnern, wann sie das letzte Mal hier übernachtet hatte. Sie seufzte. „Ich werde zum Essen bleiben, doch danach muss ich wieder los.“ Sie sah aus dem Fenster, das sich in dem Raum befand, und erkannte die Koniferen, die ihr ein Dorn im Auge waren. Sie wandte sich wieder zu ihrer Schwester. „Übrigens, ich habe Andras gesagt, dass wir einen neuen Gärtner haben wollen. Der Alte ist nicht gewissenhaft genug.“

Dies schien Miriam zu überraschen und dann wurde sie wütend. „Was soll das? Du kannst doch nicht einfach unseren Gärtner austauschen. Seine Frau wird in wenigen Tagen ihr Kind bekommen, da habe ich ihm gesagt, dass er seine Arbeit lockerer angehen soll. Wenn dir also etwas nicht gefällt, dann wende dich an mich und nicht an ihm.“

Nun lag es an Lorantha, überrascht dreinzuschauen und sie hob fragend eine Augenbraue.

„Was?“ Miriam funkelte sie an. „Ich kann auch nett sein, wenn es erforderlich ist. Immerhin verstehe ich, wenn seine Frau ihn an ihrer Seite haben will.“

Lorantha zuckte mit den Schultern. „Bitte … dann sag Andras, dass sich der Befehl geändert hat. Aber wenn die Geburt vorbei ist, dann will ich, dass der Garten wieder auf Vordermann gebracht wird.“

Miriam nickte.

Lorantha verließ das Zimmer und machte sich auf dem Weg zu dem Hof. Sie wollte unbedingt ihr kleines Paket ihrer ältesten Nichte überbringen und sich danach ausruhen. Wenn sie schon bis zum Mittag bleiben musste, dann wollte sie sich Zeit nutzen, um mit ihrer Familie zusammen zu sein. Wahrscheinlich würde sie Khileisa aufsuchen und versuchen herauszufinden, was ihr wirklich fehlte.

 

Mit voller Konzentration blickte Arianne Jarlen an und hielt ihr Übungsschwert schräg vor sich. Sie betrachtete ihren Lehrmeister und überlegte, wie sie es am besten anstellen würde, um ihn dieses Mal doch entwaffnen zu können. Sie wusste, dass es nicht einfach werden würde, doch dieses hatte sie es sich vorgenommen. Sie atmete tief durch.

Die Ruhe ist das wichtigste. Verbinde dich mit ihr; lass all deinen Ärger von dir und mache der beruhigenden Leere in deinem Körper Platz. Atme tief und ruhig, versuche nie wütend zu werden und lasse deinen Gegner den ersten Schritt machen. Beobachte ihn und lerne aus deinen eigenen Fehlern, auch wenn du im Recht warst. Spüre, wie du das Schwert führst und nicht umgekehrt. Du bist der Herr von deiner Klinge, also zeige dies auch deinem Schwert. Die Ruhe tief in dir ist es, das dir zum Sieg verhilft, denn Unruhe bringt nur Unglück.

Deutlich hörte sie die Stimme ihres Lehrmeisters in ihren Gedanken und versuchte den Anweisungen nachzukommen. Sie spürte, wie immer mehr Ruhe in ihr aufkam und alle anderen Gefühle verdrängte. Es war so, als würde eine Leere in ihr entstehen. Eine Leere, die sie nicht ablenken konnte und …

»Arianne! Konzentriere dich besser, es sei denn du willst heute gegen deinen Lehrmeister verlieren. Dies kann ich mir aber nicht vorstellen.«

Die junge Frau fuhr ungewollt zusammen und drehte sich blitzschnell um. Es war nicht ihr Lehrer gewesen, der gesprochen hatte, sondern ihre Tante Lorantha Thorn. Dies trat auf dem Hof und kam immer Näher. Die gesammelte Ruhe tief in Arianne verschwand mit einem Mal und sie wurde nervös. Warum war ihre Tante hier? Würde sie zuschauen wollen?

Jarlen, ihr Lehrmeister verbeugte sich grüßend vor Lorantha und diese nickte grüßend zu ihm, ehe sie sich an Arianne wandte. „Du musst dich richtig konzentrieren, sonst wirst du einen Fehler machen. Die Ruhe in sich zu rufen ist gut, doch sie wird dir nicht helfen, wenn du dich zu sehr auf sie konzentrierst. Deswegen solltest du nicht so verbissen um diese Ruhe kämpfen“, sagte ihre Tante und lächelte sie leicht an. „Und nun möchte ich sehen, wie du gegen Jarlen bestehst.“

Arianne schluckte und nickte. Wenig später stand sie vor ihrem Lehrmeister und wusste, dass es jetzt ernst werden würde. Sie musste einfach gewinnen. Sie wollte sich nicht vor ihrer Tante blamieren, sondern zeigen, dass sie es wert war, in die Armee de Jerarer einzutreten. Unsicher blickte sie Jarlen an, dieser nickte kaum merklich und gab zu verstehen, dass es losgehen konnte. Die junge Frau nickte, nahm ihr Schwert senkrecht vor sich und trat den rechten Fuß ein wenig nach vorne. Dann verlagerte sie ihr Gleichgewicht nach hinten, verharrte kurz und drehte sich blitzschnell nach vorne, wobei sie ihre Klinge nach vorne stieß. Jarlen schwang sich leicht nach links und die Klinge rauchte in die Luft. Arianne fluchte leise auf und drehte sich um, wobei sie plötzlich eine Klinge auf sich zurasen sah und nach hinten taumelte. Sie fluchte abermals und konnte nur mit Mühe ihr Schwert hochreisen. Ein schepperndes Geräusch ertönte und Arianne musste sich gegen ihre Klinge stemmen, um nicht abermals nach hinten zu taumeln.

Finde einen Schwachpunkt … Jarlen muss einen haben!

Dies war eine der wichtigen Regeln, die sie von ihren Lehrmeister gelernt hatte. Und zwar, dass jeder eine Schwachstelle besaß und man seinen Gegner nur genau betrachten musste, um diese zu finden. Während sie über diese Frage nachdachte, vergaß sie die Worte ihrer Tante und dass sie ihre Konzentration nicht verlieren durfte. Deswegen sah sie nicht den neuen Schlag von Jarlen kommen und die flache Seite des Holzschwertes knallte gegen ihren Arm.

Arianne stöhnte auf und wurde rot. Ihr Arm protestierte, doch sie verkrampfte ihr Griff um das Schwert, um es nicht fallen zu lassen. Sie wich einige Schritte zurück und verwarf alle Überlegungen. Vielleicht würde es helfen, wenn sie einfach drauflos schlug und so den Mann aus dem Konzept bringen würde?

Sie hob ihr Schwert und deutete mehrere Schläge an. Sie zuckte mit ihren Arm in die linke Richtung und Jarlen folgte diese, während sie jedoch inmitten des Schlages abbremste und dann nach rechts schlug. Zwar konnte Jarlen schnell genug ausweichen, doch so war er abgelenkt gewesen und sie konnte einen erneuten Angriff auf sie wagen. Plötzlich sah es so aus, als würde nicht mehr Jarlen die Oberhand haben, sondern Arianne und ihre Freude kam zurück. Sie würde sich doch nicht vor ihrer Tante blamieren und ihr zeigen, dass sie es Wert war, eine Thorn zu sein. Mit einem erneuten Schlag schaffte sie es, ihren Lehrmeister zu treffen und ihm entfuhr ein keuchendes Geräusch, als ihr Schwert gegen seine Brust knallte.

Arianne trat einige Schritte zurück und wartete.

Jarlen nickte bewundernd, riss sein Schwert um neunzig Grad herum, ging dabei in die Hocke.

»Du hast geübt!«, gab ihr Lehrmeister zu und wechselte sein Holzschwert in die linke Hand. Er deutete mit der rechten an, dass sie angreifen sollte.

Arianne nickte leichte und wollte der Aufforderung nachkommen, als ihre Tante den Kampf unterbrach. Sie wandte sich zu Jarlen.

„Ich muss sagen, ihr habt Arianne einiges beigebracht, Meister Jarlen“, sagte sie und der Mann nahm das Lob nickend zur Kenntnis. „Und ich bin mir sicher, dass Arianne noch weiter gerne gegen sie kämpfen würde, doch ich würde mich gerne mit ihr unterhalten … danach könnt ihr weitermachen.“

Der Schwertmeister nickte und verbeugte sich. Er ging zu dem Rand des Hofes, um Tante und Nichte Privatsphäre zu schenken.

Arianne sah ihre Tante an und fragte sich, was sie von ihr wollte.

Lorantha griff in ihre Tasche und holte ein kleines Paket hervor. „Ich war vor einigen Tagen auf dem Markt und habe etwas gefunden, dass dir bestimmt gefallen würde.“

Sie hielt es Arianne hin, welche das Paket neugierig annahm. Sie sah ihre Tante fragend an, ehe sie es öffnete. Hervor kam ein Kettenanhänger, der ein Schwert mit einem Kranich zeigte. Ariannes Augen begannen zu leuchten. Sie sah ihre Tante an.

„Danke … vielen, vielen Dank!“

Lorantha lächelte bei der Freude, doch sah dann ernst aus. „Du darfst aber nicht deine Mutter oder deine Geschwister zeigen. Dies würden es nicht verstehen … es ist unser Geheimnis!“

Arianne nickte. Ihr gefiel der Gedanke, dass sie ein Geheimnis hatte, dass sie nur mit ihrer Tante teilen würde.

Kapitel Sechszehn

Drei Kupferstücke

 

 

Das Spiel ist einfach und man braucht eher Glück als Können, um dieses zu gewinnen. Es gibt insgesamt vier Typen von Karten: Priester, König, Dame und Ritter. Jeder Spieler bekam neun Karten und muss dann diese dann zu bestimmten Reihen ordnen. Dafür kann er auf einmal beliebig viele Karten auf dem Tisch legen und neue bekommen, in der Hoffnung, dass diese besser sein. Sollte sie jedoch schlechter sein, ist es nicht mehr Rückgängig zu machen. Deswegen pass auf und verlasse dich nicht allzu sehr auf dein Glück.

 

Melarn Kursen,

jerarischer Soldat,

Winter im Jahre 2578

 

„Hey, Gwelan, willst du mitmachen“, fragte Lucien und deutete auf einen Stapel Karten, den er in der Hand hielt. Sein Gesicht strahlte Erwartung aus und er hatte eine Augenbraue fragend erhoben.

Gwelan sah auf die Karten und brauchte eine Weile, um zu verstehen, was sein Kamerad von ihm wollte. In den letzten Tagen hatte er immer etwas längerer am Abend gebraucht, denn er fühlte sich müde und kaputt. Das Training war hart und mehr als einmal hatte er sich gefragt, ob er die falsche Entscheidung getroffen hatte. Er musste früh aufstehen und dann begann das Training. Zwischendurch gab es eine kleine Pause, um zu Mittag etwas zu essen, doch dann ging es auch schon weiter bis spät abends, sodass er müde und erschöpft in sein Bett fiel, sobald Zakarn für den heutigen Tag Schluss machte.

Lucien, der immer noch mit ihm übte, meinte, dass sich dies nach einiger Zeit legen würde. Bei ihm selber war es genauso gewesen, doch Lucien war seit fast einem Jahr hier und sein Körper hatte sich an das harte Training gewöhnt.

Wenn Gwelan daran dachte, ein ganzes Jahr hier zu verbringen, verlor er noch mehr an Motivation. Diese jedoch kam immer wieder zurück, wenn er an den Blick von Lorantha dachte. Er wusste, dass diese ihn jagen und hinrichten würde, denn er zweifelte nicht an ihren Worten. Also biss er die Zähne zusammen und machte alles. Da Lucien immer noch auf eine Antwort wartete, schüttelte Gwelan den Kopf. „Geht nicht … ich habe kein Geld.“

Die drei Goldstücke, die er von der Rechten Hand bekommen hatte, waren für seine Ausrüstung aufgegangen und er selber besaß kein eigenes Vermögen. Was ja auch der Grund gewesen war, warum er sich ein Opfer gesucht hatte.

Ein falsches Opfer!

Lucien sah ihn enttäuscht an, doch dann erhellte sich sein Gesicht und er lächelte sein Lächeln, dass Gwelan immer sah, wenn sein Kamerad immer einen interessanten Plan ausheckte. Er winkte zwei andere Rekruten zu sich, die sonst immer mit ihm spielten, und sah dann zu dem ehemaligen Dieb.

„Ich mach dir ein Angebot, Gwelan“, sagte Lucien und sein Lächeln wurde intensiver. „Ich will wissen, was wirklich passiert ist, als du versucht hast die Rechte Hand zu bestehlen. Dabei meine ich nicht, all die Gerüchte, die es gibt, sondern die Wahrheit. Dafür werde ich dir auch einen Kupfer geben!“

Doranth und Kreith, die anderen beiden nickten und meinten, dass ihnen die wahre Geschichte auch ein Kupfer wert wäre und Gwelan erkannte, was Lucien beabsichtigte. Er hatte gesagt, dass er kein Geld zum spielen hatte und nun gab Lucien ihn die Möglichkeit etwas zu bekommen. Er musste dafür nur die Gesichte erzählen, die jeder hier in der Kaserne unbedingt wissen wollte. Dies war doch ein gutes Geschäft, oder?

Gwelan nickte langsam und richtete sich im Bett auf, wobei er sich an der Wand lehnte.

„Also … alles hat damit begonnen, dass ich auf dem Markt gegangen war, um mir ein Opfer auszusuchen. Dabei …“, begann er und merkte, dass seine Kameraden bald an seinen Lippen hingen.

 

„Schon gewusst, Harkon“, fragte Zakarn den Hauptmann und grinste dabei über das ganze Gesicht. „Die Geschichte, wie dein Neuster zu uns gekommen war, ist Gold wert. Insgesamt drei Stück, wie ich es vernommen habe.“

Harkon sah von seinem Schwert auf, das er gerade geschärft hatte und blickte seinen Kameraden und Freund an. Er runzelte die Stirn. „Woher willst du dass denn schon wieder wissen?“

Zakarns Grinsen wurde breiter. „Och … du weist doch wie das ist. Bei den Rekruten gibt es immer Gerede und wenn einer beginnt, dann fangen die anderen auch an und zum Schluss wird aus einer Fliege ein ganzes Rhinozeros.“ Der Trainer lachte leise auf. „Deswegen vermute ich, dass der Dieb seine Geschichte wohl für Kupfer verkauft hat und nicht Gold … sonst müsste man sich fragen, woher die Rekruten das Gold bekommen haben.“

Der Hauptmann schüttelte den Kopf. „Denen fällt immer etwas Neues ein, um ihre Freizeit zu verbringen. Dass sie jetzt schon anfangen ihr Geld für eine Geschichte auszugeben, ist wirklich verrückt. Ich würde so etwas nicht einmal bei einem Geschichtenerzähler machen … geschweige denn bei einen Amateur.“

„Sicher“, meinte Zakarn. „Aber es heißt auch, dass der junge Bursche nicht auf die Idee gekommen ist, sondern dieser Lucien. Er wollte Gwelan zu einem Kartenspiel überreden und musste aus diesem Grund dafür sorgen, dass der Dieb auch etwas zum setzen besaß.“

Harkon schnaubte. „Dieser Lucien hat Ideen. Irgendwann wird einer seiner Pläne ihn in große Schwierigkeiten bringen … und dabei meinte ich nicht, diesen Plan, wo er sich immer in der Küche schleicht und Backwaren entwendet.“

„Oh … du hast das auch schon mitbekommen?“ Zakarn holte aus seiner Taschen einen Zahnstocher hervor und begann damit zwischen seinen Zähnen zu puhlen. „Ich dachte, dass du dies noch nicht weist … immerhin weiß Pendril es noch nicht.“

Ein Lachen ertönte und Harkon stellte sein Schwert zur Seite. „Pendril weis es auch schon, aber da Lucien nachts immer die Bachwaren vom Vortag entwendet und diese sowieso meisten weggeschmissen werden, haben wir beschlossen nichts zu unternehmen. Jedenfalls solange nicht, bis er sich selber verrät. Dann wird er seine Strafe bekommen.“ Er sah dann den Trainer an. „Und wie macht sich der Dieb?“

„Er ist nicht schlecht und ich glaube, dass er einen riesigen Schiss vor der Hand hat. Er gibt immer sein Bestes, als hätte er Angst, dass der Drache hier auftauchen und ihn prüfen könnte. Auf der anderen Seite würde ich mich auch vor ihr fürchten, wenn ich versucht hätte, sie auszurauben. Ich frage mich, warum sie ihn hat davonkommen lassen.“

Harkon zuckte mit den Schultern. „Weis ich nicht, aber in den Brief soll angeblich stehen, dass sie den Mut von ihm gut fand und nicht will, dass ein Jerarer als Dieb auf den Straßen leben muss. Außerdem braucht unsere Armee immer viele, sodass jeder ein Gewinn für uns ist. Deswegen hat sie einfach das Beste für alle gemacht. Sie hat einen neuen Soldaten für ihre Armee gefunden und er hat ein Dach übern Kopf und genügend zu essen. Jeden ist damit gedient.“

„Ja, und nebenbei verdient er Kupfer, wenn er die Geschichte erzählt“, sagte Zakarn und betrachtete den Zahnstocher, auf dessen Ende etwas klebte. Er schnipste den Stocher weg und kramte einen neuen heraus. „Dennoch wird ihm das Lachen vergehen, denn ich kann mir diesen Burschen nicht wirklich als Kämpfer vorstellen. Er wird sein Wunder erleben, wenn er seine erste Schlacht schlägt.“

Harkon nickte. „Das werden sie alle. Vor allen diejenigen, die mit großem Stolz und Erwartungen in die Armee eingetreten sind.“ Er seufzte und erhob sich. „Doch jetzt ist es noch nicht soweit, sodass sie erst einmal in ihrer Vorstellung leben sollen.“

Sein Freund nickte und begann wieder zwischen seinen Zähnen mit dem neuen Stocher zu puhlen. Er spürte, dass noch Essenreste sich dort befanden und diese loswerden.

 

„Wieder verloren, mein lieber Gwelan“, sagte Lucien und legte seine Karten auf dem Tisch, sodass jeder sie sehen konnte. Diese zeigten drei Könige, drei Damen und drei Ritter.

Gwelan presste die Zähne zusammen. Seine anfängliche Freude, dass er nun endlich mitspielen konnte, ist sehr schnell geschwunden. Zwar hatte er die ersten beiden Spiele gewonnen und somit auch sechs weitere Kupferstücke, doch nun verlor er nur noch, sodass er nur noch vier Kupfer übrig hatte. „Noch ein Spiel?“

Obwohl seine innere Stimme sagte, er sollte Schluss für heute machen, hörte nicht auf diese Stimme und nickte. Dies Mal musste er unbedingt gewinnen. Es konnte doch nicht sein, dass einfach immer nur verlor.

Lucien grinste ihn an und sammelte die Karten wieder ein. Er mischte sie und begann sie von vorn auszuteilen. Gwelan nahm seine in die Hand und betrachtete sie.

Er hatte zwei Priester, zwei Könige, vier Damen und einen Ritter. Wieder nichts, fuhr es ihm durch den Kopf. Er hatte zwar jetzt die Möglichkeit, drei Karten wegzulegen und drei neue zu ziehen, doch was würde es ihm nützen? Zwar könnte er gewinnen, wenn er die beiden Priester und die Dame ablegen würde und dafür einen König und zwei Ritter ziehen würde, doch wie groß die Chance, dass dies ihm gelingen würde? Andererseits muss ich auch mal wieder Glück haben. Er sah auf und nahm ein Kupferstück. Dieses legte er in die Mitte des Tisches.

„Ich leg drei ab und möchte drei Neue.“

Lucien nickte und zog drei Karten, die er verdeckt Gwelan gab, während dieser seine drei gewählten neben dem Kupferstück auf dem Tisch legte.

Bitte … bitte …

Er nahm die drei neuen Karten in die Hand und drehte sie um. Zwei Ritter und ein Priester.

Verdammt!

Seine einzige Hoffnung war, dass Lucien und die anderen beiden ein schlechteres Blatt haben würden als er. Kreith tauschte zwei Karten aus und Doranth drei. Lucien selber behielt seine Karten, die er am Anfang bekommen hatte. Er sah sehr zuversichtlich aus.

„Dann zeigt mal, was ihr habt“, sagte Lucien und sah zu Kreith. Dieser legte seine Karten auf dem Tisch.

Er hatte drei Priester, zwei Könige, zwei Damen und zwei Ritter. Kein schlechtes Blatt, denn neben das Sammeln von Dreiergruppen, war dies die zweitbeste Variante, die man bekommen konnte.

Als Nächstes zeigte Doranth sein Blatt.

Er hatte vier Könige, drei Damen und vier Ritter, sodass er jetzt schon verloren hatte. Sein Gesicht war finster und er murmelte etwas, was jedoch niemand verstand.

„Jetzt du, Gwelan“, forderte Lucien auf.

Mit schweren Herzen legte Gwelan seinen Priester, die zwei Könige, die drei Damen und die drei Ritter auf dem Tisch. Er wusste, dass er verloren hatte, denn Kreiths Blatt war wesentlich besser als sein Eigenes.

Lucien nickte, während er die Karten seiner Freunde betrachtete. Dann grinste er und legte seine Karten auf dem Tisch.

Drei Priester, drei Könige und drei Damen, sodass er wieder gewonnen hatte. Er nahm seine Beute und zog sie zu seiner Seite des Tisches. Dann sah er erwartungsvoll in die Runde.

„Noch ein Spiel?“

Dieses Mal gehorchte Gwelan seiner inneren Stimme und er schüttelte den Kopf. Er hatte jetzt wieder nur drei Kupfer, so wie auch am Anfang des Spieles. Er wollte diese nicht riskieren und daran konnte auch nicht Luciens treuer Blick ändern. Jedoch drängte sein Kamerad nicht, sodass sich der ehemalige Dieb im Stuhl zurücklehnte und die anderen beim Spielen beobachtete.

Während er den anderen zusah, wurde ihm bewusst, dass er sich hier bei ihnen wohl fühlte.

Wer hätte gedacht, dass ich doch einen Ort finden würde, wo ich mich heimisch fühlen würde. Trotz des Training und der Muskelschmerzen. Andererseits hätte ich auch nie gedacht, dass ich mal versuchen würde, die Rechte Hand auszurauben.

Gwelan bereute es immer noch, dass er dies versucht hatte, doch er der Meinung, dass ihm nichts Besseres hätte passieren können. Zwar hatte er vor zwei Kerzenstriche anders darüber gedacht, doch hier saß er nun am einen Tisch bei Gleichaltrigen, die er als Kameraden ansah. Wer weiß, vielleicht würde sich sogar eine Freundschaft entwickeln, doch da war Gwelan vorsichtig. Seine Erfahrungen rieten ihm, niemand ganz zu vertrauen, denn dies könnte sich als großer Fehler erweisen. Zweimal in seinem Leben hatte er Freundschaft mit anderen Dieben geschlossen und beide male war er letztendlich von ihnen hintergangen wurden. Etwas, dass ihm damals sehr geschmerzt und ihn eine wichtige Lektion gelehrt hatte.

Doch jetzt bin ich kein Dieb mehr. Jetzt kann ich doch wieder Freundschaften schließen, oder?

Er sah, dass diese Runde Doranth gewann und Lucien es schaffte, Kreith zu einem letzten Spiel zu überreden. Dieser hatte am heutigen Tag noch nicht ein einziges Mal gewonnen und sah nicht besonders glücklich aus. Es schien ihm nicht zu gefallen, dass er viel Kupfer heute verloren hatte, doch nun klammerte er sich an der Hoffnung, dass er wenigsten das letzte Spiel gewinnen könnte. Er setzte sogar zwei Kupfer.

Kurz darauf, war Kreith um weitere zwei Kupfer leichter und er schüttelte hartnäckig den Kopf, als Lucien anfing, wieder auf ihm einzureden. Zum Schluss seufzte Lucien und packte seine Karten weg. Für heute war das Spiel beendet.

Gwelan musste zugeben, dass der heutige Tag doch erfolgreich für ihn gewesen war. Zwar hatte er es nicht geschafft, Lucien im Stabkampf zu besiegen und beim Kartenspiel sechs Kupfer verloren und zum Schluss hatte er drei Kupfer. Drei Kupfer, die er mit einer Geschichte verdient hatte, die sein Leben verändert hatte.

 

Kapitel Siebzehn

Khileisas Krankheit

 

Zu versuchen, dass Haus Thorn anzugreifen, ist fast so verrückt, wie einen Schatten mit bloßen Händen zu fangen. Obwohl, wenn ich genauer darüber nachdenke, dann würde ich lieber diesen Schatten fangen, als die Thorns anzugreifen.

 

Sten Capron,

jerarischer Fürst,

Sommer im Jahre 2595

 

Arianne Thorn, die älteste Tochter von Miriam Thorn, wachte an den Tag zeitig auf und wunderte sich einen Moment, warum, doch dann erinnerte sie sich daran. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Heute hatte ihre jüngste Schwester Khileisa Geburtstag und es sollte ein großes Fest werden. Ihre Mutter hatte gestern gemeint, dass sie viele wichtige Persönlichkeiten eingeladen hatte, doch dies interessierte Arianne nicht. Für sie war es am wichtigsten, dass ihre Tante Lorantha ebenfalls heute da sein würde.

Das Mädchen erhob sich vom Bett und scheuchte Suza, ihre Zofe aus dem Raum. Sie mochte es überhaupt nicht, dass ihre Mutter der Meinung war, dass sie unbedingt eine Zofe brauchte. Aus diesem Grund schickte sie ihre immer weg und sie wusste, dass es Suza nicht störte. So hatte ihre Zofe Zeit für sich und Arianne musste nicht mit jemanden diskutierten, was für Kleidung sie tragen sollte. Wenn es nach ihrer Mutter gehen würde, dann müsste Arianne immer in feinen Kleidern laufen.

Arianne schüttelte den Kopf. Nie, aber auch nie würde ihre Mutter sie dazu überreden können.

Mit schnellen Handgriffen suchte sie ein weißes Hemd hervor und überprüfte, ob es sauber war. In den letzten Tagen hatte sie einige ihrer Sachen immer wieder in den Schrank geräumt, wenn sie der Meinung war, dass diese noch nicht allzu schmutzig waren. Ihre Mutter bestand zwar darauf, dass Arianne jeden Tag frische Kleider anzog, doch Arianna sah nicht ein, warum sie jeden Abend ihre Wäsche für die Reinigung abgeben sollte. Dennoch konnte sie es nicht riskieren, heute ein Hemd zu tragen, dass vielleicht irgendwo einen etwas dunkleren Fleck besaß, sodass sie ihr Hemd genausten unter Augenschein nahm. Danach suchte sie sich eine dunkle bequeme Hose und eine ärmellose Weste, wo auf dessen Brust ein Wappen zu sehen war. Das Wappen ihrer Familie, welcher ein fliegender Kranich war.

Sie zog sich schnell um, denn sie wollte ihre kleine Schwester wecken und ihr Geschenk vor dem Frühstück Khileisa übergeben.

Nachdem sie fertig angezogen war, kämmte sie über ihr Haar und war froh, dass sie es kurz trug. Der Gedanke, am Morgen viel Zeit zu vergeuden, nur weil die Haare geordnet werden mussten, widerte sie an. Zwar liebte sie die Frisuren ihrer Mutter, doch sie selber würde sie so etwas tragen wollen.

Zum Schluss schnallte sie sich einen Gürtel um, wo eine dünne Schwertscheide befestigt war. Zu Hause außerhalb der Trainingsstunden durfte sie nie ein richtiges Schwert tragen, doch sie hatte ihre Mutter dazu überreden können, einen Degen tragen zu dürfen. Damit sie das Gefühl bekam, eine Waffe zu tragen und sich zur Not auch verteidigen konnte. Sie zog ihren Degen aus der Scheide und betrachtete ihn eingehend. Der Korb am Griff war kunstvoll verziert und zeigte auch einen fliegenden Kranich, welcher ebenfalls auch auf der Scheide zu erkennen war. Es war eine Waffe, die zwar schön aussah, doch in einem wirklichen Kampf kaum nutzbar war.

Ich sollte Tante Lor fragen, dass sie mit Mutter reden sollte. Vielleicht schafft sie es ja, Mutter zu überzeugen, dass ich ein richtiges Schwert brauche und nicht so einen Spielzeugdegen.

Viel Hoffnung hatte Arianne nicht, doch fragen konnte ja nicht schaden. Sie wusste, dass Lorantha vollends ihren Wunsch unterstützte. Ihren Wunsch, in der jerarischen Armee zu dienen. Noch zwei Jahre, dann würde sie ihr neunzehntes Jahr erreichen und durfte dann endlich als Offizier in der Armee aufgenommen werden. Wenn es nach Arianne ginge, dann würde sie jetzt schon eintreten, doch ihre Mutter war in diesen Punkt nicht zu erweichen gewesen. Arianne konnte schon froh, sein, dass sie überhaupt später zu der Armee gehen durfte.

„Was soll`s“, murmelte Arianne und steckte ihren Degen wieder in die Scheide. Danach wandte sie sich zur Tür. „Und nun wird erst einmal Khil geweckt.“

Das Mädchen verließ ihr Zimmer und beachtete nicht die beiden Männer, die neben ihrer Tür draußen Wache gehalten haben. Auch ignorierte sie diese, als diese zwei Schritte hinter ihr schweigend folgten. Sie suchte sich den schnellsten Weg zu dem Zimmer ihrer Schwester und sah, dass auch dort Wachen postiert waren. Sie nickte ihnen zu und riss die Tür auf.

„Morgen, Schwesterchen! Es ist Zeit zum Aufstehen!“

Arianne trat in das Zimmer und sah sich um. Die Vorhänge waren noch zugezogen und auf dem Bett konnte man nur die Decke erkennen, die über den Kopf ihrer Schwester gezogen war. Arianne lächelte und trat an das Bett. Mit einer schnellen Bewegung, riss sie die Decke weg.

„Los aufstehen, Khil! Sonst gibst du Mutter einen Grund, wütend zu sein.“

Die Freude auf Ariannes Gesicht verschwand, als sie auf ihre Schwester blickte und erkannte, dass diese sogar noch bleicher war als sonst. Ihre Augen waren dunkel umrandet und sahen trübe aus. Sorge stieg in Arianne auf.

„Khil … geht es dir immer noch nicht besser“, fragte sie und strich über das Gesicht ihrer Schwester. Dabei spürte sie, dass es glühte. Die Sorge in ihr wurde größer. „Bleib liegen … ich werde Mutter holen und …“

„Nein!“ Khileisa schüttelte heftig den Kopf und richtete sich im Bett auf. Sie sah wirklich nicht gut aus, doch Angst trat in ihre Augen. „Mir geht es gut … ich kann aufstehen …“

Zweifel traten in Ariannes Gesicht. „Nicht doch, Khil. Dir geht es überhaupt nicht gut. Ich weis, dass du Mutter nicht verärgern willst, wenn sie den Gästen absagen muss, aber du musst dich ausruhen. Mutter wird es verstehen, wenn sie dich sieht und …“

Khileisa schüttelte abermals heftig den Kopf und die Angst in ihren Augen wurde größer. Sie begann, am ganzen Körper zu zittern.

„Doch!“ Arianne drückte ihre Schwester wieder auf das Bett runter und wandte sich zur Tür. „Du wirst heute nicht aufstehen und wenn ich dich anbinden muss.“

Die Verzweiflung in Khileisas Augen versetzte einen Schmerz in Ariannes Herz, doch sie blieb bei ihrer Meinung. Sie würde nicht zulassen, dass ihre kleine Schwester heute aufstehen würde. Nicht, wenn sie so krank aussah und kaum Kraft besaß.

Mutter wird es zwar nicht gefallen, doch es ist wichtiger, dass Khil wieder gesund wird.

Mit diesen Gedanken verließ Arianne das Zimmer ihrer Schwester und suchte nach ihrer Mutter. Sie würde dafür sorgen, dass das Fest heute ausfallen wird.

 

Tanatas Vorfreude wurde größer als sie am Fenster stand und unten sah, wie die Kutsche ihrer Tante vor dem Haus anhielt. Sie war traurig gewesen, als ihre Tante vor zwei Tag da war, aber dann auch sofort nach dem Mittag wieder gegangen war. Tanata verehrte ihre Tante und würde am liebsten so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen. Doch dies war nicht so oft möglich, da ihre Tante immer in Creusan war und sich um andere Dinge kümmern musste.

Sie wandte sich vom Fenster ab und prallte dabei gegen Arianne, die zu ihr getreten war.

„Verdammt, Ari … kannst du nicht aufpassen, wo ich hingehe“, murmelte sie und rieb sich gegen den Arm, wo sie zusammengestoßen war. Sie sah ihre ältere Schwester an und erkannte, dass diese besorgt aussah. Ihr Blick ging zu einer Tür in der Nähe. „Geht es Khil immer noch nicht besser?“

Arianne schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht. Mutter ist sich unsicher, woran dies liegen könnte. Sie vermutet, dass Khil irgendetwas von ihren Tränken genommen haben musste, denn die Symptome deuten auf einige. Doch Khil weigert sich zu sagen, was es sein könnte und so kann Mutter ihr keinen Gegentrank geben, wenn sie nicht weis, wogegen.“

Kopfschüttelnd sah Tanata zu der Tür. „Khil würde doch nie eine von Mutters Sachen nehmen und trinken. Dafür ist sie viel zu klug … kann es denn nicht einfach eine normale Krankheit sein?“

„Das vermute ich auch, oder irgendjemand hat ihr etwas untergejubelt“, meinte Arianne und ihr Blick wurde finster. „Ich glaube ja Mutter, wenn sie denkt, dass es eine ihrer Tränke sein könnte, aber ich bezweifle, dass Khil es freiwillig genommen hätte. Ich vermutete, dass irgendjemand ihr schaden wollte.“

Diese Worte verursachten eine Kälte in Tanata. Es war nichts Neues, das jemand versuchte sie oder eine ihrer Geschwister zu verletzen, doch dass Arianne dies offen ausspricht, zeigte, dass auch ihre Schwester dies ernst nahm. Wut kam in Tanata auf. Niemand vergiftete ihre kleine Schwester und würde davon kommen. Sie sah zu Arianne.

„Wir sollten Tante Lor dies sagen. Sie ist gerade angekommen“, fügte sie hinzu, als sie Ariannes fragenden Blick sah. „Sie wird wissen, was unternommen werden muss.“

Arianne nickte langsam, doch ihr Blick war immer noch finster. „Ich hoffe, dass Tante Lor den Schuldigen findet … und dass sie Mutter überzeugen kann, diese Sache ernster zu nehmen.“

Tanata unterdrückte ein Schnauben. Sie liebte ihre Mutter sehr, doch manchmal hatte sie das Gefühl, dass Miriam Thorn gewisse Dinge nicht erst nahm. Jedenfalls die Dinge, die nichts mit ihrer Arbeit zu tun hatte. Wenn es jedoch darum ging, Wächterinnen zu brechen, dann war ihre Mutter sehr gewissenhaft und einfallsreich.

Tante Lor wird wissen, was zu tun ist.

 

Lorantha sah zweifelnd ihre beiden Nichten abwechselnd an und dachte nach. Diese hatte ihr gerade von ihrem Verdacht erzählt, dass jemand Khileisa vergiftet haben könnte. Etwas, was Lorantha kaum glauben konnte. Zwar gab es immer wieder Personen und Familien, die nicht gut auf die Thorns zu sprechen waren, doch einen direkten Giftanschlag würde keiner von denen wagen. Dazu hatten sie viel zu große Angst, dass sie ihren Zorn erwecken könnten.

„Seid ihr sicher, dass Khileisa nicht selber etwas genommen hat? Soweit ich weis, mochte sie die Vorstellung nicht, dass ein großes Fest an ihren Geburtstag stattfinden soll. Vielleicht hat sie deswegen etwas nehmen wollen und will es nun nicht zugeben, da sonst Miriam wütend werden würde.“

Die Rechte Hand erkannte, dass ihre Nichten über diese Worte nachdachten, doch dann schüttelt Arianne den Kopf.

„Nein. Khil würde so etwas nie machen. Mutter hat verboten, dass sie an ihren Tränken gehen soll und Khil würde nicht gegen ihre Worte handeln. Außerdem ist Khil schon seit Tagen krank und es wird immer schlimmer.“

Tanata nickte heftig zustimmend. Lorantha seufzte und dachte selber nach. Sie hatte vor zwei Tagen gesehen, wie schlecht es ihrer jüngsten Nichte ging, doch da hatte Miriam gemeint, dass es am Essen gelegen haben musste. Konnte es sein, dass sich Miriam täuschte? Wenn Miriam sich sicher war, dass Khileisa einen ihrer Tränke genommen haben musste, dann glaubte Lorantha ihr, doch sie konnte sich in inneren nicht vorstellen, dass das Mädchen so dumm gewesen wäre. Um eine Feier platzen zu lassen, wäre es wirklich zu gefährlich gewesen und dieses Risiko würde selbst Khileisa nicht eingehen. Andererseits war das Mädchen gerade vierzehn Jahre alt. Vielleicht war ihr das volle Risiko nicht bewusst gewesen und nun hatte sie zu große Angst, die Wahrheit zu sagen. Doch, was ist, wenn Arianne und Tanata recht hatten? Was ist, wenn wirklich jemand versuchte die jüngste Tochter des Hauses zu vergiften?

„Nun gut, ich werde mit Miriam und auch mit Khileisa reden“, sagte sie anschließend und erkannte die Erleichterung in Ariannes Augen. Sie lächelte. „Es ist schön, dass ihr euch so große Sorgen um eure Schwester macht. Dies ist wichtig … dass die Familie zusammenhält.“ Sie hielt inne und sah sich um. „Wo steckt eigentlich Lawarn?“

Ein Lachen entfuhr Tanata, ehe sie dies bemerkte und den Mund schnell schloss. Sie wurde rot. „Er ist schon den ganzen Tag nicht aufzufinden und versteckt sich vor Mutter, weil er nicht seinen neuen Anzug anziehen will. Ich vermutete, dass er im Stall bei den Pferden ist und sich im Heu versteckt.“

Dies war keine Neuigkeit und Lorantha hätte auch selber draufkommen können. Sie sah ihre Nichten an. „Gut, ich werde mit meiner Schwester reden, doch ihr solltest auch mit eurer Schwester reden. Versucht herauszufinden, ob sie nicht doch selber etwas genommen hat. Macht ihr klar, dass sie keinen Ärger bekommen wird.“

Beide nickten und waren kurz darauf verschwunden.

Lorantha schloss kurz die Augen. Als sie vor vier Kerzenstriche erfahren hatte, dass die Feier nicht stattfinden würde, war sie verwundert gewesen und hat sich dennoch auf dem Weg zu ihren Anwesen gemacht. Sie hatte dennoch ihre Nichte zu ihrem Geburtstag besuchen wollen und dafür brauchte sie nicht ein großes Fest. Als sie dann angekommen war, hatte sie von dem Hofmeister erfahren, dass es ihrer Nichte nicht besonders gut ging und nun hatten ihren Nichten ihren Verdacht dazu geäußert.

Sie dachte nach.

Wer würde es wagen, jemanden aus ihrer Familie zu vergiften und glauben, dass er dabei nicht erwischt werden würde. War es eine jerarische Adelsfamilie, die neidisch war, oder jemand völlig Fremden? Lorantha kannte viele Familien, die es gerne sehen würden, wenn das Haus Thorn einen Schicksalsschlag erlitt, doch keine der Familien würde so dreist sein. Nein, dazu hatten sie viel zu viel Angst. Steckte dann vielleicht Zor`zeirn und König Draken dahinter?

Hatte er erfahren, wie sie über das Bündnis dachte, und wollte ihr eine Warnung zukommen lassen?

Blödsinn! Dann würde eine Nachricht zu finden sein.

Sie schüttelte den Kopf. Sie sah zu viel Gespenster und schien von den Verschwörungstheorien ihren Nichten angesteckt zu sein. Niemand würde es wagen, das Haus Thorn anzugreifen. Nein, für Khileisas Krankheit würde es eine einfache Erklärung geben.

Lorantha begab sich zum Zimmer ihrer Schwester und hoffte, dass diese nicht im Keller bei ihren Arbeitszimmern sein würde. Sie hatte Glück, denn als sie klopfte, bat ihre Schwester sie herein.

„Ah, Lor. Du bist doch gekommen, obwohl nun kein Fest stattfinden wird.“ Miriam sah bei den ersten Worten erfreut doch, ihre Miene würde bei den letzteren finster. Sie stand auf und umarmte ihre ältere Schwester, ehe sie zum Tisch zeigte, wo sie gerade an einen Brief schrieb. „Du kannst dir nicht vorstellen, was es für Arbeit macht, alle wieder auszuladen und dass dann auch noch rechtzeitig.“

Lorantha konnte sich dies vorstellen, doch sie machte nicht ihre Schwester darauf aufmerksam. Sie sah ihre Schwester fest an. „Du denkst also wirklich, dass Khil es sich selber angetan hat?“

Miriam hob ihre Arme frustriert in die Luft. „Natürlich. Du hast keine Ahnung, was das Kind schon alles versucht hat, um das Fest abzusagen, dabei geht es doch um ihren Geburtstag. Ja, ich glaube fest, dass sie an meinen Sachen gegangen war.“

„Und nun hat sie Angst, dass du wütend sein könnest. Deswegen schweigt sie und gibt es nicht zu“, stellte Lorantha fest und schüttelte den Kopf. „Khil wusste, dass es gefährlich ist, mit deinen Dingen zu spielen und würde nie einen Trank zu sich nehmen, von dem sie keine Ahnung hat. Ich kann es mir nicht vorstellen, dass sie so leichtsinnig ist, nur weil sie das Fest stören will. Was hat sie denn davon, wenn die krank im Bett liegt?“

„Nichts, aber dies war auch nicht ihr Ziel gewesen“, sagte Miriam. „Ich vermute, sie wollte nur ein klein wenig krank aussehen und hat aber etwas Starkes erwischt.“ Sorge trat in ihre Augen. „Wenn ich nicht bald weis, was es ist, dann könnte es noch schlimmer werden.“ Die Sorge wurde von Wut überdeckt. „Und wenn ich herausfinde, wer von den Dienern ihr dabei geholfen hat, der wird sich wünschen, er hätte nie bei uns angefangen!“

Die ältere Frau bedauerte für einen kurzen Augenblick diese Seele, doch dann verschwand das Bedauern. Wenn ihre Schwester recht hatte und wirklich ein Diener geholfen hat, dann musste er bestraft werden. Immerhin hätte passieren können, dass Khileisa sich einen giftigen Trank ausgesucht hätte. Dann dachte sie an de Verdacht ihrer beiden Nichten.

„Und du bist dir ganz sicher, dass es Khileissa war? Ich meine, wäre es nicht möglich, dass jemand anderes sie vergiftet haben könnte?“

Ein Schnauben entfuhr Miriam. „So, waren die beiden also auch schon bei dir gewesen? Ich habe schon Arianne gesagt, dass ich dies bezweifle. Warum sollte jemand Khileisa schädigen wollen? Da wäre es für unseren Gegner besser gewesen, wenn er jemanden anderes ausgesucht hätte. Ich oder Arianne wären ein besseres Opfer gewesen, wobei ich nicht sagen will, dass Khileisa keine Bedeutung hat. Aber um unser Haus am größten zu schaden, ist sie nicht die erste Wahl. Und wenn jemand es geschafft hätte, Khileisa zu vergiften, dann hätte es bei uns schaffen können.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Arianne und Tanata wollen ihre Schwester nur beschützen, dass sehr nett von ihnen ist, doch es hilft Khil nicht. Khil muss sich ihrer Verantwortung stellen und endlich zugeben, was sie genau sie genommen hat.“

Wenn Lorantha über die Argumente ihrer Schwester nachdachte, dann musste sie ihr zugeben. Um einen großmöglichen Schaden anzurichten, wäre jemand anderes ein besseres Opfer gewesen. Es sei denn, derjenige weis, wieviel Khileisa meiner Schwester und mir bedeutet. Politisch ist Khil ein schlechtes Ziel, doch privat sieht es schon anders aus. Doch Miriam hat recht, wenn jemand sich die Mühe gemacht hatte, um Khil zu vergiften, dann hätte er auch einen anderen aussuchen können. Dennoch … ist Khil wirklich so dumm, dass sie sich selber vergiftet, nur um ein Fest zu entkommen? Lorantha wollte dies nicht so wirklich glauben.

„Und du kannst dir nicht selber denken, was sie genommen haben könnte? Ich meine, sind die Symptome nicht klar genug?“

Miriams Gesicht wurde finster. „Nein … nicht wirklich. Ich habe zwar einige Vermutungen, doch ohne es genau zu wissen, könnte ich es noch schlimmer machen. Ein Mittel, dass einen Trank aufheben könnte, könnte bei einen anderen katastrophale Folgen haben. Dieses Risiko bin ich nicht gewillt einzugehen.“ Sie hielt kurz inne. „Wenn sie es nicht sagt, was es war, dann muss sie es aussitzen. Ich hoffe, dass sie nicht einen der ganz Gefährlichen genommen hat, doch bei ihr kann man auch nicht sicher sein. Doch ich denke, wenn es wirklich etwas Lebensgefährliches gewesen wäre, dann würde es ihr jetzt noch schlechter gehen. Also bleiben nur zwei Möglichkeiten für Khil: Entweder sie sagt mir, was sie genommen hat und ich kuriere sie sofort, oder sie muss die Schmerzen ertragen und warten, bis der Trank seine Wirkung verliert! Aber ich schließe vollkommen aus, dass jemand Fremdes sie vergiftet hat. Das würde keinen Sinn ergeben.“

„Na gut. Wenn du denkst, dass es Khil selber war, dann sollte ich mit ihr reden. Vielleicht wird sie es mir sagen, wen ich sie beruhige, dass du dir nicht gleich den Kopf abreißt“, sagte sie und entgegnete den empörten Blick ihrer Schwester gelassen. „Ich bitte dich, Miriam! Ich weis, wie du reagieren wirst, sobald Khil wieder gesund ist. Lass mich mit ihr reden!“

Miriam zuckte mit den Schultern. „Bitte. Tu dir keinen Zwang an.“

Lorantha lächelte und sah zum Schreibtisch. „Dann wünsche ich dir noch viel Spaß mit den Briefen.“

Ein Schnauben war die Antwort darauf, doch Lorantha verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Sie machte suchte den schnellsten Weg zu dem Schlafzimmer ihrer jüngsten Nichte.

Heute wollte ich eigentlich mit meiner Familie feiern und nicht versuchen herauszufinden, ob jemand Opfer eines Anschlages geworden war.

Sie nickte den beiden Wachen vor der Tür zu und trat nach einem kurzen Klopfen in das Zimmer ihrer Nichte.

Eine junge Zofe, die auf einen Stuhl neben dem Bett gesessen hatte, sprang auf, als sie Lorantha sah und knickste tief. Lorantha scheuchte sie mit einer Handbewegung aus dem Zimmer und trat an das Bett von Khileisa.

Ihr stockte der Atem, als sie sah, wie schlecht es ihrer Nichte gehen musste. Das Gesicht war noch bleicher als vor zwei Tagen, die Haare sahen strähnig aus und der Blick war trüb. Alles in allem sah Khileisa schwach aus und dennoch versuchte sie sich aufzurichten, als sie ihre Tante erkannte.

„Bleib liegen, Khil“, sagte Lorantha leise und drückte ihre Nichte wieder aufs Kissen zurück. Dann zog sie den Stuhl der Zofe an das Bett heran und ließ sich darauf nieder.

„Tante Lor … du bist genommen“, sagte Khileisa und ihre Stimme klang schmerzerfüllt.

Lorantha nickte und strich eine Strähne aus dem Gesicht ihrer Nichte. „Sicher, mein Schatz. Du hast doch nicht geglaubt, dass ich deinen Geburtstag vergesse oder?“

Wenn Khileisa nicht so bleich gewesen wäre, würde ihr Gesicht rot vor Verlegen werde, sodass jetzt nur ein verlegener Blick in ihre Augen zu erkennen war.

Lorantha sah ihre Nichte fest in die Augen. „Khil … ich bitte dich, ehrlich zu sein. Hast du wirklich nichts selber genommen, oder willst du es nicht zugeben, weil du denkst, dass deine Mutter dich bestrafen wird?“

In Khileisas Auge trat Angst und sie schüttelte den Kopf. „Nein … ich habe nichts genommen. Mir ist nur etwas schlecht. Vielleicht war das Essen nicht gut, oder …“ Sie brach ab, als Lorantha ihre Hand hob.

„Keine Ausflüchte, Khil. Das Essen war nicht schlecht. Dass glaube ich dir nicht. Du hast nicht eine Magenverstimmung und dir geht es auch nicht gut. Hast du mal in den Spiegel geschaut, ehe du so etwas sagst?“ Sie seufzte. „Du hast Schmerzen, Khil. Das ist deutlich zu erkennen und deine Mutter möchte dir noch nur helfen. Doch dass kann sie nur, wenn sie weis, was du genommen hast. Sie will dich nicht bestrafen oder so. Sie möchte dir helfen.“

Tränen flossen über Khileisas Gesicht. „Aber ich habe nichts genommen … wirklich nicht, Tante Lor.“

Lorantha lehnte sich im Stuhl zurück und betrachtete ihre Nichte. Konnte es wirklich sein, dass Khileisa die Wahrheit sagte. Doch wenn es die Wahrheit war, was stimmte dann nicht mit ihr. Hatte dann wirklich jemand versucht sie zu vergiften, so wie es Arianne und Tanata vermuteten. Doch dann kam wieder die Frag auf, wer würde so etwas versuchen und was würde er davon haben. Sie beugte sich zu ihrer Nicht vor und wischte ihre Tränen weg.

„Nicht weinen, Khil. Wir werden herausfinden, was mit dir los ist“, sagte sie und erkannte die Angst in den Augen ihrer Nichte. Wer auch immer dafür verantwortlich ist, er wird seine gerechte Strafe bekommen! Sie nahm ihre Nichte in ihre Arme und hielt sie fest. Khileisas Körper bebte unter den Schluchzern und sie klammerte sich an ihre Tante. Lorantha ließ dies geschehen und fragte sich, wie es sein konnte, dass Miriam sich nicht so sehr um ihre Tochter kümmerte. Selbst wenn es stimmte und Khil wirklich an den Tränken von Miriam gegangen war, so sollte sie für ihre Tochter da sein und nicht nur wütend sein. Und was hatte dass Mädchen dazu bewogen so einen Trank zu sich zu nehmen? Konnte es sein, dass Miriam nicht auf ihre Jüngste achtete und stattdessen nur für das eigene Wohl interessiert war?

Warum glaubt Miriam nicht ihre Tochter?

Die Überlegungen ihrer Schwester waren nicht von der Hand zu weisen und als mögliches Ziel war Khileisa wirklich eine schlechte Entscheidung gewesen, doch war dies genug, um ihr nicht zu glauben? „Tante Lor“, ertönte eine schwache Stimme und Lorantha merkte, dass Khileisa zu weinen aufgehört hatte. Ihre Nichte sah sie mit großen Augen an. Augen, in denen immer noch so eine große Angst stand.

Lorantha lächelte ihre Nichte an.

„Ja?“

Khileisa legte ihren Kopf gegen Loranthas Brust und schloss die Augen. „Du … du hast mich doch lieb, oder?“

Von der plötzlichen Frage überrascht, riss die Frau die Augen auf. „Sicher, Khil. Ich habe euch alle lieb. Dass wisst ihr doch … ich bin zwar nicht allzu oft hier, aber das bedeutet nicht, dass ich euch nicht gern habe. Verstehst du doch sicher?“

Lorantha spürte, wie ihre Nichte nickte und fragte sich, warum Khileisa diese Frage gestellt hatte. Wieso kam das Kind auf die Idee, dass sie ihre Nichte nicht mehr gern haben könnte. Hatte sie doch etwas genommen?

„Khil? Warum fragst du mich das?“ Sie hielt ihre Nicht von sich und sah sie genau an. Abermals wurde ihr bewusst, wie krank Khileisa aussah. „Bist du doch an die Sachen an deiner Mutter gegangen?“

Das Mädchen riss die Augen auf und schüttelte heftig den Kopf. Neue Tränen kamen in dem Kind hoch und Verzweiflung trat in ihren Blick. „Nein … nein … das habe ich nicht. Mutter hat verboten in den Keller zu gehen, wenn sie nicht dabei ist.“

Was auch in der Tat eine richtige Anweisung war, wenn Lorantha daran dachte, was sich so alles dort befand.

Was kann es sein, was mit mir passiert, Khil? Vielleicht sollte ich Varanthor holen lassen … Varanthor Eklon war der Heiler in der Kaserne vor Creusan und besaß einen guten Ruf. Doch was konnte er schon erkennen, was nicht Miriam erkannte. Miriam besaß größeres Wissen über die Gesundheit von Menschen. Sie war zwar keine Heilerin, doch für ihren Beruf brauchte sie es ebenfalls. Nein, wenn Miriam sich unsicher war, was Khileisa fehlte, dann konnte es auch nicht Varanthor herausfinden.

Plötzlich merkte Lorantha, dass ihre Nichte eingeschlafen war, und wunderte sich nicht einmal darüber. Es war leicht zu erkennen, dass es das Kind erschöpft und kraftlos war. Mit unguten Gefühlen erhob sich die Frau und verließ das Zimmer leise.

Kapitel Achtzehn

Die Versammlung

 

Es heißt, dass die Rechte Hand die größte Macht besitzt und nur dem verborgenen Herrscher eine Rechenschaft schuldig war. Doch was bedeutet dies? Dass sie handeln kann, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen? Ich weis nicht, was mir mehr Angst macht: Dass dies stimmen konnte, oder dass alles was sie macht, die Zustimmung unseres Herrschers besitzt.

 

Abran Ebsen,

Sohn eines jerarischen Fürsten in Aràsk,

Herbst im Jahre 2597

 

 

Lächeln, einfach nur Lächeln!

Lorantha betete diese Worte immer wieder und wieder in ihren Gedanken hervor, während sie am Eingang ihres Anwesens stand und die Gäste begrüßte. Es fiel ihr jedoch schwer sich daran zu halten, denn je mehr Zeit verging, desto mehr Personen kamen und unter anderen auch solche, die die Frau überhaupt nicht leiden konnte.

„Willkommen bei uns, Herrin Oysen“, sagte sie zu einer hochgewachsenen Frau, die gerade angekommen war, und schüttelte ihr die Hand.

Aus Drukard … verdammt, Miriam. Wen hast du denn alles eingeladen?

Fürstin Clarisse Oysen gehörte einer wichtigen Adelsfamilie an, die in dem Land Drukard lebte und viele Jeraren auf der Insel Zhirok gesammelt hatte. Sie war die Schutzherrin dieser Jeraren und somit auch die wirkliche Herrscherin auf dieser Insel und der Umgebung des Sees, der den gleichen Namen trug, Zhirok. Dass diese Frau nun rechtzeitig hier war, konnte nur sein, dass sie durch einen Dreibogen gereist war und die wiederum bedeutete, dass diese Frau mit bestimmten Absichten gekommen war. Clarisse gehörte zu den Teil der Familien, die dem Haus Thorn skeptisch gegenüberstand und ihre Meinung auch deutlich vertrat, sodass Lorantha jetzt schon von der bloßen Anwesenheit der Frau genervt war.

„Oh, Lady Lorantha. Es ist so eine Freude wieder einmal hier zu sein“, rief Clarisse aus und erwiderte das Handschütteln kräftig. Ihre Augen jedoch waren ernst und schienen zu sagen: Mach nur einen Fehler und ich werde ihn ausnutzen, meine Liebe! „Es ist ja schon so lange her, dass wir uns gesehen haben. Wir müssen uns unbedingt zusammensetzen und über die neusten Gerüchte reden.“

Clarisse hatte die Wahrheit gesagt, dass sie sich lange nicht mehr gesehen hatten und dies hatte auch einen Grund. Lorantha mochte diese Frau nicht und hatte bei den letzten Versammlungen, wo das Haus Oysen anwesend gewesen war, nicht teilgenommen. Meistens war Lorantha sowieso nicht in Creusan gewesen, sodass sie sich keine Ausrede hatte suchen müssen. Leider war es heute nicht so und sie musste sich mit der Fürstin aus Drukard abfinden. Sie setzte ein Lächeln auf.

„Natürlich, Clarisse. Vielleicht werden wir heute Zeit dazu finden, doch ich kann es ihnen leider nicht versprechen“, sagte Lorantha und versuchte ihre Abscheu aus der Stimme zu halten. „Ihr wisst ja, wie das ist, wenn man Verpflichtungen hat … man hat einfach keine Zeit für die angenehmen Dinge des Lebens.“

Fürstin Oysen sah die Rechte Hand an und es war ihr anzusehen, dass ihre Gedanken rasten, ehe sie nickte. „Natürlich“, sagte sie langsam. „Das verstehe ich. Als Rechte Hand unseres Herrschers ist es nicht besonders leicht. Da bleibt nicht einmal die Freuden um die Gesellschaft junger Männer.“

Loranthas Gesicht verkrampfte sich und sie behielt dennoch ihr Lächeln bei. Dies war ein Thema, dass Clarisse Oysen immer wieder ansprach und was ihr auch eine Freude bereitete. Im Gegensatz zu ihrer Schwester Miriam hatte Lorantha nie geheiratet, doch dies stimmte sie nicht traurig. Sie hatte nie den Richtigen gefunden, denn alle Männer, die sie umworben haben, waren nur auf die Macht ihrer Position scharf gewesen. Und dies schien Clarisse mit ihren Worten zu sagen: Du glaubst, dass du gut bist, doch so gut bist du nun auch wieder nicht. Niemand hat sich persönlich für dich interessiert. Alle sind nur hinter deiner Macht her.

„In der Tat“, sagte Lorantha und dann verzog sich ihr Gesicht zu einem Grinsen. „Dafür gibt es Frauen, die zwar die Gesellschaft eines Mannes haben, der jedoch nicht nur die Freuden mit ihr teilt.“

Clarisse Oysen zuckte zusammen, als hätte man sie geschlagen und ihr Gesicht wurde rot. In den letzten fünf Monden ging das Gerücht herum, dass Kandol Oysen, ihr Ehemann mit einigen jüngeren Frauen ins Bett ging und seine Frau links liegen ließ. Lorantha wusste zwar nicht, wie viel an diesen Gerüchten wahr ist, doch dies störte sie nicht. Wenn du mich in Verlegenheit bringst, dann geschieht es auch mit dir! Sie sah unschuldig drei und blickte zu der Kutsche, mit der die Fürstin gekommen war.

„Wo steckt eigentlich Kandol? Ich habe mich schon auf ein Gespräch mit ihm gefreut?“

Diese Frage war ein erneuter Schlag, denn beide Frauen wussten, was der Mann wohl gerade jetzt unternahm. Doch Clarisse hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. Sie lachte leise auf.

„Oh, Kandol? Er hatte einen Reitunfall und ist deswegen verhindert. Doch er schickt seine herzlichen Grüße.“

Reitunfall. Soso. Und dies soll ich dir abkaufen?

Lorantha beschloss das Spiel mitzuspielen und heuchelte Mitleid. „Das ist sehr schade. Ich hoffe, dass es ihm bald wieder besser gehen wird. Dann müssen wir uns alle zu einem Tee treffen und über die Vergangenheit reden.“

Ein weiterer Schlag für Clarisse, denn bevor Kandol Oysen um Clarisse beworben hatte, hatte er sein Glück bei Lorantha versucht. Dies war zwar schon über zwanzig Jahre her, doch abermals war es deutlich, was Lorantha der Fürsten mitteilen wollte: Du warst die zweite Wahl für ihn und dass solltest du nicht vergessen. Er ging zu dir, weil ich hab abblitzen lassen!

Für einen Moment kämpfte Clarisse um die Beherrschung, doch Lorantha wandte sich von ihr ab, als sie sah, dass neue Gäste eingetroffen waren. Es war ein junger Mann und seine Frau, welche aussah, als wäre sie noch ein Kind. Für einen Moment musste die Rechte Hand nachdenken, wer dies sein konnte und wusste das die Antwort darauf. Sie setzte ihr freundliches Gesicht auf und begrüßte die Gäste.

„Willkommen in Creusan, Fürst Capron. Herrin Capron”, sagte sie mit freundlicher Stimme und schüttelte zuerst den jungen Mann die Hand und dann die seiner Ehefrau. Dies waren Gäste, die Lorantha gut leiden konnte.

Sten Capron war erst seit zwei Jahren Oberhaupt seiner Familie, nachdem sein Vater bei einer Jagd tödlich verletzt wurde und zum Schluss seine Verletzung erlegen war. Dies war eine traurige Sache gewesen, denn Fürst Tharrick Capron war bei vielen beliebt gewesen. Sein Sohn Sten, er war damals neunzehn und gerade frisch vermählt gewesen, hatte seine Position eingenommen und versuchte nun, seinen Vater gerecht zu werden. Liril, seine Frau, die damals siebzehn Jahre gewesen war, unterstützte ihn immer wieder und manchmal kam es einem vor, als würde Liril die Geschäfte zum Laufen halten. Gerüchte besagen, dass dies Sten gut fand und er deswegen seiner Frau freie Hand ließ.

Die Familie Capron besaß ihr Hauptanwesen in Creudars, doch Lorantha war sich sicher gewesen, dass sie um diese Zeit in ihren zweiten Anwesen gewesen waren, als die Einladung zu Versammlung gekommen war. Ansonsten hätten beide es nicht rechtzeitig schaffen können und dies musste Miriam auch gewusst haben.

„Vielen Dank“, murmelte Sten und sah dann neugierig zu Clarisse Oysen, die dastand, als hätte man sie einfach so stehen gelassen. Er grüßte auch die Fürstin.

„Es ist uns eine Freude hier zu sein, Herrin Thorn“, sagte Liril leise und sah sich unwohl um. Diese Frau war immer schüchtern in der Gegenwart der Rechten Hand. Also das genaue Gegenteil von der Fürstin Oysen, doch sie war noch jung und deswegen leicht zu beeindrucken.

Lorantha atmete auf, als alle drei Gäste im Haus verschwanden, und blickte finster in den Garten, während sie auf andere Gäste wartete. Laut Miriam würden noch drei Adelsfamilien kommen und dann noch die Vertreter von König Draken: Zor`zeirn und Vlar`zark. Im Haus selber waren schon acht Familien vertreten. Die meisten kamen aus Creud`vans und Threisar, doch es gab auch Vertreter von den anderen Kontinenten, die durch einen Dreibogen gekommen waren.

Während Loranthas Blick durch den Garten fiel, dachte sie an ihre jüngste Nichte. Khileisa ging es wieder besser, ohne dass Miriam etwas groß hatte machen müssen. Ihre Schwester war immer noch überzeugt, dass ihre Tochter etwas von ihren Tränken genommen hat, doch Lorantha war sich da nicht mehr so sicher. Sie erinnerte sich deutlich an den Blick von Khileisa, als sie ihr unter Tränen versichert hatte, dass sie nichts genommen hatte. Doch was blieb dann übrig? Hatte das Kind wirklich etwas Verdorbenes gegessen, oder war sie von jemand außerhalb vergiftet worden? Lorantha hatte sich ausführlich mit dem Dienern des Hauses unterhalten und Drohungen ausgesprochen, wenn dies ihr nicht die Wahrheit sagen würden, doch jeder beharrte darauf, dass nicht ungewöhnliches passiert war.

Vielleicht war es doch nur eine normale Krankheit. Auf jedenfalls ist Khil auf dem Weg der Besserung und das alleine zählte.

Eine neue Kutsche bog in das Anwesen der Thorns ein und Loranthas Laune wurde finster. Sie kannte diese Kutsche und wusste, dass sie wieder einmal das Vergnügen mit Zor`zeirn haben durfte. Sie kniff die Augen zusammen und atmete tief durch, während sie sich aufrechter hinstellte.

Ein Diener öffnete die Tür zu Kutsche und es stiegen nicht nur Zor`zeirn heraus, sondern auch gleichzeitig der niedere Hexer Vlar`zark.

Und schon ist der Tag gelaufen!

Sie setzte abermals ein falsches Lächeln auf und wartete darauf, dass die beiden Männer das Ende der Treppe erreicht hatten. Ehe sie jedoch etwas sagen konnte, kam ihr Zor`zeirn zuvor.

„Lady Lorantha! Was für eine Freude, dass wir uns wiedersehen. Ich hätte nicht gedacht, dass es so kurz nach unserem Treffe in Creusan sein würde“, sagte der Mann breit lächelnd und seine Augen funkelten erfreut. „Und ich kann ihnen mit Freude mitteilen, dass ich heute viel Zeit habe und auch morgen, sodass wir unsere Essen nachholen können.“

Als Lorantha dies vernahm, wurde es ihr eiskalt in Inneren. Für einen Moment wusste sie nicht, was sie darauf erwidern sollte, doch dann nickte sie. „Es mir eine Freude dies zu hören“, sagte sie und ergriff die Hand des Mannes. Im Inneren überlegte sie heftigt, was sie als ausrede nutzen konnte, um ihm zu entkommen. Nie, aber auch nie hatte sie vorgehabt, ihre Worten folge zu leisten. Sie wandte sich zu den anderen Mann zu, der etwas kleiner und in dunklen Gewänder gehüllt war. Sein Gesicht war von einer Kapuze verdeckt.

„Meister Vlar`zark! Ich heiße sie herzlich willkommen und hoffe, dass sie eine gute Reise gehabt haben?“

Sie verzichtete den Mann ihre Hand zu geben, denn zum einen wusste sie, dass er dies sowieso nicht wollte und zum anderen bekam sie immer eine Gänsehaut, wenn sie daran dachte, was er war. Vlar`zark war ein niederer Hexer und dies bedeutete, dass er mit Schatten im Bund stand. Lorantha kannte sich da zwar nicht genau aus, doch ihr gefiel es nicht, sich mit Leuten einzulassen, die ihre Seele den Schatten verkauft haben. In dieser Hinsicht waren die Personen nicht viel besser als die Wächterinnen, die ja auch offen mit dem Schatten paktierten. Lorantha ließ ihr freundliches Gesicht fallen, sobald die beiden Männer im Haus verschwunden waren und fragte sich abermals, warum ihre Schwester diese ausgerechnet eingeladen hatte. Miriam weis, dass ich sie nicht leiden kann! Vielleicht war es wirklich an der Zeit, dass Lorantha ihrer Schwester deutlich machte, wem ihre Loyalität gehörte: dem Volk der Jeraren oder dem Schwarzen Blut.

 

Nachdem die letzten Gäste eingetroffen waren, begab sich Lorantha zu dem großen Saal, wo die Versammlung stattfinden sollte und ging auf dem schnellsten Weg zu ihrer Schwester, die an einer Seite des Raumes stand und dabei war einige Notizen zu sortieren. Auf dem Weg dorthin fiel Lorantha auf, dass sich einige Grüppchen gebildet hatten und sie vermutete, dass der Verlauf diese Sammlung ihr nicht gefallen würde. Zum einem gefiel es ihr nicht, dass sich die Fürstin Clarisse Oysen mit dem niederen Hexer unterhielt. In ihrer Nähe standen auch noch zwei Vertreter von dem Land Ardàsk, wo die Jerarer verschwunden waren. Eine gefährliche Mischung!

Lorantha trat zu ihrer Schwester und sah sie finster an.

„Ich hoffe, dass du weist, was du tust, Schwester“, flüsterte sie ihr leise zu. „Mir gefällt deine Zusammenstellung nicht.“

Miriam Thorn seufze bei diesen Worten auf, doch sie ging nicht näher darauf ein. Stattdessen sah sie sich im Raum um und lächelte, als sie erkannte, dass sowohl Arianne als auch Tanata anwesend waren.

Lorantha ergriff ihre Schwester beim Arm.

„Sag, warum hast du Oysen eingeladen? Sie sucht doch immer eine Möglichkeit unsere Autorität zu untergraben und nun gibst du ihr die Gelegenheit sich mit diesem Hexer zu unterhalten.“

Miram zog ihren Arm aus dem Griff ihrer Schwester. Sie sah diese wütend an. „Könnest du aufhören, immer und überall Verschwörungen zu sehen, Lor. Erst die Sache mit Khil, wo du ihr glaubst, dass sie die Wahrheit sagt und nun dies. Oysen mag zwar versuchen, uns zu schaden, doch sie würde es nie offen tun. Dafür hat sie viel zu viel Angst, dass du hinrichten lassen könnest. Und was Meister Vlar`zark angeht, so ist er unserem Haus treu, das kann ich dir versichern.“

Als Lorantha diese Worte hörte, wurde ihr bewusst, dass es schlimmer war, als sie gedacht hatte. Nicht nur, dass Miriam einen niederen Hexer eingeladen hatte, nein, sie vertraute ihn auch noch. Wir werden uns nach dem Treffen lange unterhalten, Schwesterchen! Lorantha wandte sich von ihrer Schwester ab und ergriff einen Zettel, der auf einem Tisch in der Nähe lag. Dort war eine Liste zu lesen, mit den Themen, die heute besprochen werden sollte. Sie kniff ihre Augen zusammen, als sie den ersten Punkt las: Größe und Schlagkraft der Armee.

Plötzlich hallte Miriams Stimme durch den Saal und forderte die anderen auf, sich einen Platz zu suchen, damit sie endlich beginnen konnten. Die Gäste kamen der Aufforderung nach und kurz darauf herrschte Stille in den Saal.

Lorantha atmete tief durch und trat vor die Stuhlmasse. Sie selber besaß keinen Stuhl und hatte auch nicht vor, während der Versammlung zu sitzen. Sie war die Rechte Hand des Herrschers und ihre Position unterstützte sie somit. Sie sah alle Versammelten an und setzte ihr ausdrucksloses Gesicht auf.

„Willkommen und vielen Dank, dass ihr so zahlreich erschienen seid. Ich habe die Versammlung hier einberufen, weil wir einige wichtige Dinge besprechen müssen und auch Gerüchte im Umlauf sind, auf die wir heute eingehen werden.“ Sie hielt kurz inne und sah zu Miriam, doch diese hatte nicht reagiert, als Lorantha gesagt hatte, sie hätte selber die Versammlung einberufen. Ihrer Schwester war klar, dass dies gesagt wurde, damit den anderen die Wichtigkeit des Treffens bewusst wurde und weil Lorantha selber keine Zeit besaß, um Einladungen zu verschicken. Lorantha sprach weiter. „Es gibt einige Themen, die wir ansprechen werden, und habe vor, dass wir mit dem wichtigsten beginnen werden: unsere Armee! Wie vielleicht einige von …“

„Wichtigste Thema“, unterbrach Clarisse Oysen die Rechte Hand und sah empört aus. Sie stand ohne eine Aufforderung auf und sah zu den anderen Gästen. „Wie kann die Armee das Wichtigste sein, wenn in einem Land unsere Kameraden verschwinden?“

Wut stieg in Lorantha auf und sie ballte ihre Hände. Am liebsten würde sie sich auf die Fürstin stürzen und ihr das Genick brechen. Ich wusste, dass sie nur Ärger im Sinn hat. Doch pass auf … wie vorhin werde ich diejenige sein, die das letzte Wort haben wird!

„Fürstin Oysen, ich kann mich nicht erinnern, euch das Wort überlassen zu haben. Oder besitzt ihr neuerdings meine Position und glaubt, dass ihr es besser machen könnt?“ Loranthas Stimme war so eisig, dass einige Gäste bleich wurden und auch Clarisse unsicher aussah. Sie sah nicht mehr so selbstsicher aus.

„Nein … natürlich nicht. Ich meine nur, dass es wichtigere Themen gibt, als die Stärke unserer Armee“, stammelte sie und setzte sich wieder hin.

„Das kann man so sehen, wie man will“, sagte Lorantha und behielt ihren Ton bei. Wenn es nicht anders ging, dann würde sie ihnen zeigen, warum man die Rechte Hand fürchtete. „Beide Themen hängen nämlich sehr nah zusammen und um das eine zu lösen, muss man erst das andere sich genauer ansehen.“

Verwirrung trat in den Augen der Fürstin, doch sie schwieg. Auch die anderen Gäste sahen verwirrt drein, außer den beiden Vertretern von König Draken. Vlar`zark sah eher gelangweilt aus und Zor`zeirn hob beide Daumen in Richtung Lorantha, um seine Unterstützung zu zeigen.

Lorantha ignorierte ihn und wandte sich an Fürst Carajon Ebsen, der aus Ardàsk kam.

„Fürst Ebsen, wie weit sind unsere Truppen in Brot`wich?“

Jeder sah zu dem Mann und es war leicht zu erkennen, dass dies dem Fürsten nicht gefiel. Er sah nervös aus und begann zu schwitzen, wobei er jedoch seinen Blick auf Lorantha hielt. „Recht gut, Lady. Wir konnten unsere Zahl gegenüber letztes Jahr verdoppeln und mussten sogar noch einige nach Siveas Spitzen schicken, weil wir nicht genügend Platz für diese bei uns haben.“

Lorantha kniff die Augen zusammen. „Nicht genügend Platz? Hieß es nicht, dass ihr bis zu tausend Männern in Brot`wich unterbringen könnt? Letztes Jahr hattet ihr knapp dreihundert Soldaten, und wenn ihr eure Zahl verdoppelt hat, müsste es dann nicht so sein, dass ihr jetzt sechshundert habt? Wo ist der Platz für die restlichen vierhundert Personen?“

Lorantha hatte diese Frage in ihrer eisigen Stimme gestellt und Carajon wurde immer bleicher. Er sah aus, als würde am liebsten die Flucht ergreifen und sah sich hilfesuchend bei den anderen um, doch jeder wich seinem Blick aus. Er schluckte heftig.

„Das stimmt, Herrin, doch leider mussten wir einige Anlagen im Gebirge aufgeben und andere König Fansek Breden hat verlangt, dass einige Baraken abgetragen und in Askar neu aufbauen sollte. Er will dort seine Armee aufstocken und da wir ja rechtlich ihm verbunden sind, mussten wir ja den Anschein wahren. Aus diesem Grund haben wir ihm gehorchen müssen.“

Je länger Fürst Ebsen sprach, desto deutlicher war ihm anzusehen, dass die ganze Situation ihm unangenehm war. Wut kam in Lorantha auf, doch nicht die Wut auf Ebsen, sondern auf dem König von Ardàsk. Dieser Mann sorgte schon seit Jahren, dass sie sich immer wieder aufregen musste. Es war nicht leicht, eine Armee in einem fremden Land aufzustellen und in Ardàsk war es so, dass offiziell die Truppen, die zufälligerweise nur aus Jeraren bestanden, zu der Armee von Ardàsk gehörten. Demzufolge blieb Carajon nichts anderes übrig, als den Befehlen von Fansek zu gehorchen. Lorantha wandte sich von dem Mann ab und sah eine Frau, die in de Nähe saß, fest an.

„Und wie steht es in Siveas Spitzen, Fürstin Gallarn? Macht das Fansek auch Probleme?“

Wenn es so war, dann musste Lorantha dafür sorgen, dass der König einen tragischen Unfall erlitten würde.

Henriette Gallarn warf einen Blick zu ihren Landsmann, der erleichtert aussah, dass er nicht mehr im Visier der Rechten Hand stand und sah dann zu Lorantha. Sie schüttelte den Kopf.

„Nein. Dadurch, dass nur ein Teil unserer Truppen zu Fansek gehört, ist es einfach für uns, die anderen im Gebirge zu verstecken und auszubilden. Insgesamt haben wir fünfhundert, die im geheimen ausgebildet werden und dreihundert, die in den Kasernen des ardàsken Königs leben.“

Lorantha nickte, als sie diese Nachricht hörte und rechnete im Kopf zusammen. Dies machte achthundert in Siveas Spitzen und nochmal knapp sechshundert in Brot`wich, also insgesamt tausendvierhundert Soldaten. Dies klang am Anfang viel, doch es würde nicht ausreichen, um Ardàsk einzunehmen, geschweige denn halten zu können. Doch die Zahl hatte sich in den letzten Jahren wirklich verdoppelt und dies war etwas Erfreuliches.

„Und wo genau verschwinden unsere Kameraden?“

Lorantha warf einen Blick zu Clarisse, die jedoch den Blick gesenkt hielt und weiterhin schwieg. Schweigt sie, weil sie etwas Neues ausheckt, oder weil sie wirklich begriffen hat, wer hier das Sagen hat?

Henriette sah abermals zu Carajon, doch dieser Mann schien nicht mehr in der Lage zu sein, ordentliche Antworten zu bringen.

„In der Nähe von Jahalat, der Hauptstadt.“

Lorantha nickte abermals. „Und wie viele sind bisher verschwunden, wo man ganz sicher sagen kann, dass sie nicht anderweitig weg sind?“

Die Fürstin dachte kurz nach. „Mit Sicherheit können wir zwanzig Personen sagen, welche alle Mitglieder des Adels sind. Dann gibt es noch vierzehn Fälle, die noch ungeklärt sind.“

Die Rechte Hand schloss die Augen. Also waren es maximal vierunddreißig Personen und sie hatte gedacht, dass es wesentlich mehr waren. Sie warf einen wütenden Blick zu ihrer Schwester und dieser übermittelte ihre eine klare Aussage: Wegen vierunddreißig Vermissten, rufst du eine Versammlung zusammen?

Miriam Thorn erwiderte den Blick ihrer Schwester gelassen und drehte sich zu der Fürstin um.

„Sagt, Herrin Henriette, wie viele vom einfachen Volk sind verschwunden?“

Fürstin Callarn wurde rot und sah dann ängstlich zu der Rechten Hand, ehe sie leise antwortete. „Das weis ich nicht genau. Einige sagen, dass es so an die hundert sind und anderen sprechen von zweihundert. Ich selber habe in unserer Armee vierzig Soldaten verloren, wo ich nicht sagen kann, was aus ihnen geworden ist … doch ich vermute, dass sie Deserteure sind.“

Aus dem rot vor Verlegenheit war wieder eine Blässe der Angst geworden.

Lorantha kniff die Augen zusammen. „Also könnten über zweihundert unserer Kameraden tot sein und niemand weis etwas davon? Stammen die vom einfachen Volk auch aus Jahalat, abgesehen von den Soldaten?“

Callarn schüttelte den Kopf. „Nein … diese stammten hauptsächlich aus dem Westen des Landes und alle in der Nähe von Siveas Spitzen.“

Nun wurde Lorantha klar, warum Callarn zuerst das Verschwinden des einfachen Volkes verschwiegen hatte, weil sie nämlich für die Jeraren in Siveas Spitzen verantwortlich war und demzufolge auch für das Verschwinden. Die Rechte Hand warf einen Blick zu ihrer Schwester, welche zufrieden aussah.

„Und ihr habt keine Ahnung, wo sich die Leute aufhalten könnten“, wandte sich Lorantha wieder zu Henriette, die nun schwitzte. Sie wurde immer bleicher. „Nein … aber es geht das Gerücht herum, dass Schatten auftauchen und diese unsere Leute verschleppt haben sollten.“

Lorantha runzelte die Stirn, als sie dies hörte und drehte sich zu Zor`zeirn, der bisher kein einziges Wort gesagt hatte.

„Schatten? Habt ihr etwas damit zu tun?“

Gespielte Empörung trat in Zor`zeirns Gesicht. „Bitte? Lady Lorantha, diese Frage dürft ihr doch nicht erst meinen? Ihr seid unsere Verbündete? Wir würden doch niemals unsere Freunde angreifen und warum verdächtigt ihr uns? Es sind die Wächterinnen, die die Schatten in unsere Welt holen.“

Ach ja, nur die Wächterinnen? Und was ist mit Vlar`zark? Er trägt auch einen Schatten in sich.

Sie lächelte den Mann zu.

„So habe ich das nicht gemeint“, sagte sie und spielte vor, überrascht zu sein, dass er so von ihr denken konnte. „Ich meinte es eher so, dass ihr die Wächterschaft dort verärgert habt und diese sich nun an uns rächen. Dabei ist mir bewusst, dass ihr dies nicht mit Absicht machen würdet.“

Zor`zeirn öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sein Nachbar kam ihn zuvor.

„So einfach wollt ihr euch dies machen“, sagte Vlar`zark und sah Lorantha fest in die Augen. „Ihr wollt uns die Schuld geben und euch nicht einmal die Mühe machen, genauer nachzuforschen. Ist euch das Leben euer Kameraden so wenig wert, dass ihr erst einmal eine Versammlung einberuft und darüber redet, ehe ihr etwas Praktisches unternimmt? Und warum uns die Schuld geben? Ihr rekrutiert eure Armee und wundert euch, wenn dann potentielle Soldaten verschwinden? Glaubt ihr nicht, dass irgendwann auch die anderen dies mitbekommen würden?“

Lorantha erkannte die Vorwürfe, die hinter diesen Worten stand und ihre Mundwinkeln zuckten wütend. Ihre Abneigung zu diesem Hexer wurde größer und sie sah sich im Raum um. Sie erkannte, dass die meisten Fürsten dieselbe Frage stellten.

„Natürlich plane ich genauer diese Sache zu untersuchen, Meister Vlar`zark, doch wie …“

„Und warum plant ihr es immer noch“, unterbrach der Hexer sie und bemerkte nicht einmal die schockierten Blicke der jerarischen Fürsten. Er sprach ruhig weiter. „Sechs Tage waren genug Zeit, um jemanden mit dem Dreibogen nach Ardàsk zu schicken und wieder mit Informationen zurückkommen lassen. Doch anstatt dies zu unternehmen, habt ihr eure Aufmerksamkeit auf andere unwichtigere Themen verschwendet. Man könnte da auf die Idee kommen, dass sich der verborgene Herrscher nicht um das Wohlergehen seines Volkes kümmert.“

Fassungslosigkeit und Wut kämpften in Lorantha und für einen Moment wusste sie nicht, was sie sagen sollte. „Oder sorgt sich der Herrscher, aber ihr nicht“, fuhr der Hexer fort und lächelte leicht. „Vielleicht ist es euch egal, was aus anderen wird, solange ihr nur eure Armee bekommt?“

„Das ist nicht wahr“, fuhr Lorantha auf und schwor sich, diesen Mann nie wieder in ihr Haus einzuladen. „Was hätte ich eurer Meinung nach Unternehmen sollen? Hätte ich blindlings jemanden in die Situation schicken sollen, ohne mich vorher mit den Vertretern dieses Landes zu unterhalten?“

„Und warum habt ihr dann sechs Tage gewartet, ehe ihr eine Versammlung einberufen habt?“ Er sah zu den beiden Fürsten aus Ardàsk. „Oder hat sie sich schon mit euch getroffen?“

Beide Personen sahen unwohl auf und antworteten nicht auf diese Frage, doch die schien nicht notwendig zu sein. Jeder der anderen Gäste kam zu dem richtigen Schluss.

Lorantha schluckte und war für einen Moment daran, den Hexer in Gesicht zu schleudern, dass ihre Schwester diese Versammlung einberufen hatte. Doch dies konnte sie nicht laut sagen, denn dann würde sie zugeben, dass sie diese Gerüchte um das Verschwinden ihres Volkes nicht ernst genommen hatte. Sie warf einen wütenden Blick zu Miriam, welche ebenfalls unwohl aussah. Sie schien zu demselben Schluss zu kommen.

„Das habe ich nicht, aber in der Zwischenzeit habe ich mit unserem Herrscher gesprochen“, sagte Lorantha und dies war nicht einmal gelogen. Nur war bei diesem Gespräch ein anderes Thema wichtiger gewesen und das Verschwinden wurde nur kurz angesprochen. „Oder denkt ihr, ich würde handeln, ohne ihn vorher zu kontaktierten.“

Den jerarischen Fürsten schien diese Erklärung zu genügend, doch Vlar`zark Lächeln wurde inniger.

„Oh, dann könnt ihr also nicht handeln, ohne ihn vorher zu fragen? Ihr besitzt also keine wirkliche Macht und seid seine Marionette.“

Stille. Absolute Stille herrschte in dem Raum.

Wie kann er es wagen!

Lorantha begann vor Zorn zu zittern und fragte sich, wie sie am besten reagieren sollte, um nicht als schwache Person dazustehen. Dann sah sie, Miriam sich erhob und den Hexer anfunkelte.

„Natürlich ist Lorantha nicht seine Marionette, doch jeder weis, dass wenn etwas Ungewöhnliches passiert, der Herrscher es sofort erfahren muss, ehe darauf reagiert wird. Mit anderen Worten, sie war gezwungen abzuwarten, was er davon hält, oder sie hätte sich gegen ihn aufgelehnt.“

„Natürlich“, sagte Vlar`zark langsam und sein Lächeln verschwand. „Wie dumm von mir, dies vergessen zu haben.“ Er sah Lorantha an. „Verzeiht mir, meine Dame. Ich wollte euch nicht bloßstellen, doch dass ihr uns verdächtigt, hat mich wütend gemacht. Ich vermute, dass diese Verdächtigung auch nicht von ihnen persönlich kommt.“

Pass auf, was du jetzt sagst, schien Miriams Blick zu bedeuten und Lorantha wusste, dass sie recht hatte. Sie befand sich in einer schwierigen Situation.

„Nein, persönlich ist es nicht“, sagte sie langsam und gewann noch langsamer ihre Fassung zurück. Es sind nur Möglichkeiten, was passiert sein könnte. Unser Herrscher hat mir aufgetragen, alle Möglichkeiten zu berücksichtigen, auch wenn sie noch so unwahrscheinlicher sind. Jedoch lag es nie in meiner Absicht, euch oder König Draken zu beschuldigen.“

Vlar`zark nickte, doch sein Blick sagte deutlich, dass er die Wahrheit wusste. Dennoch schwieg er.

Um ihre frühere Ruhe zu gewinnen, brauchte sie den Rest der Versammlung, die dann ohne Probleme verließ. Zwar waren einige Fürsten verunsichert wegen Vlar`zarks Worte, doch niemand hatte es offen ausgesprochen. Für Lorantha selber war diese Versammlung eine große Katastrophe geworden und sie musste sich ernsthaft zusammenreisen, um nicht ihrer Schwester die Schuld daran zu geben.

 

„Verdammt, Miriam! Was hast du dir dabei gedacht, diesen Typen einzuladen“, fuhr Lorantha ihre Schwester als, nach die Versammlung beendet und die Gäste außer Haus waren. Sie zitterte vor Wut, während sie ihre Schwester anfunkelte.

Lorantha war erleichtert, als die Versammlung endlich zuende war und sie nicht mehr ihren Schein wahren musste. Stattdessen konnte sie die Person, die Schuld geben, die alles angefangen hatte. Während des Treffens konnte sie natürlich nicht ihre Schwester offen kritisieren, denn dass würde den Ruf der Familie schaden und Personen wie Clarisse Oysen hätten sich wie Aasfresser darauf gestürzt. Aus diesem Grund hatte Lorantha die Versammlung mit eiserner Hand fortgeführt und nur ab und zu wütende Blick zu ihrer Schwester geworden, die diesen meistens ausgewichen war.

Jetzt jedoch dachte Miriam Thorn nicht daran, den Blick auszuweichen und hielt in stattdessen stand. Sie verschränkte ihre Arme und funkelte wütend zurück.

„Gib mir nicht die Schuld“, verteidigte sie sich und warf dann einen Blick zu Tür, als wollte sie sich vergewissern, dass sich auch niemand hier aufhielt. „Du hast ihn doch selber verärgert. Wie konntest du sie fragen, ob sie für das Verschwinden unserer Kameraden verantwortlich sind. Ist doch kein Wunder, dass er sich verteidigt hatte.“

Lorantha starrte ihre Schwester an. Diese verteidigte sogar den Hexer noch? Die Rechte Hand kniff die Augen zusammen und zum ersten Mal fragte sie sich, ob doch mehr zwischen den beiden lief, als nur die Arbeit. Konnte es sein, dass Miriam es Leid war, alleine zu leben und sich deswegen jemanden zuwandte? Lorantha konnte dies nicht glauben, doch warum verteidigte ihre Schwester diesen Hexer so sehr? Sie kniff die Augen zusammen.

„Ich habe doch schon gesagt, dass ich alle Möglichkeiten in Betracht ziehen muss und wieso glaubst du, dass du diesen Mann vertrauen kannst? Immerhin ist er ein Hexer und dies bedeutet, dass er mit Schatten zusammenarbeitet. Warum wundert es dich dann, wenn ich ihn mit verdächtige, wenn es um Schatten geht?“

Miriam hob die Arme in die Luft und Wut trat nun vollkommend in ihre Augen. „Ich fass es nicht! Wenn du Schatten hörst, denkst du sofort an unsere Verbündete? Wieso nicht an die Wächterinnen, die sind diejenigen, die die Schatten missbrauchen und gegen Unschuldige einsetzen.“

Lorantha schüttelte den Kopf. „Warum bitte schön, sollen die Wächterinnen uns angreifen wollen?“

„Warum das Schwarze Blut? Sie sind unsere Verbündete … ganz im Gegensatz zu den Wächterinnen“, fuhr Miriam auf. „Und ich habe nicht gewusst, dass Vlar`zark dich bloßstellen würde. Ich dachte, dass sie mehr Informationen haben und uns helfen können. Deswegen habe ich sie eingeladen!“

Ach nur deswegen …

„Oh, allzu viele Informationen haben diese aber nicht gehabt“, entgegnete Lorantha und atmete tief durch. „Und warum Oysen. Wieso musste sie unbedingt anwesend sein?“

„Warum? Sie ist mit eine der mächtigsten Fürstinnen, die wir haben. Ihr Haus hat eine Menge Einfluss.“

„Richtig und sie wartet nur auf die Gelegenheit, um uns zu schaden. Hast du vielleicht mal daran gedacht, dass sie diejenige war, die vielleicht Khil vergiftet haben könnte?“

„Nicht das schon wieder!“ Miriam schlug auf dem Tisch. „Niemand hat Khileisa vergiftet! Das war sie ganz alleine, und wenn du nicht so leichtgläubig wärst, dann würdest du es auch sehen. Es ist schon schlimm genug, dass Arianne und Tanata dies denken, aber du … du bist doch vernünftig.“

Lorantha sah auf dem Tisch, der immer noch wegen des Schlags wackelte und sagte nichts darauf. Sie musste sich erst einmal innerlich beruhigen, ehe sie weitersprach. Es fiel ihr nicht leicht, wenn sie sich mit ihrer Schwester stritt, doch dieses Mal wollte sie nicht klein beigeben. Nein, dieses Mal würde sie eines klarstellen, und zwar, dass sich ihre Schwester entscheiden musste.

„Ich bin vernünftig. Doch du bist geblendet davon, dass Khil sich das selber angetan hat. Ich meine, was wäre dir lieber? Dass Khil sich selber vergiftet, um deine Pläne zu durchkreuzen, oder dass jemand anderes es ihr angetan hat? Und wenn sie es selber war, was würde es dann über dich aussagen?“

Bei diesen Worten war Miriam weiß geworden und sie ballte ihre Hände zu Fäusten. „Was willst du damit sagen?“

Lorantha wandte sich von ihrer Schwester ab und sah aus dem Fenster. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es draußen regnete und etwas in ihr sagte, dass das Wetter genau zu ihrer Stimmung passte. „Ich damit nichts sagen, doch wann hast du das letzte Mal etwas mit deinen Kinder unternommen? Ich meine, so richtig unternommen … das Anwesen verlassen und dich nicht immer mit deiner Arbeit verkrochen?“

„So … jetzt vernachlässige ich auch noch meine Familie. Und was ist mit dir? Wann hast du das letzte Mal etwas mit uns unternommen? Du bist die meiste Zeit immer außer Haus und wenn du vorbeikommst, dann nur für ein paar Kerzenstriche. Mach mir also keine Vorwürfe, wenn du nicht besser dran bist und was Khileisa angeht, so muss sie lernen, dass nicht alles nach ihrer Meinung geht.“

Ich frag mich echt, ob du dir selber überhaupt zuhörst?

„Wenn du meinst, Miriam“, sagte sie leise und schloss kurz die Augen. Jetzt oder nie. »Doch ich muss wirklich die Frage stellen, wem deine Loyalität gehört, Schwester? Ist es unser Volk, oder ist es das Schwarze Blut. Nein, lass mich ausreden“, sagte sie ernst, als sie erkannte, dass ihre Schwester etwas erwidern wollte. „Denk einmal darüber nach. Du stellst dich ohne nachzudenken auf die Seite des niederen Hexers, du arbeitest nur mit ihnen zusammen und stellst aber auch nichts in Frage, was sie sagen. Du pflichtest ihnen immer bei und verherrlichst ihre Arbeit. Da frage ich mich wirklich, zu wem du überhaupt stehst?“

Für einen Moment sah es so aus, als würde Miriam nicht wissen, was sie darauf erwidern sollte, doch dann kniff sie ihre Augen zusammen. „Wie kannst du mich so etwas fragen? Meine Loyalität gehört den Jeraren. Ich arbeite und breche die Wächterinnen, damit unser Volk davon profitieren kann und aus keinen anderen Grund. Ich habe für dich gesprochen, als vorhin Vlar`zark gegen dich geredet hat und ich habe geschwiegen, als du gesagt hast, dass du die Versammlung einberufen hast. Wie kannst du da denken, dass ich gegen dich bin?“

Der wütende Ton ihrer Schwester verwandelte sich in einen verletzten und Lorantha fragte sich, ob sie vielleicht übertrieben hatte. Doch sie verneinte dies.

„Also gehört deine Loyalität dem Volk“, fragte sie noch einmal nach und Miriam nickte. „Dann solltest du daran denken, wenn du das nächste Mal etwas unternimmst und eine Versammlung einberufst. Du weist, dass Vlar`zark mich noch nie leiden konnte und diese Oysen nur einen Grund sucht, um mir zu schaden.“ Sie sah ihre Schwester fest in die Augen. „Denk daran, wenn du das nächste Mal der Meinung bist, du müssest beide einladen.“

Mit diesen Worten ließ Lorantha ihre Schwester stehen und verließ das Zimmer. Sie suchte den schnellsten Weg zu der Kutsche, um das Anwesen zu verlassen. Zwar hatte sie geplant, das Abendbrot mit ihrer Familie einzunehmen, doch dazu war sie viel zu wütend. Jetzt brauchte sie erst einmal Abstand zu ihrer Schwester.

Kapitel Neunzehn

 Vlar`zarks Befehl

 

Wir sind die jerarsche Armee und unsere Aufgabe ist es, für die zu sorgen, die sich nicht allein verteidigen können. Das Volk der Jerarer hält zusammen und wir lassen niemanden in Stich.

 

Harkon Gordan,

jerarischer Hauptman,

Sommer im Jahre 2597

 

Wut stand in Loranthas Augen, als sie auf den Brief starrte, den sie gerade erst bekommen hatte und ihre Hand zitterte unkontrolliert.

Wie kann er es wagen! Wie kann er es einfach nur wagen!

Lorantha schloss die Augen und atmete tief durch. Sie versuchte die Wut in ihren Herzen zu beruhigen, doch dies gefiel ihr immer schwerer. Zuerst hatte dieser niederer Hexer auf der Versammlung sie bloßgestellt und nun befahl er ihr, dass sie zusammen mit der Kompanie, die in der Creusanschen Kaserne nach Ardàsk reisen sollte? Es war nicht einmal eine Bitte, sondern ein direkter Befehl.

Die Rechte Hand knallte den Brief auf dem Tisch. Es gefiel ihr immer weniger, dass sie mit dem König Draken zusammenarbeiten musste und immer größer wurde ihr Wut auf diesen Mann. Warum hatte Draken darauf bestanden, dass nun immer ein Hexer als Berater ihr zur Seite stehen sollte?

Dass einzige gute an den Befehl ist, dass ich ihn dann los bin!

Denn so wie sie den Brief verstanden hatte, würde er hier in Creusan bleiben und nicht mit nach Ardàsk reisen. Lorantha öffnete die Augen wieder und sah, dass ihre Hand nicht mehr zitterte. Dafür war ihr Knöchel weiß, denn sie hatte die Nachricht verknittert.

Dass Lorantha nach Ardàk reisen sollte, machte ihr nichts aus, denn dies hatte sowieso geplant, doch ihr missfiel der Ton, den Vlar`zark angesetzt hatte.

Nicht mehr lange … nicht mehr lange und ich muss diese Leute nicht mehr ertragen!

Das war für Lorantha der einzige Trost, der sie davon abhielt, diesen niedere Hexer in Gewahrsam zu nehmen, um ihn hinzurichten. Ihr Blick fiel auf dem Brief.

Ardàsk. Angeblich weis auch König Adain Draken nicht, warum immer mehr Jeraren in dem Land verschwanden und sie nahm sich fest vor, dies herauszufinden. Sie sah es als ihre Pflicht als Rechte Hand an, sich um alle Jeraren zu kümmern, weshalb sie auch vor acht Tagen diesem jungen Dieb eine neue Chance gegeben hatte. Er hatte Glück gehabt, dass er ein Jerare war, denn ansonsten hätte sie ihn wohl selber die Hand abgeschlagen und ihn in der Straße liegen gelassen.

Als Lorantha an den Dieb dachte, gingen ihre Gedanken zu der Kaserne, die unter dem Befehl von Pendrill Fotgarn stand. Dieser Mann war ein fähiger Kommandant und er wird sich wahrscheinlich über die Aufgabe freuen. In den letzten Monden hatte er sich immer wieder und wieder beschwert, dass seine Männer faul und dick wurden. Nun, jetzt würde er eine Aufgabe bekommen.

Sie sah abermals zu dem verknitterten Brief. Sie würde es genießen, wenn sie den niederen Hexer in seine Schranken weisen würde … wenn ihm bewusst werden würde, dass er nie hätte nie reizen sollen. Sie hasste diesen Vlar`zark sogar noch mehr als Zor`zeirn und dies sollte etwas heißen. Vor allen jedoch hasste sie den Hexer, weil er sich so gut mit Miriam verstand.

Er sollte sie in Ruhe lassen!

Es gefiel Lorantha nicht, wie sehr nahe sich Vlar`zark und ihre Schwester kamen. Zwar wusste Lorantha, dass Miriam nie wieder einen neuen Mann heiraten würde, doch sie wusste, dass Miriam immer offene Ohren für jemanden hatte, der nur das richtige sagen musste.

Lorantha verzog ihr Gesicht. Vielleicht sollte sie noch einmal mit Miriam reden und ihr klar machen, dass die Jeraren nicht zum Schwarzen Blut gehörten. Es gab zwar Jeraren, die Mitglieder waren, doch nicht jeder Jerare war ein Schwarzes Blut. Dies wäre eine Katastrophe, denn dann würde das Volk eine neue Unterdrückung bekommen. Nein, Lorantha wollte dies nicht. Sie will, dass in der Zukunft ihr Volk wieder frei war und seinen angemessenen Stand bekommen würde!

Und der erste Schritt wird sein, indem wir unseren Leuten in Ardàsk helfen werden. Pendrills Männer sollten sich darauf gefasst machen und sich große Mühe geben.

Die Rechte Hand verließ ihr Arbeitszimmer und zog ihren Mantel an. Sie steckte den Brief in eine ihrer Taschen und machte sich auf dem Weg in die Kaserne.

 

Wie immer, wenn Lorantha vor Pendrill Fotgarn stand, fragte sie sich, wie er es schaffte so sauber und gepflegt in einer Kaserne zu leben. Auch das Zimmer des Mannes war ordentlich und nirgends konnte die Rechte Hand Staub finden. Jedoch vermutete sie nicht, dass es daran lag, dass der Mann kurz vor ihrem Erscheinen sauber gemacht hatte, denn sie war ohne Ankündigung in sein Zimmer getreten.

Als sie an der Kaserne angekommen war, hatte sie den Soldaten am Eingang deutlich gemacht, dass sie niemanden brauchte, der ihr den Weg zeigte oder ihr Kommen ankündigte. Sie wusste nämlich, dass dann Pendrill versuchen würde, noch mehr Eindruck bei ihr zu schinden. An manchen Tagen genoss sie dies, doch heute war sie nicht in dieser Laune.

„Herrin Thorn“, sagte er und verbeugte sich. „Es ist mir eine Ehre, sie hier begrüßen zu dürfen? Darf ich ihnen etwas anbieten? Wasser, Tee oder vielleicht sogar auch einen Wein?“

Lorantha seufzte innerlich, doch schüttelte dann den Kopf. Sie hielt ihn den Brief von Vlar`zark hin und wartete, bis er ihn gelesen hatte. Dabei sah sie, dass sein Gemüt immer empörter wurde und sie spürte eine Genugtuung. Diesen Kommandanten gefiel wohl auch nicht der Ton, den dieser Brief vermittelte. Als Pendrill fertig war, senkte er langsam seine Hand mit dem Schreiben. Sein Gesicht war nun mittlerweile rot, doch er riss sich zusammen.

„Verstehe, Herrin“, sagte er ruhig, doch in seinen glitzerte es gefährlich. „Wann wollen sie, dass wir aufbrechen?“

Darüber hatte sich Lorantha schon den ganzen Weg bis hierher nachgedacht. Sie wollte so schnell wie möglich aufbrechen, doch sie wusste, dass sie Vorsicht vorgehen mussten, wenn niemand ihre kleine Streitmacht in Ardàsk sehen sollte. Noch war die Zeit nicht reif, um den anderen mitzuteilen, dass das Volk der Jeraren eine eigene Armee besaß. Sie tippte sich mit dem Zeigefinger auf ihre Lippen und dachte nach, ehe sie Pendrill ansah.

„Wie lange würdet ihr denn mindestens brauchen, um alles vorzubereiten. Ich will, dass genügend Nahrung für mindestens zwei Monde verfügbar ist und dass alle Soldaten gut ausgerüstet sind. Außerdem sollen so viel Pferde da sein, dass mindestens jeder zweite eins hat.“

Pendrill dachte kurz nach. „Ich würde sagen, gibt mir zehn Tage und alles wird soweit sein. Natürlich können wir es auch in sieben schaffen, doch dann könnte ich nicht für alles garantieren.“

Zehn Tage! Dass war mehr als Lorantha gedacht hatte, doch sie wusste, dass gute Planung schon ein halber Sieg war. Sie nickte. „Gut! Dann sorgt dafür, dass in zehn Tagen alles soweit ist.“

Der Mann verbeugte sich, um so zu zeigen, dass er den Befehl verstanden hatte. Dann richtete er sich wieder auf. „Dann stimmen die Gerüchte, dass unser Volk in Ardàsk angegriffen und getötet wird.“

„Das werden wir herausfinden, wenn wir dort sind“, sagte Lorantha und verfluchte die Gerüchte, die seit knapp vier Tagen in Creusan im Umlauf waren. Viele Adelsfamilien sind deswegen sehr besorgt und immer wieder bekam Lorantha Schreiben von ihnen, dass sie doch mehr Informationen haben wollten. Natürlich in einen höflichen Ton und immer darauf bedacht, die Rechte Hand nicht zu verärgern. Dass jetzt auch noch die Soldaten anfangen, Fragen zu stellen, gefiel ihr überhaupt nicht.

Pendrill schien ihre schlechte Laune zu merken, denn er fragte nicht näher nach, sondern schluckte. Lorantha nahm Vlar`zarks Brief wieder an sich und wandte sich zur Tür. „In zehn Tagen. Keinen Tag länger!“

Der Mann nickte und Lorantha verließ sein Zimmer.

 

„Habt ihr es gehört“, schrie Lucien, als er die Tür zum Zimmer aufriss und hineinstürmte. Sein Gesicht glühe vor Aufregung und er sah Kreitha, Doranth und Gwelan mit leuchtenden Augen an.

„Was gehört“, murmelte Kreith, der auf seinem Bett lag und dabei war einen Brief von seiner Familie zu lesen. Er klang nicht besonders interessiert.

„Wir werden in zehn Tagen ausrücken und zwar nach Ardàsk!“

Dies erreichte Kreiths Aufmerksamkeit und er legte den Brief beiseite. Sein Gesicht war nun aufmerksam. Auch Doranth und Gwelan, die bei einem Kartenspiel am Tisch saßen, ließen ihre Karten fallen und wandten sich zu Lucien, der die gewonnene Aufmerksamkeit sehr genoss. Er lächelte alle drei breit an.

„Ja, ihr habt richtig gehört“, meinte er und ließ sich auf einen Stuhl nieder. „Ich habe dies mitbekommen, als der alte Pendril dies Zakarn gesagt hat. Wir werden endlich eine Aufgabe bekommen und nicht die ganze Zeit hier in der Kaserne hocken. Ihr habt ja sicher auch das Gerücht gehört, einige Jeraren spurlos verschwunden sind. Wir sollen herausfinden, was mit ihnen passiert ist.“ Dann wurde sein Blick etwas finsterer. „Das einzige blöde ist, dass die Rechte Hand mit uns reisen wird … da werden wir keinen allzu großen Spaß haben.“

Gwelans Herz wurde eiskalt als er dies hörte. Diese Frau, die Frau mit dem kalten Blick, würde mitkommen. Wenn dies stimmte, dann musste er sich große Mühe geben, um nicht aufzufallen. Er musste zeigen, dass sie keinen Fehler gemacht hat, als sie ihm diese Chance gegeben hatte. Doch wie sollte er es ihr zeigen? Er war gerade mal neun Tage hier und hatte das Gefühl, dass er noch gar nichts gelernt hatte. Panik kam in ihm auf und er musste heftig dagegen ankämpfen, nicht einfach aufzuspringen. Die anderen schienen nichts von seiner Angst mitzubekommen, denn sie saßen einfach am Tisch, denn nun war auch Kreith zu diesen gekommen. Sie malten sich aus, was alles so passieren könnte und welche große Schlacht sie schlagen würden.

Eine Schlacht …

Erst jetzt wurde Gwelan bewusst, was es bedeutete, dass er in der Armee war. Er würde kämpfen müssen. Er würde sein leben riskieren, wenn andere es ihm befahlen. Wie hätte er dies nur übersehen können. Es war möglich, dass er bei seiner ersten Schlacht sterben würde … in den Moment, als ihm dies bewusst wurde, sehnte er sich danach, dass diese Frau ihn bei der Stadtgarde abgegeben hätte. Diese hätten ihn zwar auch getötet, doch dann wäre es vorbei gewesen … oder er hätte Glück gehabt und nur seine rechte Hand verloren. Kurzzeitig kam in ihn der Fluchtgedanke auf, doch er verwarf ihn. Er war nun bei der Armee und wusste, was Deserteure blühte. Der Tod! Und er bezweifelte, dass es ihm gelingen würde, so weit zu fliehen, dass ihn niemand finden würde. Nein, er wusste, dass diese Frau, die Rechte Hand, ihn überall ausfindig machen würde und dann würde sie ihr Versprechen einlösen. Sie würde ihn hinrichten lassen.

Vielleicht überlebe ich ja die Schlacht …

Gwelan war sich nicht sicher, doch dann erinnerte er sich daran, was Harkon ihm am ersten Tag gesagt hatte: Aber mach dir darüber keine Sorgen, du bist jetzt einer von uns und wir werden auf dich aufpassen … Er war also nicht alleine, und wenn er sich immer bei erfahrenen Soldaten aufhielt, dann würde er es auch überleben.

Mach dich jetzt nicht fertig … du wirst es eh nicht ändern können. Außerdem bist du jetzt Soldat in der jerarschen Armee. Es ist deine Pflicht dich um die Jerarer zu kümmern, und wenn welche einfach verschwinden, dann musst du ihnen helfen!

Pflicht. Bisher hatte Gwelan noch nie eine Pflicht gegenüber anderen Personen gehabt, sodass dies ein ganz neues Gefühl für ihn war. Ein Gefühl, das ihm gefiel, aber auch gleichzeitig Angst machte.

Mittlerweile waren auch andere Rekruten in dem Raum gekommen und Lucien erzählte ihnen diese Neuigkeit. Die meisten von ihnen waren auch begeistert, doch es gab auch ein-zwei junge Burschen, die bleich wurden. Demzufolge war Gwelan nicht der Einzige, der so über den kommenden Auftrag dachte. Dies zu wissen, verstärkte sein Zugehörigkeitsgefühl zu seinen Kameraden. Er war nun einer von ihnen und würde versuchen, sie zu schützen, genauso wie sie es bei ihm versuchen würden.

Teil 3

 Entlang des Pfades

 

 

Und du wirst deinen Weg finden, den die Schicksalsmeisterin dir vorbestimmt hat. Nie wirst du ihn entkommen, sodass es keinen Sinn hat, wenn du dich weigerst ihn entlangzugehen.

 

Rae Sir Neiselle Urzen,

Hohe Tante,

Sommer im Jahr 101 vor dem Nebel

Kapitel Zwanzig

 Wut und Zerrissenheit

 

Die Feuerwächterinnen sind die vordersten Kämpfer. Ihr Element ist wild und zerstörerisch. Genau dies braucht es auch, um gegen die Schatten zu bestehen. Darum fürchtet sie nicht, sondern ehrt sie. Denn sie beschützen uns vor dem Unheil, das hinter den Riss lauert.

 

Rae Sir Filcia Orwen

Verwahrerin des Flusses,

Sommer im Jahre 419 vor dem Nebel

 

Du sollst deine Hände nicht mit Menschenblut beschmutzen.

Du sollest alles, was nicht menschlich ist, misstrauen, denn es ist nicht im Sinne des EINEN.

 

Dritte und Zehnte Regel des »Kodex der Zehn«

 

Zwei Tage waren seit dem Angriff der Schatten vergangen und Nolwine wusste immer noch nicht, was sie genau davon halten sollte. Sie erinnerte sich an die Angst tief in ihr und daran, dass sie nichts dagegen hätte tun können. Sie hatte das Gefühl immer noch die Hitze des Feuers zu spüren und daran, dass sie dachte, sterben zu müssen. Sie erinnerte sich an den Blick in den Augen des Mannes, der in ihr Zimmer gestürmt war und sie hatte töten wollen. Vor allen jedoch wurde sie nicht den Anblick von dieser Feuerwächterin los.

Nolwine saß auf dem Bett ihres Zimmer in einem neuen Gasthof und hockte die Beine an. Sie umarmte diese, legte ihren Kopf darauf und schloss die Augen.

Angst. Sie hatte an diesen Tag so große Angst gehabt wie noch nie im ihrem Leben. Angst davor, dass sie hätte sterben sollen und deutlich erinnerte sie sich die Hilflosigkeit, die sie verspürt hatte.

»Du sollst deine Hände nicht mit Menschenblut beschmutzen«, murmelte sie die dritte Regel des Kodex vor sich hin und klammerte sich an diesen Worten. Sie hatte gesehen, wie die eine Wächterin den Mann einfach so getötet hatte, obwohl dieser fliehen wollte. Zwar hieß es, dass es ein Schattenbesetzter war, doch dies änderte nichts daran, dass er einmal ein Mensch gewesen war.

»Du sollest alles, was nicht menschlich ist, misstrauen, denn es ist nicht im Sinne des EINEN«, zitierte sie die zehnte Regel und drückte ihre Beine fester an ihren Oberkörper. Schattenbesetzte waren nicht mehr menschlich, doch sie waren es früher gewesen. Und was ist mit den Wächterinnen? Bei den Erleuchteten hieß es, dass sie ebenfalls nicht menschlich waren und deshalb ist ihnen nicht zu trauen. Dies würde bedeuten, dass sie selber auch kein Mensch mehr ist, doch sie fühlte sich nicht anders. Zwar nahm sie den Wind deutlicher wahr, als vorher, doch sie war dennoch ein Mensch. Oder?

Tränen stiegen in ihr auf. Sie klammerte sich an ihren Glauben und wusste einfach nicht mehr weiter. Sie glaubte an den EINEN, den Gott, der alles erschaffen hatte und über die Welt wacht. Sie glaubte nicht an die acht Geweihten und nun hieß es, dass einer der Geweihten sie auserwählt hatte? Es hieß, die Geweihten wären ebenfalls Schatten, doch warum sollten dann die Wächterinnen gegen die Schatten kämpfen? Früher hatte Nolwine gedacht, dass die Schatten von den Wächterinnen in die Welt gerufen worden und nun wusste sie nicht mehr, was sie genau glauben sollte.

Sie hatte Fragen, doch die Luftwächterin Thanai meinte, dass sie keine Zeit dafür hatte. Nolwine verstand dies, denn immerhin hatte es einen Angriff gegeben. Doch sie konnte nicht mit sich selber in reinen kommen, wenn sie keine Antworten bekam.

Ein Klopfen ließ Nolwine zusammenzucken und sie sah auf. Schnell wischte sie ihre Tränen weg.

»Ja?«

Die Tür öffnete sich und herein kam die Luftwächterin. Nolwine wusste bei ihren Anblick, was sie denken sollte. Diese Frau hatte dafür gesorgt, dass sie keine Schmerzen verspüren würde, doch gleichzeitig auch deutlich gemacht, dass sie nicht mehr in ihr alten Leben gehen konnte. Und nachdem Balistrano sie abgewiesen hatte … Nolwine wusste einfach nicht mehr weiter.

»Nolwine. Wir werden in drei Tagen aufbrechen und nach Sardenthal reisen«, sagte Thanai und sie klang irgendwie nicht begeistert. »Mir wäre es zwar lieber, wenn du von hier aus nach Neirhain reisen könntest, doch in Greisarg sind keine anderen Luftwächterinnen anwesend. Dich alleine loszuschicken, wäre verantwortungslos, deswegen wirst du wohl oder übel mit zum Feuerhort reisen müssen.«

Obwohl diese Worte hart klangen, hatte Nolwine das Gefühl, dass diese Härte nicht ihr galt. Diese Frau war seit dem Angriff nicht besonders gut gelaunt und Nolwine vermutete, dass es stark etwas mit der Feuerwächterin zu tun hatte. Sie nickte, um zu zeigen, dass sie es verstanden hatte.

»Gut«, sprach Thanai und lächelte plötzlich. »Du wirst Sardenthal mögen. Die Feuerschwestern haben eine beeindruckende Stadt, doch Neirhain ist wesentlich besser. Doch es wird nicht schaden, wenn du den Feuerhort auch sehen wirst. Von dort aus werden wir dann weiter zu Hort der Lüfte reisen.« Sie wandte sich zur Tür, ehe sie inne hielt und sich nochmal umdrehte. »Ich weis, dass du viele Fragen hast und ich verspreche dir, dass wir uns unterhalten werden, wenn wir wieder unterwegs sind. Die Reise nach Sardenthal wird einige Zeit dauern.«

Nolwine nickte abermals. Ihr blieb sowieso keine andere Wahl. Vielleicht würde sie es schaffen bis dahin endlich ins Reine mit sich kommen.

 

Nachdem Thanai das Zimmer des Mädchens verlassen hatte, fühlte sie sich nicht wohl. Sie hatte den innerlichen Zwist gemerkt und wusste, dass sie dringend etwas dagegen unternehmen sollte, doch dafür war jetzt im Moment einfach keine Zeit. Der Angriff des Schwarzen Blutes auf Greisarg war verheerend gewesen. Zwar gab es überraschenderweise nur wenige Tote, doch dafür war die Zerstörung der Gebäude größer gewesen.

Und Schuld daran trägt Akara … weil sie einfach nicht einmal sich zusammenreißen konnte!

Die Luftwächterin war wütend, wenn sie an Akara Sorhain dachte, und würde am allerliebsten ihren Frust freie Bahn lassen. Doch was brachte es ihr? Sie hatte gewusst, wie sie ihre Freundin auffinden würde und dürfte deswegen auch nicht überrascht sein. Es war vorhersehbar gewesen, dass Akara betrunken sein würde. Jedoch machte es dies nicht besonders annehmbarer.

Thanai lief über dem Gang im Gasthaus Wilde Blume und klopfte leise an einer zweiten Tür. Sie wartete, bis ein leises Herein kam und betrat dann den Raum. Freude durchfuhr sie, als sie erkannte, dass Zhanaile wach war und auch wesentlich besser aussah, als die letzten Tage. Doch die Freunde ging wieder zurück, als sie sah, wer noch im Raum war.

Akara Sorhain stand am Fenster, hatte einen Trinkschlauch in der einen Hand und mit der anderen fuhr sie den Fensterrahmen ab. Thanai würde ihren ganzen Besitz erwetten, dass sie wusste, was sich in dem Schlauch befand. Wasser war es garantiert nicht.

»Ah … wenn dass nicht unser Lüftchen ist«, sagte Akara und wandte sich zu der Luftwächterin um. Thanai bemerkte, dass die Augen der Feuerwächterin immer noch rötlich waren. Zum einen, wegen der Wut, die diese während des Kampfes gespürt hatte und zum anderen wegen dem Alkohol, der immer noch in ihr war und nicht vergehen konnte, da Akara immer wieder neuen zu sich führte.

Die Luftwächterin warf einen Blick zu Zhanaile, die leicht lächelte, doch es war zu erkennen, dass dieses Lächeln nicht ernst gemeint war. Sie seufzte.

»Du bist eine Schande, Akara«, sagte Thanai und kniff die Augen zusammen. »Hat dir das schon einmal jemand gesagt?«

Ein breites Grinsen erschien auf Akaras Gesicht. »Oh, sicher doch. Ich meine, dass Seranin dies bestimmt schon über hundert Male erwähnt hat… Ach übrigens … da wir gerade von ihr sprechen. Ihr kommt ja aus Sardenthal. Was macht sie so denn?«

Leise schloss Thanai die Tür und funkelte dann Akara an. »Sie ist nicht begeistert, dass sie dich suchen müssen und meint, dass du die größte Enttäuschung bist, die sie jemals gesehen hat. Und weist du was? Ich stimme ihr zu. Verdammt Akara! Weißt du, dass über zwanzig Gebäude Brandschäden erlitten haben und auch etliche Wächterinnen? Wie konntest du nur halb betrunken beginnen in den Strängen einzuwirken, obwohl du wusstest, dass es gefährlich ist. Und dann konntest du nicht einmal deine Gefühle wirklich im Zaun halten, was jedoch nicht geschehen wäre, wenn du nicht betrunken gewesen wärst!«

Schweigen erfüllte den Raum und Akara nahm demonstrativ einen Schluck aus ihrem Trinkschlauch. Damit brachte sie Thanai nur noch mehr zur Weißglut, doch dies schien die Feuerwächterin nicht zu kümmern.

»Ich war nicht betrunken, Thanai-Schätzchen. Glaube mir, wenn ich betrunken gewesen wäre, dann hättet ihr den Kampf alleine austragen können. Sei doch froh, dass ich mitgeholfen habe. Aber nein, anstatt dankbar zu sein, machst du aus einem Funken gleich ein Inferno.« Sie wandte sich wieder zu dem Fenster und nahm einen weiteren Schluck. »Außerdem, was kümmert es eine Luftwächterin, was ich mache? Du sollest dich um deine Angelegenheiten kümmern und nicht andere kritisieren.«

Diese Worte fachten Thanais Wut nur noch mehr an. »Das soll wohl ein Scherz sein, Akara! Ist dir eigentlich klar, dass Zhanaile nur angegriffen wurde, weil wir dich suchen mussten? Nur, weil du dich weigerst deine Pflicht zu erfüllen, müssen wir durch halb Sardeil reisen und sind somit ein leichtes Ziel für das Schwarze Blut. Wenn wir dich nicht hätte suchen müssen, wären wir schon längst wieder bei unseren Horten. Es ist deine Schuld, dass sie verletzt wurde!«

Akara zuckte zusammen und starrte die Luftwächterin mit aufgerissenen Augen an. Schmerz trat in ihren Blick und sie wandte ihren Kopf zu Zhanaile, die immer noch blass aussah.

»Ich … ich … das war keine Absicht!«

Zhanaile trat zwischen Thanai und Akara und schüttelte heftig den Kopf.

»Lass das Thanai! Du kannst Akara nicht dafür die Schuld geben. Wenn jemand Schuld daran trägt, dann ist es das Schwarze Blut«, sagte die Wasserwächterin und warf einen scharfen Blick zu Thanai, die etwas erwidern wollte. »Ich meine das ernst, Thanai! Hör auf, dies zu behaupten.« Dann sah sie Akara fest in die Augen. »Und du hör gefällig auf, Thanai zu reizen. In einem hat sie Recht: Würdest du nicht immer trinken, dann wären die Schäden in Greisarg nicht zu schlimm gewesen. Mal ehrlich, Akara, so kannst du doch nicht dein weiteres Leben führen. Immer auf der Flucht vor deinen Feuerschwestern und dir dabei den Verstand wegtrinken. Das ist Enttäuschend! Hast du damals auf Shar`sea nicht gemeint, dass du dich ändern wolltest?«

Abermals zuckte Akara zusammen und sie wich einige Schritte zurück, ehe ihre Schulter einsackten. »Du hast gut reden, Zhanaile. Für dich ist es einfach. Du wolltest deine Macht haben und bist zufrieden damit. Ich jedoch will nur meine Ruhe haben und mich nicht in den Krieg mit dem Schwarzblütern einmischen.«

»In den Krieg einmischen«, fuhr Thanai auf. »Verdammt! Sei nicht so zart besaitet, wenn es um den Kampf gegen diese Vereinigung geht! In den Kampf gegen die Schatten, hast du ja keinerlei Probleme, diese in Asche zu verwandeln. Das Schwarze Blut tötet Unschuldige und jagt uns Wächterinnern und denkst du nur an dich selber.«

Das Rot in Akaras Augen wurde dunkler und zeigte somit an, dass ihre innere Wut dabei war, vorzupreschen. »Es ist ein großer Unterschied, ob ich Schatten töte oder Menschen«, zischte sie Thanai an, diese warf ihre Hände in die Luft.

»Menschen, die andere Menschen töten und es auch noch dabei genießen. Oder was ist mit dem Schattenanhänger? Kannst du diese auch nicht töten, weil sie Menschen sind, obwohl sie immer einen nach den anderen töten. Unschuldige, weil sie die Schatten in diese Welt holen. Sie sind böse und wollen nur Vernichtung. Hör auf, dir wegen ihnen ein schlechtes Gewissen einzureden.«

»Es mag sein, dass was sie unternehmen, ist nicht richtig, doch es sind immer noch lebende Wesen. Was gibt uns das Recht, deren Leben zu nehmen?«

»Das Recht, dass sie uns angreifen und töten wollen. Das Recht, das sie der Meinung sind, dass wir eine Schande sind und ausgerottet werden sollen. Das Recht, das sie Unschuldige töten und das Gleichgewicht der Welt zerstören wollen«, entgegnete Thanai und wusste, dass ihre Argumente nicht viel helfen würden. Es war nicht das erste Mal, dass sie dies sagte und sie wusste, dass es für Akara keinen besonderen großen Unterschied machen würde. Etwas, was Thanai nur noch wütender machte. »Mitleid zu haben, ist eine schöne Tugend, doch nicht angebracht, wenn es gegen den Falschen gerichtet wird.« Sie seufzte und fühlte sich plötzlich leer. »Ich finde es gut, dass eine Feuerwächterin nicht nur die Zerstörung und Gewalt in den Sinn hat, Akara, doch es lässt sich nicht ändern, dass ihr Feuerwächterinnen nun mal die vordersten Kämpfer seid. Dies liegt an euerem Element und muss aufhören, dich dagegen zu wehren. Du sollest es annehmen.«

»Und dann was? Soll ich die Erste Flammenträgerin werden und dann meine Armee gegen die anderen führen«, fragte Akara sarkastisch und kniff die Augen zusammen. »Soll ich Zerstörung und Tod hinter mir lassen, nur weil das Feuer mein Element ist?«

»Wenn es den Richtigen trifft, dann ja«, sagte Thanai leise und fühlte sich nicht wohl dabei, als sie den Schmerz in Akaras Augen vernahm. »Es ist wie bei dem Heilen, Vria. Manchmal muss man das schlechte Fleisch wegschneiden, damit die Wunde besser heilen kann.«

Akara schüttelte den Kopf und drehte sich um. Sie nahm automatisch einen weiteren Schluck aus ihrem Trinkschlauch und verließ dann das Zimmer.

Der innere Sturm, der in Thanai aufgekommen war, verrauchte langsam und sie ließ sich schwerfällig auf einem Stuhl nieder. Ihr war klar, dass ihre Worte nicht fair gegenüber ihrer Freundin gewesen waren. Sie mochte Akara sehr und konnte ihren inneren Zwist auch sehr gut nachvollziehen, doch dieser Zwist war einfach bei einer Feuerwächterin fehl am Platze.

Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter und sie sah auf. Zhanaile stand neben ihr. Ihr Gesicht war bar jeder Gefühlsregung und sie sagte nichts, doch Thanai konnte sich denken, was in der Wasserwächterin vor sich ging.

»Mir wäre es lieber gewesen, wir hätten sie nicht gefunden«, flüsterte Thanai.

»Ich weis, Vria. Aber wir werden sie nach Sardenthal bringen müssen. Dies ist die Anordnung des Rates und wir müssen gehorchen. Auch wenn es uns nicht gefällt.«

Thanai nickte und erhob sich wieder. »Ich werde schauen, was wir noch so alles für die Reise brauchen werden. Denn je eher wir Greisarg verlassen, desto eher werden wir in Sardenthal sein.«

Sie schenkte Zhanaile ein leichtes Lächeln und verließ dann das Zimmer.

 

Nachdem Akara Sorhain das Zimmer verlassen hatte, führte ihr Weg direkt in dem Wirtshaus, wo sie ihr Zimmer gemietet hatte, als sie in Greisarg angekommen war. Es war gerade später Nachmittag, sodass der Schankraum nicht besonders voll war und deswegen auch keine abschätzenden Blicke zu erkennen waren.

Die junge Frau setzte sich auf ihrem Stammplatz und hob eine Hand. Sofort war der Wirt an ihrer Seite und sie bestellte dies, was sie bei ihm am meisten in den letzten Tagen getrunken hatte. Der Wirt verzog kein Gesicht und es war zu erkennen, dass er einen vorsichtigen Blick aufgesetzt hatte. Er huschte schnell hinter seinen Tresen und füllte einen Krug ab. Diesen stellte er auf dem Tisch vor der Frau.

Akara atmete tief durch und schloss dabei die Augen. Sie spürte immer noch den Schmerz, den Thanais Worte hervorgerufen haben und sie wusste, dass ihre Freundin Recht hatte. Doch dieses Wissen sorgte nur dafür, dass sie sich noch elendiger fühlte. Als die Feuerwächterin erfahren hatte, dass Zhanaile auf die Reise nach Greisarg verletzt worden war, war sie wütend gewesen. Wütend auf das Schwarze Blut und hätte am allerliebsten etwas zu Asche verbrannt. Jedoch hatte sie sich zurückgehalten, denn es stimmte, dass sie in dieser Stadt schon genug Schaden angerichtet hatte.

Sie lehnte sich in ihren Stuhl zurück. Dies war in letzter Zeit öfters so gewesen. Immer dort, wo sie auftauchte, brachte sie Zerstörung mit. Dabei spielte es keine allzugroße Rolle, dass sie immer gegen Schatten kämpfte und die Zerstörung ein Nebenprodukt war, denn letztendlich war es ihr Feuer, das die Gebäude niederbrannte. Ihre innere Gabe, die sie am allerliebsten nie verwendeten würde. Doch dass war einfacher gesagt, als getan, denn wenn sie nicht gegen die Schatten kämpfte, dann bestand die Gefahr, dass Unschuldige verletzt und sogar getötet wurden. Etwas, dass Akara nicht zulassen konnte. Sie war so erzogen wurden, dass sie jeden half, der sich nicht selber wehren konnte und sich gegen die Schatten zu wehren war etwas, dass so gut wie niemand vermochte. Also war sie gezwungen ihr inneres Feuer zu nutzen und dabei Gewalt über die zu bringen, die sie schützen wollte.

Akara öffnete ihre Augen und nahm den Krug. Das Bier war nicht besonders und hatte einen sehr schlechten Nachgeschmack, doch es war nicht teuer und sorgte für den nötigen Effekt. Sie kippte den Inhalt des Kruges mit einem Zug hinunter und stellte den Krug mit einem lauten Knall auf dem Tisch. Eine Geste zum Wirt sorgte dafür, dass sie einen neuen vollen bekam.

Sie hatte sich gefreut, als sie nach ihrem Zusammenbruch aufgewacht war und Thanai erkannt hatte. Doch die Freude währte nicht lange. Nicht, nachdem sie erfahren hatte, wieso ihre Luft-Freundin in Greisarg war und dass Zhanaile verletzt worden war. Ihr war bewusst gewesen, dass der Rat der Elemente jemanden losschicken würde, um sie zu suchen, doch dass es ausgerechnet ihre Freunde sein würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Dies war nicht fair. Wäre es andere Feuerwächterinnen gewesen, dann würde es ihr nicht besonders schwer fallen, sich einfach zurückzuziehen oder notfalls mit Gewalt die Stadt zu verlassen, um zu verhindern, dass man sie nach Sardenthal brachte. Doch gegen ihre Freunde anzutreten, war etwas, dass sie nicht wollte.

»Verdammter Rat«, murmelte Akara und trank abermals. Dieses Mal jedoch nur einen großen Schluck und nicht den ganzen Krug. Langsam spürte sie, dass ihre Sinne sich immer mehr benebelten. Es tat gut und sie fühlte sich frei dabei. Ein Gefühl, dass sie alles vergessen ließ und dafür sorgte, dass ihre Gedanken nicht allzu schlecht wurden. Gleichzeitig trat eine Benommenheit in ihr, die ihren inneren Schmerz vergessen ließ.

Sardenthal. Sie wollte nicht zurück zu dieser Stadt, denn sie wusste, dass sie dann zu der Ersten Flammenträgerin ernannt werden würde. Und danach würde es kein Zurück mehr geben.

Ein missmutiger Seufzer entfuhr ihr und sie trank den Krug leer. Was sollte sie unternehmen? Sie könnte sich jetzt aus der Stadt schleichen und in den Süden reisen. Vielleicht nach SaHarten oder noch weiter bis nach Zhiril. Doch was würde ihr dieses Handeln einbringen? Ihr war bewusst, dass Thanai und Zhanaile sie weiterhin folgen und suchen würden. Vielleicht würde sie dann wieder vom Schwarzen Blut angegriffen werden.

Akara stützte ihren Kopf mit beiden Händen auf dem Tisch und schloss abermals die Augen. Sie hatte nicht gewollt, dass Zhanaile bei der Suche nach ihr verletzt werden würde. Dass Einzige, was die junge Feuerwächterin wollte, war, in Ruhe gelassen zu werden.

Vielleicht sollte ich nach Hause reisen, fuhr es Akara durch den Kopf, doch dann schüttelte sie diesen leicht. Dies war ein Ort, wo die anderen als Allererstes nach ihr suchen würden. Aus diesem Grund hatte sie ja ihr Heimatdorf in den letzten Monaten gemieden.

Sie bestellte sich einen dritten Krug und leerte diesen mit einem Zug. Sie merkte, dass der Alkohol noch stärker in ihr aufstieg, und nahm das Gefühl erleichtert an. Dann stand sie schwankend auf, legte einige Münzen auf dem Tisch und ging in ihr Zimmer, wo sich immer noch ihre Habseligkeiten befanden. Sie torkelte in dem Raum, schloss die Tür hinter sich und zog ihren Rucksack hervor.

Lange musste sie in diesen nicht suchen und sie holte einen zweiten Trinkschlauch hervor, in dem feinster Wein zu finden war. Ein Tropfen, den es in ganz Greisarg nicht zu finden war. Sie setzte sich auf das Bett und begann diesen zu trinken.

 

Um viel musste sich Thanai nicht kümmern, denn der Wagen und die Pferde hatten das Feuer sehr gut überstanden, sodass es an ihr lag, hauptsächlich für Proviant zu sorgen. Dies war nicht besonders schwer, denn zum einen war die Ernte erst eingefahren worden und zum anderen meinten viele Händler, dass die Wächterinnen Greisarg vor den Schatten gerettet hatten, sodass sie gute Angebote bekam. Sie schloss einige Geschäfte ab und sorgte dafür, dass in zwei Tagen alles zu ihrem Gasthaus gebracht werden würde.

Danach machte sie sich auf dem Weg zu dem Gasthaus Zum Weißen Kaninchen, oder zu den, was noch übrig war. Der Kampf und das Feuer hatten einen hohen Preis von dem Gasthaus und auch von dem Haus der Elemente gefordert. Doch nach drei Tagen sah es nicht mehr allzu schlimm aus. Am Anfang wurde fleißig alles aufgeräumt und dann wieder aufgebaut. Jeder half mit und das Geld für den Aufbau gab die Wächterschaft.

Thanai suchte den Wirt Joan Drean aus der Menge der Personen heraus und war erleichtert, dass er den Angriff gut überstanden hatte. Er war natürlich erschüttert gewesen, dass der Angriff so viel von seinem Gasthaus zerstört hatte, doch gleich darauf gemeint, dass er sowieso eine große Renovierung vorgehabt hatte. Diese würde nun einfach vorverlegt werden.

Als der Wirt sie erkannte, kam er zu ihr und wischte seine Hände an einer Schürze ab. Er verbeugte sich.

»Rae Lùvar. Was führt sie denn hierher«, fragte er.

»Ich wollte nur mal schauen, wie es mit dem Aufbauarbeiten vorangeht«, sagte sie, während sie sich erneut umsah. »Es scheint alles schneller zu gehen, als ich erwartet hatte.«

Der Wirt nickte und Stolz stand in seinen Augen. »Aber sicher, Rae Lùvar. Wir lassen uns nicht unterkriegen von dem Schwarzen Blut. Wir sind Kämpfer und jeder hilft jeden.« Dann sah er die Wächterin genau an. »Ich plane den Namen zu ändern, denn irgendwie passte Weißes Kaninchen nicht mehr so richtig. Was meint ihr, würden die Rae Vashen Anstoß daran nehmen, wenn ich mein neues Gasthaus Zum tobenden Feuersturm um benennen würde?«

Thanai stockte und wusste keine Antwort darauf. Sie bezweifelte, dass die Feuerwächterinnen dies verbieten würde, doch was würde Akara dazu sagen? Sie würde überhaupt nicht begeistert sein und ihren Frust freien Lauf lassen. Sie sah den Wirt an.

»Nun, dazu kann ich nicht viel sagen, doch seit ihr euch sicher? Euer Gasthaus ist berühmt gewesen unter dem Namen Zum weißen Kaninchen. Einfach den Namen zu ändern, wäre doch bestimmt schlecht für das Geschäft?«

Joan legte seinen Kopf schräg. »Da mag was dran sein, doch ich möchte einen Neuanfang machen. Ein viel besseres Gasthaus aufbauen und da wäre doch ein neuer Name wesentlich besser. Meinen sie nicht?«

Thanai sah zu den Bauarbeiten und zuckte dann mit den Schultern. »Es ist eure Entscheidung! Wenn ihr es für richtig haltet, dann solltet ihr den Namen ändern. Doch nur, wenn ihr euch auch wirklich sicher seit.«

Der Wirt nickte und hielt dann inne. Fassungslosigkeit trat auf seinem Gesicht und er rannte zu einem Jungen, der Bretter von einem Stapel wegräumen wollte. »Lässt du die hier liegen, Bursche! Die brauchen wir noch«, rief er und schickte den Jungen woanders hin.

Die Luftwächterin seufzte tief und wandte sich dann ab. Sie war wirklich gespannt, inwieweit der Wirt den Namen des Gasthauses ändern wird. Vielleicht würde es so sein, dass sie in einem halben Jahr Quartier im Tobenden Flammensturm beziehen würde.

 

Fünf Kerzenstriche später verließ Akara schwankend das Wirtshaus und trat in die Kühle der Nacht. Ihr Kopf brummte und die Umgebung schien immer wieder zu verschwimmen. Ihr war bewusst, dass sie es wieder einmal übertrieben hatte, doch dies war ihr in dem Moment ziemlich unwichtig. Sie sog die angenehme Luft in ihre Lungen und hielt kurz den Atem an.

Tief in ihren Inneren flammte ihre Flamme auf und schien unstetig zu werden. Ihr Feuer bäumte sich ungezähmt auf, da es durch den Alkohol genährt worden war. Akara wurde es heiß, doch dies störte sie nicht. Ganz im Gegenteil, sie nahm die Wärme erfreut wahr und ging langsam in Richtung Hafen. Wenn man dachte, dass Greisarg tagsüber voller Betrieb war, dann wurde man überrascht, wenn der Trubel in der Nacht zunahm. Viele Stände hatten noch offen und die unzähligen Gasthäuser wurden erst nach Einbruch der Dunkelheit zu vollem Leben erweckt. Gruppen von jungen, aber auch älteren Personen zogen von Wirtshaus zu Wirtshaus, um das zu verbraten, was sie sich tagsüber hart erarbeitet hatten. Einige fingen an, sich zu streiten und aus den meisten Streiten entfachte sich eine kleine Prügelei. Einmal wurde sogar Akara von jemand angetrunkenem angepöbelt, doch sie ignorierte dies. Würde sie sich darauf einlassen, dann würde ein großes Feuer entstehen und dies hatte noch mehr Zerstörung zurfolge.

Wankend kam sie an den Hafen und blickte auf die Schiffe, die sich dort befanden. Wut kam langsam in ihr auf. Wieso war in den letzten Tagen kein Schiff nach Greisarg gekommen, dass den Kontinent hatte verlassen wollen.

»So eine Asche«, fluchte Akara und sie wollte sich schon abwenden, als sie eine einzelne Person an einen Kai stehen sah, die auf das weite Meer blickte. Schwankend trat Akara auf diese zu. »Wenn das nicht unser Fischlein ist«, sagte sie leise und merkte, dass ihre Stimme dabei ein wenig lallte. Sie schniefte und sah dann ebenfalls auf das Meer. »Was gibt es da zu sehen?«

Die Frau neben ihr seufzte tief und wandte ihren Blick von den Wellen ab. Sie sah Akara an und ein trauriger Ausdruck trat in ihre Augen. »Du hast wieder getrunken.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, sodass Akara davon absah zu antworten. Doch innerlich zuckte sie bei dem traurigen Unterton zusammen. »Wie soll das so weitergehen«, fragte die Frau und ergriff Akara bei den Schultern. »Du kannst doch nicht deinen Frust immer ertränken. Damit ruinierst du dein Leben!«

Akara schnaubte. »Das ist es schon, Zhanaile.« Sie sah zu ihrer Freundin. »Denk doch nach. Wie sollte es anders sein. Mein Leben ist eine Schande. Ich verletzte die, die ich eigentlich beschützen wollte und selbst meine Freunde werden verletzt, wenn ich nicht einmal anwesend bin.«

Der Griff der Wasserwächterin um Akaras Schulter wurde heftiger. »Das darfst du nicht sagen! Es war nicht deine Schuld, dass das Schwarze Blut uns angegriffen hat. Thanai ist nur gereizt und zurzeit viele Dinge, um die sie sich kümmern muss. Der Angriff hier auf Greisarg, dann die Suche nach dir und auch noch das Kind, das wir unterwegs aufgegriffen haben. Sie braucht einfach mal eine Pause, doch in diesen Dingen ist sie genauso stur wie du. Doch was sie gesagt hat, dass hat sie nicht so gemeint und …«

»Das ist schön Zhanaile, dass du für Frieden zwischen uns sorgen willst, aber dass ändert nichts an den Wahrheitsgehalt ihrer Worte. Wäret ihr nicht auf der Suche nach mir gewesen, dann hätte der Attentäter euch nicht angegriffen und du wärst nicht verletzt worden. So einfach ist das!«

Zhanaile schüttelte heftig den Kopf. »Das ist nicht wahr. Dann hätten wir woanders angegriffen werden können. Es ist doch unwichtig, wo wir uns aufhalten, das Schwarze Blut versucht doch immer, uns irgendwo anzugreifen. Das versuchen sie doch immer. Doch dafür darfst du dir doch nicht die Schuld geben, `kara.«

Akara schloss die Augen. Sie hätte es wissen müssen, dass ihre Freundin so darauf reagieren würde. Dass sie darauf bestehen würde, dass es nicht Akaras Schuld war. Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht war es dieses Mal nicht meine Schuld, doch dafür trage ich für die Zerstörung der Stadt die Schuld. Egal, wo ich hinkomme, ich bringe immer Zerstörung und Leid mit mir mit. Immer wieder und wieder«, schloss sie leise und öffnete ihre Augen. »Manchmal glaube ich, dass es das Beste wäre, wenn ich mich einfach irgendwo hinlege und mich dann Asche verwandeln würde.«

»Was!« Schock trat in Zhanailes Augen und sie wich einige Schritte zurück. »Das darfst du nicht sagen, Akara! Denk an all die anderen, die du zurücklassen würdest. Deine Schwester, deine Feuerschwestern, Seranin, Thanai und auch ich. Glaubst du, wir möchten, dass du stirbst?«

»Garleya würde es vermutlich einfacher haben, wenn ich nicht da wäre. Ich bin sowieso so gut wie zu Hause, also würde es auch nicht auffallen. Meine Flammenschwestern … nun, die wären froh, wenn sie keinen Ärger mit mir haben würden. Seranin ist sowieso der Meinung, dass es besser wäre, wenn ich nicht existieren würde und Thanai hat ihre Meinung vorhin sehr deutlich gemacht.« Akara sah die Wasserwächterin an. »Glaube mir, Zhanaile. Im großen Bild gewesen, ist es wirklich besser, wenn ich nicht da wäre. Schon alleine wegen Var`zar. Dann könnte diese verdammte Klinge zu jemanden kommen, der sie auch verdient hat.«

Akara hielt ihre rechte Hand ausgestreckt und konzentrierte sich auf die Feuerstränge, die sich in ihrer unmittelbaren Umgebung befanden. Sie suchte sich zwei heraus und verband diese mit ihrem inneren Feuer. Sofort verdrehten sich die beiden Stränge und bildeten einen dickeren Strang. In diesen leitete sie ihr ein Teil ihrer inneren Flamme und in ihrer rechten Hand entstand ein Schwert, das aus puren Flammen bestand.

Sie sah aus den Augenwinkeln, dass ihre Freundin einige Schritte zurückwich, und verzog leicht das Gesicht. »Keine Sorge, Fischlein. Ich habe alles unter Kontrolle.«

Dies stimmte auch, denn Var`zar war eine besondere Klinge. Eine Klinge, die sich nicht von dem Alkohol in Akaras Körper beeinflussen ließ. »Es wäre wirklich besser, wenn Var`zar zu jemand gehen würde, der sie auch verdient hätte. Jemand, der wissen würde, was er mit dieser Klinge hat. Mir ist es egal! Ich hasse sie und würde sie am allerliebsten nie mehr rufen.«

Mit einem leisen Zischen verschwand das Schwert und zurück blieb Akara, die immer noch ihre Hand ausgestreckt hielt. Abermals konzentrierte sie sich und ein anderes Schwert erschien. Dieses Mal nutzte sie nur ihre eigenen Feuersträngen und ignorierte diese, die sich in ihrer Umgebung befanden. »Ich brauche nicht das ewige Feuer, wenn ich kämpfen will. Da reicht mir mein eigenes Feuer.«

Zhanaile betrachtete das Schwert, dessen Flammen unstetig flackerten, und schien nachdenklich zu sein. Sie seufzte nach einer Weile. »Es wird einen Grund geben, `kara, warum Ethron dich auserwählt hat, seine Klinge zu tragen. Mir ist klar, dass du da anderer Meinung bist, aber alles hat einen Sinn. Das Schicksal …«

»Schicksal«, unterbrach Akara und kniff die Augen zusammen. Mit einem Zischen verschwand das zweite Schwert und sie ließ ihren Arm senken. »Ich glaube nicht an das Schicksal, das weist du. Ich bestimme mein eigenes und in diesen sehe ich nicht vor, dass ich mich in einer Position drängen werde, in der ich nicht sein will! Ich möchte den Pfad bestimmen, den ich entlang gehen werde und mich nicht zu etwas verleiten lassen, das gegen meine innersten Überzeugungen geht. Und die Zukunft, die andere für mich ausgesucht haben, ist leider so. Ich werde mich nicht zwingen lassen!«

»Dann werden wohl Thanai und ich Schwierigkeiten haben, dich nach Sardenthal zu begleiten?«

Akara schüttelte den Kopf. »Nein! Ich will nicht, dass wieder jemand verletzt wird und wenn es bedeutet, dass ich zum Feuerhort reisen muss, dann soll es so sein. Doch wenn ich erst einmal dort bin, werde ich den Rat zeigen, was ich von seiner Entscheidung halte. Und glaube mir, Zhanaile, er wird nicht gerade begeistert sein!«

»Das ahnte ich schon«, flüsterte Zhanaile leise und sah dann wieder auf das Meer hinaus. Akara bemerkte dies und Schuld stand in ihren Augen.

»Verzeih mir, dass du mich suchen musstest. Ich weis, dass du viel lieber in Vraishain gewesen wärst.«

Die Wasserwächterin lächelte leicht und lehnte sich gegen Akara, welche nun ebenfalls schweigend auf die Wellen blickte.

Kapitel Einundzwanzig

 Flucht durch das Gebirge

 

Das Land Murai war für das Gebirge Molzren`dre bekannt, denn es gibt Gerüchte, dass sich dort einer der größten Berge befinden soll. Ebenfalls heißt es, dass in Molzren`dre ein verborgender Eingang zu dem Volk der Cith`ren sich befinden soll. Ich selber habe noch nie einen gesehen und wanderte schon oft in diesem Gebirge herum. Das einzige Interessante, was es hier gab, war ein Dreibogen. Ansonsten einige abgelegen Dörfer und Herden von wilden Ziegen. Dennoch gibt es einige Orte, die man unbedingt dort gesehen haben sollte. Es gibt schöne Täler, imposante Berge und Felsformationen, die seltsame Formen besitzen. Ein wirklich verzaubernde Gegend.

 

Ausschnitt aus dem Werk »Die Länder auf dem Kontinent Morharet,

von Abran Klaytos,

 

Mit finsterem Blick starrte Saren auf den Rücken von Larren und wusste immer noch nicht, was sie von dem Mann halten sollte. Dies gefiel ihr überhaupt nicht, denn es zeigte ihr, dass sie unsicher war und Unsicherheit sorgte dafür, dass sie sich Sorgen um ihre Schwester machte. Bei diesen Gedanken wandte sie ihren Kopf zur Seite, wo Aleitha schweigend neben sie ging.

Sarens Blick wurde weich, als sie ihre jüngere Schwester betrachtete. Sie war zwar immer noch geknickt, dass sie nie von Aleithas Schwester erfahren hatte, doch nun war keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Nun war es wichtig, dass sie für die Sicherheit ihrer Schwester sorgte. Genauso, wie sie es ihrer Mutter vor Jahren versprochen hatte.

Die kleine Gruppe aus Saren, Aleitha und Larren war seit vier Tagen unterwegs und Saren musste sich eingestehen, dass sie nicht wirklich vorausgeplant hatte. In ihr war nur der Gedanke gewesen, dass sie auf ihrer Schwester aufpassen und sie verhindern musste, dass dieser Fürst sie in die Finger bekam. Nur das allein hatte für sie gezählt, sodass sie, ohne richtig nachzudenken, mit ihr ihr Zuhause verlassen hatte.

Ein Seufzen entfuhr dem Mädchen und sie richtete ihren Blick wieder nach vorne. Larren hatte darauf bestanden, dass sie immer tiefer ins Gebirge nach Westen gehen sollten. Zum einen, da hier das Gebirge nicht so breit war und sie deswegen es hoffentlich bald verlassen können und zum anderen, weil es für Reiter schwierig war, ihnen zu folgen. Zwei Gründe, die Saren nachvollziehen konnte und dennoch fiel es ihr nicht leicht. Den Mann zu vertrauen, den sie ihr ganzes Leben nur als Säufer gekannt hatte

Wer bist du in Wirklichkeit und warum warst du die ganze Zeit in Ferren gewesen?

Immer wieder stellte sich Saren diese Frage und dass sie keine Antwort darauf hatte, machte sie nur noch wütender. Dass Aleitha diesen Mann auch noch zu vertrauen schien, entfachte ihr Missfallen gegenüber diesen Mann. Sie mochte es nicht, dass ihre jüngere Schwester so schnell Vertrauen zu anderen schloss und nicht auf ihrem Rat hörte.

Saren wandte ihren Blick abermals von den ehemaligen Soldaten ab und sah zur Seite. Sie gingen gerade durch eine Felsspalte, sodass rechts und links von ihnen Fels aufragte und Saren das Gefühl vermittelte, sie wäre ganz klein und bedeutungslos. Wie ein kleiner Käfer inmitten großer Steine. Misstrauisch beäugte sie das Gestein und kam sich wie in einer Falle vor. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, dass man von oben einen Steinschlag auslösen konnte und um ihnen somit zu schaden.

In den letzten Tagen war zwar kein Verfolger in Sicht gekommen, doch sie hatte Stimmen und Geräusche durch das Gebirge hallen hören, was darauf deutete, dass man sie immer noch verfolgte. Sie erinnerte sich an der Wut in Andriaks Stimme und ahnte, dass dieser Fürst nicht so leicht aufgeben würde.

Aber das werde ich nicht zulassen! Ich werde Aleitha in Sicherheit bringen und beschützen. Koste es, was es wolle.

Im Grunde genommen war dies viel einfach gesagt, als getan, denn Saren fühlte sich in letzter Zeit sehr komisch. Immer wieder bekam sie Kopfschmerzen und hatte das Gefühl, als würde jemand an ihren Geist zerren. Außerdem bekam sie seltsame Träume, die sie nicht deuten konnte und die für sie sehr real erschienen.

Kopfschüttelnd vertrieb Saren diese Gedanken und ging schweigen hinter Larren her. Dass Aleitha darauf bestanden hatte, dass sie ohne zu fragen den Mann folgen, hatte heute früh ihr einen Stich versetzt, denn sie selber wäre viel lieber oben auf einer Seite der Spalte gegangen und nicht durch sie mittendurch. Hier fühlte sie sich schutzlos ausgeliefert, und wenn sie sich so fühlte, wie sollte es dann bei ihrer kleinen Schwester sein?

Abermals sah Saren zu Aleitha und Sorge trat in ihren Augen. Der hastige Aufbruch und die Flucht hatten Aleitha sehr zugesetzt, dass konnte die ältere Schwester erkennen, auch wenn Aleitha sich nicht beschwerte. Aleithas Blick war müde auf dem Weg gerichtet, und wenn sie abends irgendwo ein Lager aufschlugen, dann war sie meisten zu geschafft, um dabei zu helfen. Doch weder Aleitha noch Larren beharrten darauf, dass Aleitha mithelfen musste und nachdem sie etwas gegessen hatte, schlief sie auch gleich ein. Am nächsten Tag weckte Saren ihre Schwester immer kurz vor dem Aufbruch, damit sie etwas länger schlafen konnte und danach ging es auch schon mit dem Laufen weiter. Immer weiter nach Westen und somit immer weiter von ihrer Heimat entfernt.

Saren verspürte trauer in sich aufsteigen und sie fragte sich, wie lange sie unterwegs wäre, ehe sie wieder nach Ferren zurückkommen konnten. Wie lange wird wohl der Fürst sie verfolgen lassen?

Selbst wenn er irgendwann aufhören würde, es würde in Ferren nicht sicher sein. Er könnte immer wieder zurückkommen und sein Werk beenden.

Dies war ein Gedanke, der in Saren immer wieder auftauchte. Wenn sie also nicht mehr nach Ferren zurückgehen konnten, was könnten sie dann machen? Wo sollten sie hingehen? Sie besaßen kaum noch etwas, und selbst wenn sie ihre Habseligkeiten von Ferren holen würden, wo bräuchten sie erst einmal einen Ort, wo sie diese unterbringen könnten. Saren Gedanken wanderten zu Chaidra, dieser sogenannten Wächterin des Todes. Sie hatte gemeint, dass es einen Ort gab, wo Personen wie Aleitha leben konnten. Vielleicht sollte sie ihre kleine Schwester dorthin bringen, denn so würde sie wenigsten an einem richtigen Ort leben können. So würde Saren sicher sein, dass es ihr Schwester dort gut ging und sie müsste sich nur um sich selber kümmern.

Ich würde schon was finden. Hauptsache Aleitha wird es gut gehen.

Der Gedanke jedoch daran, dass sie von ihrer Schwester getrennt sein würde, verursachte ein Brennen in ihrer Brust. Sie hatte früher nie viel darüber nachgedacht, wie sich ihr Leben entwickeln würde und immer gedacht, dass sie beide zusammen in dem Haus ihrer Eltern leben würden. Wie sehr naiv das gewesen war, wurde ihr nun sehr deutlich bewusst. Wie hätte sie denken können, dass sie für immer zusammen sein würden?

Mehrere Steine lösten sich von der steilen Felswand und schlugen vor Saren auf dem Boden. Sie schreckte aus ihren Gedanken und starrte diese zuerst verwirrt an, ehe ihr die Gefahr bewusst wurde. Sie sah zu der Wand hinauf und kniff die Augen zusammen, jedoch konnte sie nichts Verdächtiges oben erkennen. Waren demzufolge die Steine von alleine gefallen? Ihr Misstrauen wurde größer und sie runzelte die Stirn.

Warum hatte Larren darauf beharrt, durch die Schlucht und nicht an der Seite oben entlang? Können wir ihm wirklich trauen?

Mit einem finsteren Blick folgte sie den Mann weiter.

Die Gegend änderte sich nicht und je länger Saren in dieser Schlucht ging, desto finster wurde ihr Gemüt. Abermals fragte sie sich, warum ihre Schwester so sehr den Soldaten vertraute und warum sie die letzten Tage so schweigsam war. Lag es an die Worte dieser Chaidra? Saren hatte damals als sie dies Frau das erste Mal gesehen hatte, sofort gewusst, dass sie dieser Frau nicht trauen durfte und nun konnte Saren es nicht mehr rückgängig machen. Erneute Angst, dass sie ihre kleine Schwester verlieren würde, stieg in ihr auf und sie blieb stehen.

Nein! Das darf ich nicht zulassen! Ich darf Aleitha nicht verlieren.

»Saren?«

Das Mädchen sah auf und erkannte, dass ihre Schwester neben ihr ebenfalls stehen geblieben war und sie besorgt ansah. Diese Sorge ließ Saren beinahe auflachen. Es war nicht richtig, dass sich Aleitha Sorgen machte. Sie sollte ein unbeschwertes Leben führen, doch wie unbeschwert konnte ein sein, wenn man den Tod von anderen sah.

»Saren?!«

Saren blinzelte und versuchte ihre Schwester beruhigend anzusehen. »Alles in Ordnung … ich habe nur nachgedacht.«

Ein zweifelnder Blick war die Entgegnung ihrer Worte, doch Aleitha ging nicht weiter darauf ein. Sie sah müde aus und Saren spielte mit dem Gedanken, eine Pause anzuordnen. Sollte sich doch Larren darüber aufregen.

Als Saren den Mund öffnete, um dies laut auszusprechen, spürte sie wie etwas an ihr zerrte. Sie kannte das Gefühl und eine Eiseskälte ergriff sie. Nein! Nicht schon wieder! Ein Keuchen entfuhr ihr und sie konnte das Rauschen ihres Blutes in ihren Ohren vernehmen. Verschwommen erkannte sie, wie sich die Lippen ihrer Schwester bewegten, doch sie konnte nichts verstehen. Dann schrie sie auf. Es war ihr so, als würde jemand einen glühenden Haken in ihrer Seele stechen und sie mit aller Kraft aus dem Körper reisen. Mit einem zweiten Schrei wurde es dunkel um ihr herum.

 

»Saren!«

Mit schreckensgeweihten Augen sah Aleitha, wie ihre Schwester ihr Gesicht vor Schmerzen verzog, die Augen verdrehte und auf dem Boden stürzte. Plötzlich war Larren bei ihnen und er kniete sich neben ihrer Schwester hin, während Aleitha immer noch auf Saren reglosen Körper starrte. Automatisch griff sie nach ihrer inneren Gabe und erkannte … nichts. Da war kein Leuchten, das ihre Schwester umhüllte, aber auch keine Düsternis. Es war so, als würde nichts dort sein.

Eiseskälte griff nach ihrem Herz und sie musste heftig schlucken. Sie erinnerte sich an den Vorfall vor einigen Tagen, wo dies schon einmal so gewesen war und so Aleitha ihre Schwester nicht hatte wecken können.

»Saren«, flüsterte sie und ging neben Larren in die Knie. Sie sah den Soldaten ängstlich an. »Was ist los? Was passiert mit Saren?«

Der ehemalige Soldat gab keine Antwort, sondern untersuchte Saren. Er hob ihre Augenlider, überprüfte die Atmung und legte eine Hand auf ihre Stirn. Sein Gesicht schien nicht besonders beunruhig zu sein, sodass Aleitha hoffte, dass nichts Schlimmes passiert war.

Doch was ist passiert? Warum sehe ich bei Saren nichts … was ist mit ihr?

Die Angst, dass sie ihre Schwester verlieren könnte, kam in ihr auf und dieses Mal viel stärker als in der Zeit, nachdem sie ihrer Schwester von ihrem Raben erzählt hatte. Damals war ihre Angst so real erschienen, denn Saren hatte sich in der Zeit danach von ihr abgewandt und kein einziges Wort mehr mit ihr gesprochen. Dann war der Fürst aufgetaucht und Aleitha hatte gewusst, dass ihre Sorge unbegründet war, doch nun war sie sich nicht mehr so sicher. Oh, sie war sich sicher, dass sie ihre Schwester nicht dadurch verlieren würde, dass sie wegging und sie alleine zurückließ, doch was ist, wenn sie während der Flucht starb.

»Saren … du darfst mich nicht alleine lassen«, sagte sie leise und musste gegen Tränen ankämpfen. Saren war ihre Schwester und die Einzige, die sie noch als Familie hatte. Saren hatte ihr immer das Gefühl von Geborgenheit vermittelt und war immer an ihrer Seite. Egal, ob Aleitha krank, ob sie verzweifelt wegen ihrer Gabe oder ob sie lustlos war. Immer war Saren bei ihr und half ihr. Was sollte sie also machen, wenn es nicht mehr so wäre. Wenn Saren eines Tages nicht mehr da war und sie alleine zurechtkommen musste?

Aleitha wusste keine Antwort darauf. Früher hatte sie nie darüber nachgedacht. Früher, ehe diese Frau Chaidra erschienen und noch alles in Ordnung war. Ein schlechtes Gewissen kam in ihr auf. Sie hatte es als selbstverständlich angesehen, dass Saren immer bei ihr war und sie unterstützte.

Und was habe ich gemacht? Ich habe sie alleine die Bürde tragen lassen, seitdem unsere Eltern gestorben sind … ich … ich bin eine furchtbare Schwester!

Tränen liefen über ihr Gesicht und sie nahm eine Hand von Saren in ihre eigenen. Sie drückte sie fest und presste sie an ihre Brust. »Bitte Saren, du darfst mich nicht verlassen. Ich brauche dich doch.«

Plötzlich spürte Aleitha, wie jemand eine Hand auf ihre Schulter legte und sie zuckte zusammen, ehe sie erkennen konnte, dass es Larren war. Der ältere Mann sah sie aufmunternd an.

»Mach dir keine Sorgen, Aleitha. Deiner Schwester wird es gleich wieder besser gehen. Wir machen hier eine Pause. Du kannst dich derweil ausruhen.« Er sah zu Saren. »Wenn deine Schwester wieder aufwacht, dann werden wir weiterreisen.«

Verwirrung kam in Aleitha auf, als sie diese Worte hörte. Ihr kam es so vor, als würde der Mann wissen, was mit ihrer Schwester los war. Sie ließ Sarens Hand los und ergriff stattdessen seine.

»Was passiert mit ihr?«

Larrens Gesicht wurde etwas finsterer und er schüttelte den Kopf. »Das kann ich dir nicht sagen. Es ist nur eine Vermutung und es steht mir nicht zu, es dir zu sagen. Dies muss deine Schwester übernehmen. Ich werde ihr nicht vorgreifen.«

Diese Worte verwirrten Saren noch mehr und sie sah auf ihre Schwester, die reglos auf dem Boden lag. Reglos. Nicht leuchtend, aber auch nicht düster.

 

Saren hatte das Gefühl, dass sie innerlich zerreißen würde. Sie spürte, wie etwas an ihr zerrte, und riss die Augen auf, während die Umgebung um ihre herum in einen Strudel mit unterschiedlichen Farben unterging. Zwischendurch konnte sie seltsame Szenen erkennen und fragte sich, ob sie dabei war, den Verstand zu verlieren. Mal sah sie eine Schlacht von oben, dann sah sie mehrere Personen, die einfach dastanden und sie unterhielten, doch sie konnte nicht verstehen, was es war.

Plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper und sie riss die Augen auf. Sie merkte, dass sie sich hoch in einem Himmel befand, und konnte unter sich Wasser erkennen. So weit das Auge reichte, sodass sie vermutete, dass es sich hierbei um ein Meer handelte.

Sie schwebte über ein Meer!

Verwirrt sah sie auf die Szene, die sich unten abspielte.

Ein Boot glitt langsam auf den Wellen und schaukelte monoton. Mit aufgeblähten Segeln und braun schimmernden Holzplanken fuhr es an den Küsten, die dunkel und bedrohlich wirkten, entlang. Geier flogen hoch in der Luft und zogen enge Kreise, denn sie konnten es kaum erwarten, wieder etwas zu essen haben. Einige kamen sogar sehr nahe an ihr Opfer und wollten zubeißen. Doch als sie dies tun wollten, erschien eine starke Brise und schleuderte die Viecher weg.

Die junge Frau, die in dem Boot saß, hielt sich verkrampft an dem Mast und keuchte vernehmlich. Ihr Gesicht war vor Schmerz verzehrt und mit verkrustetem Blut bedeckt. Die eingefallenen Augen wechselten zwischen den Farben blau und grün, und immer wenn ein Wechsel stattfand, schrie sie auf, als würde sie in Flammen stehen. Ihre Kleidung war verschlissen, fast unbrauchbar und nur so mit Blut, sowie Schweiß getränkt, dass sie stanken. Eine Kette mit einem wunderschönen Anhänger hielt sie fest in der linken Hand, sodass Blut aus ihre Haut trat und das Silber der Kette ruinierte. Sie verspürte unerklärliche Qualen und so sank sie am Mast zu Boden und bedeckte ihr Gesicht. Sie weinte leise.

»Du gehörst mir ... ich finde dich ... ich jage dich und ich werde dich besitzen«, ertönte eine grausame Stimme und hallte auf dem Meer entlang.

Die Frau krümmte sich zusammen und die Tränen flossen geschwind. »Lass mich in Frieden...«, flüsterte sie und ergriff den Rand des Holzes. Ihre Hände krallten sich in dieses Holz und viele Splitter drangen in ihr Fleisch. »Verschwinde ...« Sie schrie auf, blickte auf und ließ den Blick über das Wasser schweifen.

»Du gehörst mir. Mir allein!«

Saren kam es so vor, als würde sie hören, was diese innerlich dachte und ihre Verwirrung nahm zu. Es war ihr, als wäre sie an zwei Orten gleichzeitig. Als wäre sie hier oben und zur selben Zeit auch in der Frau. »Nein ... Nein ... nein ...« Ihre Stimme ging in dem Tosen des Sturmes unter. Die Frau verfluchte einen Hexenmeister und wünschte, dass es endlich aufhören würde. Sie flehte und betete und hoffte. Sie wollte alles tun, damit dies endlich aufhörte.

»Du bist mein. Du gehörst mir alleine. Du kannst dem nicht entkommen. Hahahahar!«

Eine riesige Welle brachte das Boot zum kentern.

Salziges Wasser drang in die Lungen der Frau und sie fuchtelte wild mit den Armen um sich. Das Salz brannte in ihrer Brust und die Wunden schrien laut auf. Sie öffnete die Augen, sah ein blaues seltsames Licht und wollte nach diesem greifen, doch sie konnte es leider nicht erreichen. Sie streckte sich, reckte sich und plötzlich verspürte sie eine kräftige Hand, man zog sie raus und ans Ufer. Sie spuckte Wasser und Blut und hatte ein seltsames Gefühl. Sie wollte zu ihrem Retter schauen, doch sie sackte zusammen.

Mit schreckensgeweideten Augen blicke Saren immer noch auf diese Szene. Es war ihr, als würde sie die Person da unten erkennen. Sowohl die Frau und den Mann, der sie aus dem Wasser gezogen hatten. Doch ehe sie genauer darüber nachdenken konnte, zerrte abermals etwas an ihr, und ohne dass sie sich dagegen wehren konnte, wurde sie in eine Dunkelheit geschleudert.

 

Chaidra betrachtete ihren Bruder, wie er auf dem Boden hockte und diesen mit geübten Blicken untersuchte. Er fuhr über eine Stelle und sah dann stirnrunzelnd in eine Richtung. Die Todwächterin seufzte und schloss die Augen. Seit drei Tagen verfolgten Kadalin und sie die beiden Schwestern und wie es aussah auch noch einer dritten Person. Die Frau wusste nicht, wer die Dritte war, doch ihr Bruder hatte gemeint, dass es wahrscheinlich ein Mann war, der Erfahrungen besaß.

Sie ergriff die eine Seite ihres Umhanges und zog ihn fester zusammen, als ein Wind aufkam und über das Gestein des Gebirges rauschte. Sie wandte ihren Blick zu einem Felsvorsprung, wo ihre zwei Pferde standen und unruhig schnaubten. Kadalin versuchte immer einen Weg zu finden, um mit den Tieren das Gebirge zu durchqueren, doch die Schwestern und der Unbekannte nahmen immer Wege, die es schwierig machten.

»Westen«, murmelte Kadalin und Chaidra wandte ihre Aufmerksamkeit wieder zu ihm. Er sah sie an. »Sie sind immer noch nach Westen unterwegs und so wie es aussieht, haben wir ein wenig aufgeholt.«

Dies hörte Chaidra gerne, doch gleichzeitig fragte sie sich, ob auch die Männer des Fürsten aufgeholt hatten. Sie gingen diesen aus dem Weg und dennoch kam jeden Abend Kadalin von einer Erkundung zurück und meldete, dass diese Männer noch nicht aufgegeben haben. Für die Todwächterin war dies nicht überraschend und dennoch gefiel ihr all das nicht. Sie hatte schon viele Personen kennengelernt, die Rache an einer Wächterin haben wollte, obwohl dieser keine Schuld trug.

Das Mädchen hätte nicht verhindern wollen, dass jemand stirbt. Es ist nicht natürlich. Wie immer, wenn sie daran dachte, durchfuhr ihr ein Schaudern. Sie wusste immer noch nicht, wie dieses Mädchen es anstellte und die Menschen retten konnte. Der Tod, den wir sehen, ist endgültig. Wir sind verdammt ihn wahrzunehmen, doch können ihn nicht verhindern, so wie die Zeitwächterinnen dazu verdammt sind, die Zeiten zu sehen und diese nicht verhindern zu können.

Mit langsamen Schritten folgte Chaidra ihren Bruder, der wieder zu den Pferden ging und sie holte aus ihrer Satteltasche einen Trinkschlauch. Sie nahm einen großen Schluck und hielt den Schlauch ihrem Bruder hin. Dieser sah sie lächelnd an und trank ebenfalls.

»Wie groß ist ihr Vorsprung«, fragte sie Kadalin, der sich an der Schläfe kratzte.

»Einen halben Tag, doch ich vermutete, dass wir Zeit verlieren werden. Die Spur führt direkt zu einem sehr engen Pass und den können wir nicht nutzen. Mit dem Pferden werden wir einen anderen Weg finden.«

Als Chaidra dies hörte, stöhnte sie leise auf. Sie hatte dies schon vermutet, doch dies nun auch von ihrem Bruder zu hören, machte es nicht besonders einfacherer. Sie verstaute den Trinkschlauch wieder in ihren Sattel und ergriff die Zügel ihres Pferdes.

»Dann wollen wir so weit wie möglich heute noch kommen«, sagte sie und ihr Bruder nickte zustimmend. Auch er nahm die Zügel seines Pferdes und ging voraus. Chaidra folgte ihn.

 

Das Erste, was Saren wahrnahm war etwas Feuchtes auf ihrer Stirn und sie fragte sich verwirrt, was dies sein sollte. Langsam öffnete sie ihre Augen und starrte in den Himmel, der dunkel mit Wolken verhangen war. Was machte sie hier draußen im freien? War sie bei der Arbeit eingeschlafen?

Verwirrt wollte sie sich aufrichten, doch ein heftiger Schmerz durchfuhr sie und ein Keuchen entfuhr ihr. Sofort war eine Bewegung an ihrer Seite und sie drehte ihren Kopf ein wenig.

»Saren!«

Aleitha kniete sich neben ihr hin und sah sie mit besorgten großen Augen an. Saren bemerkte die Kleidung ihrer Schwester und da fiel ihr ein, dass sie auf der Flucht waren und sich inmitten eines Gebirges aufhielten. Doch wie sie hier auf dem Boden gekommen war, daran konnte sie sich nicht mehr erinnern.

»`Leitha … was ist los«, presste Saren fragend hervor und wunderte sich, warum sie sich so schwach fühlte. »Du bist wieder umgekippt«, antwortete Aleitha und die Sorge in ihren Augen wurde größer. Als diese Worte zu Saren durchdrangen, riss sie die Augen auf und die Erinnerungen an diesen Traum kamen ihr ins Gedächtnis. Traum? Wie schon damals im Wald, als sie beim Hacken ohnmächtig geworden war, zweifelte Saren daran, dass es sich hierbei um einen Traum handelte. Doch wenn es kein Traum war, was war es dann? Sie sah zu ihrer kleinen Schwester. Hatte diese wieder nichts bei ihr gesehen? Dies wäre eine Erklärung, warum Aleitha so besorgt aussah.

»Es ist nichts«, sagte Saren, um ihre Schwester zu beruhigen. Sie wollte nicht, dass Aleitha sich Sorgen um sie machte. »Ich habe die letzten Nächte schlecht geschlafen. Wahrscheinlich bin ich nur müde und deswegen umgekippt.«

Wie auch vor einigen Tagen sah Aleitha nicht so aus, als würde sie dies glauben und wie beim letzten Mal, bohrte sie nicht weiter nach. Aleitha half Saren sich aufzurichten und dabei fiel ein Tuch auf Sarens Schoß. Es war nass und sie vermutete, dass es das Nasse war, was sie auf ihrer Stirn gespürt hatte.

Saren sah das Tuch an, ehe sie sich umblickte. Sie merkte, dass sie sich immer noch in der Schlucht aufhielten und in der Ferne konnte sie Larren erkennen, der dabei war, sich in der Umgebung umzuschauen. Er schritt von einer Felsenwand zur nächsten, betrachtete das Gestein und sah dann nach oben.

Sarens Gemüt wurde finster, als sie Larren betrachtete, doch sie verzichtete darauf, etwas zu sagen. Sie sah zu ihrer Schwester, die zu einem kleinen Lagerfeuer gegangen war und nun mit einer Schüssel zurückkam. Saren erkannte, dass sich in dieser eine dunkle Brühe befand und verzog ihr Gesicht.

»Hier … es ist Suppe«, erklärte Aleitha und hielt die Schüssel ihrer Schwester hin.

Obwohl Saren überhaupt keinen Appetit auf Suppe, doch sie wollte nicht, dass ihre Schwester sich noch größere Sorgen machte, sodass sie die Schüssel nahm.

»Ist etwas passiert, während ich … ohnmächtig war?«

Aleitha schüttelte den Kopf und sah in Richtung Larren. »Nein. Wir haben hier unser Lager aufgebaut und Larren meinte, dass eine größere Pause allen gut tun würde.«

Saren konnte den traurigen Ton heraushören und vermutete, dass Aleitha sich schämte, dass sie diejenige war, die die Gruppe verlangsamte. Saren schenkte ihrer Schwester ein Lächeln.

»Mach dir keine Gedanken, `leitha«, sagte sie und nahm einen Löffel voll Suppe. »Auch Larren braucht eine große Pause oder ich. Immerhin sind wir die letzten Tage von früh bis abends ununterbrochen unterwegs. Außerdem bin ich zusammengebrochen … also brauche ich eher die Pause, als du.«

Sie führte den Löffel zu ihrem Gesicht und roch an der Suppe. Hoffentlich schmeckt sie besser, als wie sie roch. Sie nahm den Schluck Suppe und spürte, wie die sie innerlich aufwärmte. Zwar schmeckte sie nicht unbedingt gut, doch Saren vermutete, dass Aleitha diese Suppe gemacht hatte. Sie sah zu ihrer Schwester, welche immer noch beschämt aussah. »Gute Suppe, Schwesterchen. Sie wärmt einen richtig von innen auf.«

Jedoch war es die aufkommende Freude in Aleithas Gesicht, welche Saren innerlich noch mehr erwärmte. Aus diesem Grund aß sie die ganze Schüssel und verlangte dann noch einen Nachschlag, obwohl sie schon wesentlich bessere Suppen gegessen hatte. Doch das war unwichtig. Wichtig war nur, dass Aleitha nicht allzu traurig war und die weitere Flucht gut überstehen würde.

Kapitel Zweiundzwanzig

 Achsenbruch

 

Ein unkontrollierbarer Sturm kann viel mehr Zerstörung anrichten, als ein kontrolliertes Feuer. Deswegen sollte auch eine Rae Vashà vorsichtig sein, wenn sie eine Rae Lùvar reizt.

 

Rae Sothà Zhanaile ir`Sir,

Erste Wellenreiterin,

Sommer im Jahre 2596

 

Es war früh am morgen, als ein Planenwagen, der von zwei Pferden gezogen wurde und zwei andere Pferde die Stadt Greisarg verließen. Da es noch ganz zeitig war, zeigte sich die Sonne nur als heller Streifen am Horizont und kündetet somit den neuen Tag an. Die Stadt selber wirkte um so früher Stunde wie ausgestorben, denn auch wenn nachts in ihr viel los war, so war gab es doch acht Kerzenstriche, wo die Straßen wie leer schienen. Diese Ausgestorbenheit wollte Thanai Reman nutzen, um ohne viel Aufheben die Stadt verlassen zu können.

Die junge Luftwächterin saß auf dem Kutscherblock und neben ihr befand sich Zhanaile, die zwar immer noch blass um die Nase aussah, aber dennoch gesund genug war, um nicht mehr im Bett liegen zu müssen. In den letzten drei Tagen war die Wasserwächterin sehr ruhig gewesen, vor allen dann, wenn sich auch Akara in ihrer Nähe aufhielt. Thanai wusste nicht wieso, aber sie hatte das Gefühl, dass Zhanaile sehr nachdenklich wirkte. Im Wagen selber befand sich zurzeit nur Nolwine Leysen. Dem Mädchen ging es gerade nicht besonders gut, doch dies hatte Thanai schon lange erwartet. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sich die Luftstränge in dem Körper der Frau verändern würden. Hinter dem Wagen lief wieder einmal der Hengst, der unruhig wirkte und dem es überhaupt nicht gefiel, dass er mit den Zügeln an dem Wagen gebunden war.

Thanai seufzte, wechselte die Zügel in die linke Hand und wandte sich dann nach hinten. Etwas vom Wagen entfernt lief eine braune Stute und auf ihr saß Akara Sorhain. Es hatte gestern Abend wieder einen Streit gegeben, denn Akara hatte sehr deutlich gemacht, dass sie nicht im Wagen reisen würde. Die Luftwächterin fand dies beunruhigend, denn so würde Akara die Möglichkeit haben, mit ihrer Stute einfach davon zu galoppieren. Zwar hatte ihre Freundin ihr versichert, dass sie ohne Probleme mit nach Sardenthal kommen würde, doch irgendwie konnte Thanai nicht daran glauben. Zum Schluss hatte Zhanaile den Kompromiss vorgeschlagen, dass Akara reiten könne, aber all ihre Sachen mussten auf dem Wagen mitfahren: Kleidung, Nahrung und Geld. So würde Akara gezwungen sein, ihnen zu folgen, es sei denn sie würde nur mit ihrer Kleidung am Leib das Weite suchen wollen. Akara hatte schulterzuckend zugestimmt, jedoch einen Trinkschlauch an ihren Sattel befestigt.

Die Augen von Thanai verdunkelten sich, als sie auf diesen Schlauch sah, und wandte dann ihren Blick wieder nach vorne. Gerade rechtzeitig, denn sie erreichten das Stadttor. Sie ließ den Wagen anhalten und überließ es Zhanaile mit den Wachen zu reden. Kurz darauf wurde das Tor geöffnet, das noch geschlossen war und sie konnten Greisarg verlassen.

Mit geübten Handgriffen deutete sie den Zugpferden an, schneller zu laufen und der Wagen begann, etwas an Geschwindigkeit zu gewinnen. Ein Schnauben war zu vernehmen und kurz darauf lief die Stute von Akara neben den Kutscherblock.

Thanai warf einen kurzen Blick zu Akara und schüttelte leicht den Kopf.

Wenn man Akara ansah, dann würde man nicht vermuten, dass sie eine Wächterin war. Ihre Kleidung war nicht gerade gepflegt und bestand zum größten Teil aus Flicken. Sie trug ein Hemd, das früher einmal weiß und heute eher gräulich verwaschen aussah. Größere dunklere Flecken waren ebenfalls zu erkennen und an den Ellenbogen war auf beiden Seiten der Stoff gerissen. Über dem Hemd trug sie eine Fellweste, deren Haare zum Teil verklebt waren und die man nicht mehr vorne schließen konnte. Auch ihre schwarze Hose war fleckig und bestand aus einigen Flicken, sowie Löcher, die aussahen, als hätte sich etwas eingebrannt. Nur ihr Umhang, der lose über ihre Schulter hing, sah noch gut aus. Dennoch sah alles in alles sehr schäbig aus. Dieses Bild wurde dann auch noch komplettiert als Akara ihren Trinkschlauch hervorholte und einen kräftigen Schluck nahm.

Die Luftwächterin verkrampfte ihre Finger um die Zügel und hielt ihren Blick fest auf die Straße gerichtet. Ihr war bewusst, dass es nichts bringen würde, jetzt wieder einen Streit zu beginnen. Ein Schnalzen war zu vernehmen und Akara ritt voraus. Jedoch nur so weit, dass sie in Sichtweite bliebt.

Thanai schüttelte abermals den Kopf.

»Warum sind wir noch einmal hier«, fragte sie leise, obwohl sie keine Antwort erwartete. Dennoch gab Zhanaile ihr eine.

»Weil wir den Auftrag haben, sie nach Sardenthal zu bringen, Vria.« Zhanaile zog ihren Umhang fester um ihre Schulter und seufzte leise. »Ich werde froh sein, wenn wir im Feuerhort ankommen werden, doch ich habe das Gefühl, dass etwas passieren wird. Die Wasserstränge sind sehr unruhig.«

Thanai hob ihre Augenbrauen überrascht und konzentrierte sich dann auf die Luftstränge. Sie konnte bei ihnen keine Veränderung wahrnehmen, abgesehen von einigen Verzerrungen, die jedoch Nolwine zu verantworten hatte. »Ich spüre nichts, aber es wundert mich nicht. Es wird etwas passieren. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Akara sich ohne Schwierigkeiten nach Sardenthal begleiten lässt?«

Zhanaile setzte ein leichtes Lächeln auf. »Sie hat es versprochen. Ich glaube, dass sie in unsere Nähe bleiben wird, um uns im Auge zu behalten. Du weist schon, falls wieder ein Angriff geben sollte.«

Daraufhin sagte Thanai nichts. Ein schlechtes Gewissen stieg in ihr auf, weil sie Akara vor drei Tagen solche Vorwürfe gemacht hatte. Es war nicht fair gewesen, denn die junge Feuerwächterin konnte nun wirklich nichts dafür, dass das Schwarze Blut sie angegriffen hatte. Doch Thanai war wütend gewesen. Die lange Reise nach Greisarg, der Attentäter, der Schattenangriff und dann die Gewissheit, dass Akara die meiste Zeit nur mit trinken verbracht hatte. All diese Ereignisse hatten dafür gesorgt, dass sie ihre Gefühle nicht mehr richtig unter Kontrolle gehabt hatte. Im Grunde genommen hatte sie die Wahl gehabt, einen Sturm loszulassen, oder aber sich ihren Frust anderweitig abzulassen. Da war Akara ein passendes Ziel gewesen.

Ein leises Stöhnen erklang vom Wageninneren und Thanai verzog ihr Gesicht. Es passte ihr ebenfalls nicht, dass sie Nolwine mit zum Feuerhort bringen musste. Sie wollte am liebsten das Kind so schnell wie möglich nach Neirhain bringen, doch sie hatte einfach keine andere Luftwächterin finden können. Nun musste sie dem Kind beistehen, wenn sich ihr inneres Gleichgewicht mit dem Luftsträngen der Umgebung verband und sich neu ordnete. Ein sehr unangenehmer Vorgang.

Thanai sah nach vorne, wo Akara ritt und dann über ihre Schulter, wo sie den Stoff sehen konnte, der den Eingang zum Inneren verdeckte.

Das wird noch eine lange Reise werden!

 

Der Wind in Akaras Haaren fühlte sich gut an. Sie schloss die Augen und verließ sich darauf, dass Feuertänzer den Weg alleine finden würde. Feuertänzer war eine gute Stute, die Akara schon seit fast drei Jahren besaß und sie konnte sich auf dieser verlassen. Dies war auch der Grund, warum sie so darauf beharrt hatte, mit ihr reiten zu wollen. Auf einen Wagen zu reisen, machte sie immer unruhig und danach kam dann meistens die Langeweile. Etwas, was ihr auf Feuertänzer nicht passierte.

Sie ließ die Zügel fallen und nahm einen weiteren Schluck aus ihrem Trinkschlauch. Zum einen, weil sie wusste, dass sie damit Thanai ärgern würde und zum anderen, weil sie spürte, dass ihre Sinne wieder klar wurden. Viel klarer, als es ihr lieb war.

Feuertänzer schnaubte leise und sprang über mehre Schlaglöcher auf einmal. Sie kam tänzelnd auf und warf ihre Mähne auf die andere Seite. Akara lächelte und klopfte auf den Hals des Tieres.

»Ja ich weis meine Liebe, ich würde auch am liebsten im vollen Galopp reiten. Doch dies würde nur dazu führen, dass meine Freundin ihren inneren Sturm auf uns loslassen würde«, sagte sie leise und warf einen Blick über ihre Schulter. Weiter hinten konnte sie den Wagen erkennen.

Akara kniff die Augen zusammen und sah dann wieder nach vorne. Sie konnte deutlich spüren, dass Thanai innerlich sehr wütend war und sich ein Sturm in ihrer Freundin bildete. Es wäre besser für Thanai, wenn sie diesen einfach mal loslassen würde. Besser für die Luftwächterin und auch besser für die Personen in der Umgebung. Zwar war Luft nicht das Element, dem Akara angehörte, doch die junge Frau wusste, dass bei allen niederen Elementen es gleich war: Wenn sich der Druck im inneren zu sehr anstaute, dann würde er früher oder später unkontrolliert losbrechen. Während bei einer Feuerwächterin darauf ein Inferno entstehen könnte, war es bei den Luftwächterinnen ein heftiger Sturm.

Akara schloss ihre Augen ganz. Sie hatte es schon oft erlebt, dass bei einer Luftwächterin ein Sturm entbrannt war, den diese nicht mehr kontrollieren konnte, weil ihre Emotionen zu sehr verwirrt waren. Thanai war zwar mächtiger als diese Wächterinnen, doch auch bei ihr bestand die Gefahr, dass ihr Sturm hervor preschen würde, wenn sie nicht damit rechnen würde.

Vielleicht sollte ich ihr helfen, den inneren Druck abzubauen, ging es Akara durch den Kopf und sie öffnete die Augen wieder. Sie sah abermals hinter sich.

Mit einem leichten Zug an den Zügel wandte sie Feuertänzer und kam zum Wagen zurück. Sie konnte schon von weiten erkennen, dass Thanais Miene finster war. Es würde nicht schwer werden, sie dazu zu bringen, ihren Sturm loszulassen.

 

Thanai sah misstrauisch zu, als Akara wieder zurückkam. Sie fragte sich, was dies sollte und konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Freundin eine gute Absicht hatte. Die Luftwächterin kniff die Augen zusammen, als die Stute abermals wendete und dann direkt neben ihr lief. Akara beugte sich vor.

»Hey, Lüftchen! Ist es normal, dass ihr langsam seid. Also ich habe schon Planenwagen gesehen, die viel schwerer beladen und dennoch viel schneller gefahren sind. Vielleicht solltest ihr den Schwarzen ebenfalls einspannen.«

Es war der ruhige Tonfall, der die Wut in Thanai noch mehr anfachte und sie verzog ihr Gesicht. Ihre Hände verkrampfte sich noch mehr und sie wandte langsam ihren Kopf in Richtung Akara. Diese sah sie belustigt an und ihre Augen waren wie erwartet trübe. Die Luftwächterin öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Zhanaile kam ihr zuvor.

»Akara! Du hast versprochen, nett zu Thanai zu sein«, sagte die Wasserwächterin und sie klang enttäuscht.

Thanai erkannte, dass Akara zusammenzuckte.

»Ich bin nett«, murmelte die Feuerwächterin leise. »Aus diesem Grund mache ich es ja auch.«

Diese Erwiderung sorgte für zwei Dinge. Zum einen kam für einige Herzschläge Verwirrung in Thanai auf und anschließend wurde die Wut in ihr größer. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Freundin sich lustig über sie machte und dies war etwas, was Thanai noch weniger leiden konnte. Sie presste ihre Lippen aufeinander und wandte ihren Kopf nach vorne.

»Und? Was ist los? Warum geht es nicht schneller voran?«

»Akara!«

Ein Rauschen erschien in Thanais Ohren und sie konnte nur noch schwer atmend. Sie spürte, wie sich die Luftstränge um ihr herum aufluden und dann konnte sie das Klopfen ihres eigenen Herzen vernehmen. Babumm-Babumm-Babumm…

Ihre Hände waren so verkrampft, dass ihre Knöchel weiß wurden und das Leder der Zügel einem festen Abdruck in ihrer Handfläche hinterließen.

»…bist langsamer als eine Schnecke. Da ist es kein Wunder, dass du so eine so lange Reisezeit veranschlagt hast. Ich würde nur knapp die Hälfte der Zeit benötigen …«

»Akara halt endlich dein Mund und hör auf sie zu reizen …«

»…dachte, dass man mit genügen Wind schneller sein solle und …«

Es war so, als würde etwas in Thanai zerreißen. Ein heftiger Schmerz ging durch ihre Brust, und ohne dass sie es zurückhalten konnte, brach etwas hervor.

Eine starke Windböe riss Akara von ihrer Stute und fegte auch Zhanaile vom Kutscherblock. Ein Ruck ging durch den Wagen, lose Steine in der Umgebung begannen umherzuwirbeln und plötzlich gingen die Pferde los. Sie galoppierten los und der Wagen fuhr humpelnd durch mehrere Schlaglöcher.

Derweil kämpfte Thanai gegen ihre Wut und versuchte den leichten Sturm um ihr herum, wieder Herr zu werden.

 

Zhanaile kam hart auf dem Boden auf und sah gerade noch, wie die Pferde durchgingen und losgaloppierten. Die Wasserwächterin richtete sich ätzend auf und merkte, jemand zu ihr trat. Sie sah zur Seite und kurz darauf schlug sie die Person.

»Verdamm, Akara! Was sollte das denn?« Ihre Hand zitterte und schmerzte von dem Schlag. »Wieso musstest du Thanai reizen. Du hättest wissen müssen, was passieren würde!«

Akara zuckte bei dem Schlag nicht einmal zusammen und sah auch nicht einmal beschämt aus. Stattdessen stand ein grimmiger Ausdruck in ihrem Gesicht. Sie pfiff leise, ehe sie sich zu Zhanaile wandte.

»Ich weis. Genau dass hatte ich ja beabsichtig. Gut nicht, dass du ebenfalls vom Wagen gefegt werden würdest, doch dass Thanai ihren inneren Druck raus lassen würde. Dieser hat sich in den letzten Tagen viel zu sehr angesammelt. Das hättest du doch auch merken müssen.« Sie ergriff die Zügel von Feuertänzer, als sie neben ihr trat. »Mir war es lieber, dass sie es jetzt raus lässt, als wenn es noch heftiger gewesen wäre.«

Die Wasserwächterin starrte Akara an und langsam wurde ihr die Bedeutung der Worte bewusst. Sie sah in die Richtung, wo der Wagen verschwunden war. Sie musste zustimmen, dass sie gemerkt hatte, dass sich etwas in Thanai ansammelte, doch dass es so schlimm gewesen war, hatte sie nicht vermutet. Ihr war aufgefallen, dass Thanai gereizt und sehr finsteres Gemüt war. Sie klopfte den Dreck von ihrer Kleidung und sah dann wieder zu Akara.

»Es mag sein, dass es notwendig gewesen war, doch hättest du es nicht subtiler angehen können. Thanai ist schon so wütend auf dich, da hast du es nicht gerade einfacher für sie gemacht, indem du ihren inneren Sturm raus gelassen hast.«

Akara zuckte mit den Schultern. »Besser ich, als du. Wie du erwähnt hast. Sie ist schon sauer auf mich. Ein wenig mehr macht es nun auch nicht wett. Ich glaube, da stimmst du mir zu … ich meine … ich weis doch, dass du nicht möchtest, dass unser Lüftchen auf dich wütend ist.«

Zhanaile schüttelte den Kopf. »Du hast es jedenfalls nicht einfacher gemacht.«

Abermals ein Schulterzucken und Akara kletterte auf Feuertänzer, ehe sie sich vorbeugte und Zhanaile half, sich hinter aufzusetzen. Dann schnalzte sie mit der Zunge und die Stute setzte sich in Bewegung. Sie ritt in die Richtung, wo die durchgedrehten Pferde verschwunden waren.

 

Selbst nachdem Thanai den Sturm besänftig hatte, war es schwierig die Pferde wieder zu beruhigen. Der Schreck saß immer noch tief in den Tieren und sie galoppierten weiter, obwohl die Luftwächterin versuchte, diese zum Anhalten zu bringen. Sie zog an den Zügeln, doch viel half es nicht. Die Tiere schnaubten erschreckt auf und wollten nicht auf die Vernunft hören.

Der Weg selber, den sie entlang fuhren, war nicht besonders gut gebaut. Mehrere größere Schlaglöcher waren zu finden, sodass dies geschehen musste, was vorhersehbar gewesen war. Der Wagen fuhr über ein großes Loch und mit einem lauten Knacken brach die vordere Achse. Dadurch blieb der Wagen stehen und die Pferde wurden durch den plötzlichen Stillstand gezwungen ebenfalls anzuhalten.

Fluchend sprang Thanai vom Kutscherblock und rannte zu den beiden Pferden. Sie ergriff diese am Halfter und nur durch gutes Zureden, beruhigten sich die Tiere langsam. Sie warf dann einen Blick zu dem Hengst, doch dieser stand ruhig neben dem Wagen und schien zu darauf zu warten, was nun als nächstes passieren würde.

Nachdem die Tiere sich beruhigt hatten, wandte sich Thanai zu den Wagen und ging in die Knie. Sie schaute auf die Unterseite und fluchte laut. Die vordere Achse war so sehr gebrochen, dass einige Splitter auf dem Boden lagen und der Wagen nicht weiterfahren konnte.

So eine verdammte Adlerscheiße!

Sie richtete sich auf und hielt inne, als sie ein Stöhnen vernahm. Abermals fluchend kletterte sie in den Wagen und sah, dass kaum noch etwas an den Platz war, wo er sein sollte. Nolwine selber lag noch im Bett, doch ihr Gesicht war schmerzverzogen und auf einer Decke lag ein Haufen Erbrochenes.

Thanai beugte sich zu Nolwine runter. Das Mädchen war bleich und die Augen waren geschlossen. Vorsichtig legte die Luftwächterin die Hand auf die Stirn des Kindes und schloss die Augen. Deutlich war zu erkennen, dass das innere Gleichgewicht des Mädchens aus der Balance war und sich immer wieder aufbäumte. Vor allen die Luftstränge, da diese immer noch dabei waren, sich neu zu ordnen. Vorsichtig verband Thanai einige ihrer Stränge mit dem des Kindes und beruhigte deren Luftstränge. Kurz darauf war Nolwine in einen festen Schlaf gefallen.

Bei dem Geräusch von näher kommendem Hufschläge, richtete sich Thanai wieder auf und sah aus dem Wagen. Sie sah, dass Akara zusammen mit Zhanaile auf der Stute näher kamen.

Für einen winzigen Augenblick bäumte sich ein neuer Sturm in Thanai auf, doch sie unterdrückte ihn und kniff die Augen zusammen, als die Stute vor ihr anhielt.

»Das … das war nicht nötig gewesen, Akara«, presste sie hervor und sah dann zu Zhanaile. »Ist alles in Ordung?«

Die Wasserwächterin nickte, doch Akara sah sie finster an.

»Doch, das war notwendig, Lüftchen! Sonst wäre der Ausbruch später noch heftiger gewesen. So haben wir wenigsten keinen großen Schaden angerichtet und …«

»Keinen großen Schaden«, wiederholte Thanai, doch sie lang auf einmal müde. »Die vordere Achse ist gebrochen und das ist ja wohl ein großer Schaden! Jetzt müssen wir jemanden nach Greisarg schicken und Handwerker hierherholen … so wird sich alles in die Länge ziehen.«

Akara sah Thanai scharf an. »Besser eine gebrochene Achse, als jemanden tot.«

Mit diesen Worten sprang Akara vom Pferd und ging zu den beiden Zugpferden. Zurück blieb Thanai, die zugeben musste, dass die Feuerwächterin recht hatte und dennoch nicht zufrieden war. Dafür jedoch fühlte sich Thanai jetzt müde und von einer großen Last befreit. So, als wäre ein Knoten in ihr gerissen.

Sie half Zhanaile von Pferd und befestige die Zügel der Stute am Wagen.

 

Zwei Kerzenstriche später hatte Thanai die Unfallstelle mit dem Hengst verlassen und ritt nach Greisarg, um Hilfe zu holen. Akara hatte zwar angeboten, den Ritt zu unternehmen, doch die Luftwächterin war immer noch misstrauisch, sodass beschlossen wurde, dass Akara beim Wagen bleiben sollte. Auch Zhanaile sollte dort bleiben, denn sie war immer noch etwas schwach, sodass nur Thanai übrig blieb, um nach Greisarg zu reiten.

Währenddessen baute Akara ein Lager auf. Sie entfachte ein kleines Feuer, wo sie einen Kessel mit Wasser erwärmte und sich dann daran machte, um die Pferde auszuspannen. Diese standen zwar ruhig da, doch es war leicht zu erkennen, dass sie immer noch nervös waren. Ihre Ohren zuckten bei jedem Geräusch und in Abständen klopften sie mit den Vorderhufen auf dem Boden. Vorsichtig sprach die Feuerwächterin auf die beiden Tiere ein und entspannte zuerst den Wallach. Dieser war der ruhigere und ließ sich dann ohne Schwierigkeiten zu einem Baum führen, wo er angebunden wurde. Die Stute jedoch war unruhiger. Als Akara sie entspannt hatte, wollte sie sich losreißen, doch die Feuerwächterin hielt sie fest am Zügel. »Ganz ruhig … es ist doch alles vorbei«, flüsterte sie leise und klopfte dem Pferd auf den Hals. Langsam, aber sicher beruhigte sich die Stute und nach kurzer Zeit ließ sie sich ohne weitere Zwischenfälle ebenfalls zu einem Baum führen.

Während dieser Zeit hatte Zhanaile Tee gekocht und war nun dabei einen Becher für Akara einzugießen. Diesen hielt sie ihrer Freundin hin, welche jedoch nur die Augenbrauen hob. »Komm schon, Akara. Er wird dich innerlich aufwärmen und …« Zhanaile brach ab, als ihr bewusst wurde, dass sie mit einer Feuerwächterin sprach. Sie wurde rot, doch nahm den Becher nicht weg. »Nimm ihn. Du kannst nicht nur Wein die ganze Zeit trinken.«

Mit einem Schulterzucken nahm Akara den angebotenen Tee und sah dann zu dem Wagen. »Also einen Achsenbruch hatte ich nicht eingeplant.« Sie nahm einen Schluck und genoss den süßen Geschmack des Tees. Auch wenn sie es niemals offen sagen würde, so liebte sie den Tee, den ihre Freundin immer aufbrühte. Dann sah sie abermals zum Wagen. »Wie hat eigentlich dieses Mädchen die heftige Fahrt überstanden?«

Nun sah ebenfalls Zhanaile zum Wagen. »Recht gut meinte Thanai. Sie schläft gerade. Ich habe vorhin die Decken austauscht und hoffe, dass es ihr besser gehen wird. »Sie verzog ihr Gesicht. »Das arme Kind. Wenn ich an der Zeit zurückdenke, wo sich meine Wasserstränge mit den der Umgebung verbunden hatten, wird es mir immer schlecht. Selbst jetzt nach so vielen Jahren.«

Akara nahm einen weiteren Schluck des Tees. »Ich kann mich nicht mehr erinnern. Bei mir musste es sehr zeitig passiert … einige vermuten, dass es vielleicht schon in meinen ersten oder zweiten Lebensjahr passiert ist, doch direkt in den Feuersträngen habe ich erst gewirkt, als ich zehn war. Früher habe ich zwar einige Male unbewusst dies gemacht, doch niemand schien es gemerkt zu haben.« Sie zuckte mit den Schultern. »Für mich ist es immer normal gewesen.«

Zhanaile warf einen Blick zu ihrer Freundin, doch sagte nichts darauf. Stattdessen füllte sie sich einen eigenen Becher ab und setzte sich ans Feuer. Jetzt konnten sie nichts anderes machen, als darauf warten, dass Thanai mit dem Handwerker zurückkommen würde.

Es dauerte nicht lange, bis Thanai wieder zurück war und meinte, dass Hilfe unterwegs sei. Da diese eine neue Achse mitbringen mussten, mussten sie auch einen Wagen nehmen und dies würde etwas dauern. Während sie dann zu dritt warteten, wurde nicht gesprochen. Es war so, als hätten sie sich schweigend darauf geeinigt.

Nachmittag trafen dann die Handwerker ein und sofort wurde sich an den Wagen zu schaffen gemacht. Vorher hatten die drei Wächterinnen den Wagen leer gemacht und Nolwine wurde neben einem Baum auf dem Boden gebettet. Sie wachte nicht davon auf, worüber Thanai froh war.

Die Reparatur selber dauerte nicht lange. Kräftige Männer hoben mithilfe eines Balkens den Wagen an und andere tauschten schnell die Achse aus. Es wurde schweigend und effizient gearbeitet, denn keiner der Arbeiter wollte sich den Zorn einer Wächterin auf sich laden. Als der Abend dann anbrach, war der Wagen wieder ganz und die Männer mit ihrer Arbeit fertig.

Thanai bezahlte sie und schickte sie fort, während die anderen beiden ein Nachtlager vorbereiteten. Es war klar, dass sie heute nicht weiterreisen konnten und dies machte die Luftwächterin wieder etwas wütend, doch sie hatte ihre Gefühle nach dem Ausbruch gut unter Kontrolle. Inzwischen war ihr auch deutlich bewusst geworden, dass Akara recht gehabt hatte. Die Folgen wären noch schlimmer gewesen, wenn sie länger gewartet hätte.

Sie zuckte leicht zusammen, als Zhanaile an ihrer Seite trat und ihr einen Becher dampfenden Tee hinhielt. Mit einem dankbaren Blick nahm sie diesen entgegen, ehe sie einen Blick auf Akara warf. »Auch wenn sie manchmal störrisch ist, so ist sie doch verantwortungsbewusst«, murmelte Thanai. »Dennoch wäre es mir lieber gewesen, wenn sie es anders angestellt hätte.«

Zhanaile nickte zustimmend, doch sie hatte ein leichtes Lächeln aufgesetzt. »Sie hat es so getan, wie sie immer die Sache angehen würde. Wäre es anders gewesen, dann müssten wir uns doch Sorgen um unseren Feuersturm machen, meinst du nicht auch, Vria?«

Thanai nickte und sie lachte leise auf, während sie beobachtete, wie Akara sich um ihre Stute kümmerte. Deutlich spürte die Luftwächterin, dass ihr Herz nun leichter war und sie endlich von dem Frust befreit war. Es wäre auch nicht gut gewesen, die ganze Reise bis nach Sardenthal so voller Wut und Enttäuschung gewesen zu sein. Sie nahm einen weiteren Schluck und spürte, wie der Tee sie innerlich aufwärmte.

Als Akara in ihre Richtung blickte, hob Thanai ihren Becher wie zum Gruß und sah, dass Akara eine Augenbraue hob, doch dabei breit grinste.

Die Wasserwächterin sah zwischen Thanai und Akara hin und her. »Ich darf also annehmen, dass ihr euch nicht gegenseitig an die Kehle gehen werdet, solange wir unterwegs sind?«

Thanai lachte abermals leise. »Oh … wir werden uns nicht zerfleischen, doch zwischen Friede und sich zerfleischen, ist noch eine Menge Platz für andere Begebenheiten.« Sie sah zu ihrer Freundin. »So wie ich Akara kenne, wird sie die ganze Fahrt über deutlich machen, was sie von der Reise hält. Immerhin bringen wir sie an einen Ort, den sie die letzten zwei Jahre gemieden hatte und zu einer Ernennung, die sie nicht haben möchte.« Sie seufzte und sah dann wieder zu Akara. »Tief in Inneren wird Akara weiterhin sich dagegen sträuben und wir werden dies abbekommen. Daran führt leider kein Weg vorbei.«

Die Luftwächterin nahm abermals einen Schluck und wandte sich dann von Akara ab. Sie ging zu einer Eiche, wo auf dem Boden Nolwine zu schlafen schien. Deutlich konnte Thanai erkennen, dass deren Luftstränge immer noch heftig in Bewegung sind. Sie konnte deswegen nur hoffen, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde.

Kapitel Dreiundzwanzig

 Träume oder Visionen

 

Manchmal ist es schwierig den Unterschied zwischen einen Traum oder eine Vision zu erkennen. Vor allen, wenn beides sich miteinander vermischen und die Zeitstränge eine große Rolle dabei spielen.

 

Rae Zhajà Galiena Bauren,

Hüterin der Auszubildenden,

Sommer im Jahre 2596

 

Saren fühlte sich schlecht. Sie hatte das Gefühl innerlich zerreißen zu müssen und es fiel ihr immer schwerer, sich nichts anmerken zu lassen. Deswegen half es auch nicht, dass sie wieder einmal wütend auf Larren war und sie musste sich zusammenreißen, um nicht vor Schmerzen aufzuschreien. Sie stemmte die Hände in ihre Hüften und kniff die Augen zusammen, während sie den ehemaligen Soldaten fixierte.

»Es ist mir egal, ob ihr dies glaubt. Ich bin dagegen, dass wir weiter höher gehen. Wir wollen doch das Gebirge verlassen, oder? Da hilft es nicht, wenn wir immer höher gehen und dabei uns nun gegen den Norden wenden. Norden! Ich dachte, wir wollten uns an den Westen halten, um sehr bald das Gebirge hinter uns zu haben.«

Sie presste ihre Lippen zusammen, als sie fertig war und unterdrückte ein Aufstöhnen, als ein erneuter Schmerz in ihrer Brust erschien. Sie ballte ihre Hände und hoffte, dass ihre Schwester nicht mitbekam.

Larrens Gesicht hatte sich bei ihren verdunkelt und für einen Moment sah er so aus, als würde sie am liebsten schlagen. Dann blinzelte er und atmete tief durch.

»Jetzt hör mir mal gut zu! Die Männer des Fürsten sind immer noch hinter uns her und sie kommen immer näher. Sie vermuten, dass wir den direkten Weg durch das Gebirge nach Westen nehmen wollen, und werden uns demzufolge auf dort erwarten. Wir werden sie umgehen, indem wir höher gehen und einen Bogen schlagen. Zuerst in den Norden und nach zwei-drei Tagen werden wir uns dann wieder nach Westen wenden.«

»Zwei-drei Tage?« Saren funkelte den Mann an. »Wir haben kaum was zu essen und Aleitha ist erschöpft. Lange werden wir nicht mehr durchhalten und du schlägst vor, dass wir die Reise durch das Gebirge ausdehnen?«

Sie warf einen Blick zu ihrer Schwester Aleitha, die in dem etwas entfernten Lager saß und ihren Rucksack neu packte. Deutlich erkannte Saren, dass ihre Schwester wohl alle Worte hörte, denn sie wurde leicht rot vor Scharm, dabei wollte Saren ihrer Schwester keinen Vorwurf machen. Sie sah wieder zu Larren.

»Die Männer können uns doch nicht ewig verfolgen«, sagte sie und sah den Mann herausfordernd an. »Und woher wollen wir wissen, dass du uns nicht in ihre Arme führst. Dass du nicht vorhast, uns so lange laufen zu lassen, dass wir uns nicht mehr wehren können, wenn die Männer erscheinen.«

Larren warf seine Arme in die Luft. »Verdammt, Saren! Ich will euch helfen und euch nicht ausliefern. Ich dachte, dass hättest du derweil schon mitbekommen, aber nein, du musst ja so misstrauisch sein.« Er sah das Mädchen an. »Wie lange glaubst du denn, würdet ihr ohne mich hier draußen zurechtkommen? Ich sag mir mal was, Fräulein. Dir geht es nicht gut und es wird immer schlimmer … mir egal, was du deiner Schwester sagst, aber ich weis, dass du nicht einfach nur ohnmächtig wirst. Was ist, wenn wir angegriffen werden und es dir in genau demselben Moment passiert, he! Wie willst du dann deine Schwester beschützen können?!«

Saren wusste nicht, was sie mehr erschreckte. Die Tatsache, dass Larren anscheinend mehr wusste, als sie gedacht hatte, oder die, dass er mit seinen letzten Worten ihre innere Angst ausgesprochen hatte. Saren hatte riesige Angst davor, dass die Männer des Fürsten sie einholten und sie ihre Schwester nicht helfen könnte, da sie wieder so einen seltsamen Anfall erleiden würde. Seitdem sie das letzte Mal umgekippt war und diese Frau auf dem Meer gesehen hatte, waren fünf Tage vergangen und sie seitdem fühlte sie sich immer schlechter. Sie wusste nicht wieso, aber etwas in ihr war dabei sich zu verändern und Saren hatte Angst davor. Angst davor, dass sie dadurch nicht mehr in der Lage war, ihre jüngere Schwester zu beschützen.

Sie kniff die Augen abermals zusammen und nickte dann abgehackt, obwohl zu erkennen war, dass es ihr nicht leicht fiel.

»Nun gut … dann werden wir nach Norden gehen, aber nicht drei Tage lang!«

Larren nickte. »Zwei werden auch ausreichen, aber sollte uns sofort auf dem Weg machen und …«

Plötzlich merkte, wie Larrens Worte immer leiser wurde und verwirrt sah sie sich um, ehe sie ihre Augen aufriss, als eine erneute Welle Übelkeit sie überspülte. Sie keuchte auf und das Rauschen in ihren Ohren nahm zu. Nein … nicht schon wieder … bitte nicht … Sie sah, wie in der Ferne ihre Schwester aufsprang, spürte den bekannten glühenden Haken und verdrehte die Augen.

 

Als wäre sie ein silberner Falke flog sie über die Wälder von Fipsold, dem Hochwald und zog ihre Kreise. Sie wusste nicht woher sie den Namen des Waldes kannte, doch dies verunsicherte sie nicht so sehr, wie die Tatsache, dass sie in den Körper eines Falken steckte. Angst griff nach ihr und sie versuchte diesen seltsamen Körper zu steuern, doch dies gelang ihr nicht. Sie war hier drin gefangen. Wie eine Beobachterin und konnte nichts anderes tun, als die Umgebung zu beobachten und die Eindrücke des Vogels aufzunehmen. Die Bäume standen eng beieinander, sodass auf dem Boden kein Licht trat. Ein leiser Nieselregen erfrischte die Umgebung, tränkte die verschiedenen Pflanzen und schenkte den Tieren neues Trinkwasser. Die kleinen Vögel plusterten sich auf, Rehkitze sprangen erfreut im Regen umher und die Hasen suchten ihren Bau auf. Mehrere Wölfe streiften durch das Land, doch sie griffen kein Tier an, weshalb die anderen Tiere auch nicht vor den Jäger flohen.

Eine kleine Gruppe von acht Gefährten kämpfte sich durch das Unterholz von Fipsold und bewegten sich in Richtung Osten. Die Führerin besaß bräunliche Kleidung, einen hellen Umhang und um ihren Bauch befand sich ein reich verzierter Gürtel, an dem eine wunderschöne Scheide befestig war. In dieser steckte ein Schwert, dessen Griff die Form eines Greifkopfes hatte. Ein unscheinbares Amulett hing an seinem ledernen Band um ihren Hals und leuchtete in der Dunkelheit des Waldes. Neben dem Schwert befand sich ein Hammer an ihren Gürtel, der in regenmäßigen Abständen gegen ihr Bein schwankte.

Gefolgt wurde sie von einer älteren Frau, die einen Bogen sicherheitshalber gespannt hatte und immer wieder die Blicke wachsam um sich warf. Danach kam eine Person in gräulichen Kleidern, die auf ihrer Schulter einen dunklen Falken hatte und die einen Umhang trug, dessen oberen Teil nur aus Federn zu bestehen schien. Sie wurde von einer anderen Frau dicht gefolgt, die bläuliche Kleider trug und auf deren Stirn ein blauer Tropfen prangte. Ihre Kleidung wies sie als eine wichtige Person aus und ihr Gesicht war schmerzverzogen. An ihrer Seite ging eine andere Frau, deren Gesicht vor Wut verzogen war. Diese trug Kleidung, die schmutzig aussah und an mehreren Stellen schon geflickt worden war. Hinter ihr schritt eine junge Frau, die einen Speer vor sich bereithielt und deren Kleider weißlich war. Auffällig an ihr war, dass auf ihrer rechten Schulter ein kleiner Umhang befestigt war, der eine Sanduhr zeigte. Ihr folgte eine Frau, deren Kleidung sie als Todwächterin auswies und den Schluss der Gruppe bildete eine Frau, die von allen anderen entspannt war und deren rechtes Auge von einer Klappe bedeckt wurde.

Alle acht Gefährten waren aufmerksam und reagierten bei jedem Geräusch überschnell. Man konnte erkennen, dass diese einen hellen Geist besaßen und dass sie etwas zu verfolgen schienen. Eine grausame Bestie, die man nicht sehen, aber dafür spüren konnte. Sie rannten einen verwachsenen Pfad entlang, wo zu erkennen war, dass dieser schon viel erlebt hatte.

Der Falke in der Luft kreische laut auf, ein helles Licht erschien und flutete den ganzen Platz. Man musste die Augen schließen, um etwas erkennen können, doch dies schien nicht zu nützen. Schreie ertönten ...

 

Mit einem sorgevollen Blick befeuchtete Aleitha ein Tuch und legte es auf die Stirn ihrer Schwester. Sie versuchte nicht daran zu denken, was sie eigentlich hätte sehen müssen und presste ihre Lippen zusammen. Sie wollte nicht weinen, doch wenn sie ihre ältere Schwester so sah, wusste sie, dass sie nicht dagegen ankommen konnte. Wie sollte sie ihre Schwester helfen können, wenn sie nicht wusste, was ihr fehlte?

»Das kann ich dir nicht sagen. Es ist nur eine Vermutung und es steht mir nicht zu, es dir zu sagen. Dies muss deine Schwester übernehmen. Ich werde ihr nicht vorgreifen.«

Deutlich erklangen Larrens Worte in ihr wieder und Aleitha fragte sich, was dies zu bedeuten hatte. Was war es, das nur ihre Schwester ihr sagen konnte und warum tat Saren dies nicht. Aleitha war nicht blind und sie hatte gemerkt, dass irgendetwas mit ihrer Schwester nicht mehr in Ordnung war. Dass es ihr nicht gut ging und sie sich immer mehr quälte.

Was ist los, Saren. Warum sagst du es mir nicht?

Eine einzelne Träne lief über Aleithas Gesicht und sie spürte kaum, wie ihr Rabe sich auf ihrer Schulter niederließ. Er zwickte sie leicht ins Ohr und klapperte dann mit dem Schnabel. Sagte Saren ihr nichts, weil sie immer noch enttäuscht war, dass Aleitha ihr nichts von den Raben erzählt hatte? Konnte es daran liegen? Aleitha hatte nie etwas gesagt, weil sie sich vor der Zurückweisung von Saren gefürchtet hatte und nun war alles herausgekommen. Vertraut sie mir nicht, weil sie denkt, dass ich ihr nicht vertraue? Aleitha wusste es nicht und dies machte sie nur noch verzweifelter.

»Bitte Saren«, flüsterte sie und betrachtete das reglose Gesicht ihrer Schwester. »Lass mich nicht in unklaren.«

 

Ein Boot brachte Saren auf die einsame Insel, die in Nebel gehüllt war. Obwohl man öfters nur die ‚Einsame Insel’ sagte, hieß sie bei den Geweihten und Wächterinnen >Avaron Myrr<.

Woher weis ich das? Und was mache ich hier? Ich war doch gerade im Körper eines Falken … was passiert nur mit mir?

Die vier Ruderer verließen die Insel, nachdem Saren ausgestiegen war, und steuerten das Boot wieder auf die andere Seite. Wenn die junge Frau nun die Insel verlassen wollte und musste, dann läge es am ihr zu schwimmen. Doch nun dachte diese nicht daran. Voller Trotz ging sie die bewucherten Treppen hinauf, die an der Anlegestelle begannen.

Unzähliges Gestrüpp hingen ihr im Weg, doch wendete sie diese sanft mit den Händen beiseite. Verdrehte Bäume und lange Lianen befanden sich am Wegrand, der immer tiefer in die Insel führte. Obwohl Saren sich sicher war, dass diese nicht groß war, kam es ihr vor, als würde sie laufen und laufen. Schier unendlich lange folgte die Frau den Weg. Ihre rechte Hand hatte sie auf den Griff ihres Schwertes, ihre linke schob Äste und Lianen beiseite.

In der Ferne fing ein Vogel an zu singen und ein Specht hämmerte im Takt dazu. Bäume raschelten leise und erzeugten ein rauschendes Lied. Sanft fuhr der Wind durch die Äste. Ein Eichhörnchen huschte über den Weg und ein Hirsch sah von Fressen auf. Später fielen andere Vögel in diesen Gesang ein. Nur einer schwieg. Der Uhu.

Je länger Saren den Weg folgte, desto leichter wurde es ihr um das Herz. Sie würde ihre Mutter und ihren Vater nicht enttäuschen. Sie wusste, dass beide daheim auf sie warten würden. Sie würde aber vor allen nicht ihre Schwester enttäuschen,, die am Ufer darauf wartete, selber die Prüfung abzulegen. Saren würde diese Insel unbeschadet wieder verlassen können und zu ihrer Schwester stolz sagen, dass sie es geschafft hatte.Ein leichtes Lächeln tauchte in ihrem Gesicht auf und ihr dunkles Haar wurde durch eine Brise sanft verwirbelt. Der Weg wurde immer länger.

Die Insel immer größer.

Die Luft immer reiner.

Magie war im Spiel.

 

Mittlerweile hatte Larren ein Feuer entzündet und Aleitha saß an diesen, während ihr Blick immer wieder zu ihrer Schwester ging. Immer noch konnte sie kein leuchten, oder auch keine Düsternis in ihr erkennen. Sie war verwirrt. Sie wusste, was das Leuchten bedeutete und auch, wenn dieses verblasste, doch sie hatte keine Ahnung, was es bedeutete, wenn sie nichts sah. Diese Ungewissheit machte ihr große Angst und sie schloss die Augen.

Bitte komm wieder zu dir. Bitte!

Mit langsamen Bewegungen begann sie ihr karges Abendbrot zu essen. Sie musste ihrer Schwester recht geben, die gemeint hatte, dass sie kaum noch Proviant hatten. Erneute Traurigkeit kam in ihr auf und sie wieder ihre Schwester an. Immer noch keine Veränderung.

 

Mittlerweile hatte Saren eine Lichtung erreicht. Auf dieser stand ein Marmortisch. Auf diesen lag eine goldene Halterung. In dieser befand sich eine tiefschwarze Kugel. Ihr Durchmesser betrug mindestens die Spanne einer gespreizten Hand eines Erwachsenen. Sie war eben, schimmerte ein wenig und schien eine Aura auszustrahlen.

Die Frau starrte diese Kugel lange an. Etwas in ihr verlangte, diese zu berühren. Sie wusste nicht wieso. Nur, dass sie es anfassen wollte … nein, musste.

Mit langsamen Schritten ging Saren auf dem Marmortisch zu. Die Geräusche um ihr herum verblassten, bis nichts mehr zu hören war. Für die Frau gab es nur noch den Tisch mit dem kostbaren Kleinod. Je näher sie kam, desto stärker wurde der Druck tief in ihr.

Nur noch zehn Schritte.

Sieben Schritte.

Drei Schritte.

Ein Adler schrie auf und ließ seinen Schrei weit allen.

Dann hatte Saren den Tisch erreicht. Sie streckte ihre rechte Hand vor, verharrte kurz und ließ sich von dem Drängen leiten. Ihre Finger berührten die glatte Fläche.

Sofort strömte eine gewaltige Macht durch ihren Körper. Die Umgebung um ihr herum wurde mit einem Male tiefschwarz. Nur sie schien zu leuchten, und während sie die Kugel vor sich in die Höhe hielt, floss die Luft um ihn herum. Sie schimmerte, vibrierte und zog sich zusammen. Wie aus dem Nichts erschien ein Umhang, innen schwarz und außen silbrig. Er legte sich um die Schulter von Saren und fiel gegen ihren Rücken. Dann verfärbte sich das Haar von ihr. Zuerst nur an den Spitzen, die in der Stirn hingen. Doch dann breitete es sich immer weiter aus. Zuerst grau, dann silbrig und zum Schluss schneeweiß, dass es fast in den Augen wehtat. Nur über ihrem rechten Auge nicht. Dort befand sich eine schwarze Strähne, die sich deutlich vom weißen Haar unterschied.

Von all dem bekam Saren nichts mit. Sie hatte nur Augen für die Kugel, die ein schwaches Licht ausströmte. Jedoch nur für die Zeit der Wandlung. Nachdem das Haar schlohweiß und der Umhang fertig war, verblasste das Licht und kurzzeitig herrschte Dunkelheit. Dann war wieder die Sonne zu sehen und alles war so wie vorher.

Verwundert nahm Saren ihrem Arm runter, sodass die Kugel nun auf Augenhöhe war. Dann drückte sie diese an ihre Brust und merkte, dass der Weg, der ihn hergeführt hatte, am Ende der Lichtung weiterging. Schnell folgte sie diesen wieder. Ihr Umhang wehte auf und ab.

 

Mit zitternden Händen wechselte Aleitha das mittlerweile trockene Tuch gegen ein feuchtes und versuchte gar nicht erst, ihre Tränen zurückzuhalten. Mittlerweile war sehr viel Zeit vergangen. Viel mehr als bei den anderen Malen und eine Angst kam in ihr auf. Eine Angst, dass ihre Schwester nie mehr erwachen würde.

»Wach auf, Saren … komm zu mir zurück …«

 

Verwirrt nahm Saren wahr, dass sich ihr Umgebung ein weiteres Mal veränderte. Der Platz mit dem Tisch und der Kugel verblassten und sie befand sich plötzlich in einem ihr unbekannten Raum. Sie konnte eine Frau erkennen, die an einem Fenster stand und seltsame gräuliche Kleidung trug. An ihnen konnte man mehrere Sanduhren und auch Waagen erkennen.

Das muss eine Wächterin sein … aber sie ist keine Todwächterin, so wie diese Chaidra.

Plötzlich konnte Saren einen Mann erkennen, der sich an die Frau anschlich und sie schrie der Frau eine Warnung zu. Diese schien sie nicht zu hören, doch kurz bevor der Mann sie erreichen konnte, denn ihr Blick ging in seine Richtung. Saren sah hilflos zu, wie der Mann sie ergriff, als sie nicht schnell genug reagierte und ein Tuch an ihren Mund und Nase presste.

»Ganz ruhig…ganz ruhig…wenn du dich wehrst, dann wird es schlimmer«, ertönte seine tiefe Stimme und Saren mit aufgerissenen Augen zu, wie die Bewegungen der Frau immer langsamer wurden, bis diese zum Schluss vollkommen erlahmten.

Der Mann legte die bewusstlose Frau auf dem Boden, riss ihr das Kleid auf der Brusthöhe auf und zog ein kleines Messer, welches sehr scharf aussah. Dann begann er Schriftzeichen in die entblößte Brust zu ritzen, wobei er nicht gerade sanft umging. Saren starrte den Mann an und fragte sich, was das nun für ein Alptraum war. Wer war dieser Mann und wieso griff er die Frau an? Und warum ritzte er etwas in ihrer Brust. Saren ging einige Schritte auf ihn zu, wollte etwas sagen, doch ahnte, dass dieser sie sowieso nicht hören konnte.

Zeichen für Zeichen ritzte er in die Haut, welche sein Messer leicht nachgab. Das erste Zeichen verewigte er langsam, so als würde er es genießen und dabei lag ein sanfter Blick in seinen Augen. Blut quoll hervor und floss auf der Haut entlang, während er sich erhob und den ersten Teil seines Meisterwerkes betrachtete. Dann hockte er sich wieder hin und begann das zweite Symbol, welches er dieses Mal fast zärtlich einritzte. Jeden Strich und jeden Punkt überlegte er genau, ehe er fortfuhr. Diese Nachricht sollte wohl deutlich zu erkennen sein.

Die Zeit verging und als er sich erhob, sah er sein Werk an. Es bestand aus drei Wörtern in der Alten Sprache: De`Louva vio Lithisil!

Was sind das für Wörter? Ist das eine fremde Sprache? Saren wusste es nicht und dennoch bekam sie eine Gänsehaut, als sie diese betrachtete.

Der Mann säuberte sein Messer an der Kleidung der Frau, und als er merkte, dass diese langsam wieder zu sich kommen wollte, schlug er sie brutal ins Gesicht, sodass sie wieder zusammensackte. Dann begann er, sich im Zimmer umzuschauen. Ein finsteres Lächeln tauchte auf. Ohne darauf zu achten, was er ergriff, begann er, sämtliche Einrichtungsgegenstände zu zerkleinern, wobei er leise war, so, als wollte er verhindern, dass man aufmerksam auf ihm wurde. Er riss Bücher aus dem Regal, warf Zettel in den Kamin, wo die Asche sofort wieder Feuer schlug und zerkleinerte den Tisch. Warf Gefäße um und als er fertig war, zog er einen schwarzen Pfeil aus einer Kiste, die hinter mehreren Büchern versteckt war und holte aus seiner Tasche einen kleinen Beutel. Eine Stimme in Saren sagte ihr, dass sie sich abwenden sollte, doch eine Zweite befahl ihr, alles genau zu betrachten. Sie sollte wissen, was passierte!

Der Mann beugte sich über die Frau, griff in seinen Beutel und holte eine Handvoll Salz hervor. Den Pfeil legte er beiseite, sodass er mit der anderen Hand den Mund der Frau zuhalten konnte. Dann streute er das Salz in die offenen Wunden. Enttäuscht, dass die Frau nicht davon aufgewacht war, wuchtete er sie hoch, nahm dem Pfeil und schleifte sie zur Tür. Dort drückte er sie aufrecht auf das Holz und rammte den Pfeil so in die rechte Schulter rein, dass er knapp unter dem Schlüsselbein entlang ging und keine lebenswichtigen Organe verletzt wurden. Dann trat er einige Schritte zurück. Die Frau wurde durch den Pfeil aufrecht an der Wand gehalten, und wenn sie aufwachen sollte, dann würde sie merken, dass sie sich nicht in Dinge einmischen sollte, die sie nichts angingen. Mit einem letzten, fast fanatischen Blick, verließ er den Ort. Fassungslos stand Saren in den Raum und wusste nicht, was sie machen sollte. Sie trat auf die Frau zu, die an der Tür genagelt war und ein großes Hilfsbedürfnis kam in ihr auf. Sie wollte der Frau helfen, doch als sie diese berühren wollte, ging ihre Hand durch diese, als würde die Frau nicht existieren. Saren sah auf ihre Hand und wollte nun die Tür anfassen, doch auch dies gelang ihr nicht. Es war so, als könnte sie nichts fest ergreifen.

Während ihr Verstand noch versuchte, dies zu verarbeiten, hörte sie plötzlich Schritte von der anderen Seite der Türe. Sie wich zurück.

»Vria Sivian«, ertönte eine fragende Stimme und dann bewegte sich die Klinge, doch die Tür schien zu klemmen, worüber Saren nicht verwundert war. Langsam öffnete sich die Tür und eine andere Frau betrat das Zimmer. »Erste Seherin?«

Als die Frau in den Raum blicken konnte, blieb sie schockiert stehen. Das schwache Licht, was das Feuer im Kamin verursachte, erhellte einen Teil des Zimmers, welches sehr verwüst aussah. Überall lagen Scheiben, Bücher und Holzsplitter. Kissen waren aufgeschlitzt, sowie auf die Vorhänge. Auf dem Boden konnte man auch eine Blutspur erkennen. Schrecken trat in den Augen der Frau.

»Sivian?« Ihr Gesicht verschwand von der Tür und kurz darauf erschien sie wieder mit einer Fackel in der Hand. Sie trat ganz ein. Dann folgten ihre Augen die Blutspur.

Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wieso die Tür so schwer zu öffnen war. »Erste Seherin«, schrie sie auf und trat auf Sivian zu, deren Kleidung von Blut getränkt war und sie leise stöhnte. Vorsichtig hielt sie die Frau und dann zog sie langsam den Pfeil raus. Sivian riss die Augen auf und wollte schreien, doch ihr entfuhr nur ein Wimmern, dann sackte sie in sich zusammen. Die Frau legte sie vorsichtig auf dem Boden und überlegte, wen sie am besten holen sollte, als sie leise etwas hörte. Sivian versuchte zu sprechen. Uleine beugte sich unter und auch Saren kam näher, da sie wissen wollte, dass die Verletzte sagen wollte.

»Sag niemanden bescheid … nichts sagen…« Sivian stöhnte leise.

Saren riss die Augen auf und fragte sich gleichzeitig, warum diese Frau wollte, dass niemand erfuhr, was hier gerade passiert war. Sie wollte wissen, wie die neue Frau auf dies Bitte reagierte, doch ein erneuter Schmerz durchfuhr sie, und ohne dass sie es verhindern konnte, wurde wie abermals in die Dunkelheit gerissen.

 

»ARHHH«, schrie Saren und richtete sich auf. Sie spürte ihr Herz rasen und blickte sich um. Verwirrt fragte sie sich, wo sie sich befand und zuckte zusammen, als jemand plötzlich neben ihr war. Es war Aleitha.

»Saren.«

Saren konnte große Erleichterung aus dem einen Wort hören und fragte sich, was passiert war, dass Aleitha sie mit solchen Augen ansah. Saren wollte etwas sagen, doch eine große Müdigkeit erfasste sie. Es schien ihr, als wäre sie mehrere Tage ununterbrochen gerannt. Sie legte sich auf dem Boden und ehe sie vielleicht ein-zwei Wörter hervorbringen konnte, schlief sie ein.

 

Vorsichtig strich Aleitha eine Strähne aus dem Gesicht ihrer Schwester. Große Erleichterung erfüllte sie, als sie das Leuchten erkannte, dass ihre Schwester umhüllte. Egal was passier war, es schien nun vorbei zu sein. Jedenfalls jetzt erstmal. Sie holte eine Decke aus Sarens Rucksack hervor und legte sie über ihre Schwester.

Kapitel Vierundzwanzig

 Fragen und Antworten

 

Eine leichte Brise kann sehr schnell zu einen Sturm werden.

 

Rae Lùvar Thanai Reman,

Erste Sturmbezwingerin,

Herbst im Jahre 2597

 

Nolwine ging es gar nicht gut. Sie presste ihren Kopf gegen das Kissen und versuchte das Schwanken des Wagens zu ignorieren. Ihr Kopf hämmerte und sie hatte das Gefühl sich übergeben zu müssen. Immer wieder musste sie aufstoßen und konnte sich überhaupt nicht konzentrieren. Sie waren nun schon seit fünf Tagen unterwegs und seit gestern Abend ging es ihr so hundeelend. Seit dem Augenblick, wo der Streit zwischen Akara und Thanai entbrannt war. Nolwine wusste einfach nicht, was sie von dieser Feuerwächterin halten sollte. Es war deutlich zu erkennen, dass sie ein Problem mit Alkohol hatte und dennoch war sie so mächtig. Dies konnte doch kein gutes Zeichen sein!

Durch den Wagen ging ein Ruck, als dieser über ein Schlagloch fuhr und ihr Kopf heulte protestierend auf. Sie unterdrückte ein Wimmern und schloss die Augen. »Nolwine?«

Der Stoff zum Kutscherblock wurde beiseite gezogen und Thanai kletterte ins Innere des Wagens. Sie sah besorgt aus und in Nolwine kam das Gefühl der Geborgenheit auf. Diese Frau, ob Wächterin oder nicht, machte sich Sorgen um ihr. Etwas, was sie selten in ihren bisherigen Leben hatte. Zwar kümmerte man sich bei den Erleuchteten untereinander, doch so innig, wie es jetzt spürte, war es nie gewesen.

Thanai trat an die Pritsche und hockte sich nieder. Sie legte eine Hand auf Nolwines Stirn und schloss die Augen. Kurz darauf spürte Nolwine, wie der Schmerz weniger wurde und die Übelkeit nachließ.

»Besser so?« Die Luftwächterin öffnete die Augen und nahm die Hand weg. »Diese Übelkeit wird vergehen, Nolwine. Dein Körper muss sich daran gewöhnen, dass er mehr mit den Luftsträngen verbunden ist, als früher. Es ist für ihn eine Umstellung. Dein eigenes Gleichgewicht muss sich neu finden und leider ist dieser Vorgang mit Übelkeit verbunden. Wenn sich dein Gleichgewicht neu eingestellt hat, wird es vergehen.«

Hoffentlich ist es bald so, fuhr es Nolwine durch den Kopf und sie setzte sich auf.

»Nun gut … ich habe dir Antworten versprochen«, sagte Thanai und lächelte. »Frag.«

Dies kam etwas überraschend für Nolwine und für einen Augenblick wusste sie nicht, was sie fragen sollte. Sie war immer noch mit sich in Unreinen und wusste nicht so wirklich, wie ihr wahrer Pfad nun sein sollte. Sie dachte kurz nach.

»Ihr habt von Neirhain gesprochen … was ist das eigentlich für ein Ort?«

Thanai lächelte nun über das ganze Gesicht. »Neirhain? Das ist der beste Ort, den es auf der Welt gibt. Er wird auch Hort der Luft genannt und befindet sich in dem Gebirge Neitren. Das liegt im Land Murai auf dem Kontinent Morharet. Neirhain ist eine Stadt, die sich hoch auf einem Plateau befindet und das Beste ist, dass es dort keine Männer gibt, die einen entweder ablenkten oder Unsinn anstellten.« Thanai hielt inne und schüttelte dann den Kopf. Wirklich, ich kenne kein anderes Wesen, das so stur und uneinsichtig ist, wie die Männer, die sich dann auch noch für unbesiegbar halten. Das Problem ist, dass sie auf der ganzen Welt so sind.«

Nolwine riss die Augen auf. Sie hatte nicht gedacht, dass Thanai etwas gegen Männer hatte. Sie erinnerte sich daran, dass die Wächterin eigentlich immer nett zu ihnen war, doch dann kam ihr die Wächter der Stadt Greisarg in den Sinn, wo sie wütend geworden war. Wütend darauf, dass diese ihr die Einreise verbieten wollten.

»Aber nun zurück zu Neirhain«, fuhr Thanau fort. »Die Stadt ist groß und du wirst am Anfang den unteren Eben leben. Doch glaub mir, dass Neihain gewaltig ist und das liegt nicht nur an ihre Größe. Neihain besitzt insgesamt sechs Ebenen, die sich auf der Bergseite des Plateaus befindet. Die größte Ebene ist die untere wobei der größte von ihnen. Dies liegt daran, dass dort die meisten Personen leben, sowie auch die Schülerinnen, die sich in der ersten Stufe befinden. Deswegen auch du. Dann gibt es die zweite Ebene, die etwas kleiner ist und so weiter bis zur obersten Ebene. Dies ist die sechste Ebene. Dort befindet sich der Tempel der Luft und die Gebäude der Ersten Wehenden, der Bewahrerin der Brise und der Rätinnen. Auch die der beiden Sturmbezwingerinnen. Ebenfalls sind dort ein großer Versammlungsplatz dort und auch eine Versammlungshalle. Ein wundervoller Ort. Neben der Stadt gibt es auch einige Dörfer, wo die ganzen Tiere leben und die anderen Nahrungsmittel angebaut werden, denn wir achten sehr darauf, dass wir nur so wenig wie möglich von anderen Orten kaufen müssen und somit nicht abhängig werden. Auf demselben Berg, doch etwas entfernt befindet sich eine riesige Brutstätte der Jen-Adler. Hast du schon einmal von ihnen gehört?«

Nolwine schüttelte den Kopf und konnte sich nicht vorstellen, dass diese Begeisterung hervorrief. Thanai breitete ihre Arme aus. »Jen-Adler, meine Liebe, sind riesige Adler. Sie sind so groß, dass Menschen auf ihnen reiten können. Es gibt einige Luftwächterinnen, die eine besondere Gabe besitzen und diese züchten die Adler und bilden diese aus. Ich sage dir, Nolwine, es gibt nichts schöneres, als auf so einen Adler zu fliegen und den Wind in deinem Gesicht zu spüren!«

»Na, da wäre ich mir nicht so sicher«, ertönte eine belustige Stimme vom Kutscherblock. »Wesentlich besser als diese Adler sind die Leviatane.«

Thanai schnaubte. »Dass eine Wasserwächterin keine Ahnung von der Herrlichkeit der Jen-Adler hat, zeigt doch nur, dass ihr einfach zu engstirnig seit, Zhanaile.« Sie wandte sich zu Nolwine. »Hör nicht auf sie. Wasserwächterinnen haben keine Ahnung davon.«

Ein Lachen von draußen war die Antwort darauf, doch Thanai ging nicht darauf ein. Sie fuhr mit ihrer Beschreibung fort.

»In Westen des Plateaus ist ein schöner Wald mit riesigen Bäumen, wo jedoch niemand sagen konnte, wie alt diese sind…doch glaub mir, wenn ich dir sage, dass es sie uralt sein müssen, so groß, wie sie sind. Hach…und dann die ganzen Blumen, die dort wuchsen…« Thanai beschrieb die Landschaft der Insel ziemlich genau, wobei Nolwine merkte, dass die Frau diese Stadt als ihre Heimat ansah.

Nolwine fragte sich, ob ihr Neirhain auch so gefallen würde. Sie konnte sich dies nicht vorstellen, doch andererseits kannte sie außer Sahart kaum einen anderen Ort. Und irgendwie war die Beschreibung auch schön und sorgte dafür, dass sie neugierig auf diesen Lufthort wurde.

»Was ist eigentlich nun genau diese Wächterschaft? Ich weis ja nur das, was meine Mutter mir darüber erzählt hatte«, fügte sie dann entschuldigend hinzu. Dies war eine Frage, die sie schon seit langen hatte.

»Die Wächterschaft«, wiederholte Selene nachdenklich und blickte das Mädchen genau an. »Wir sind die Priesterschaft der Wächterinnen, denn wir bewahren das Gleichgewicht, welches die ganze Welt durchströmt. Es ist ein leicht Zerbrechliches und nur durch die Kontrolle können wir dafür sorgen, dass kein Ungleichgewicht entsteht. Für jedes Element – Feuer, Wasser, Erde, Luft, Geist, Leben, Tod und Zeit – gibt es Frauen, die in der Lage sind, die Stränge des betroffenen Elements zu nutzen. Es heißt, dass die ersten Wächterinen, von den Geweihten persönlich mit der Gabe gesegnet wurden und sie waren die Ersten, die das Chaos, welches damals herrschte wieder in Einklang gebracht hatten. Dann suchte sie Gleichgesinnte und brachte sie zu den Orten, wo die Elemente am stärkten ausgeprägt waren, wo sie ihnen das beibrachten, was die Geweihten ihnen damals gelehrt hatten. Seit dieser Zeit gab es immer mehr Frauen, die merkten, dass sie in das Gleichgewicht eingreifen konnten und damit niemand diese Gabe missbrauchen würde, hatte man die Priesterschaft gegründet. Ihre Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass junge Personen, bei denen die Gabe auftaucht, lernen mit ihr umzugehen, denn es gibt immer einen Preis zu zahlen, wenn man sich des Gleichgewichtes bedient. Viele sind qualvoll gestorben, weil sie einfach über ihre Kräfte hinaus gehandelt haben. Wenn eine Person dann gelernt hat mit ihrer Gabe umzugehen, kann sie sich dann entscheiden, was sie machen möchte. Einige bleiben ihr ganzes Leben in den Horten, andere gehen in die Armee, um gegen die Schatten zu kämpfen und wieder andere sorgen innig für das Gleichgewicht. Ich selber bin der Armee, denn meine Gabe ist so gut, dass ich damit aktiv gegen die Schatten kämpfen kann. Und da ich gut darin bin, habe ich beschlossen, die Unschuldigen vor den Schatten zu schützen. Auch Zhanaile und selbst Akara sind in den Truppen ihrer jeweiligen Elemente, denn neben den Bewahren des Gleichgewichtes, ist es die große Aufgabe der Wächterschaft diese Welt vor den Schatten zu beschützen. Wenn es uns nicht gäbe, dann würde diese Welt schon längst nicht mehr so existieren, wie wir sie kennen.«

Nolwine lauschte den Worten gespannt und fragte sich, ob sie den Mumm dazu hätte, sich einen Schatten zu stellen. Sie konnte sich dies nicht vorstellen.

»Was passiert, wenn man die Regeln bricht?« Ihr war klar, dass dort auch Regel existierten müssten, denn sonst würde ja Chaos herrschen.

Thanai hob eine Augenbraue, doch antwortete.

»Da gibt es viele Strafen, je nachdem wie stark man gegen den Kodex handelt. Die kleinste Strafe ist die Buße und die höchste die Todesstrafe, die bei offenem Verrat angewandt wird. Leider ist es so, dass sehr oft Wächterinnen von dem guten Weg abkommen und dann eine Bedrohung für das Gleichgewicht sind … doch genug von solchen Dingen. Lass mich dir etwas über die Gefahren erzählen, damit dir bewusst wird, warum du unbedingt lernen musst, deine Gabe zu beherrschen.

Jede Tat, die du verübst, setzt etwas im Gang, was man nicht mehr rückgängig machen kann. Wenn du in das Gleichgewicht eingreifst, dann musst du einen Preis dafür zahlen. Je größer die Einwirkung ist, desto größer ist die Reaktion, die du durchmachen musst. Am besten erkläre ich es dir anhand von Feuerwächterinnen. Da kann man es sich bildlich besser vorstellen.

Wenn eine Feuerwächterin zum Beispiel ein Feuer machen möchte, dann versucht sie an diesen Ort, wo sie es haben wollen, große Mengen an Wärme hinzuzufügen bis die Wärme über alles andere Oberhand gewinnt und die ersten Flammen schlagen. Doch die Wärme, die sie zugefügt haben, muss irgendwo herkommen. Sie entsteht nicht einfach aus der Leere. Entweder haben sie eine Kerze oder ein anderes Feuer, wo sie die Wärme entziehen können, oder sie nehmen sie von sich selber. Sie entnehmen ihren eigenen Körper die Wärme und fügt sie einen anderen Ort zu. Die Reaktion darauf ist, dass ihnen selber kalt wird, da sie ja keine Wärme mehr haben und wenn sie zu viel Wärme auf einmal aus ihren Körper nehmen, kann es sein, dass sie schlich und einfach zu Eis erstarren ohne es zu merken. Ich habe davon gehört, dass wenn nur ein Körperteil von Eis überzogen wird, andere Wächterinnen noch helfen können, doch wenn man mit einen Schlag überall in Eis ist, ist der Tod unausweichlich. Das gleiche gilt auch andersherum, wenn die Feuerwächterinnen einen Ort kälter machen wollen und deshalb diese Kälte aus ihren Körper ziehen. Zurück bleibt Wärme, die entweder zu einer Fieberattacke wird, oder wenn sie zu viel Kälte genommen haben, können sie auch in Flammen aufgehen, die man schwer wieder löschen kann. Dieses Austauschprinzip gilt für alle Stränge, wobei bei den höheren Elementen, sprich Geist, Leben, Tod und Zeit es etwas anders ist. Doch auch bei den Luftwächterinnen ist es so. Deswegen musst du dir im Klaren sein, wie viel du deinen eigenen Körper zumuten kannst und wann es besser wäre, wenn du einfach aufhörst. Man muss klein anfangen, den eignen Körper darauf trainieren, immer mehr Stränge zu wirken bis du irgendwann in deiner Ausbildung eine Grenze erreicht hast die man nicht erhöhen kann. Und das ist wichtig. Dass du deine eigene Grenze kennst. Denn du sie einmal überschreitest, dann kann dir niemand mehr helfen. Bei jedem ist diese Grenze anders und individuell« Thanai hielt kurz inne, blickte den Stoff, der den Kutschblock verdeckte und holte dann wieder tief Luft. »Es ist also nicht einfach das Eingreifen in das »Gleichgewicht«, was jemand lernen muss, sondern die Beherrschung und eigene Grenzen. Das Einwirken ist einfach und selbst du könnest, wenn du das nötige Wissen hast, große Dinge machen, doch ohne die Konsequenzen zu wissen, wäre es leichtsinnig. In dem Moment, als du das erste Mal die Kraft in dir freigesetzt hast, hast du alles auf einmal losgelassen als Reaktion der Angst, die in dir war. Wenn du nun keine Hilfe bekommen hättest, wäre es tödlich für dich ausgegangen, da dein Körper dies nicht gewohnt war. In einigen Jahren wirst du jedoch die Kraft im gleichen Ausmaß freisetzen können, ohne dass du irgendwelche Reaktionen spürst. Doch um soweit zu sein, musst du lernen und üben!

Aber nicht nur die Reaktionen in dir musst du hervor sehen können, sondern auch die in einer Umgebung. Jede Einwirkung ist prinzipiell entgegen das Gleichgewicht und wenn dein Eingreifen zu groß ist, dann könntest du das Gleichgewicht auf Dauer stören und es wären viele Wächterinnen nötig, um es wieder in Ordnung zu bringen. Wieder ein Beispiel der Feuerwächterinnen: Ein kleines Feuer, was jemand erzeugt, kann ohne großes Zutun zu einem großen gewaltigen Brand werden, den man nicht mit normalem Wasser löschen könnte. Oder die Wasserwächterinnen: Willst jemand in einer Dürre einen Regenguss heraufbeschwören, könnte woanders eine Trockenzeit erzeugt werden, weil das Wetter gestört wurde. Auch wir Luftwächterinnen müssen vorsichtig sein: Eine leichte Brise kann sehr schnell zu einen Sturm werden. Ehe man handelt, muss man sich der Folgen in klaren sein!«

Am Abend darauf dachte Nolwine lange über die Worte von Thanai nach, denn diese machten ihr klar, dass sie nicht nur eine Gabe besaß, sondern auch große Verantwortung. Das Mädchen seufzte leise, denn sie spürte nun eine große Last auf ihren Schultern. Sie selber hatte nie Verantwortung gehabt, doch nun besaß eine gegenüber der ganzen Welt.

Das Leben ist einfach nicht fair!

 

Kapitel Fünfundzwanzig

 Der unerwartete Angriff

 

Zeyren teilen die Erinnerungen, wenn sie es wollen. Deswegen sind die Banden der Zeitschwestern sehr innig und einzigartig!

 

Rae Sir Neiselle Urzen,

Hohe Tante,

Winter im Jahre 107 vor dem Nebel

 

Wie schon so oft in den letzten Tagen fragte sich Aleitha immer wieder, wieso sie sich darauf eingelassen hatte. Wieso hatte sie sich überreden lassen, ohne jemanden um Hilfe zu bitten, Ferren zu verlassen. Zwar war Larren bei ihnen, doch dies beruhigte Aleitha überhaupt nicht. Sie wusste nicht, was sie von dem Mann halten soll, denn dieser war ganz anders als der Mann, den sie in Ferren gekannt hatte. Er war kein wirklicher Säufer und hatte gemeint, dass alles nur eine Verkleidung von ihm gewesen war. Weshalb er sich jedoch so verhalten hatte, hatte er nicht verraten und dies sorgte dafür, dass ihre Schwester sehr misstrauisch gegenüber dem Mann war

Das Mädchen seufzte und ihr Blick ging nervös umher. Da sie inmitten des Gebirges gingen, wo sie durch enge Spalten liefen, konnte sie nicht viel erkennen und dies verursachte eine Gänsehaut bei ihr. Es gefiel ihr einfach nicht, sich in so einer engen Spalte aufhalten zu müssen und kam sich vor, als würde sie sich auf einem Präsentierteller befinden. Sie sah nach vorne, wo Larren ging. Dieser führte ihre kleine Truppe an und Saren ging hinter Aleitha, um den Schluss zu sichern. Gestern Abend hatte es wieder einen Streit zwischen den ehemaligen Soldaten und ihrer Schwester gegeben, sodass die Stimmung gereizt war. Aleitha gefiel dies nicht, denn sie hatte dadurch das Gefühl, dass sie sich zwischen zwei Rädern befand. Ihre Loyalität gehörte natürlich Saren, doch sie konnte sich nicht vor den Argumenten des Mannes verschließen.

Wir hätten doch ins Dorf gehen und Chaidra um Hilfe bitten sollen.

Nicht zum ersten Mal durchfuhr sie dieser Gedanke und sie wünschte sich, sie hätte sich gegenüber ihrer Schwester durchgesetzt. Doch die Angst, dass der Fürst sie töten würde, tobte immer noch in ihr und sie war froh, dass sie ihn dort entkommen sind. Dennoch war Aleitha klar, dass sie nicht ewig in dem Gebirge umherwandern konnten. Als Saren den Mann gefragt hatte, wo er sie hinführen würde, hatte er nur eine ausweichende Antwort gegeben und dann war wieder ein Streit zwischen den beiden ausgebrochen. Ein Streit, von den Aleitha nicht viel mitbekommen hatte, weil sie zu einer Wasserstelle gegangen war, um ihre Vorräte aufzufrischen. Sie wandte sich immer ab, wenn die anderen beiden sich stritten.

Die Stimmung war heute abermals gereizt und Aleitha fühlte sich nicht wohl. Sie fühlte sich einsam und verlassen. Ein Gefühl, das selbst Navah nicht ändern konnte, der auf ihrer Schulter saß und mit seinem Schnabel durch ihr Haar fuhr.

Plötzlich hielt Larren inne und hob seine rechte Hand. Aleitha sah sich verwirrt um, denn sie befanden sich immer noch inmitten einer Spalte. Hinter ihr konnte sie Saren leise fluchen hören.

Aleitha kniff die Augen zusammen und lauschte auf die Umgebung. Sie konnte deutlich spüren, dass etwas in der Nähe war, was nicht hierher gehörte. Doch was war es? Sie sah zu ihren Raben und dieser schien auch unruhig zu sein. Ein Zeichen dafür, dass tatsächlich etwas nicht stimmte.

Larren drehte sich mehrfach um. Ein leichtes grimmiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht und er schloss kurz die Augen. Er schien in sich hinein zu lauschen. Auch Aleitha schloss die Augen und lauschte abermals auf die Umgebung. Hinter sich konnte sie das leise atmen ihrer Schwester vernehmen, neben sich das Rauschen der Feder von Navah. Sie öffnete die Augen wieder. Es gab keine anderen Geräusche hier. Was also hatte Larren gehört?

Der Mann öffnete seine Augen und wandte sich wieder nach vorne. Er zuckte mit den Schultern und ging wieder los.

Aleitha wurde aus dem Mann einfach nicht schlau. Sie vertraute Larren, dass dieser sich hier auskannte und auch darauf, dass er wusste, was er machte, aber ansonsten verwirrte Larren sie einfach nur.

Mit entschlossenem Ausdruck stiegen sie weiter den Berg hoch und je weiter sie höher kamen, desto wohler fühlte sich Aleitha. Vielleicht lag es an der Höhe oder einfach daran, dass der Wind hier oben sanft und fein wehte. Es war so, als würde sie sich frei fühlen und nicht mehr die Last ihrer Gabe spüren.

Sie gingen immer höher und höher. Plötzlich endete die Spalte und sie kamen traten auf einem Plateau, das in ein Tal ragte.

Aleitha drehte sich nach Westen und blieb staunend stehen.

Vor ihr in diesem tiefen Tal breitete sich eine riesige Ruine aus, die friedlich aussah. Drei der Grundmauern eines ehemaligen Schlosses standen noch, doch wiesen sie große Löcher und Verfällnisse auf. Ein großer Turm war noch intakt, doch all die anderen waren entweder eingestürzt, oder sogar schon ganz abgetragen. Eine vereinzelte Flagge mit einem goldenen Drachen auf silbernen Untergrund wedelte allein im großen Wind. In der Ferne konnte man einen schwarzen Wolf sehen, der sich kaum von dem Schnee abhob.

Aleitha war erstaunt und fragte sich, was die Ruine mal gewesen war und wem sie gehört hatte. Sie erinnerte sich an das Flaggenabbild, doch kam sie nicht darauf, wo sie von diesen schon einmal gehört hatte. Aus diesem Grund sie einfach stehen und betrachtet die Ruine. Sie sah, wie Larren einen Blick zu dem schwarzen Wolf warf, ehe sie sich anmachte, in das Tal hinunterzugehen. Saren trat neben ihr und sah ebenfalls auf das Tal.

»Was für ein trostloser Ort«, murmelte sie.

»Ich finde ihn schön«, flüsterte Aleitha und lächelte leicht, als ihre Schwester ihr einen überraschten Blick zuwarf. »Es sieht friedlich aus … ich hoffe, dass wir hier eine Pause machen können.«

Saren zuckte mit den Schultern. »Ist mir egal. Hauptsache wir kommen bald aus dem Gebirge heraus. Ich meine, ich habe nicht Ferren verlassen und laufe vor dem Fürsten weg, damit ich zulassen, dass du hier sterben wirst. Mir gefällt das Ganze einfach nicht!«

Aleitha antwortete nicht darauf, doch die Worte ihrer Schwester erwärmte ihr das Herz. Es zeigte ihr, dass sie ihre Schwester doch nicht verloren hatte. Doch inwieweit stimmte dies? Irgendetwas stimmte nicht mit ihrer Schwester. Drei Mal war sie nun im Gebirge ohnmächtig geworden und verriet nicht, was wirklich los war. Aleitha glaubte immer noch nicht daran, dass diese Anfälle etwas mit Müdigkeit zu tun hatte. Nein, irgendetwas passierte mit ihrer Schwester, wenn sie ohnmächtig war und dass Saren es ihr nicht verraten wollte, schmerzte Aleitha sehr.

»Komm Schwesterchen. Gehen wir weiter. Sonst werden wir heute nicht weit kommen«, sagte Saren und folgte den Pfad, den Larren gegangen war.

Traurig sah Aleitha ihrer Schwester nach und fühlte ein Gefühl der Abweisung in ihr aufkommen. Wieso vertraute Saren sich nicht ihr an?

Aleitha erkannte, dass Saren schon die Hälfte des Weges hinter sich hatte und begann ihr zu folgen. Sie wollte nicht zurückbleiben.

Der Weg nach unten war nicht steil, dennoch musste Aleitha aufpassen, dass sie nicht ausrutschte. Einige Steine waren lose und wenn sie falsch mit dem Fuß auftreten würde, dann konnte eine Katastrophe entstehen. Vorsichtig suchte sie sich den Weg nach unten, wobei immer wieder zu Larren blickte.

Wieder warf Larren einen Blick zu dem schwarzen Wolf und Aleitha fragte sich, was dieser hier zu suchen hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Ort hier seine Heimat war. Ein Wolf konnte doch nicht inmitten eines Gebirge überleben, oder doch? Je länger das Mädchen den Wolf betrachtete, desto unheimlicher wurde er ihr. Irgendetwas stimmte mit diesen nicht!

Aleitha ließ sich auf dem Boden nieder, als sie das Tal erreicht hatte, und sah sich um. Vom Tal aus sahen die Berge sehr groß und gespenstig aus. Dennoch fühlte sie sich wohl, denn diese Berge erinnerten sie sehr an das Tal, wo sich Ferren befand und ein Gefühl von Heimweh kam in dem Mädchen auf.

»Wir sind nicht allein«, sagte plötzlichen Larren und Aleitha zuckte zusammen. Sie starrte den Mann ungläubig an. Hatte diese gerade gesagt, dass noch andere hier waren. Sie sah sich im Tal um und Angst kam in ihr auf.

 

Saren ging einige Schritte, wobei sie auf die Umgebung achtete. Sie musste dem alten Säufer zustimmen, denn auch sie war sich sicher, dass noch andere hier sein mussten. Woher sie diese Sicherheit bekam, konnte sie nicht sagen. Doch hier waren andere, die nicht hierher gehörten. Der Geruch von etwas Ungewöhnlichen trat in ihrer Nase und ihre Stirn furchte sich. Eine ihr unbekannte Wut stieg in ihr auf und sie kniff die Augen zusammen.

Sie erkannte, dass ihre kleine Schwester Aleitha einige Schritte zurückwich und sie mit großen Augen anblickte. Etwas in Saren sagte ihr, dass ihre Schwester die Wut in ihren Augen erkennen musste. Doch warum war sie so wüted? Ein Schaudern ging über ihren Rücken und wieder kam in ihr die Frage auf, mit ihr passierte? Was war nur mit ihr los?

Der Wind wurde wieder etwas stärker und ließ ihre Haare um ihren Kopf flattern. Doch dieses Mal brachte der Wind einen Gestank mit, der dafür sorgte, dass Saren sofort innehielt. Sie blickte scharf um sich und fragte sich, dies für ein Geruch war. Er kam ihr bekannt vor. Es dauerte eine Weile, ehe sie sich erinnerte, dass genau dieser Geruch auch in einem ihrer seltsamen Träume vorgekommen war. Wie konnte das sein? Sie erinnerte sich daran, dass seltsame Wesen diesen Gestank ausgeströmt hatten.

Mit etwas unruhigen Gefühlen stand sie da und nahm ihre einzige Waffe in die Hand, die sie besaß: einen Dolch. Sie warf einen Blick zu Larren, der sein Schwert gezogen hatte und sich aufmerksam umschaute. Er schien beunruhigt zu sein und sein Blick ging immer wieder zu diesem seltsamen Wolf.

»Sieht so aus, als wären sie nicht ganz so dumm, wie sonst immer«, murmelte der Mann plötzlich, als würde er wissen, was gerade passierte. Er warf einen Blick zu Aleitha und Saren. »Ihr verschwindest am besten. Klettert wieder den Bergen hinauf und findet einen Ort zum Verstecken ... ich kümmere mich um die Schatten hier!«

Der erste Impuls von Saren war, zu widersprechen, doch dann erinnerte sie sich an Aleitha. Sie sah zu ihrer Schwester und erkannte, dass sie große Angst hatte. Sie beugte sich zu ihrer kleinen Schwester vor.

»Aleitha, du hast den Mann gehört. Such dir ein Versteckt!«

Sie erkannte, dass Aleitha sie mit großen Augen ansah, als ihre Schwester erkannte, was Saren mit diesen Worten meinte. Sie schüttelte den Kopf.

»Komm Aleitha, hör auf, jetzt stur zu sein! Ich werde Larren helfen und du versteckst dich!«

Aleitha presste die Lippen zusammen, doch Saren sah sie auffordernd an. Dann nickte ihre kleine Schwester und erhob sich. Sie rannte den Berg hinauf.

Saren wandte sich zu dem Mann, der sie wütend anstarrte.

»Du gehst auch. Sofort. Nun geh endlich«, zischte Larren. »Ich kann mich nicht auf die Leute hier konzentrieren und gleichzeitig auf dich aufpassen. Mir wird schon nicht passieren!«

Saren schüttelte den Kopf. Sie würde sich von dem Mann herumkommandieren lassen und außerdem vertraute sie ihm nicht wirklich. Sie wollte etwas zu Larren sagen, als plötzlich etwas heranflog und gegen die Stirn des Mannes prallte. Larren sah sie einen Moment verdutzt an, ehe er seine Augen verdrehte und zu Boden ging.

Hinter ihr konnte Saren ihre Schwester vor Schreck aufschreien hören und auch Saren entfuhr ein Geräusch der Überraschung. Sie beugte sich über Larren und erkannte, dass er nur bewusstlos war. Na toll. Ausgerechnet jetzt!

Sie sah sich in der Umgebung um. Der starke Geruch wurde immer schärfer und plötzlich sprangen mehrere seltsame Wesen von einem Felsenvorsprung vor. Sie landeten genau vor Saren.

Sieben waren es an der Zahl und hinter ihnen tauchte auch noch ein schwerfälliger riesiger Schatten auf. Mit ihren dunklen Kleidern und schwarzen Rüstungen sahen die Wesen gefährlich aus. Ihre spitzen Schwerter blinzelten in der Sonne und ein Knurren entfuhr ihnen. In ihren Augen herrschte völliger Wahnsinn und sie waren blutunterlaufen. Zwei von den Kriegern hoben ihre Schwerter, schrien etwas in der dunklen Sprache und griffen das Mädchen an.

Für einen Moment schien für Saren die Zeit stillzustehen. Sie starrte die Wesen an und ein Wort erschien in ihren Hinterkopf. Schatten! Sie wusste nicht woher, doch plötzlich wusste sie einiges über diese Wesen. Dass diese von jenseits der Welt kamen und nur Zerstörung im Sinn hatten. Dann durchfuhr Saren ein heftiger Schmerz und urplötzlich bewegte sich ihr Körper, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Für Saren schien es so, als hätte sie schon öfters gegen diese Schatten gekämpft und zog ihren Dolch. Ihr Blick fixierte die Angreifer. Es war seltsam. In ihr war auf einmal Wissen, dass sie haben konnte.

Sie fluchte, dass sie kein Schwert hatte und fragte sich gleichzeitig warum sie dies tat. Sie hatte noch nie in ihrem Leben ein Schwert gehalten. In ihren Augen konnte man keine Furcht erkennen, denn sie hatte mit solchen Situationen Erfahrung ... nein, habe ich nicht.

Was ist hier los?. Mit dem Dolch konnte sie auch sehr gut umgehen, aber er wäre nicht ihre erste Wahl gewesen. Doch das sie nun mit nur dieser Waffe dastand, schien es ihr nichts auszumachen, sodass sie leicht in die Hocke ging und als ein Schatten sie erreichte, drückte sie ihre Füße vom Boden ab. Kurz blitzte ihr Dolch auf, ein Röcheln war zu hören und einer der Schatten fiel zusammengekrümmt zu Boden. Er zuckte noch etwas, ehe er sich auflöste.

Gut! Und nun zum nächsten!

Saren, die überhaupt keine Ahnung hatte, was hier passierte, ließ sich dennoch von dem unbekannten Gefühl leiten. Sie musste ihre Schwester beschützen und wenn es bedeutete, dass sie auf Erinnerungen zurückgriff, die nicht ihre waren, dann sollte es ihr recht sein.       

Der zweite Schatten jedoch hatte mehr Erfahrung, sodass er wild mit seinem Schwert auf die Frau einschlug. Er war wendig und von purer Mordlust angetrieben. Seine Augen glänzten Irre und nach einer kurzen Zeit befanden sich an seiner Klingel rötliche Spuren. Saren ließ ihren Dolch mit einem Aufstöhnen fallen und sie griff sich an ihrer linken Schulter. Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor und ein großer Schmerz durchfuhr sie. Vor ihren Augen begann es zu verschwimmen, doch konnte sie die Angreifer noch genau erkennen. Sie biss die Augen zu, sah Aleitha vor ihrem geistigen Auge und ergriff schnell das Schwert des ersten toten Schatten, das im Gras neben ihr lag. Dabei drehte sie sich und stieß die Waffe nach vorne. Der zweite Mann, viel zu überrascht, kippte mit verdrehten Augen um.

Stöhnend fluchte Saren. Wieso musste es immer die Schulter sein!? Ich muss mir mal eine Schulterrüstung besorgen. Sie sah zu den anderen Kriegern und fragte sich, wieso sie dies gerade gedacht hatte.

Nun drangen gleich vier Schatten auf sie ein und sie hatte große Mühe, sich zu halten. Immer wieder begann es vor ihren Augen zu drehen und immer wieder torkelte sie zurück. Doch ihr eiserner Wille und ihre Wut über die Schatten halfen ihr. Mit großer Wucht, streckte sie zwei weitere nieder und verspürte einen stechenden Schmerz im rechten Bein. Dieses knickte ungewollt ein, und da sie nicht aufpasste, sah sie nicht die herankommende Faust von dem größeren Schatten. Dieser schlug ihr ins Gesicht. Sie landete unsanft auf den Boden und Blut quoll aus der Nase. Ihr ganzer Kopf hämmerte und schien explodieren zu wollen.

Wieder schrien die verbliebenen Schatten in der dunklen Sprache und wurden langsam unbeherrscht. In ihren Wahn traten sie nun zu der Frau, welche versuchte sich umzuwälzen. Ihre Schulter und ihr rechtes Bein schmerzten und sie konnte Blut schmecken. Doch sie besaß einen starken Willen, sodass sie sich aufraffte, aufsah und mit blankem Hass auf die Schatten blickte. Sie stieß welche von sich und richtete sich zitternd auf. Sie schlug auf die Schatten ein und achtete weder auf den großen Schatten, noch auf die Schwerter. Ihr Blick war von großer Wut überzogen und nach kurzer Zeit hatte sie ihren Dolch sowie ein Schwert wieder in der Hand. Sie drang wieder auf die Diener der Zerstörung ein und die restlichen drei Schatten fielen durch ihre Hand.

Es fing an zu regnen und ein eiskalter Hauch drang von Norden auf sie ein. Es war so, als würde die Luft sich mit etwas vermischen und sie wurde immer dicker. Der Regen dagegen wurde stärker und peitschte der Frau ins Gesicht.

Saren versuchte etwas zu erkennen, doch sah sie kaum etwas. Immer wieder dachte sie, sie hätte den Dämon vor sich, doch dann merkte sie, dass es ein großer Felsbrocken war. Völlig orientierungslos drehte sie sich in den Kreis und spürte, wie Blut über ihr Gesicht lief. Alles schmerzte und sie konnte kaum noch auf den Beinen stehen.

Ein großes Gebrüll ertönte und der riesige Schatten bäumte sich hinter der Frau auf. Er hatte eine große Keule zum Schlag erhoben.

Etwas Unerkennbares zischte an Saren, die sich vor Schreck fallen ließ, vorbei und drang in den Schatten. Dieser war überrascht und versuchte den Gegenstand rauszuziehen. Doch dieses hatte sich fest in ihn verkeilt und drang automatisch immer tiefer in ihm hinein. Der Dämon würde von großer Wut ergriffen und schlug wild um sich.

Saren zog sich etwas zurück und lehnte gegen eine Felswand. Sie konnte kaum etwas sehen. Als sich jedoch ihr Blick kurz klärte, konnte sie ein Pfeil erkennen, der in dem Schatten steckte. Dann jedoch wurde es schwarz um ihr.

 

Aleitha blickte schreckenserfüllt auf die Situation unter ihr und wusste sich nicht zu helfen. Sie wollte etwas unternehmen, doch wusste gleichzeitig, dass sie dies nicht konnte. Sie wunderte sich, wie es ihrer Schwester gelang, so zu kämpfen. Sie hatte nicht gewusst, dass dies Saren konnte. War dies überhaupt noch ihre Schwester? Sie sah, wie das vorletzte Wesen fiel und dann, wie das Letzte hinter Saren auftauchte. Sie wollte eine Warnung rufen, doch durch den einsetzenden Regen gingen ihre Worte im Prasseln unter. Das Mädchen war verzweifelt, als sie plötzlich ein Sirren hörte und dann ein seltsamer leuchtender Pfeil auf das Wesen geschossen wurde. Aleitha war verwirrt. Woher kam dieser Pfeil und warum leuchtete er so? Sie wollte sich umsehen, als sie plötzlich sah, wie Saren bewusstlos zu Boden ging und da Wesen nicht mehr da waren und sich alle in Luft aufgelöst hatte, nutzte sie die Chance und flog hinunter ins Tal.

 

Es waren leise Stimmen, die Saren weckte und das Prasseln von Regen. Sie öffnete die Augen und sah sich verwirrt um. Sie erkannte, dass sie in der Ruine lag, und erinnerte sich sofort daran, was passiert war. »Verdammt«, flüsterte sie leise und hörte dann, wie jemand zu ihr trat. »Du bist wach«, ertönte die überraschte und auch zugleich erleichterte Stimme von Aleitha. Kurz darauf sah Saren ihre Schwester über sich. Die Sorge in den Augen von Aleitha rührte Saren sehr. Sie grinste Aleitha an.

»Sicher ... Unkraut vergeht nicht, heißt es doch so schön«, sagte sie und sah, wie Aleitha die Stirn runzelte. Saren war erleichtert zu sehen, dass es ihrer kleinen Schwester gut ging, und konnte im Hintergrund auch Larren sehen, der eine große Beule am Kopf hatte. Er sah sie mit einem unlesbaren Blick an. Saren wandte sich zu ihrer Schwester.

»Was ist passiert? Was ist mit dem letzten Schatten?«

Sie sah, wie Aleitha unruhig aussah und sie lange anblickte. Sie schüttelte den Kopf.

»Ich weis nicht … irgendjemand hat einen Pfeil geschossen, doch Larren meinte, dass niemand hier wäre. Dass wir alleine sind.«

Saren kniff die Augen zusammen und sah abermals zu dem Mann, der jedoch gerade die Ruine verließ. »Ich trau ihn nicht«, flüsterte sie und wusste, dass sie ihre Worte ernst meinte. Etwas war an den Mann, dass sie nicht verstand.

»Saren?«

Sie sah zu ihrer kleinen Schwester und nickte.

»Was ist passiert Saren? Du … du hast gegen diese Wesen gekämpft, als würdest du es schon immer machen?«

Als Saren dies hörte, erinnerte sie sich daran und schloss die Augen. Eine gute Frage: Was ist passiert? Sie wusste nicht wieso, aber sie hatte das Gefühl, das sie schon immer gegen Schatten gekämpft hatte. Doch ihr war klar, dass es nicht ihre Erinnerungen waren … es waren auch keine wirklichen Erinnerungen, sondern eher Gefühle. Dies verwirrte sie nur noch mehr.

»Ich weis es nicht, `leitha. Ich weis es einfach nicht.«

 

 

 

Kapitel Sechsundzwanzig

 Erinnerung einer Luftwächterin

 

Die Umwandlung ist endgültig und wird dein Leben verändern. Niemand kann sie rückgängig machen, sodass es das Beste ist, wenn du es akzeptieren würdest. Geh voran und schaue nicht zurück!

 

Rae Zhajà Tobiana Rizen,

Zeyren von Sharren El`Sent,

Winter im Jahre 125 vor den Nebel

 

 

Je länger sie unterwegs nach Greisarg waren, desto sicherer war sich Thanai, dass sie Akara etwas antun könnte. Die Feuerwächterin schaffte es immer wieder, sie zu reizen und selbst eine Kleinigkeit reichte, um die Luftwächterin am Rande eines Wutausbruches zu führen. Die Reise dauerte schon seit knapp zehn Tagen und der Gedanke, dass noch ungefähr fünfzehn Tage vor ihnen lag, machte es nur noch schlimmer.

Thanai setzte sich auf dem Bett und lehnte sich gegen die Wand des Wagens. Dieser wackelte immer wieder, denn der Weg wurde einfach nicht besser. Schlaglöcher, kleinere Äste und Hügel sorgten dafür, dass man nicht in Ruhe fahren konnte. Bisher hatte jedoch die neue Achse gehalten und sie hatten keinerlei neuen Probleme bekommen. Dennoch fügte die Beschaffenheit der Straße dazu, dass sich ihre Laune nicht bessern konnte. Die Luftwächterin ließ ihren Blick zu dem Bett schweifen, dass sich auf der anderen Seite befand und ein besorgter Ausdruck trat in ihre Augen. Nolwine Leysen war nun seit fast zwei Tagen kaum ansprechbar. Immer wieder verlor sie das Bewusstsein und behielt kaum Essen in sich. Die Veränderung der Luftstränge bei dem Mädchen viel härter als Thanai es vermutet hätte und ihr wäre es lieber, wenn noch eine andere Luftwächterin hier wäre. Dass die Umwandlung länger und härter werden würde, als bei einem Kind, das gerade fünf-sechs Jahre alt war, hatte Thanai gewusst, doch dass es so hart werden würde, überraschte selbst sie. Je älter ein Mädchen war, desto schlimmer war der Prozess. Bei jemand ganz jungen war das innere Gleichgewicht noch nicht so festgefahren, sodass es sich leicht ändern ließ und deswegen die Verbindung zur Umgebung nicht zu dramatisch ist. Doch je älter jemand wurde, desto fester war das innere Gleichgewicht und desto schmerzhafter war die Umwandlung. Dies war auch der Grund, warum die meisten Erwachsenen starben, wenn bei ihnen die Gabe zum Vorschein kam. Ein neuer Ruck ging durch den Wagen, als dieser wieder über ein großes Schlagloch fuhr und Thanai fluchte leise auf. Dass die Fahrt so schlecht war, half dem Kind nicht gerade und Thanai konnte nicht viel unternehmen, außer darauf zu achten, dass die Luftstränge nicht den Körper des Mädchens zum Bersten brachten.

Erinnerungen an ihre eigene Umwandlung kamen in Thanai auf und ein leichtes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Sie war damals kurz vor ihrem sechsten Geburtstag und somit auch einige Tage von ihrer ersten Tätowierung entfernt gewesen. Nach einem Brauch ihres Volkes war es so, dass jeder an seinen sechsten Geburtstag das erste Zeichen auf der linken Hand bekam. Ein Zeichen, dass für die Familie stand, in der man geboren wurde. Später würde dann die Tätowierung vergrößert und verschönert werden. Je nachdem welchen Beruf man erlernte oder welche Taten man vollbrachte. Es war ein Zeichen des Standes, wenn man große und sehr verschnörkelte Zeichen an den Händen besaß. Mit einem fast traurigen Blick sah Thanai auf ihre Hände und das Fehlen sämtlicher Zeichen erinnerte sie daran, was sie verloren hatte.

Da sie vor ihrem sechsten Jahr die Gabe der Luft entwickelt hatte, musste sie ihre Heimat verlassen, ehe sie eine Tätowierung bekommen hatte. Und weil die Wächterinnen Personen der ganzen Welt war, hatte sie kein Zeichen bekommen und musste mit dem Wissen leben, dass sie äußerlich kein Zeichen ihrer Zugehörigkeit zu dem Land Sadùr besaß. Tief in Inneren fühlte sie sich ihrem Volk noch zugehörig, doch jedes Mal, wenn sie auf ihre Hände sah, wurde ihr bewusst, dass sie keine richtige Sadùrier war.

Thanai schloss die Augen und dachte an die Vergangenheit. Seitdem sie nach Neirhain gekommen war, hatte sie nicht mehr ihre Heimat aufgesucht. Dies war nun siebzehn Jahre her und in all der Zeit hatte sie es nicht zustande gebracht, Sadùr wieder aufzusuchen. Zum einem lag es daran, dass Sadùr weit oben in Norden lag und kaum von Fremdländern besucht wurde. Bisher hatte ihr Weg nie in diese Richtung geführt und da so gut wie keine Wächterinnen aus diesem Land kam, wusste auch Thanai nicht, wie ihre Familie reagieren würde, wenn sie wieder vor der Tür stehen würde. Natürlich wurden die Wächterinnen auch dort mit Respekt begegnet, doch aus irgendeinem Grund gab es in dem Land keinen einzigen Tempel. Ein Grund mochte sein, dass dieses Land nie von Schatten heimgesucht wurde, sodass keine Notwendigkeit bestand, dass Wächterinnen sich dort aufhalten mussten. Ein anderer Grund konnte sein, dass das Land abseits lag und wie schon erwähnt kaum besucht wurde. Thanai selber vermisste Sadùr. Sie vermisste die Stadtmauer von Bragend und die Aussicht, die sie gehabt hatte, wenn sie auf dem höchsten Turm gestanden und sich umgeschaut hatte.

Ein neuer Ruck ging durch den Wagen und dieses Mal war er so stark, dass Thanai das Gleichgewicht verlor und zur Seite auf das Bett kippte. Sie schüttelte ihren Kopf und sah zum Kutscherblock, der nur halb zu erkennen war.

»Fahr vorsichtiger Zhanaile! Nimm nicht jedes Loch mit.«

Ihre Freundin murmelte eine Entgegnung, doch durch das Klappern der Hufen und das leise Quitschen eines Reifens, verstand Thanai diese nicht. Sie setzte sich wieder auf das Bett auf und fuhr über ihr linkes Ohr. Dort befanden sich zwei Ohrringe. Das einzige Zeichen, dass sie mit dem Sadùrier noch gemein hatte, denn neben den tätowierten Händen war das Volk dadurch bekannt, dass es vielen Ohrschmuck trug. Je mehr, desto besser. Ihren ersten Ohrring hatte sie bekommen, als sie vier Jahre alt war und am ihren Fünften, hatte sie den Zweiten bekommen. Mehr jedoch besaß sie nicht, denn dann war ihre Gabe dazwischengekommen. Sie konnte sich noch schwach an den dritten erinnern, den sie schon ausgesucht, doch nie bekommen hatte.

Manchmal, wenn sie so wie jetzt darüber nachdachte, spielte sie mit den Gedanken, Bragend zu besuchen und ihre Familie aufzusuchen. Doch wie sonst immer in der Vergangenheit wusste sie, dass es wahrscheinlich nie dazu kommen würde. Tief im Inneren hatte Thanai Angst, dass ihre Familie sie nicht anerkennen würde, da sie nicht das Zeichen der Sadùrier trug. In den ersten Jahren, nachdem sie nach Neirhain gekommen war, hatte sie Nachrichten nach Hause geschickt, doch nachdem sie erkannt hatte, dass sie keine von dort bekam, hatte sie es eingestellt. Ihr Leben war in Sadùr zuende und hatte in Neirhain neu begonnen.

Im Hort der Lüfte hatte sie ein neues Zuhause und eine neue Familie bekommen. Viele Luftwächterinnen waren ihre Freunde. Vor diejenigen, mit denen sie die Ausbildung absolviert hatte. Und auch außerhalb ihres Elements oder der Wächterschaft hatte sie viele Freunde. Viele ihrer Kameraden und Bekannten hatten sogar Schmuck, der von Sadùr kam, was jedoch kaum einer wusste. Doch der Schmuck davon besaß immer ein kleines Zeichen und ein Sadùrier erkannte ihn, wenn er wusste, wo genau er zu suchen hatte, sodass es Thanai nicht schwerfiel, diesen zu erkennen. Sie selber kaufte keinen Schmuck von Sadùr, denn dieser würde sie nur daran erinnern, was sie verloren hatte.

Verloren. Eigentlich habe ich viel mehr dazugewonnen. Immerhin bin ich so in der Lage andere Länder zu bereisen und kann etwas von der Welt sehen. Außerdem helfe ich dabei, dass die Schatten nicht diese Welt überrennen. Was könnte ich mir nur mehr wünschen.

Und dies war auch der Grund, warum Thanai ihr Los mit einer gewissen Freude trug. Wäre sie in Sadùr geblieben, hätte sie dieses Land wahrscheinlich nie verlassen. Die Sadùrier blieben unter sich und außer dem Handel, den sie mit dem Pferdevolk oder einigen Seefahrern betrieb, hatten sie keinen Kontakt zu der Außenwelt. Zwar gab es Ausnahmen und junge Personen, die das Land verließen, doch diese kehrten nie mehr zurück. Wahrscheinlich, weil sie wussten, dass sie nicht mehr allzusehr willkommen waren. Im Grunde genommen ein sehr trauriger Gedanke und auch eine Ausrede dafür, dass Thanai bisher noch nicht ihre Heimat aufgesucht hatte. Nur wenige wussten, dass sie von Sadùr kamen, denn die meisten wussten nur, dass sie aus dem Norden stammte. Selbst Zhanaile und Akara wusste nicht genau, dass sie eine Sadùrierin war und manchmal fragte sie sich, ob es fair war, ihre besten Freunde zu belügen.

Irgendwann muss ich es ihnen sagen … irgendwann werden sie darauf bestehen, dass ich ihnen zeigen werde, wo ich herkomme.

Dies war eine Tradition, die sie eingeführt hatten. Dass sie die Heimat der anderen beiden besuchen wollten, um zu sehen, woher man kam. Aus diesem Grund war Thanai vor drei Jahren in dem Gebirgsdorf Arse gewesen, wo Akara aufgewachsen war. Und im nächsten Sommer würden sie Jolsir aufsuchen, die Heimatstadt von Zhanaile.

Plötzlich bemerkte Thanai, dass der Wagen sich nicht bewegte und still stehen blieb, sodass sie verwirrt sich vom Bett erhob. Sie ging nach vorne und zog den Stoff etwas beiseite.

»Was ist los, Zhanaile? Warum halten wir?«

Zhanaile sah kurz über ihre Schulter zu Thanai und zuckte dann mit den Schultern. Sie deutete nach vorne, wo Akara aufrecht auf ihrer Stute saß und die eine Hand gehoben hatte. Sie sah sich sehr aufmerksam um.

Thanai kletterte aus dem Wagen und ließ sich auf dem Bock nieder. Nun betrachtete sie ebenfalls die Umgebung.

»Akara?«

Die Feuerwächterin deutete mit der Hand an, leise zu sein und kniff die Augen zusammen, ehe sie mit den Schultern zuckte. Sie ließ ihre Stute wieder neu antraben.

»Was war das denn nun«, fragte Thanai.

»Vielleicht hat sie etwas hört und es war irgendein Tier«, meinte Zhanaile und Schnalzte mit der Zunge. Die Zugpferde trabten los. »In den letzten Ritten war sie immer so aufmerksam. Ich glaube, dass sie anfängt, sich zu langweilen und hofft darauf, dass irgendetwas passiert.«

Thanais Blick wurde finster. »Ich bin froh, dass es so ruhig ist. Auf einem Zwischenfall kann ich sehr gut verzichten.« Sie schnaubte. »Ich hoffe, dass sie auf keine dummen Gedanken kommt, nur weil ihr Langweilig ist. Aber ich muss zugeben, dass ich überrascht bin. Ich hätte wirklich damit gerechnet, dass sie das Weite suchen würde, sobald wir weit genug von Greisarg entfernt sein würden.«

Zhanaile warf einen vorwurfsvollen Blick zu der Luftwächterin. »Akara hat versprochen, dass sie dies nicht machen würde. Ich sehe keinen Grund, warum sie uns anlügen sollte. Sie will vielleicht nicht nach Sardenthal, aber sie wird auch nichts unternehmen, was uns in einer eventuellen Gefahr bringen könnte. Dazu macht sie sich noch zu viele Vorwürfe. Was kein Wunder ist, nachdem du sie so angegangen bist, obwohl du wusstest, dass Akara keine Schuld an dem Schwarzen Blut trägt!«

Der Vorwurf in der Stimme der Wasserwächterin ließ Thanai zusammenzucken und sie wich deren Blick aus. Je mehr Zeit verstrich, desto mehr bereute auch Thanai ihre Worte. Damals war sie so wütend auf Akara gewesen, dass sie ihr wehtun wollte und nun war es zu spät, um dies wieder rückgängig zu machen. Dabei hätte sie wissen müssen, dass Akara ihre Worte so ernst nehmen würde.

Thanai öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch ein leises Wimmern ließ sie inne halten und sie seufzte leise. Sie erhob sich ohne ein weiteres Wort und begab sich wieder ins Innere des Wagens. Dort erkannte sie, dass Nolwine wach war und ihr Gesicht vor Schmerz verzogen hatte.

Die Luftwächterin ging neben dem Bett in die Knie und strich eine Strähne aus dem Gesicht des Kindes. Ihre Stirn glühte und ihr Haar war schweißnass.

»Nolwine?«

Der Blick des Mädchens war trübe, doch sie reagierte auf ihren Namen. Sie sah zu Thanai und die Frau konnte den Schmerz in den Augen des Kindes erkennen. Sie seufzte leise und legte ihre rechte Hand auf die schweißnasse heiße Stirn. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich.

Sofort konnte sie alle Luftstränge vernehmen, die sich in der Umgebung befanden und sehr leicht konnte sie die Stränge von Nolwine erkennen, denn diese hoben sich deutlich von den anderen ab. Die betroffenen Stränge waren dunkler und pulsierten in unregelmäßigen Abständen. Auch breitete sie sich aus. Es schien so, als würden sie wachsen, neue Verzweigungen bilden und diese umwickelten die Stränge der Umgebung, wenn sie auf diese trafen. Ein Prozess, der schön anzusehen war, jedoch für das innere Gleichgewicht einer Person sehr schmerzhaft sein konnte. Denn fremde Stränge wurden in den Körpereigenen gezogen und der Körper selber wehrte sich so sehr dagegen, dass er von Krämpfen und Schmerzattacken heimgesucht wurde. Thanai sah die Stränge ganz genau an und eine leichte Erleichterung durchfuhr sie. Sie konnte erkennen, dass es nicht mehr lange dauern würde und der Prozess würde fertig sein. Vielleicht noch ein, höchsten zwei Tage und dann war das schlimmste vorbei. Zwar würden dann in größeren Abständen immer wieder mal Krämpfe kommen, doch dies würde sich dann auch legen.

Die Luftwächterin öffnete ihre Augen und setzte ein Lächeln auf.

»Nicht mehr lange, Nolwine und du hast es geschafft«, sagte sie leise. Sie hatte keine Ahnung, ob das Mädchen sie verstehen würde, doch sie wusste von eigener Erfahrung her, dass es nicht wichtig war. Hauptsache das Kind würde merken, dass sie nicht alleine war und dies war das wichtigste. Thanai erinnerte sich deutlich daran, dass sie bei ihrer damaligen Umwandlung am Anfang allein gewesen war, da niemand genau gewusst hatte, was mit ihr passierte. Erst nach Tagen hatte man aus dem Nachbarland eine Wächterin geholt und diese hatte sofort erkannt, was los war. Jedenfalls hatte sie sehen können, dass eine Umwandlung stattfand, doch da die Wächterin selber eine Erdwächterin gewesen war, hatte sie auch nicht viel helfen können. Erst als nach nochmals drei Tagen eine Luftwächterin nach Bragend gekommen war, hatte es für Thanai Linderung bedeutet. Sie konnte sich erinnern, dass die Frau an ihrer Seite war, und ihren Schmerz besänftig hatte. Dass die Frau immer wieder mit ihr geredet hatte, doch das Gesprochene war nicht bis zu ihr durchgedrungen. Was nicht wichtig gewesen war. Wichtig war nur, dass sie nicht alleine gewesen war. Selbst heute noch hatte Thanai Kontakt zu dieser Luftwächterin.

Nachdem die Umwandlung vollendet gewesen war, hieß es Sachen packen und Abschied nehmen. Zwei Tage vor ihrem sechsten Geburtstag. Damals war sie voller Aufregung gewesen und die Tatsache, dass sie eigentlich ihre Familie verlassen musste, war nicht bis ihr durchgedrungen. Sie war mit Freuden mit dieser fremden Wächterin gegangen und hatte erst viel später die Tragweite des Ganzen verstanden.

Wie es wohl den anderen geht? Mam, Pa, Cylantha, Gwynna und Adorin?

Immer wieder fragte sich Thanai dies und dennoch versuchte sie nicht, es herauszufinden. Sie hatte Angst davor, was sie finden würde. In siebzehn Jahren konnte sich so viel verändern. Sie wusste nicht einmal, ob ihre Eltern noch lebten und dies war etwas, was ihr am meisten Furcht bereitete. Dass sie erfahren würde, dass jemand gestorben war. Sie erinnerte sich deutlich daran, wie Akara reagiert hatte, als sie auf Shar`sea erfahren hatte, dass ihre Mutter gestorben war. Der Schmerz in Akaras Augen und die Gewissheit, jemanden nie wieder zu sehen, war etwas sehr endgültiges. Und dies war etwas, was sich Thanai nicht stellen wollte.

Irgendwann wirst du es tun müssen.

Ein Teil von ihr wollte es auch machen. Wollte wissen, was in den Jahren passiert war und sie sehnte sich nach ihrer Familie. Nach der Umarmung ihrer Mutter, nach den Geschichten, die ihr Vater immer erzählt hatte. Sie vermisste die Streite, die zwischen ihren Schwestern Cylantha und Gwynna ausgebrochen waren und das Lächeln ihres älteres Bruders, der immer der Meinung war, er müsste auf sie aufpassen. Ja, Thanai hatte zwar in Neirhain eine neue Familie, doch ihre Luftschwestern würden nie ihre eigene Familie ersetzen können. Dies würde niemand können. Zhanaile und Akara waren sie Schwestern für Thanai, doch auch diese beiden konnten nicht das Gefühl ersetzen, was sie immer bei Cylantha und Gwynna gehabt hatte.

Eines Tages! Eines Tages werde ich nach Bragend reisen, schwor sie sich und richtete ihre Gedanken auf die Gegenwart. Sie erkannte, dass Nolwine wieder eingeschlafen war, und erhob sich leise. Wenn sie Glück hatten, dann würden sie heute noch in ein Dorf kommen müssten nicht wieder draußen im Freien übernachten. Zwar machte dies Thanai nichts aus, doch eine warme gute Mahlzeit würde sie auch nicht zurückweisen.

»Thanai! Könnest du mal bitte kommen«, ertönte die fragende Stimme von Zhanaile und Thanai hob eine Augenbraue. Sie kletterte abermals auf dem Kutscherblock und erkannte, dass am Himmel dunkle Wolken hingen. Sie wandte sich zu Zhanaile.

»Heute wird es noch regnen?«

Die Wasserwächterin nickte, doch ihr Blick war auf eine Gruppe Männer gerichtet, die vor Akara standen und sie finster anstarrten. Thanai erkannte mit einem Blick, dass diese Männer Diebe sein mussten und Akara wahrscheinlich deswegen als Opfer ausgesucht worden war, weil ihre Kleidung schmutzig aussah. Thanai stöhnte auf.

»Das ist doch jetzt nicht wahr, oder? Haben sie schon etwas gesagt?«

Zhanaile schüttelte den Kopf. »Bis jetzt noch nicht, doch ich mache mir keine Sorgen um die Männer. Mir macht eher Akaras Lächeln Sorgen. Immerhin hatte sie sich ja beschwert, dass ihr die Reise zu langweilig ist.«

Thanai stutzte, doch dann erkannte sie auch das besagte Lächeln. Es sah voller Vorfreude aus und selbst aus der Entfernung konnte Thanai die Freude in Akaras Augen erkennen. Wenn sie jetzt nichts unternahm, dann würden diese Männer den Tag sehr bedauern.

»Warum muss das ausgrechnet uns passieren«, fragte Thanai und rief dann laut. »Gibt es hier ein Problem?«

Die erwartet, wandten sich die Männer zu ihr um und wollten schon etwas erwidern, dass bestimmt nicht freundlich klang, als sie Thanais Kleidung erkannten. Sofort wurden die meisten bleich und die anderen zuckten zusammen. Der Anführer der Männer schien etwas zu murmeln, doch es war nicht laut genug, als dass Thanai es hören konnte. Er gab seinen Männern ein Befehl und dann waren sie auch schon weg, ehe irgendjemand schnell reagieren konnte.

Akara starrte Thanai wütend als, als de Wagen vor ihrer Stute stehen blieb. Das Rot in Akaras Augen, dass in den letzten Tagen schon fast verschwunden war, wurde intensiver.

»Warum, Lüftchen, musst du dich eigentlich immer einmischen«, sagte sie leise und es klang ein wenig bedrohlich. Thanai jedoch ließ sich nicht davon beeindrucken.

»Weil es unfair gegenüber den Männern wäre, wenn sie dich angegriffen hätten. Sie konnten ja nicht wissen, wer du bist und wenn du endlich mal ordentliche Kleidung tragen würdest, dann würde man dich nicht als Opfer aussuchen«, fuhr sie Akara an. »Die Männer hätte keine Chance gegen dich gehabt und das weist du. Gibst sonst immer die Moralische, aber hast nichts dagegen, diese Männer anzugreifen.«

Akara schnaubte. »Ich hätte sie nicht getötet und auch nicht mein Feuer genutzt. Die Würstchen hätte ich auch nur mit einem Dolch erledigen können. Ich hätte ihnen nur eine Lektion erteilt, sodass sie das nächste Mal vorsichtiger gewesen wären, wenn sie sich Beute ausgesucht hätten.«

Thanai bezweifelte diese Worte und wusste, dass diese die Wahrheit entsprachen. Ihre Ausbildung, die sie zusammen mit anderen Wächterinnen auf Shar`sea bekommen hatten, war wesentlich besser als die die Männer jemals bekommen würden. Und genau aus diesem Grund wäre es unfair gegenüber ihnen gewesen. »Ich bezweifle, dass es den Shars befallen würde, wenn du ihre Kampfkünste gegen unwissende Diebe einsetzen würdest, Akara«, sagte sie und sah, dass Zhanaile neben ihr den Kopf zustimmend nickte.

Akara legte ihren Kopf schräg. »Vielleicht hatte ich auch vor, mich raus rauben zu lassen. Ich hätte mich nicht gewehrt und die Männer würden denken, dass sie was erreicht hätten.« Dann lächelte sie. »Und später in der Nacht hätte ich mir mein Zeug zurückgeholt.«

»Du bist ein Kindskopf«, fuhr Thanai sie an und war wütend darüber, dass sie die Geduld so schnell verlor. Sie atmete tief durch. »Auch wenn die Reise nicht besonders aufregend ist, so brauchst du dich nicht mit einer Diebesbande anlegen. Wer weis, mit welchen anderen Banden sie ein Bündnis haben und dann haben wir eine Menge von denen an dem Hals. Denk nicht immer nur an dich, verdammt. Denk auch mal an uns!«

»Ach komm schon«, sagte Akara und warf ihre Hände in die Luft. »Du kannst mir nicht sagen, dass dir nicht Langweilig ist. Ich komme hier noch um, wenn nicht mal was passiert und was machst du? Du verhinderst, dass etwas passiert. Hast du Angst?« Sie warf einen finsteren Blick zu Thanai. »Hast du nicht gemeint, dass ich meine Gabe einsetzen soll, um anderen zu helfen. Nun, eine Diebesbande fertig zu machen, würde den Reisenden hier in dieser Gegend doch sehr hilfreich sein, oder meinst du nicht?«

Thanai öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Zhanaile kam ihr zuvor. »Schluss jetzt! Ich will keinen Streit zwischen euch beiden haben, sondern das Dorf heute noch erreichen. Habe ich mich da klar genug ausgedrückt?«

Sie warf einen scharfen Blick zu Akara, die nun abwehrend ihre Hände hob.

»Jaja…musst ja nicht gleich ungehalten werden, Fischlein.« Sie schnalzte mit der Zunge und kurz darauf galoppierte sich wieder voraus. Thanai atmete tief durch, doch sagte nichts weiter. Sie lehnte sich gegen den Pfosten, wo der Stoff befestigt war und schloss die Augen.

Es wäre besser, wenn meine Familie nie auf Akara treffen würde. Diese würden sie nicht verstehen können.

Dies war auch einer der Gründe, warum Akara den Besuch ihrer Heimat mit ihren Freunden vor sich herschob. Jeder, der nicht Akara wirklich kannte, konnte sehr schnell von ihr beleidigt sein und dabei meinte es Akara meistens nicht böse. Sie war eine Feuerwächterin und aus diesem Grund sagte sie immer was sie dachte, ohne auf die Reaktion anderer Rücksicht zu nehmen.

Sie öffnete halb ihre Augen und sah, dass Zhanaile die Pferde wieder antraben ließ.

Die Wasserwächterin war das genaue Gegenteil von Akara. Sie hatte ihre Gabe voll angenommen und zeigte sich offen und mit Stolz, dass sie eine Wächterin war. Sie war nett und dachte erst darüber nach, wenn sie mit jemanden redete und versuchte immer freundlich zu sein. Doch so war es halt mit den Feuer- und Wasserwächterinnen. Nicht nur, dass ihr Element das Gegenteilige war, auch ihr Gemüt war meistens gegensätzlich, sodass es öfters zu Spannungen zwischen den beiden kam. Etwas, was nicht böse gemeint, sondern einfach vorprogrammiert war. Aus diesem Grund waren sehr viele überrascht, als die Freundschaft zwischen Akara und Zhanaile entstanden ist. Einige sind der Meinung, dass diese nicht lange anhalten würde. Doch seit knapp fünf Jahren waren beide befreundet und es sah nicht danach aus, dass die Freundschaft in nächster Zukunft zerbrechen würde. Zum einen war Zhanaile viel zu geduldig gegenüber Akara und zum anderen war für Akara diese Freundschaft viel zu wichtig, als dass die Feuerwächterin es ernsthaft riskieren würde, diese zu verlieren. Und dann war ja noch Thanai. Einige meinten, dass die Freundschaft der beiden nur existieren konnte, weil Thanai als eine Art Puffer wirkte. Doch fand die Luftwächterin überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil, denn wenn Zhanaile nicht immer für Frieden zwischen Thanai und Akara sorgen würde, dann wäre diese Freundschaft schon längst zerbrochen. Es war die Wasserwächterin, die alle drei zusammenhielt.

Lächeln betrachtete Thanai ihre Freundin. Früher, als sie in Neirhain aufgewachsen war, hatte sie nie gedacht, dass sie so eine innige Freundschaft jemand von einem anderen Element aufbauen würde. Doch dann war sie nach Shar`sea gegangen, um in den Waffenkampf ausgebildet zu werden. Als feststand, dass sie die Erste Sturmbezwingerin werden sollte und deswegen bei den Shars das Richtige kämpfen lernen sollte. Auf dieser Insel war sie das erste Mal Zhanaile ir`Sir und Akara Sorhain begegnet, sowie auch Rae Vashà Seranin Xior, Rae Sir Lilith Arken, Rae Zhajà Hyane Zwier und auch Rae Arth Ordaine Horren. Alles Wächterinnen, die später mal die Armee anführen sollten und deswegen eine spezielle Ausbildung bekommen sollten. Und in den zwei Jahren, die sie auf Shar`sea verbracht hatten, war die Freundschaft zwischen Thanai, Zhanaile und Akara entstanden. Wie genau, konnte Thanai es nicht mehr sagen, doch sie bereute es nicht. Zwar gab es immer wieder Spannungen zwischen ihr und Akara, doch dies gehörte einfach dazu. Während der Wagen langsam dem Dorf näher kam, wurde es Thanai abermals bewusst, wie viel Glück sie mit ihren Freunden gehabt hatte. Denn in einem konnte sie sicher sein: Sie konnte ihr Leben auf diese verlassen und das war wichtig, wenn es zu einem Kampf gegen den Schatten kam. Wenn es wichtig war, sich aufeinander verlassen zu können.

Möge die Zukunft bringen, was sie will, doch sie wird nicht unsere Freundschaft zerbrechen können. Da war sich Thanai sicher, denn sie wollte nicht die Freundschaft zu Akara verlieren. Akara war wie eine Schwester für sie. Eine störrische Schwester, doch eine, die sie von ganzen Herzen liebte.

Kapitel Siebenundzwanzig

 Treffen in AlSarten

 

Und die finstere Zeit wird anbrechen, wenn niemand damit rechnen wird. Die jarieser Greife werde rot weinen und der Schatten sich über die Lande legen.

 

Rae Zhajà Seirila Ven,

Seherin,

Sommer im Jahre 2590

 

Siviana or`Majat sah einen Mann nach, wie er in einem Wirtshaus verschwand, und zog ihren Umhang fester um sich. Sie spürte, wie ein eiskalter Hauch über ihren Rücken fuhr, als sie an die Zukunft dachte und daran, dass bald alles in einem dunklen Schleier gehüllt würde. Daran, dass sie es nicht verhindern konnte, obwohl sie sich große Mühe gab.

Ein Lächeln tauchte Sivianas Gesicht auf, als sie sich vom Wirtshaus abwandte und die Straße weiter in das Dorf AlHarten entlang ging. Sie spürte innerlich einen Zwiespalt und fragte sich, was sich so stark geändert hatte, dass sie mit aller Macht gegen etwas ankämpfte, dass niemand sah. Sie hätte nie gedacht, dass es so weit kommen würde und wie sehr sich ihr Leben verändern würde, als man vor knapp zwanzig Jahren die Gabe der Zeit bei ihr entdeckt hatte. Eigentlich hätte sie entweder eine der vielen Tanzschulen ihrer Familie übernehmen sollen, oder sie hätte ihren Traum wahr gemacht und eine der berühmten Schwertkampfschulen besucht, wo sie dann nach Jahren eine Schwertmeisterin geworden wäre. Stattdessen musste sie nach Zhairet gehen und eine Wächterin werden. Am Anfang hatte sie sich schlicht und einfach geweigert alles zu machen, was man von ihr wollte, hatte mit Absicht Regeln gebrochen und war mehr als einmal von der Insel geflohen. Gebracht hatte all dies überhaupt nichts, nur, dass sie von einer Strafarbeit in die nächste gerutscht war, ihr immer am Ende der Woche alles wehgetan hatte von den Schlägen und man sie genau beobachtete. Das Lächeln der Frau verschwand, als sie ein altes verfallendes Gebäude erreichte. Letztendlich hatte sie die Prüfung zur Wächterin abgelegt und war dann in den Kreis der Priesterschaft aufgenommen. Dies war ja noch zu akzeptieren, doch dass man sie dann vor knapp vier Jahren den Posten der Ersten Sehenden geben musste, war etwas, dass sie bis heut noch nicht einfach so hinnahm. Mit dieser Aktion hat der »Rat der Zeit« dafür gesorgt, dass sie auch als eine Wächterin in Erscheinung treten musste und sie nichts anderes machen konnte. Zwar wusste niemand außerhalb der Zeit-Wächterinnen, dass sie die Erste Sehende war, doch dies änderte nichts an der Fülle von Pflichten, die sie nun besaß.

»Möge der Rat in die ewige Dunkelheit stürzen«, flüsterte Siviana, nahm eine Stoffmaske und setzte sie auf, ehe sie an der Tür Hauses dreimal klopfte, dann einige Sekunden wartete und wieder dreimal klopfte.

Minuten vergingen, während man kurz danach schlurfende Schritte vernehmen konnte und eine Klappe in der Tür sich öffnete. »Passwort«, erklang es kratzig.

Die Erste Sehende seufzte leise. »Die Rehe springen über den Saikar!«

Die Klappe schloss sich wieder und man konnte mehrere Riegel beiseiteschieben hören. Dann öffnete sich die Tür quietschend und ein Lichtstrahl drang nach außen. In den Spalt zwischen Wand und Tür konnte man einen Mann mit dunklen kurzen Haaren erkennen, der eine einfache schwarze Tunika trug und Hosen aus schwarzen Seidenstoff. Seine Haare wurden durch ein schwarzes Stirnband aus seinem Gesicht gehalten. Über seine Brust kreuzten sich zwei Gürtel, in einem steckten unzählige Wurfmesser, in den anderen Bolzen für eine Armbrust. An seinen Hüftgürtel konnte man zwei Schwerter erkennen, sowie einen Dolch. Eine riesige Narbe zog sich über sein Gesicht, welche übern dem linken Auge begann und über seinen Nasenrücken bis zum rechten Mundwinkel hinzog. Der Mann lächelte grimmig und verbeugte sich tief.

»Es ist uns eine große Ehre, sie hier begrüßen zu dürfen, Rae`Zhaja Siviana!« Er trat beiseite, damit die Frau eintreten konnte.

Siviana betrat das Gebäude, und als der Mann die Tür wieder geschlossen hatte, folgte sie ihm, wie er über eine wacklige Treppe nach oben ging. Außer einer Fackel, die der man neben der Tür aus einer Halterung genommen hatte, gab es kein einziges Licht und auch dies schien schwach zu dem Weg zu erleuchten. Zeugnisse aus einer besseren Zeit konnte man in dem Haus erkennen. Alte Möbel, die damals ein Vermögen gekostet haben mussten, standen verstaubt und teilweise zerfetzt oder kaputt, herum und alte Gemälde von unterschiedlichen Personen konnte man entlang der Treppe erahnen, wenn man die ganzen Spinnweben weg denken würde. Fast alle Stufen knarrten und als sie fast das Ende erreicht hatten, flog eine Fledermaus aus einem Loch in der Wand und verschwand schnell, als würde sie das Weite suchen. Der Gang oben war auch nicht in einen besseren Zustand, als der untere und auch hier konnte man die Spuren der Zeit erkennen. Aus einem Zimmer, dessen Tür offen stand, drang ein Lichtstrahl hinaus, sowie das Geräusch, als würde man eine Klinge schärfen. Der Mann führte sie in dem Raum.

Drinnen befanden sich drei Männer und eine Frau. Der älteste Mann von ihnen saß auf der Tischkante und hatte ein Schwert auf einen Knien liegen, welches er gerade mit einem Wetzstein bearbeitete. Seine Kleidung war teilweise zerrissen und von vertrockneten Blutflecken verziert. Über ein Hemd trug er ein Waffenrock, welcher grün war und ein Wappen zeigte, dass man auch auf allen Gemälden in dem Gebäude erkennen konnte, welches ihm gehörte, er aber nie in diesen gewohnt hatte. Sein Gesichtsausdruck wirkte wie in Stein gemeißelt und sein mittlerweile graues Haar, hing schlaff in sein Gesicht. Der zweite Mann war der Jüngste von ihnen und zählte fast fünfundzwanzig Jahre. Er trug einen verschlissenen Gambeson, sowie Armschienen. In der einen Hand hielt er einen Eisenhut, in der anderen einen Metallbuckler, aus dessen Mitte einige Dornen hervorgingen. Der dritte stand am Fenster und lächelte herzlich, als die anderen eintraten. Seine Kleidung war dem des Mannes, der die Frau eingelassen hatte, identisch und über seine rechte Schulter hatte er seine Armbrust legte, welche er mit der rechten Hand festhielt. Die Frau, die auf einen Stuhl saß, las in einem Buch, ehe sie aufblickte als die anderen eintraten. Sie hatte braunes kurzes Haar und trug ein grünes Seidenhemd und braune Hosen. Auf dem ersten Blick konnte man sie für einen Mann halten, doch wenn man einen zweiten hinwarf, verflüchtigte sich die Vorstellung. Von allen Anwesenden trug sie keine Waffe, dafür aber ein Amulett, welches eine Waage zeigte und sie deshalb als eine Wächterin auszeichnete. Sie stand auf, als Siviana den Raum betrat, ging zu ihr hin und verbeugte sich.

»Willkommen, Erste Seherin!«

Siviana blickte in den Raum, nickte kurz und ging dann zu dem Tisch. Der grauhaarige Mann rutschte von dessen Kante und suchte sich einen Stuhl. Nachdem alle saßen, warf die Erste Sehende einen scharfen Blick zu dem Mann, der sie eingelassen hatte. »Wenn du mich das nächste Mal rein lässt, dann lass die Begrüßung weg! Sollte jemand zufälligerweise dort vorbeikommen und dies mitbekommen, könnten die Folgen nicht angenehm werden, Brian! Das sollte dir eigentlich bewusst sein!«

Brian setzte ein Grinsen auf. »Du weist nicht, was du willst! In der Öffentlichkeit sollen wir alle dich wie eine Herrscherin behandeln, aber wenn wir uns treffen, dann nicht … deine Launen sind genauso schlimm, wie damals in Drukard.«

Die Augen der Ersten Sehenden verdunkelten sich rapide. »In der Öffentlichkeit soll auch keiner wissen, dass wir uns kennen…wenn herauskommt, dass ich mich mit Assassinen treffe, dann könnte das für den Ruf der Wächterinnen schädlich sein…selbst wenn die Absichten gut sind!« Sie schwieg kurz, ehe sie dann mit ernster Stimme fortfuhr. »Noch schlimmer wird es, wenn herauskommt, dass ich etwas mit dem »Grauen Bund« zu tun habe!«

Der Grauhaarige seufzte auf. »Vor allen Dingen, wenn sie wüssten, dass du ihn gegründet hast, Siviana…nicht jeder ist der Meinung, die du oder Katiara hat.« Er deutete ein Kopfnicken in Richtung der anderen Wächterin. »Auch wenn es notwendig ist, so ist unser Ruf nicht gerade toll…was man auch nicht erwarten kann, wenn wir in Bibliotheken, Tempel oder Ruinen einbrechen sollen. Erste Sehende, ich verstehe zwar die Notwendigkeit, aber wohl ist mir bei der ganzen Sache auch nicht … alle Vorhersagen, Prophezeiungen und Legenden über die Zeit vor der Nebelentstehung zu finden ist nicht nur schwierig, sondern auch gefährlich … denn leider denkt die ganze Welt, dass wir Anhänger der damaligen Hexenmeister sind und nicht das Gegenteil!«

»Der Zweck reinigt die Mittel … wenn die letzte Vorhersagte von Vria Seirila wahr ist, dann wird es bald eine schlimme Zeit anbrechen … manche Schwestern haben sogar die Vorhersage so gedeutet, dass einer der größten Hexenmeister wiederauferstehen würde. Mögen uns die Geweihten davor schützen!« Siviana hielt kurz inne und seufzte tief.

Seirila hatte vor fünf Jahren, das heißt, bevor Sivianna selber zur Ersten Sehenden berufen wurde, diese bedrohliche Vorhersage gemacht und dafür gesorgt, dass es Streitigkeiten in der Priesterschaft gekommen waren, vor allen unter den Zeit-Wächterinnen. Die eine Hälfte wollte sofort etwas unternehmen, um sich darauf vorzubereiten … wie auch die damalige erste Sehende und ein Teil des Rates der Zeit, doch die größere Hälfte wollte lieber nichts unternehmen und so tun, als wäre nichts geschehen. Als Zeitwächterinnen war es ihnen bewusst, dass sie die Zukunft sowieso nicht ändern konnten.

Dann wurde Siviana zur Ersten Sehenden ausgerufen und ihre erste Amtsentscheidung war gewesen, dass man die Sache ruhen lassen würde, damit wieder Einigkeit unter den Zeit-Wächterinnen herrschte. Inoffiziell jedoch hatte sie die graue Bruderschaft gegründet, die Vorbereitungen und Lösungen wegen dem Hexenmeister finden sollten. Nur vier Wächterinnen wussten von diesem Bescheid: Katiara, Wallane, eine Priesterin in Hanor, Rilja, ein Ratsmitglied und sie selber. Alle anderen Wächterinnen hatten davon keine Ahnung, denn wie schon gesagt, war der Ruf der Bruderschaft, welche gerade erst seit knapp vier Jahren existierte, nicht gut und wenn wirklich herauskommt, dass sie etwas damit zu tun hatte…

Siviana schüttelte den Kopf. »Mir gefällt das Ganze nicht, aber die Pflicht der Wächterinnen ist das Gleichgewicht beizubehalten…dafür zu sorgen, dass die Ordnung besteht und wenn wirklich wieder ein Hexer auftaucht, dann muss sicher sein, dass wir nicht mittellos dastehen werden!«

Die anderen nickten zustimmend.

Als Siviana damals den Entschluss getroffen hatte, die Bruderschaft zu gründen, wusste sie, dass sie damit ein riesiges Wagnis eingegangen war. Zum einen hatte sie all ihre Mitschwestern, die ihr folgten, angelogen und zum anderen dafür gesorgt, dass sie ihren eigenen Befehl zuwiderhandelte. An Anfang hatte sie geplant, als einzige Wächterin in der Vereinigung zu sein, um ihre Schwestern der Zeit zu schützen, doch zwei Tage, nachdem sie den Entschluss gefasst hatte, waren die anderen drei zu ihr gekommen, um sie anzuflehen, doch etwas zu unternehmen. Die Hingabe, mit welcher sie versuchten, zu überzeugen, hatte sie damals berührt und sie unter einen mächtigen Eid schwören lassen, dass sie nie jemanden etwas verraten dürften. Dies hatten die drei Wächterinnen, wovon nur zwei Zeit-Wächterinnen waren, mit Freuden getan, denn auch ihnen war bewusst gewesen, dass man etwas unternehmen musste. Als fest stand, dass die Bruderschaft gegründet wird, hatte Siviana am Anfang unter falschen Namen einige Personen angefragt, ob sie helfen würden und dabei hatte sie an alte Freunde oder Mittellose gedacht. So kamen es, das am Anfang, viele Diebe und arbeitslose Schwertkämpfer dabei gewesen waren, sowie einige Assassinen. Nach vier Jahren, zählte die Bruderschaft fast zweihundert Mitglieder, doch nur die vier Männer hier, wussten, dass der Anführer eine Frau war und zudem noch Siviana hieß. Alle anderen denken, dass ein alter Adliger namens Viktor de`Fior, der Anführer und Geldgeber war. Dass das meiste Geld jedoch von der Priesterschaft der Zeit kam, wusste niemand. Im Gegenteil, die meisten dachten, dass die Wächterinnen gar nichts damit zu tun haben. Die Priesterschaft wiederum selbst, verstand nicht, wieso es keinen klaren Befehl gab, gegen die »Graue Bruderschaft« vorzugehen. Siviana musste immer wieder mit dem Rat der Elemente und den Führern der anderen Elemente ringen, um sie davon abzuhalten. Einige Ratsmitglieder waren auf ihrer Seite, aber nur weil diese dachten, dass so ein kleiner Orden keine großen Probleme bereitete. Da war der Orden des schwarzen Blutes viel gefährlicher. Andere wiederum meinten, dass man den Orden zersprengen müsste, solange er noch klein ist. Siviana kämpfte darum, dass man der Bruderschaft nicht schadete, und versuchte gleichzeitig kein allzu großes Interesse zu zeigen. Es darf nicht auffallen, dass sie etwas mit denen zu tun hatte und am Wohl der Mitglieder interessiert war. Einige, die gegen den Orden waren, meinte, dass es ihre Pflicht als Erste Sehende war, etwas zu unternehmen, doch Siviana gab immer wieder zu verstehen, dass wenn man kaum etwas über eine Vereinigung wusste, man auch nichts unternehmen konnte. Solange es keine Toten gab, war es zu riskant jemanden in die Bruderschaft einzuschleusen. Und dies war auch die oberste Regel im Geheimen Codex: Man tötete niemanden in den Namen der Bruderschaft! Zwar wussten einige, dass Assassinen Mitglieder waren, doch diese waren nicht dabei, weil sie gut töten konnten, sondern sie konnten – wie die Diebe – sehr gut unbemerkt in Gebäude ein und aus gehen. Siviana würde niemals etwas unterstützen, dass gegen den Regeln der Priesterschaft oder des Gleichgewichtes gehen würde.

»Habt ihr etwas in Waldhain gefunden«, fragte Siviana als sie ihre Gedanken beendete und sah dabei ganz speziell ihre Zeit- Schwester Katiara an. »Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, dass dort eine Zeit-Schwester ebenfalls die Gabe der direkten Vorhersage besitzen würde.«

»Dies ist wahr, Erste Seherin«, sprach Katiara und zog ein Pergament aus einer Tasche, die neben ihren Stuhl stand. »Ihr Name ist Halio Gredhain und sie ist Wächterin in den dort ansässigen Tempel. Die Vorsitzende des Tempels hat mir die Vorhersagungen mitgegeben, um sie euch, Erste Sehende zu übereichen … ebenfalls haben wir ausgemacht, dass sie regelmäßig über das Gleichgewicht die neuen Vorhersagungen zu ihnen schickt, allerdings ist es so, dass Vria Halio eher selten welche macht und die meisten unverständlich sind.«

Die Erste Sehende nahm die Pergamentrolle und rollte sie auf, wobei sie einen scharfen Blich zu den jüngsten Mann warf, der ein Gähnen unterdrücken musste. Dieser wurde hochrot, murmelte etwas und setzte sich aufrechter auf dem Stuhl. Währenddessen las Siviana die Vorhersagungen:

 

Der stillstehende Wald wird die Zeit des Dunkeln ankündigen und nichts wird die Ankunft des Meisters verhindern können. Blutend und voller Gier nach Macht werden sich seine Anhänger erheben und die Ordnung zerstören!

 

...

 

Wenn der Winter kommt und die Vögel verstummen,

Wenn der Winter kommt und die Äste summen,

Wenn der Winter kommt und der Berg fällt,

dann gibt es nichts mehr, was ihn hält!

Dann wird Blut fließen in Strömen,

Dann lassen sich Tote krönen,

Dann hört die Ordnung auf und es kommt das Ende!

 

...

 

Wenn der Mond voll aufgeht über die schwarzen Berge, dann wird die Erwählte auf die Verräterin treffen, und wenn sie versagt, dann kommt die Finsternis über uns. Doch wenn sie siegt, dann wird keiner der beiden den Platz mehr verlassen.

 

Siviana atmete tief ein und aus, während sie auf das Pergament starrte. Vor allen die erste Vorhersage beunruhigte sie am meisten. Der stillstehende Wald wird die Zeit des Dunkeln ankündigen und nichts wird die Ankunft des Meisters verhindern können … Ein eiskalter Schauer befiel sie, als sie an eine Vision dachte, die sie immer regelmäßig besaß. Eine Vision, oder Blick in die Zeit, die zwei Mädchen zeigte. Ein Mädchen voller Wut und Verzweiflung, eine Jüngere voller Angst. Und eine Horde Schatten, die auf ihnen zukommt. Ein Lichtblitz. Alles um die Mädchen steht still. Die Schatten, der Wald und selbst der Wind. Dies konnte man sehr gut als einen stillstehenden Wald bezeichnen. Dann die Nachricht, die sie von einer unbekannten Frau bekommen hatte. Siviana wurde bleicher, sodass die anderen besorgt aufstanden.

»Erste Sehende, ist alles in Ordnung«, fragte Katiara und kam einige Schritte näher.

Die Erste Sehende schüttelte kurz den Kopf, um die schrecklichen Bilder aus ihrem Gedächtnis zu verbannen und legte das Pergament auf dem Tisch.

»Es ist alles gut«, fing sie an und hielt kurz inne. Ihr Blick fiel auf die dritte Vorhersage. Laut dieser würde es eine Erwählte geben, doch die Frage ist die, wer dies sein könnte. Siviana dachte kurz an das Mädchen in ihrer Vision, doch irgendwie wollte sie nicht daran glauben. Sicher, das Mädchen würde stark sein, doch wie konnte sie etwas gegen einen Hexenmeister ausrichten. Außerdem konnte die sogenannte Erwählte auch von einem anderen Element kommen. Sie warf einen weiteren Blick auf das Geschriebene. Verräterin. Wer konnte dies sein? Wahrscheinlich ein Anhänger der Schatten. »Die Zeit ist nah, denn in den letzten fünf Monaten sind drei Vorhersagen eingetreten und alle sagen, dass die Zeit bald kommen wird und …«

»Moment mal«, unterbrach der älteste Mann und sah verwirrt aus. »Wieso drei? Ich weis nur von zwei Vorhersagen, die eingetroffen sind.«

Siviana starrte den Mann so finster an, dass dieser deutlich schluckte. »Das nächste Mal wartest du mit deinen Fragen, Meister Kain! In Erag Cirth sind drei Männer umgekommen, nur weil sie Wasser aus einer reinen Quelle getrunken haben, die seit Jahrhunderten sauberes Wasser getragen hatte. In der Zhejetischen See sind über Nacht tausende von toten Fischen, Krabben und andere Meeresbewohner an der Küste der freien Länder gespült wurden, obwohl niemand weiß wieso. Und drittens«, sie blickte Kain finster an«, wurden mehrere Schatten und ein Flammenmeer in der Stadt der Waren gesichtet, auch unter den Namen Greisarg bekannt. Drei Vorhersagen und es würde mich nicht wundern, wenn noch mehr in Erfüllung gegangen sind, ohne dass wir davon wissen. Drei innerhalb fünf Monate! Das ist ein Zeichen, und zwar eines, welches wir alle hofften, es würde niemals in Erscheinung treten.« Sie endete und warf wieder einen Blick auf das Pergament. `Wenn der Winter komm…´Ob dieser kommende Winter damit gemeint ist? Wieder befiel sie ein Schaudern.

»Schatten und ein Flammenmeer in Greisarg«, sprach Brian und sein Gesicht zeigte eine große Ernsthaftigkeit. »Das ist ja furchtbar…wie konnte so etwas geschehen? Das Schwarze Blut?«

Siviana warf einen scharfen Blick auf dem Mann. »Dies sollte nicht dein Problem sein. Die Schatten wurden vom Feuersturm getötet. …das ist eine Angelegenheit der Wächterinnen und keiner von Euch wird wegen dieser Sache nachrecherchieren! Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt!«

Die Männer sahen sich kurz an, ehe sie nickten. Sie wusste alle, dass wenn Siviana sagte, dass es Sache der Wächterinnen war, dann würden sie nie freiwillig etwas dagegen sagen oder sogar einen Befehl von ihr zuwiderhandeln. So, wie die Laune von ihr war, wollten sie auch nichts machen, was sie noch wütender machen konnte. »Gut…nun sagt, was es sonst noch so Neues gibt? Hat man nun endlich eine Nachricht von König Belgulios?«

Siviana versuchte ihre Abneigung gegenüber diesem Herrscher zu unterdrücken, da dieser keine gute Meinung von der Priesterschaft hatte und diese auch öffentlich immer wieder kundmachte. Doch der Herrscher von Areinat hat angedeutet, dass der die Graue Bruderschaft unterstützen wollte. Wahrscheinlich dachte dieser, dass die Bruderschaft gegen die Priesterschaft agierte. Ein gemeines Lächeln tauchte in ihr Gesicht auf. Wenn Belgulios wüsste, dass die Erste Sehende der Zeit-Wächterinnen sogar die Bruderschaft gegründet hatte, dann würde dieser wahrscheinlich ziemlich geschockt sein … so wie auch die anderen, denn jeder im Lande dachte so.

Kain warf einen Blick auf die anderen Männer, ehe er meinte, dass die Chancen gutstanden, dass er mit ihnen ein Bündnis schließen wollte. Allerdings hat er eine Bedingung gestellt, dass er nur mit Lord Viktor de`Fior persönlich einen Vertrag unterschreiben würde. Und jeder der Anwesenden hier wusste, dass es niemanden mit diesen Namen in Wirklichkeit gab, war es durch aus verständlich, wieso die anderen nun Siviana gebannt anblickten.

»Lord de`Fior ist in den nächsten Monaten nicht abkömmlich, und wenn dieser dämliche Herrscher glaubt, er könnte einmal »hopp« sagen und wir würden springen, dann muss ich ihn enttäuschen. Aber er könnte mit dem Vertreter sprechen … du wollest doch schon immer nach Areinat, Kain …«

Kain sprang vom Stuhl und schüttelte heftig den Kopf. »Nix da, Siviana! Ich habe keine Lust mich mit diesem Kerl abzugeben! Vergiss es … außerdem halte ich für das Beste, wenn wir noch warten, umso länger er auf eine Antwort warten muss, umso mehr wird er uns bieten!«

»Jaja … mach, was du für richtig hältst«, meinte Siviana und erhob sich. Sie rollte das Pergament wieder zusammen und steckte es ein. »Ich muss jetzt gehen, denn morgen Abend ist wieder eine Versammlung in Sardenthal. Ihr wisst, was ihr zu tun habt und du, Katiara, ich möchte, dass du nach Hanor reitest. Dort gibt es ein Gerücht, dass seltsame Wesen aufgetaucht sind. Ich möchte, dass du Wallane darüber fragst und dann von dort aus nach Jaries reist. Du musst mir sofort Bescheid sagen, wenn die `Greife´anfangen zu weinen!«

»Ja, Erste Seherin«, sprach Katiara und knickste tief. »Glaubt ihr wirklich, dass dies demnächst geschehen wird? Ich meine, wenn dies passiert, dann heißt es, dass die finstere Zeit wieder beginnen wird … das wäre … das wäre furchtbar!«

»Ich weis, Vria!« Sprach Siviana sanft und umarmte die Wächterin. »Aber es wird alles gut werden … wir müssen nur vorbereitet sein!«

Dann nickte sie die anderen zu, ehe sie den Raum und das Gebäude verließ. Dabei merkte sie nicht, wie sie von einer verhüllten Person beobachtet wurde.

 

Siviana verließ schnell die Stadt und ging zu einer Straße, das nach Westen führte. Am Ende des Dorfes stand eine schwarze Stute, die schon ungeduldig mit den Hufen scharrte und sie auffordernd anblickte. Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass niemand sie im Dorf gesehen hatte, stieg die Erste Sehende in den Sattel und gab dem Tier die Sporen. Sie musste sich beeilen, wenn sie vor Sonnenaufgang wieder in Sardenthal sein wollte. Während des Ritts dachte sie über ihre jetzige Situation nach. Alle verfügbaren Rätinnen waren nach Sardenthal beordert worden, um dort zu tagen. Da jedoch vor knapp zwei Monden eine Rätin der Zeit gestorben war - Siviana glaubte nicht an einen friedlichen Tod - und noch keine offizielle Rätin ernannt wurde, hatte Siviana beschlossen, an dem Treffen als Stellvertreterin teilzunehmen. Sie würde nie Rätin werden, denn sie war die Erste Seherin. Diejenige, die die Zeit-Wächterinnen vorstand, auch wenn ihr Name nur den Zeit-Wächterinnen bekannt war. Dies war schon immer Tradition gewesen. Während die anderen Wächterinnen der Elemente wusste, wer im Rat der Elemente saß, wussten nur die Wächterinnen des eigenen Elements, wer die Führerin des jeweiligen Elements ist. Alle Zeit-Wächterinnen wussten, dass Siviana die Erste Seherin war. Für alle anderen Wächterinnen war sie einfach eine Frau, die gut mit den Zeit-Strängen hantieren konnte und mit zu den mächtigsten gehörte. Vielleicht ahnten einige, welche Stelle sie innehatte, aber offen sagte man dies nicht. So wie andere nicht wussten, was sie war, wusste sie nicht, wer die Erste Entfacherin oder Erste Wehende oder Erste Begleiterin war. Dies wussten nur die Feuer-Wächterinnen, die Luft-Wächterinnen oder die Tod-Wächterinnen.

Neben den Zeit-Wächterinnen wusste noch eine andere Element-Wächterinnen, dass sie die Erste Seherin war. Rilja, eine Rätin des Feuers. Genauso, wie diese wusste, dass sie die Gründerin der »Grauen Bruderschaft« war. Siviana schloss die Augen. Wenn dies herauskäme, würden diese Wächterin ebenfalls in Gefahr sein, so wie sie selber. Die Frau erreichte die Ausläufer des Gebirge Sardent und nahm den Pfad, der zu einen der Dreitore führte. Sie nahm den Bogen, der nach Süden zeigte und ritt ohne zu zögern durch. Ein Lichtblitz erschien und sie ritt aus einem anderen Bogen, der sich knapp vor der Stadt Sardenthal befand. Sie hatte Glück, denn niemand befand sich um diese Zeit bei dem Dreitor. Dies lag wohl daran, dass von den drei Toren, nur eins funktionierte und dieses zu dem Tor in den Gebirgsausläufern führte. Da es gefährlich war so zu reisen und das Endtor nur knapp fünf Tagesritte entfernt war, wurde es so gut wie nie genutzt. Deswegen die fehlende Bewachung, was ein guter Vorteil für Sarvian war.

Als sie aus dem Bogen ritt, suchte sie einen Pass heraus, dessen Existenz nur sehr wenige kannten und deshalb niemand sehen würde, wenn sie inmitten der Nacht nach Sardenthal kommen würde. Unbemerkt in die Stadt würde sie nur mithilfe von Rilja kommen, denn das Wort der Rätin war für alle Flammentänzer, die Wache hielten, Gesetz. Wenn die Feuer-Rätin die Wachen ablenkte, konnte Siviana unbemerkt hineingelangen. Siviana spürte den nächtlichen Wind und fragte sich, ob die finstere Zeit wirklich kommen würde. Als Zeit-Wächterin hatte sie schon oft in die Zukunft geblickt. Sie wusste, dass irgendwann düstere Zeiten kommen würden, doch wann dies war, konnte sie nicht sagen. Sie hatte Risse gesehen, mächtige Schatten-Heere und gewaltige Duelle zwischen Wächterinnen. Duelle! Ein Schauder befiel die Frau. Ein Kampf zwischen den Wächterinnen war untersagt. Doch was konnte sie schon dagegen unternehmen? Zeit-Wächterinnen sahen die Zukunft, so wie sie war und nichts konnte daran geändert werden. Sie hatte Kriege gesehen, Zerstörungen und Massaker. Etwas, was sie nicht ändern konnte. Ihr Herz krampfte sich zusammen, doch dann schüttelte sie den Kopf. Sie durfte nicht daran denken. Sie musste stark sein! Vielleicht sollte sie sich mit ihren beiden Zeit-Zeyren unterhalten, damit diese ihr wieder Halt geben konnte.

Der Gedanke an Ardeine Teylen und Oeilea San beruhigte Siviana, ehe neue Sorge in ihr aufkam. Wenn wirklich herauskam, dass sie etwas mit der »Grauen Bruderschaft« zu tun hatte, würden ihre beiden Zeyren ebenfalls Probleme bekommen. Man würde annehmen, dass diese von ihrer Aktivität wussten.

So viele Schwestern bringe ich Gefahr ... viel zu viele ...

Siviana sah von Weiten die Stadt auftauchen und hielt kurz ihre Stute an. Sie musste am Abend, wenn die Versammlung wieder tagte, besonders vorsichtig sein. Immer mehr Wächterinnen verlangten, dass die Hohe Mutter - eine Luftwächterin - endlich eine Entscheidung treffen musste, wie mit dem »Grauen Bruderschaft« umzugehen ist. Die Zeit-Wächterin wusste, dass es immer schwieriger werden würde, ihre eigenen Interessen mit dem der Wächterschaft in Einklang zu bringen. Doch sie musste es versuchen, denn wenn wirklich schon drei Vorhersagen sich erfüllt hatten, war es nur eine Frage der Zeit, bis sich auch andere erfüllen würden.

 

Kapitel Achtundzwanzig

 Verstärktes Misstrauen

 

Es heißt, dass es acht Geweihte gibt. Für jedes Element, welche Feuer, Wasser, Erde, Luft, Geist, Leben, Tod und Zeit sind. Doch nur sehr wenige wissen, dass es noch einen neunten Strang gab, in dem niemand eingreifen kann und für diesen Strang gibt es ebenfalls jemanden, der sich darum kümmert. Es ist der Strang des Schicksals und diejenige, die sich darum kümmert, ist die Schicksalsmeisterin.

 

Rae Sir Miriam Kolten,

Verwahrerin des Inneren,

Winter im Jahre 2587

 

Nachdem Larren sicher war, dass die beiden Schwestern fest schliefen, erhob er sich vom Lagerfeuer und streckte sie. Sein Blick ging durch die Höhle, in der sie heute ihr Lager aufgeschlagen hatten und er runzelte die Stirn. Er erinnerte sich daran, wo er vor knapp fünfzehn Jahren hier auch eine Rast eingelegt hatte und wunderte sich, dass schon so viel Zeit vergangen war. Er warf einen Blick zu den Schwestern, schnallte den Gürtel mit seinem Schwert um seine Hüfte und nahm seinen Umhang. Leise schritt er zum Ausgang der Höhle und trat in das Freie.

Ein kühler Wind wehte durch die Berge und auch zwischen den Schluchten. Er rieb sich an dem Felsen und suchte sich seinen Weg durch die kleinsten Ritzen und drang überall hinein. Der Wind brachte die erwartete Kälte mit, denn in weniger als zwei Monden würde der Winter beginnen und hier im Gebirge Molzren`dre begann er eher als in den Tälern und Hügellanden.

Larren warf sich seinen Umhang über die Schultern und suchte die Felsen ab, welche sich vor ihm und hinter ihm erhoben. Er suchte nach einem bestimmten Zeichen, und als er es entdeckte, stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. Er warf noch einmal seinen Blick ins Innere der Höhle und begann dann mit dem Aufstieg zu dem leuchten, dass sich inmitten der Nacht grell abhob.

Der Weg dorthin war nicht besonders leicht, doch Larren war in einem Gebirge großgeworden, bevor er zur Armee gegangen war und wusste, wie man an steilen Hängen kletterte. Sicher und geübt erinnerte sich sein Körper an die Bewegungsabläufe, die hier im Gebirge lebenswichtig waren und kam immer hoher. Er schwang sich auf einen kleinen Felsvorsprung und erkannte einen kleinen Pfad, der zwischen zwei spitzen Felsen verlief. Ohne zu zögern folgte er diesen.

Nach wenigen Minuten kam er auf einen freien Platz und konnte in der Entfernung eine verhüllte Gestalt erleben. Er trat auf sie und kniete sich mit dem rechten Bein auf dem Boden.

»Herrin«, sagte er ehrfurchtsvoll und senkte seinen Blick. Die Gestalt hob ihre Hände und schob ihre Kapuze nach hinten. Hervor kam ein zierliches Gesicht mit kurzen schwarzen Haaren. Die Frau sah jung aus, doch Larren wusste, dass dieser Schein trübte. Die Frau lächelte, doch ihre Augen waren sehr ernst.

»Larren or`Ayren, ich freue mich, doch zu sehen«, sagte sie und ihre Stimme klang hell. »Und erheb dich, du musst doch nicht niederknien.«

Larren kam der Aufforderung nach und erhob sich. Ehrfurcht stand in seinem Gesicht, als er die Frau betrachtete, die ihm vor sechszehn Jahren das Leben gerettet hatte. »Wie geht es ihnen«, fragte die Frau. Sie sah in die Richtung, aus dem der ehemalige Soldat gekommen war. Sehnsucht stand in ihrem Gesicht.

»Ganz gut«, sagte Larren. »Doch der älteren geht es immer schlechter. Ich vermutete, dass es etwas damit zu tun habt, was ihr vor einigen Jahren erwähntet. Der Jüngeren geht es besser, aber diese Reise macht sie sehr zu schaffen … und die Tatsache, dass zwischen den Beiden wohl etwas steht. Ich vermutete, dass es etwas mit der entstehenden Gabe von Fräulein Saren zu tun hat. Sie will ihrer Schwester nichts davon sagen.«

Die Frau nickte. »Ja … so ist Saren nun einmal«, sagte sie leise und abermals schwang Sehnsucht in ihrer Stimme mit. »Sie würde nie etwas sagen, dass ihre kleine Schwester Aleitha beunruhigen könnte. Außerdem versteht Saren es selber nicht und kann es deswegen nicht wirklich erklären. Aleitha wird es von jemanden Anderen erfahren, was mit ihrer Schwester passiert.«

Wenn Larren diese Worte verunsicherten, dann zeigte er es nicht. Er nickte nur, doch dann trat ein finsterer Ausdruck in seine Augen. »Sie ist sehr misstrauisch und in manchen Situationen zu sehr übervorsorglich hinsichtlich ihrer Schwester. Lange wird sie mir nicht folgen.«

»Das wird auch nicht mehr lange sein«, sagte die Frau und sah dann den Mann an. Großer Ernst stand in ihren Augen und der Mann verstand, was diese damit sagen wollte. Für einen Moment trat Kälte in Larrens Herz, doch dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. Er schloss die Augen. Er wusste von seinem Schicksal schon seit sechszehn Jahren und hatte mit sich selber schon längst Frieden geschlossen. Er öffnete seine Augen wieder. »Vor zwei Tagen haben Schatten uns angegriffen. Ich wollte die Schwestern verteidigen, doch ein Steinwurf hat mich niedergeschlagen.« Er sah die Frau genau an. »Wie konnte es sein, dass Saren es geschafft hat, sich gegen diese zu wehren.«

Ein ausdrucksloser Blick trat in den Augen der Frau und sie schwieg zuerst. Als sie dann doch antwortete, sagte sie langsam. »Ich habe ihr ein wenig geholfen, doch mehr kann ich dir nicht sagen. Saren ist sehr wichtig für mich und deswegen konnte ich ihr einiges an Wissen vermitteln. Dennoch war ich gezwungen, den letzten Schatten selber zu töten … aber dies war zu erwarten gewesen.«

Larren gab sich mit dieser Antwort zufrieden. Er wusste, dass er nicht mehr Erfahren würde, wenn seine Herrin es nicht wollte. Er hatte die letzten fünfzehn Jahre in dem Dorf Ferren gelebt, weil sie ihm darum gegeben hatte, und würde nun nicht anfangen, ihre Worte zu hinterfragen. Vor allen dann nicht, wenn sich bald sein Schicksal erfüllen wird.

»Larren?« Die Frau sah ihn an. »Du bist ein guter Mensch und ich weis nicht, wie sehr ich dir danken kann, dass du sie immer im Blick gehalten hast.«

Er spürte, wie sein Gesicht rot wurde, und hob abwehrend die Hände. »Nicht doch, Herrin. Ihr habt mir damals mein Leben gerettet und da ist es verständlich, dass ihr über es gebieten könnt. Außerdem sind die Schwestern wichtig in der Zukunft, sodass ich dies mit Freuden getan habe.«

»Oh ja … sie sind sehr wichtig«, murmelte die Frau, doch Larren konnte es verstehen. »Pass bitte weiter auf sie auf. Die Männer des Fürsten sind sehr nah und ich befürchte, dass ihr eine Konfrontation nicht verhindern könnt. Doch diese darf nicht damit enden, dass den Schwestern etwas passiert. Du musst sie beschützen, Larren!«

Der Mann nickte. Er hatte geschworen, dass er dies machen würde, auch wenn er manchmal bei Saren an verzweifeln war. Es wäre alles viel Einfacherer, wenn sie ihn nicht immer hinterfragen würde, doch er konnte ihr Misstrauen verstehen. Im Grunde genommen war er sogar froh über ihre misstrauische Natur.

»Ich sollte zurückgehen«, sagte er leise. »Nicht, dass sie mein Verschwinden bemerken.« Er sah die Frau genau an. »Werden wir uns noch einmal sehen, ehe es passieren wird?«

Schon bevor die Frau ihm antwortete, erkannte Larren die Antwort in ihren Blick. Sie schüttelte leicht den Kopf. »Nein Larren, dass werden wir nicht«, sagte sie sanft und strich über seine Wange. »Aber wisse, dass nichts vergebens nicht.«

Er nickte und verbeugte sich knapp, ehe er sich wieder auf dem Weg zu der Höhle machte, wo das Nachtlager aufgeschlagen war.

 

Saren wusste nicht, was es war, dass sie geweckt hatte, doch ihr fiel sofort auf, dass etwas nicht stimmte. Sie ließ ihren Blick durch die Höhle schweifen und runzelte die Stirn, ehe ihr auffiel, was falsch war. Larren, der ehemalige Säufer befand sich nicht mehr hier.

Wo ist er hin?

Ihr allzeit bekanntes Misstrauen trat wieder in den Vordergrund und sie erhob sich. Mit einem kurzen Blick versicherte sie sich, dass es ihrer Schwester gut ging und dann wandte sie sich dem Ausgang der Höhle zu. Sie trat hinaus und umarmte sich, als ein heftiger kalter Wind sie erreichte. Sie kniff die Augen zusammen, um etwas zu erkennen.

Wo kann er sein?

Die verschiedensten Möglichkeiten kamen in ihr auf. War Larren vielleicht doch ein Verräter und holte nun die Männer des Fürsten hierher? Hatte er nur darauf gewartet, dass sie erschöpft von der Reise waren, und sich deswegen nicht mehr richtig wehren konnte? Ich hätte ihm nie vertrauen dürfen. Und dass hatte sie auch nie wirklich getan. Ihre Hand wanderte zu dem Griff des einen Dolches und sie bereitete sich darauf vor, auf einen der Verfolger zu treffen. Wieso musste ich auch Aleitha vertrauen und ihr nachgeben. Normalerweise gab sie nie nach und nun hatte sie es doch getan und musste die Konsequenzen dafür tragen.

Sie warf einen Blick in die Höhle und sah den schlafenden Körper ihrer Schwester. Ihr Gemüt beruhigte sich. Sie konnte Aleitha nie lange wütend sein und irgendwie verstand sie auch Aleitha. Ihre Schwester wollte verzweifelt andere Personen glauben und konnte einfach nicht das Böse in jemanden erkennen … von dem Tod einer Person mal abgesehen.

PLING!

Saren zuckte zusammen und wirbelte herum. Gleichzeitig zog sie ihren Dolch und erstarrte inmitten ihrer Bewegung. Vor ihr stand Larren.

Das Mädchen sah sich weiter um, doch sie konnte niemanden anderes erkennen. Sie kniff die Augen zusammen und wandte sich aufmerksam den Mann wieder zu.

»Oh«, sagte Larren und schien überrascht. »Du bist wach, Saren. Du solltest weiterschlafen, denn morgen haben wir eine große Strecke vor uns und du musst du Kräften kommen. Deine Verletzungen sind noch nicht verheilt und du brauchst jeden Schlaf, den du bekommen kannst.« Er sah den misstrauischen Blick und seufzte leise. Er hob einige Trinkschläuche, die prall aussahen. »Ich habe nur kurz die Schläuche gefüllt. Da hinten ist eine kleine Quelle.«

Saren kaufte dies ihm nicht ab. Sie wusste nicht wieso, aber sie war sich sicher, dass erlog. Wieso sollte Larren mitten in der Nacht auf die Idee kommen, die Wasservorräte aufzufüllen. Dies hätte er auch morgen früh machen können.

Ich weis nicht, was für ein Spiel du spielst, Larren, aber ich werde es herausfinden!

Sie folgte den ehemaligen Soldaten, als dieser in die Höhle ging, und legte sich wieder auf ihre Decke. Jedoch schlief sie nicht ein, sondern beobachtete ihn unter halb geschlossenen Augen.

 

Etwas Höher in dem Gebirge Molzren`dre auf einem kleinen Felsvorsprung stand eine fremde Person. Der Fremde, dessen Gesicht von einer Kapuze verdeckt wurde, stützte sich auf einen Stab und sah immer nur in die eine Richtung. Er rührte sich die ganze Nacht hindurch nicht und auch dann nicht, als eine zweite Person zu ihm trat. Es war die Frau, mit der sich Larren getroffen hatte.

Beide schwiegen und als die Sonne langsam unterging, schüttelte sich die Frau und sah die fremde Person an.

»Warum bist du hier?« Es war eine Stimme, die so klang, als hätte sie schon viele Qualen er- und überlebt. Ganz anders, als sie bei dem Gespräch des Mannes gewesen war. Jetzt jedoch sah die Frau nicht, ihr inneres Gemüt zu verbergen. »Ich sehe keinen Grund, dass du hier musst. Es wird alles sowieso passieren, auch ohne, dass du daneben stehst!«

Die andere Person schwieg und starrte zu der Stelle, wo einige hundert Meter entfernt sich die Höhle mit den Fliehenden befand..

»Beantworte meine Frage!« Ungeduld und Wut schwangen in der Stimme der Frau mit. Sie funkelte ihn wütend an und trat einige Schritte näher zu ihm heran. »Ja, es ist nicht mehr fern, dass weis ich … aber warum bist du hier. Für dich gibt es keinen Anlass.«

»Und für dich auch nicht«, ertönte es und die Stimme klang etwas gereizt. »Immerhin hast du dafür gesorgt, dass dieser Larren diese Schwestern begleitet und beschützen wird. Du weis. von seinem Ende und dennoch hast du kein Mitleid für ihm.«

Die Frau stockte, doch dann schüttelte sie den Kopf, nickte der anderen Person leicht zu und drehte sich um. Sie ging einige Schritte, ehe sie inne hielt. »Du weist von vielen Enden und hast für keines für keinen von ihnen ein Mitleid übrig. Also urteile nicht über andere!« Sie verließ den Felsvorsprung und ließ die Person alleine zurück.

Die Sonne tauchte nun vollends am Horizont unter. Sie verhüllte das Gebirge von Molzren`dre und verhüllte somit auch die einzelne Person, die auf einem Felsen stand und mit wachsamen Blicken immer noch nach Westen blickte. Die Person stand im Schutze eines Brockens, der einen Schatten auf diese fallen ließ und somit es noch schwieriger machte, sie zu erkennen.

Man konnte einen Kopf sehen, der zu einer Hälfte bleich war, jedoch zur anderen einen grünen Schimmer zeigte. Die Augen waren dunkel, die Augenbraunen zu einem dünnen Strich gezogen. Er hatte schwarzes schulterlanges Haar und an seiner Wange war ein seltsames Symbol eingerissen. Ein langes schwarzes Gewand, das mit silbernen Ornamenten verziert war, reichte bis zum Boden und ein schwarzer Umhang schleifte im Dreck. Die eine Hand hatte er vor sich erhoben und man konnte erkennen, dass sie eine Klaue war, die andere, die ein altes verschimmeltes Buch umfasste war jedoch die eines normalen Menschen. Im Ganzen sah die Person unheimlich aus, doch lächelte sie milde und fuhr mit der Klauenhand den Buchrücken entlang, wobei ein kratzendes Geräusch entstand.

Er wusste, dass etwas Gewaltiges, Mächtiges geschehen wird, denn er spürte die Änderung des Gleichgewichtes. Er spürte die Unruhe, die von Strängen des Schicksals ausströmte und wusste, dass bald das Schicksal weiteren Personen besiegelt wird. Es war ein Erbeben des Gleichgewichtes, welches nur die mächtigsten Wächterinnen wahrnahmen, deren erstes Element Zeit war. Mit einer unendlichen Ruhe blickte er nach Westen, denn er wusste, dass dies in dieser Richtung geschehen wird. Er wusste jedoch nicht genau, wann es geschehen würde und dies machte ihn unsicher. Jedoch war es nicht seine Aufgabe, dies zu wissen, sondern nur, was dann gesehen wird.

Er kannte die ganze Vergangenheit. Er sah die jetzige Gegenwart. Er ahnte die aufkommende Zukunft. Er kannte alle drei Ebenen, doch konnte und durfte er sich nicht einmischen. Wenn jemand geboren wurde, dann musste er dafür Sorge tragen, dass auch genau dieses Schicksal, was dem Neugeborenen zugeordnet war, geschehen würde. Manchmal war es einfach, ein anderes Mal jedoch so sehr kompliziert, dass er sich dann an andere wenden musste. Doch heute wusste er, dass er sich nicht darum kümmern musste, denn es würde so geschehen, wie es soll und man konnte dann ein neues Kapitel in seinem Buche sehen.

Er war Vámorial de`Arzjeji, der Hüter des Schicksals und Diener der Schicksalsmeisterin!

Kapitel Neunundzwanzig

 Nolwines Gedanken

 

Mit der Macht kommt auch die Verantwortung einher. Dies sollte dir bewusst sein, denn leider vergessen viele Personen diese Tatsache. Vor allem die Herrscher von verschiedenen Ländern erinnern sich nicht mehr daran, sondern nutzen ihre Macht nur aus. Doch eine Wächterin darf nicht, denn sie sorgt für das Gleichgewicht der Welt.

 

Rae Sir Neiselle Urzen,

Hohe Tante,

Sommer im Jahre 109 vor dem Nebel

 

Es war abends, als Nolwine von Weiten das Dorf erkannte und war mehr als froh, dass sie für diesen Tag mit der Reise fertig waren. Seit zwei Tagen ging es ihr nun besser, doch das ganze Reisen auf dem Wagen machte sie irgendwie nervös. Sie saß auf dem Kutscherblock neben der Wasserwächterin Zhanaile und konnte vom inneren des Wagen Thanai hören, wie diese leise fluchte. Nolwine wusste nicht genau, was sie von der Luftwächterin halten sollte, doch in eines war sie sich sicher. Während der Zeit, wo es ihr so schlecht gegangen war, war diese Frau an ihrer Seite gewesen und hatte ihr geholfen, diese sogenannte Umwandlung zu überstehen. Das Mädchen war sich unsicher. Sie fühlte sich gleich, doch irgendetwas auch anders geworden. Es kam ihr so vor, als würde sie den Wind spüren und dies ängstige sie sehr. Als dann auch noch Thanai gemeint hatte, dass noch in dem kommenden Jahr immer wieder mal Anfälle kommen können, fühlte Nolwine Verzweiflung in sich aufkommen. Sie wollte nicht daran denken und schauderte, sodass sie ihren Umhang fester um ihre Schulter zog. Dadurch erregte sie die Aufmerksamkeit der Wasserwächterin.

»Alles in Ordnung, Nolwine?«

Für das Mädchen war es immer noch ungewohnt, dass jemand so ehrlich diese Frage stellen konnte, wie diese Frau. Es kam Nolwine so vor, als würde Zhanaile die sanfteste und freundlichste Person sein, die sie je getroffen hatte. Da war etwas in ihrem Gemüt, das für eine innere Ruhe sorgen konnte und sie fühlte sich in der Nähe dieser Frau wohl. Viel wohler, als sie je gedacht hätte.

»Ja«, antwortete sie etwas verspätet auf diese Frage. »Es ist nur ungewohnt … ich meine, alles ist jetzt anders als vor einem Mond und … und dies macht mir Angst.«

»Das ist verständlich«, meinte Zhanaile und lächelte leicht. »Doch du solltest wissen, dass es eine Ehre ist, dass ein Geweihte dich auserwählt hat und …«

»Ehre?« Plötzlich war neben den Wagen die Feuerwächterin auf ihrer Stute. Dies sah zweifelnd drein. »Ich frage mich wirklich, was ich in meinen früheren Leben verbrochen habe, um damit bestraft zu werden. Ehre … dass ich nicht lache!«

Mit einem Kopfschütteln trieb Akara ihr Pferd an und ritt voraus.

Zhanaile warf ihr einen finsteren Blick hinterher, ehe sie sich wieder an Nolwine wandte. »Hör einfach nicht auf Akara. Sie ist in letzter Zeit schlecht gelaunt. Da darf man sie nicht ernst nehmen … Die Geweihten schenken nicht jeden ihre Gabe und Houa wird einen Grund haben, warum er dich auserwählt hat. Daran solltest du immer denken.«

Nolwine sagte nichts darauf, sondern schwieg. Sie glaubte immer noch nicht an die Geweihten und dennoch hieß es, dass einer sie mit der Gabe beschenkt hatte. Warum? Was unterschied sie so sehr von anderen? Sie zog ihren Umhang noch fester um sich und kuschelte sich hinein, wobei sie die Umgebung betrachtete. Sie hatte erfahren, dass sie in zwei weiteren Tagen das Dorf AlHarten erreichen würden und dann würde es nicht mehr allzu weit nach Sardenthal sein. Es war sogar geplant einen sogenannten Dreibogen zu benutzen, um Zeit zu sparen.

Aufregung kam in Nolwine auf. Sie hatte schon öfters von diesen Bögen gehört, doch noch nie in ihrem Leben war sie durch einen gegangen. Der Gedanke daran, ängstigte sie, doch gleichzeitig konnte sie es auch nicht abwarten. Wie würde es sein, durch einen einfachen Torbogen zu gehen und dann unzählige Ritte weit entfernt aufzutauchen?

Wer hätte geglaubt, dass ich mich mal freuen würde, so etwas zu erleben? Doch egal wie es wird … Hauptsache ich kann heute Abend in einem richtigen Bett durchschlafen.

 

Die Nacht hatte Nolwine unruhig verbracht und dies lag nicht nur daran, dass sie wieder einmal das Gefühl hatte, innerlich zerreißen zu müssen, sondern eher daran, dass ihr nach dem gestrigen Gespräch bewusst geworden war, dass sie ihre eigene Familie nie wieder sehen konnte. Für die Erleuchteten war sie gestorben und demzufolge auch für ihren Vater und ihre Geschwister. Lange war sie noch wach gewesen und erst spät dann eingeschlafen. Im Schlaf selber hatte sie Träume gehabt. Träume über eine Begegnung mit ihrer Familie und deren Abneigung.

Als sie dann aufgewacht war, hatte sie sich das erste Mal in seinen Leben gefragt, warum eigentlich die Erleuchteten glaubten, dass die Wächterschaft böse war. Sie konnte es einfach nicht verstehen. Lag es daran, dass die Wächterinnen an die acht Geweihten glaubten und nicht an den EINEN?

Nolwine wusste keine Antwort darauf und dies sorgte abermals dafür, dass sie wieder einmal vollkommen unsicher war. Laut Zhanaile war es eine Ehre, wenn ein Geweihte die Gabe für ein Element jemanden verleiht, doch wenn Nolwine an Akara dachte, hatte sie das Gefühl, dass diese Wächterin ihre Gabe eher als eine Strafe ansah. Sollte sie also geehrt sein, oder sich eher bestraft fühlen?

Warum ich? Und wie kann etwas, was solche Schmerzen verursacht, für eine Ehre gehalten werden?

Das Mädchen wusste einfach keine Antwort darauf und dies verstärkte ihre innere Zerrissenheit noch mehr.

Da es draußen noch dunkel war, schloss sie wieder die Augen, doch tief in ihren Gedanken kam die Frage auf, ob die Luftwächterin Thanai, die ihr geholfen hatte, wirklich nur Zufälligerweise in der Nähe gewesen war, oder ob sie doch für ihren Zustand verantwortlich gewesen war. Dafür, dass sie sich den Luftsträngen öffnete. Als sie jedoch länger darüber nachdenken wollte, wurden ihre Gedanken schwerer und wenig später schlief sie wieder ein.

Sechs Kerzenstriche wachte sie wieder auf und schaute zuerst aus dem Fenster, das offen war. Zuerst gleichgültig, doch dann etwas argwöhnisch. Weit unten, nahe einer Ecke stand eine Person mit weitem Umhang und einer Kapuze. Wer war diese Person? War zu zufälligerweise dort oder beobachtete diese wirklich das Gasthaus? Nolwine wusste nicht, was sie von ihrer Paranoia halten sollte, doch etwas in ihr sagte ihr, dass die Person dort nichts Gutes von ihr wollte.

Vorsichtig ging das Mädchen einige Schritte zurück in ihr Zimmer und schloss das Fenster. Durch einen Vorhang, der geblümt mit dunkelblauem Untergrund war, sah sie weiterhin auf die Straße, wobei ihr Herz laut und schnell klopfte. Durch diesen betrachtet sie die Gestalt, welche reglos dastand und das Gasthaus betrachtete. Dann jedoch ging ein Ruck durch die Person und sie drehte sich um. Kurz darauf war sie zwischen zwei Häuser verschwunden, dennoch blickte Nolwine weiterhin nach draußen. Sie war immer noch misstrauisch.

Nach drei Minuten ertönten Schritte hinter dem Mädchen und Nolwine drehte sich blitzschnell um, wobei sie gleichzeitig mit den Arm aufholte. Doch ließ sie diesen schnell wieder sinken, weil es eine junge Frau war, die in ihr Zimmer gekommen war. Mit hochrotem Gesicht entschuldigte sie sich und fragte sich im inneren, warum sie so nervös war. Bei ihrer Entschuldigung stotterte sie so hastig, das sie erst nach drei Mal anfangen ihren entschuldigten Satz zustande brach. Die fremde Frau lachte.

»Ist doch schon gut! Ich hätte anklopfen sollen, aber da ich vorhin draußen gemerkt hatte, dass ihr das Fenster rgeöffnet hatte, hatte ich gedacht, ihr wärt gegangen.” Sie zupfte an ihren Rock und schenkte ihn ein Lächeln. »Wir haben guten heißen Tee unten. Ich bin sicher, er würde ihnen guttun, denn draußen herrscht eine eisige Kälte! Eure Begleiterinnen mögen jeden diesen Tee.«

»Ein Tee«, wiederholte Nolwine und starrte die Frau verständnislos an. Dann jedoch nickte sie langsam. Ja, ein Tee würde ihr guttun und auch gleichzeitig dafür sorgen, dass sie ihre Sorgen vergaß und nicht mehr so viele düstere Gedanken haben würde. Sie warf noch einen letzten Blick durch das Fenster, doch die Gestalt war nicht mehr zurückgekommen. »Ja…ich habe eine große Lust auf einen schönen heißen Tee. Was ist es denn für einer?«

»Oh….Brennnesseltee oder Apfeltee, je nachdem welchen sie wollen, Herrin!« Die Frau kicherte, als sie merkte, dass Nolwine bei dieser Anrede rot geworden war. Sie trat einen Schritt zur Seite und machte Platz zu der Tür. »Allerdings solltet ihr euch beeilen, sonst müsst ihr warten, bis wieder das Wasser heiß ist.«

Das Mädchen nickte, bedankte sich und war froh, als sie endlich das Zimmer verlassen hatte und nicht mehr in der Gegenwart der Schankmaid war. Sie fühlte sich schlecht und dabei war sie sich nicht sicher, ob es etwas mit ihrer Umwandlung zu tun hatte, oder ob der Gedanke an dieser Gestalt verantwortlich war. Oder war es das Gefühl, dass sie ihren Glauben verriet, weil sie sich immer noch in Begleitung von Wächterinnen aufhielt? Dies jedoch war unsinnig! Wie konnte sie etwas verraten, wenn sie ihren eigenen Glauben nicht aufgab. Sie glaubte immer noch an den EINEN und zwar zog sie in Betracht, dass die Geweihten keine Schatten waren, doch Götter waren sie auch nicht. Sie würde nicht zu diesen Geweihten beten, als wären diese den EINEN überlegen.

Ich muss ein Mittelmaß finden. Wenn die Wächterinnen nicht böse waren, dann konnten sie doch nicht wirklich gegen den EINEN sein, oder?

Sie schalt sich einen Narren und betrat den Schankraum. Dieser war leer, außer drei Gästen und Zhanaile, die sich mit dem Gastwirt unterhielt. Als diese sie erspähte, winkte sie ihr zu und deutete an, dass sie sich zu ihnen setzen sollte. Nolwine kam der Aufforderung nach und ließ sich auf einen harten Stuhl nieder.

»Unser Langschläfer ist aufgewacht«, sagte die junge Wasserwächterin lachend und schlug Nolwine auf die Schulter. Dann sah sie den Wirt an. »Los, Zorkan! Bring ihr etwas von deinem besten Tee und damit meine ich den kalten, sondern den frischen, den du gerade vorhin neu aufgebrüht hast.«

Der Wirt schnaubte. »Ich will gar nicht wissen, woher du dies weist.« Dann sah er Nolwine an und zwinkerte. »Aber einer Wasserwächterin zu widersprechen, wenn es um Wasser geht, wäre ein großer Fehler.«

Zhanaile lachte leise auf und in ihren Augen funkelte Belustigung.

»Oder willst du etwas anderes«, fragte die Wasserwächterin.

Nolwine schüttelte den Kopf und meinte schnell, dass sie wirklich etwas Tee haben wollte. Der Wirt zuckte mit den Schultern und ging zu seinen Tresen, während die Zhanaile an ihrer eigenen Tasse nippte. Wenig später hatte das Mädchen ihren Tee und wärmte sich ihre Hände an den heißen Tonbecher. Diese Wärme tat ihr gut, obwohl sie heute noch nicht einmal draußen gewesen war.

Der Vormittag verging, den Nolwine so verbrachte, dass sie die ganze Zeit im Schankraum saß und überlegte, ob sie den anderen von dieser Gestalt erzählen sollte. Sie fand es hier langweilig und hoffte, dass die Reise bald weitergehen würde. Doch Thanai hatte schon gestern gemeint, dass sie wohl entweder erst abends weiterfahren würden oder erst am nächsten morgen.

Soll ich ihnen von dem Kerl erzählen? Oder werden sie nur glauben, dass ich es mir einbildete?

Je mehr sie jedoch darüber nachdachte, desto mehr wurde ihr bewusst, dass sie sich unsicher war. Während den Prozess ihrer Umwandlung hatte sie oft das Gefühl gehabt, etwas gesehen zu haben, dass nicht da war. Vielleicht war es hier ebenfalls so gewesen, oder die anderen würden ihr nicht glauben.

Gestern Abend war Thanai zu ihr gekommen und hatte sie gefragt, ob es ihr wieder sehr schlecht ginge, doch Nolwine hatte höflich verneint. Zwar war über Nacht ihre Übelkeit wiedergekommen, doch es war nicht so schlimm gewesen, dass sie unbedingt jemanden Bescheid sagen wollte.

War die Gestalt echt oder doch nur Einbildung?

Es wurde mittags und Nolwine saß nun allein im Gasthaus, während die Wächterinnen irgendetwas im Dorf erledigten. Sie fühlte sich da irgendwie überflüssig und wusste nicht so genau, wie sie mit den drei Frauen umgehen sollte. Aus diesem Grund saß sie nun alleine am Tisch und starrte auf die Suppe, die der Wirt ihr gebracht hatte. So großen Hunger verspürte sie nicht, doch sie konnte nicht sagen, wie das Essen im Feuerhort schmecken würde. Konnte denn etwas gut schmecken, wenn es in einem Ort zubereitet wird, wo es nur Feuer gab? Würde dort alles verbrannt schmecken? Auf der anderen Seite konnte sie ja nicht sicher sein, dass das Essen dort schlecht wäre. Im Grunde genommen wusste sie nicht viel von Sardenthal und war sich nicht sicher, ob das stimmte, was sie wusste. Diese Unwissenheit war in mancher Hinsicht wesentlich schlimmer, als das Wissen, dass sich ihr Leben vollkommen verändert hatte.

Sie dachte an das Gespräch zurück, das sie mit Thanai gehabt hatte, als es ihr nicht ganz so schlecht gegangen war. An die Rede, die die Luftwächterin ihr gehalten und dabei auf die Gefahren eingegangen war, die mit der Gabe einher kamen. Dass das Verändern des Gleichgewichtes immer einen Preis hatte und dieser für Unwissende tödlich sein konnte. Nicht nur für die betroffene Wächterin, sondern auch für die umgebenden Personen. Nolwine war so sehr in ihren Gedanken versunken, dass sie nicht gemerkt hatte, dass die Schankmaid an ihren Tisch getreten war und so zuckte sie zusammen, als sie angesprochen wurde.

»Hast du keinen Hunger? Die Suppe ist gut!«

Wieder spürte sie, dass ihr Kopf rot wurde und sie ergriff den Löffel. Unentschlossen, ob sie essen sollte, oder doch nicht, verharrte sie mit den Löffel in der Hand. Dann merkte sie, dass die Maid sie erwartungsvoll anblickte. Wahrscheinlich hatte sie die Suppe gekocht und wollte nun ihre Meinung zu dieser hören. Sie seufzte, nahm einen Löffel voll und aß, wobei sie merke, dass es ihr sehr schmeckte.

»Wundervoll! Sowas gutes habe ich seit Tagen nicht mehr gegessen«, sagte Nolwine und meinte es auch ernst, denn in den letzten Tagen war sie entweder bewusstlos gewesen, oder aber hatte nur sehr wenig essen können. Und das, was sie gegessen hatte, hatte sie meisten bei einem erneuten Krampf wieder erbrochen. Aus diesem Grund hoffte sie innerlich, dass sie dieses Mal das Essen länger im Magen behalten konnte. Als der Wirt ihr das Essen gebracht hatte, war sie überrascht gewesen und hatte ihn gefragt, was es kosten würde. Der Wirt jedoch hat den Kopf geschüttelt und war dann lächelnd wieder hinter seiner Theke verschwunden. Nolwine hatte Thanai in Verdacht, dass diese schon das Essen in voraus bezahlt hatte.

Das Gesicht der Maid erhellte sich, als sie das Lob vernommen hatte und ging zu einem anderen Tisch, wo sich gerade drei Männer niedergelassen hatten und nun lautstark nach Bier verlangten.

Nolwine aß auf, schüttelte ihren Kopf kurz, um ihre Gedanken wieder frei zu bekommen und stand auf. Sie hatte sich entschieden. Die Suche nach einer der Wächterinnen war nicht besonders leicht. Sie hatte erfahren, dass Zhanaile bei einem Brunnen half und dass Thanai mit zwei Bauern das Dorf am Vormittag verlassen hatte. Blieb also nur noch diese junge Feuerwächterin, um ihr etwas von der seltsamen Gestalt zu erzählen.

Nolwine musste einige Personen fragen, um dann endlich zu erfahren, so sich diese Frau aufhielt.

»Sie ist auf dem Turm«, hatte ihr ein junger Bursche gesagt und sich dann wieder seiner Arbeit zugewandt. Er war dabei einen Zaun zu streichen.

Das Mädchen bedankte sich und suchte den Turm auf, der sich in der Mitte des Dorfes befand. Dieser Turm war Nolwine schon gestern Abend aufgefallen und sie fragte sich, wofür ein Dorf diesen wohl gebrauchen konnte. Sie trat an die Leiter unten und sah nach oben. Innerlich harrte sie. Durfte sie es wagen, eine Wächterin zu stören, nur weil sie ein ungutes Gefühl bei einer verhüllten Gestalt gehabt hatte? Ihr wäre es lieber, wenn sie sich mit Thanai oder der Wasserwächterin unterhalten konnte. Diese schienen ihr freundlicher zu sein.

Reiz dich zusammen. Sie wird dich schon nicht gleich in Flammen aufgehen lassen!

Nolwine atmete tief durch und kletterte an der Leiter nach oben.

Auf dem Turm war eine kleine Plattform und von dieser aus konnte man weit in die Umgebung schauen. Viel weiter als Nolwine gedacht hätte, sodass sie staunend sich umschaute. Sie konnte die Straße erkennen, auf der sie hierhergekommen waren und den Wald, der sich an der nördlichen Seite des Dorfes anschloss. Ansonsten gab es nur Felder, welche brachlagen, da die Ernte schon lange eingezogen worden war.

»Nette Gegend, oder«, ertönte eine Stimme und Nolwine zuckte zusammen. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Feuerwächterin, die sie gesucht hatte, wirklich hier oben war und am Rand der Plattform saß. Diese besaß kein Geländer, sodass ihre Beine nach unten baumelten.

Akara sah sie lächelnd an und erst da wurde Nolwine bewusst, dass es als eine Frage gemeint war.

»Ja«, antwortete sie etwas verspätet. »Und man kann sehr weit schauen.«

Die junge Frau nickte. »Ja, das ist auch der Grund, warum man den Turm errichtet hat. Um rechtzeitig Angreifer erkennen und sich darauf vorbreiten zu können.« Aufgrund Nolwine verwirrten Gesichtsausdruck fügte Akara hinzu. »Früher gab es viele Räuberbanden und Banditen, die immer wieder die Dörfer angegriffen haben. Dann jedoch hat Sardenthal diesen Abschaum deutlich zu verstehen gegeben, dass die Bewohner von Sardeil unter ihren Schutz stehen und nachdem zwei drei Mal die Wächterinnen solche Gruppierungen aufgerieben haben, sind die Banden in ein anderes Land gezogen. Seitdem gibt es keine wirklich großen Angriffe mehr und der Turm wird nicht mehr gebraucht.«

Akara sprang auf ihre Beine und schien gar nicht besorgt zu sein, dass sie sich an der Kante befand. »Natürlich kommt es ab und zu vor, dass es Schattenangriffe gibt, weshalb der Turm noch existiert. Ansonsten hätte man ihn schon längst abgetragen.«

Nolwine sagte nichts darauf. Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte und spürte wieder diese Unsicherheit, die sie in der Nähe dieser Frau hatte. Wieder sah sie vor ihrem inneren Auge, wie diese Frau den einen Mann getötet hatte, als er zu fliehen versuchte. Es war so ein grausamer Anblick gewesen.

»Alles in Ordnung«, fragte Akara und legte ihren Kopf schräg.

»Ich…ja…ich denke schon«, sagte Nolwine leise. Als sie nun vor der Feuerwächterin stand, war sie sich nicht mehr so sicher, ob sie ihr von ihrer Beobachtung erzählen sollte. Bestimmt würde diese Frau denken, dass sie sich alles nur eingebildet hatte.

Die Feuerwächterin kniff bei diesen Worten die Augen zusammen und runzelte langsam die Stirn. Es war deutlich zu erkennen, dass sie den Worten nicht traute. Doch dann verschwand der misstrauische Ausdruck und sie lächelte über das ganze Gesicht. Dies kam so überraschend, dass Nolwine blinzelte.

»Ist nicht leicht, wenn das Leben sich so dramatisch ändert«, meinte Akara leise und sah dann wieder in die Ferne. »Ich erinnerte mich noch deutlich daran, als es hieß, dass ich nach Sardenthal gehen müsse, um zu lernen mit der Gabe des Feuers umzugehen.«

Das Mädchen trat näher an dem Rand und sah dann ebenfalls in die Richtung, in der Frau blickte. Sie konnte in der Ferne ein Gebirge ausmachen und vermutete, dass es sich hierbei um Sarden handelte. Dem Gebirge, wo sich der Hort des Feuers befand. Die berühmte Stadt Sardenthal. Nolwine sah die Feuerwächterin an der Seite an.

»War es schwer für sie?«

Ein leises Lachen war zu vernehmen.

»Schwer«, wiederholte Akara und kicherte. »Ja, das könnte man sagen. Ich mache mir nichts aus meiner Gabe und finde, dass sie nur Zerstörung mit sich bring. Es mag sein, dass ich andere beschützen kann, doch wer schützt diese dann vor mir.« Das Lachen verstummte und großer Ernst trat in ihre Augen. »Jede Sache hat zwei Seiten, Nolwine. Dir wurde eine große Gabe geschenkt, doch wie du sie einsetzt, ist dir überlassen. Man wird dir beibringen, dass du dem Gleichgewicht nicht schaden darfst, doch dabei solltest du auch dich selber im Blick behalten. Nicht immer reinigt der Zweck die Mittel. Ich habe in Greisarg die Schatten vernichtet und dafür großen Schaden an der Stadt angerichtet. Die Bewohner haben den Angriff überlebt, doch dadurch dass ich ihre Häuser zerstört habe, habe ich ihnen die Lebensgrundlage genommen. Viele werden denken, dass ich durch diese Zerstörung sie auch hätten töten können.«

Abermals wusste Nolwine nicht, was sie darauf sagen sollte, sodass sie schwieg und wieder zu dem Gebirge schaute. Sie erinnerte sich deutlich an die Brandschäden der Häuser und an die verzweifelten Blicke der Bewohner.

Dennoch haben diese Menschen überlebt und können neu anfangen. Die Wächterschaft hilft ihnen dabei. Und dies war ein Gedanke, der sie zu ihrer Verwirrung beitrug. Sie hatte mitbekommen, dass der Konvent im Greisarg nicht so hilfreich gewesen war und es stattdessen die Wächterinnen waren, die für die Beschädigend da waren. Sollte dies nicht eher die Aufgabe der Erleuchteten sein. Den Hilfsbedürftigen und Schwachen beistehen?

»Ihr habt Leben gerettet«, sagte Nolwine leise. »Häuser kann man wieder aufbauen, doch Tote nicht wiederbeleben.«

Ein leises Schnauben entfuhr Akara.

»Ja, aber dennoch werden einige Betroffene es anders sehen.«. Sie seufzte tief. »Aber so ist das nun mal. Jede Handlung hat ihre Wirkung und dies darfst du nie vergessen. Dir steht ein Weg einer Luftwächterin vor, doch wie du ihn meistern wirst, ist deine Entscheidung. Sei deinem Gewissen immer treu und lass dich zu nichts zwingen, womit du nicht einverstanden bist. Natürlich hast du als Erleuchtete es nicht leicht, denn jeder weis, wie der Orden von uns denkt, dennoch hintergehst du ihn nicht. Soweit ich weis, predigen die Erleuchteten, dass man für die Menschen da sein und sich gegen das Böse stellen soll. Dies machst du auch als Wächterin.«

Diese Worte sorgten dafür, dass Nolwine innerlich ruhig wurde. Es kam ihr wie ein Ausweg aus ihrem Dilemma vor. Sie konnte beides sein?

»Was ist mit dem Glauben? Ich glaube nicht an die acht Geweihten«, sagte sie leise.

Ein erneutes Lachen entfuhr Akara. »Ich auch nicht. Oh, ich weis, dass Ethron existiert, doch ich sehe ihn nicht als meinen Gott an. Es ist die Entscheidung eines jeden Einzelnen, woran er glauben will und dies beeinflussen nicht die Geweihten. Houa wird nichts dagegen haben, wenn du weiterhin an deinen EINEN glaubst, solange du nicht versucht gegen ihn zu kämpfe«

»Ihr glaubt nicht an Ethron?« Nolwine war schockiert.

Akara zuckte mit den Schultern. »Nein. Ich bete ihn nicht an und lass mir nicht mein Leben von ihm vorschreiben. Ich weis, dass er da draußen ist, aber auch er ist nicht allmächtig. Genauso wenig wie Vraja, Hrean, Thràk oder die anderen. Sie geben uns vielleicht die Gabe der Elemente und haben großen Einfluss auf das Gleichgewicht, doch sie sind meiner Meinung nach keine Götter. Da Ethron sich bisher nicht beschwert hat, nehme ich an, dass es ihm nicht stört, dass ich nicht an ihn glaube.« Sie sah zu Nolwine. »Wenn es den Geweihten wichtig wäre, dass man nur sie verehrte, dann hätten sich schon längst etwas gegen die Erleuchteten unternommen. Da sie dies jedoch nicht unternehmen, können sie nichts dagegen haben, wenn man an den EINEN glaubt.«

Das klingt einleuchtend und würde auch erklären, wieso ein Geweihter mich auserwählen würde, obwohl ich nicht an ihn glaubte.

Plötzlich war es Nolwine so, als würde ein großer Stein von ihrem Herzen fallen. Als wäre eine Last von ihrer Schulter genommen. Ein leichtes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, ehe ihr wieder einfiel, warum sie überhaupt hierausgekommen war. Sie sah Akara noch einmal genau an und beschloss, das Risiko einzugehen.

»Ich … ich habe vorhin was gesehen«, begann sie langsam und hielt inne, als die Frau sie plötzlich ansah. Nolwine schluckte.

»Was hast du gesehen«, fragte Akara und hob eine Augenbraue.

»Ich weis nicht … es war eine Person, die das Gasthaus beobachtet hatte. Ich weis, dass es seltsam klingt, doch ich glaube, dass sie keine guten Absichten dabei gehabt hatte. Es war so ein Gefühl … aber ich bin mir nicht sicher.«

Akara legte ihren Kopf etwas schräg und forderte das Mädchen auf, genauer zu beschreiben, was sie gesehen hatte. Stockend und zögernd erzählte Nolwine ihr alles. Als sie fertig war, sah sie unsicher aus. Die Feuerwächterin dachte nach und sah dann runter zum Dorf.

»Das ist nicht überraschend. Vielleicht war er ein Spion des Schwarzen Blutes, oder ein Schattenbesetzter oder Dieb … es gibt viele Personen, die sich immer in der Gegenwart von Wächterinnen unheimlich aufführen. Sie versuchen nicht aufzufallen, wobei sie nicht merken, dass sie gerade dadurch auf sich aufmerksam machen. Doch es ist gut, dass du es bemerkt hast. Eines Tages könnte dies dir dein Leben retten.« Sie sah Nolwine abermals ernst an. »Du solltest auf deine Gefühle hören. Luftwächterinnen sind da sehr sensibel, wie ich gehört habe. Es heißt, dass der Wind alles weis und er den Luftwächterinnen dies zuflüstert. Deswegen nehme alles ernst, auch wenn es dir unsinnig erscheint.«

Nolwine nickte und war innerlich froh, dass man sie nicht als verrückt abstempelte.

So schlecht diese Wächterin gar nicht und sie hat mir auch das Leben im brennenden Gasthaus gerettet.

Das Mädchen setzte sich auf die Kante der Plattform und sah dann zu dem Gebirge. Sie wusste nicht, was die Zukunft ihr bringen würde, doch sie war sich sicher, dass sie die Ratschläge dieser Feuerwächterin ernst nehmen wollte.

 

 

Kapitel Dreißig

 Zeit und Tod

 

Errege nie den Zorn einer Todwächterin, denn dann wäre es so, als wenn du den Tod selber verärgerst.

 

Sprichwort,

unbekannte Herkunft

 

Die Sonne war gerade dabei, aufzugehen, als Chaidra von ihrem Bruder geweckt wurde. Sie gähnte, sah in das lächelnde Gesicht von Kadalin und fragte sich, wie er es schaffte, so zeitig schon so guter Laune zu sein. Langsam erhob sie sich und schaute sich um. Sie befanden sich in einer Höhle und ihr Bruder meinte, dass gestern Nacht die Schwestern hier gelagert haben mussten.

Wir kommen immer näher.

In Wirklichkeit hatte Chaidra nicht das Gefühl. Es kam ihr vor, als würden sie immer mehr Zeit verlieren, da sie wegen ihrer Pferde Umwege nehmen mussten. Kadalin meinte, dass diese Umwege nicht allzu lang waren, doch dies änderte nichts daran, dass die Männer des Fürsten den Schwestern immer näher kamen und Chaidra das Gefühl hatte, als würde selber nicht vorankommen.

Seufzend trat sie an ihrem Pferd und klopfte ihm auf den Hals, während Kadalin sich daran machte, das Lager abzubauen und die Asche des Lagerfeuers zu verstreuen, um keine Spur zu hinterlassen.

»Ich hoffe, dass wir sie wirklich bald eingeholt haben, Kad«, sagte sie leise. Sie sehnte sich nach Kardsen, dem Hort des Todes und wünschte sich, sie wäre schon längst dort. Wenn die Schwestern nicht dazwischen gekommen wären, wäre sie schon längst wieder in ihrem Haus und würde sich von der Reise ausruhen.

Kadalin trat zu ihr heran und sah sie lächelnd an. »Ich weis, Schwesterchen, aber ich versichere dir, dass wir nahe sind. Wenn sie also nicht irgendetwas Ungewöhnliches machen werden, werden wir sie bestimmt morgen oder übermorgen eingeholt haben.« Er sah zum Höhlenausgang. »Ich glaube, dass sie und auch wir morgen das Gebirge verlassen werden. Dann wird es einfacher sein, sie zu finden.«

Chaidra nickte bei den zuversichtlichen Worten ihres Bruders und half ihm dann, den Rest zu verstauen. Sie klemmte ihre Decke hinter dem Sattel und holte Hafer für ihr Pferd hervor, damit es fressen konnte, ehe es wieder auf die Reise ging. Sie selber und ihr Bruder aßen nur etwas Brot und Käse. Viel haben wir sowieso nicht mehr übrig. Wir müssen unsere Vorräte bald auffüllen.

Nachdem alles verstaut und verräterische Spuren verdeckt waren, schwang sich Chaidra auf dem Sattel und folgte dann ihren Bruder, der vorausritt.

Als Chaidra beschlossen hatte, die Schwestern vor den Männer des Fürsten zu finden, hatte sie nicht gewusst, worauf sie sich einlassen würde. Die Reise durch das Gebirge nicht besonders einfach, und wenn man mit Pferd unterwegs war, wurde es noch schwieriger. Manchmal kam es der Todwächterin so vor, als würde sie nicht vorankommen und ein anderes Mal meinte Rax, ihr Rabe, dass er in der Nähe den anderen Raben spüren würde. Was bedeutete, dass die Schwestern ebenfalls in der Nähe waren.

Vor einigen Tagen hatten sie ein Tal mit eine Ruine erreicht und Chaidra musste zugeben, dass diese Entdeckung die Verfolgung schon Wert gewesen war. Auf der Ruine hatten sie ein Banner mit einem Drachen gefunden und sie vermutete, dass vor der Entstehung des Nebels hier eine große Anlage für eine Legion befunden hatte. Eine Legion, deren Zeichen ein Drache gewesen war. Ein Drache mit einer neun. Die neunte Einheit, welche als verloren galt, fuhr es ihr durch den Kopf und sie fragte sich, warum niemand bisher diese Ruine entdeckt hatte. Niemand, außer die Bewohner des Gebirges, die wohl aber nicht darüber sprachen.

Es gibt viele Legenden über diese Einheit, doch schon immer war man der Meinung, dass deren Kaserne sich hier im Murai hatte befinden sollen. Kurzzeitig kam Aufregung in ihr hoch und sie freute sich schon, den anderen von dieser Entdeckung zu erzählen. Doch ihre Freude währte nur kurz, denn in dem Tal hatte sie die Nachreste von Schatten gespürt und sie fragte sich, was dort passiert war. Waren die Schwestern auf Schatten gestoßen, oder waren es Andrak`s Männern gewesen. Kadalin und sie haben keine Leichen von Menschen gefunden und auch Chaidra hatte keine besonderen Todesstränge gespürt, sodass sie davon ausgehen mussten, dass die Schatten ohne Verluste vernichtet worden waren.

Aber von wem?

Chaidra konnte sich nicht vorstellen, dass es die Geschwister gewesen waren, sodass nur die Männer des Fürsten verantwortlich sein konnten. Dies wiederum bedeutete, dass die Männer einen Vorsprung hatten und näher an den Geschwistern dran waren, als es Chaidra überhaupt lieb war. Ihr Gesicht verfinsterte sich und sie betet zu Hrean, dass er auf die Kinder aufpassen sollte.

Plötzlich hielt Kadalin mit seinem Pferd an und hob warnend eine Hand. Er sah sich aufmerksam um. Chaidra hielt ebenfalls an und fragte sich, was er gesehen hatte.

»Wir sind nicht allein«, sagte er leise und wollte sich zu ihr umdrehen, als ein Schatten von der Felsenwand erschien und sich auf Kadalin stürzte. Er riss den Mann von dem Pferd und beide kamen hart auf dem Boden auf.

»Kad!«

Chaidra sprang von dem Pferd und hob ihren schwarzen Stab, um ihren Bruder zu helfen, doch da erschien ein zweiter Schatten und dieser stellte sich ihr in den Weg. Sie fluchte leise und hielt ihren Stab schräg vor sich.

Der zweite Schatten war nicht besonders groß, doch dafür hatte er vier Arme mit messerscharfen Krallen. Er stieß ein grollendes Geräusch aus und hob eine der rechten Arme zum Ausschlag aus. Als er ihn niedersausen ließ, stieß er sich vom Boden ab und flog halb auf Chaidra zu. Diese duckte sich unter seinen Schlag weg und riss gleichzeitig ihren Stab hoch. Der Schatten schrie wütend aus, als das eine Stabende sich in seinen Magen bohrte und er durch die Luft geschleudert wurde. Er knallte gegen die Felswand, doch stand dann sofort wieder auf den Beinen. Wut und Mordlust funkelten in seinen Augen.

Abermals stieß er einen unmenschlichen Schrei aus und sprang auf sie zu. Dieses Mal hob er zwei Arme zum Schlag aus. Den Ersten konnte Chaidra abwehren, doch der Zweite berührte sie knapp an der Wange, sodass sie das Gefühl hatte, sie würde dennoch die faulige Kralle spüren.

»Chaidra!«

Plötzlich war Kadalin an ihrer Seite und stieß den Schatten von ihr Weg. Er hatte derweil sein Schwert gezogen und in einer leichten Umdrehung, teilte er das Wesen in zwei Hälften, welche sich sofort auflösten.

»Danke, Kad, ich …« Weiter kam Chaidra nicht, denn neue Schatten tauchten auf und dieses Mal waren sie zu dritt. Chaidra fluchte. »Was machen Schatten hier? Ist ein Riss in der Nähe?«

Während Kadalin sich auf die Gegner stürzte, untersuchte Chaidra die Todstränge in der Nähe und versicherte sich somit, dass kein Riss sich in der Nähe befand. Erleichterung durchfuhr sie, als sie keinen fand, doch gleichzeitig fragte sie sich, wie dann diese Schatten hier auftauchen konnten.

Plötzlich konnte die Todwächterin das Klappern von Hufen vernehmen und sie wandte sich in die Richtung, wobei sie ihren Stab wieder angriffsbreit vor sich hielt. Wenn sich schon ihr Bruder um die Schatten kümmert, dann würde sie sich den Reitern stellen.

Um eine Ecke kamen drei Reiter und für einen Moment war Chaidra verblüfft, als sie deren Kleidung sah. Sie riss überrascht die Augen auf und ließ ihren Stab sinken. Dann merkte sie, wie Kadalin zu ihrer Seite trat. Sie warf einen Blick zurück und sah, dass kein Schatten mehr da war, ehe sie wieder zu den Reitern sah.

Was machen Zeitwächterinnen hier?

Alle drei Pferde kamen zum Stillstand und eine Reiterin sprang vom Pferd. Sie trug weiße Kleidung und auf ihrer rechten Schulter war eine große Sanduhr eingenäht. Eine ihrer Gefährtin trug gräuliche Kleidung und die Zweite schwarze, sodass Chaidra vermutete, dass sie vor einem Zeyren stand. Sie sah, wie Kadalin an ihrer Seite sich leicht verbeugte.

»Wir grüßen dich, Schwester des Todes und deine Begleitung«, sagte die Frau in der weißen Kleidung und sah Chaidra lächelnd an.

Diese Lächeln erfreute Chaidra, denn es leider war es auch so, dass sich viele Wächterinnen von anderen Elementen ebenfalls unwohl in der Nähe einer Todwächterin fühlten. Doch dieses Lächeln sagte ihr, dass es bei der Frau nicht so war.

»Wir grüßen euch ebenfalls, Schwestern der Zeit«, sagte sie und fragte sich abermals, warum diese hier waren. Konnte es ein Zufall sein?

Die Frau mit der weißen Kleidung sah sich in der Schlucht um und ihr Gesicht verfinsterte sich. »Schatten«, murmelte sie. »Immer wieder Schatten.«

»Wie bitte«, fragte Chaidra, weil sie nicht sicher war, wie dies die Frau gemeint haben könnte.

»In letzter Zeit tauchen überall Schatten auf. Manchmal handelt es sich nur um Gerüchte, doch selbst die belegten Fälle deuten darauf hin, dass etwas auf uns alle zukommt«, sagte die Frau und sah dann die Todwächterin an. »Wir suchen ein Mädchen, das hier vor kurzem vorbeigekommen sein sollte. Wisst ihr etwas darüber?«

Diese Frage überraschte Chaidra sehr und sie fragte sich, warum die Zeitwächterinnen nach einem Mädchen suchten. Dann fragte sie sich, ob diese ebenfalls hinter den Schwestern her waren, doch warum sollte es so sein? Aleitha war eine angehende Todwächterin und dies würde den Schwestern der Zeit nicht besonders interessieren. Vielleicht sind sie ja hinter Saren her? Aber wieso? Sie sah die drei Zeitwächterinnen an.

»Wie selber verfolgen zwei Schwestern, wobei die jüngere eine angehende Wächterin des Todes ist. Leider werden diese Schwestern von Männern des Fürsten verfolgt, weil er glaubt, dass sie für den Tod seines Sohnes verantwortlich ist.«

Eine der Frauen, die noch auf dem Pferd saß, nickte leicht. »Und wir suchen die ältere.«

Dies sorgte abermals dafür, dass Chaidra überrascht die Augen aufriss. Warum suchten drei Wächterinnen der Zeit nach Saren? Was wollten diese von ihr?

 

Aleitha unterdrückte ein Gähnen und fragte sich, warum sie so zeitig hatten aufbrechen müssen. Sie sah zu dem Rücken von Larren und dann zur Seite, wo ihre Schwester lief. Saren sah ganz blass aus und in ihrem Gesicht standen Schmerzen. Zwar nicht deutlich, sodass es leicht zu übersehen war, doch Aleitha kannte ihre Schwester sehr gut. Sie konnte hinter der Maske sehen, die Saren aufgesetzt hatte.

Was ist los, Saren? Warum redest du nicht mit mir?

Die jüngere Schwester machte sich große Sorgen um die Ältere und ihr wurde ihre Hilflosigkeit bewusst. Noch nie hatte sie sich über Saren Sorgen machen müssen. Sie war diejenige mit den Sorgen gewesen und Saren war diejenige, die sich um sie gekümmert hatte.

Reiß dich zusammen, Aleitha! Es ist nicht mehr so wie früher. Dieses Mal musst du dich um deine Schwester kümmern. Du kannst nicht immer die Schwache sein. Hör also auf, darüber nachzudenken und versuche lieber eine Lösung zu finden, mit der du Saren helfen kannst.

Als würde Saren merken, dass Aleitha sie betrachtete, wandte diese ihren Kopf zu ihr und lächelte leicht, als sie Aleithas Blick begegnete. Doch dieses Lächeln vertrieb nicht den Schmerz in Sarens Augen und Aleitha wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen. Seit dem Tag, wo sie in dem Tal von diesen seltsamen Wesen angegriffen worden waren, veränderte sich Saren immer mehr. Es war so, dass sie jeden Tag einmal ohnmächtig wurde und es dauerte lange, bis sie wieder erwachte und danach schwach war. Dennoch trieb Larren sie voran, denn er meinte, dass ihre Verfolger immer näher kamen und sie sich keine Pause gönnen dürften. Aleitha spürte, dass sie immer müder und ihre Beine immer schwerer wurden, je länger sie auf der Flucht waren, doch wie konnte dies für ihre ältere Schwester sein? Sie trug immer noch Verletzungen von dem Kampf und diese schienen nur langsam zu heilen, obwohl Larren zuversichtlich war.

Ohne dass Aleitha es verhindern konnte, traten Tränen in ihre Augen und sie blinzelte heftig. Sie wollte nicht, dass Saren dies sah, und sah wieder nach vorne, während sie einen Schritt nach den anderen machte. Immer weiter ging und darauf achtete, dass sie nicht stolperte.

Etwas geschah mit Saren und es hatte angefangen, seitdem sie auf der Flucht waren. Nein, eigentlich schon Tage vorher. Doch was war es und wieso wurde es immer schlimmer. Aleitha sah zu Larren, der stur geradeaus ging und sich immer wieder aufmerksam umschaute. Dieser Mann wusste, was mit Saren passierte, doch er wollte nicht darüber reden. Vielleicht war er ja verantwortlich für Sarens Zustand? Obwohl Aleitha wusste, dass dies nicht wahr sein konnte, dachte sie immer mehr darüber nach. Larren schien mehr als nur ein ehemaliger Soldat und Säufer zu sein und er half ihnen. Doch warum?

Aleitha sah abermals zu ihrer Schwester, die ihren Blick gerade aus hielt und ihre rechte Hand geballt hatte, um ein Zittern dieser zu unterdrücken. Aleitha jedoch sah die Anzeichen und ahnte, dass es bald wieder soweit war. Bald würde Saren wieder zu Boden gehen.

Angst griff nach Aleithas Herzen und sie wünschte sich vom Herzen, dass alles so wäre, wie vor zwei Monden. Dass diese Frau Chaidra nie in ihr Dorf gekommen wäre, dass Saren nicht solche Anfälle hatte und dass dieser Fürst sie nicht verfolgen ließ. Eines war nämlich Aleitha während der Flucht bewusst geworden, und zwar, dass sie nie wieder nach Ferren zurückkonnten. Es mochte sein, dass der Fürst früher oder später aufhören würde, sie zu verfolgen, doch er wusste, wo sie lebten. Aus diesem Grund war es ihr Ferren nicht mehr für sie sicher. Aleitha betrachtete ihre Schwester ganz genau.

Ob sie auch schon zu dem gleichen Schluss gekommen war?

Aleitha war sich dessen sicher, denn Saren war nicht nur älter als sie, sie dachte auch viel mehr über Situationen nach und sah Dinge in einem größeren Rahmen.

Was werden wir machen? Wo werden wir hingehen, wenn die Flucht vorbei ist?

Tief im Inneren ahnte Aleitha, was passieren würde und davor hatte sie große Angst. Sie wollte nicht ihre Schwester verlieren und an einen Ort von ihr getrennt leben, doch etwas in ihr sagte, dass Saren darauf bestehen würde. Plötzlich war sie sich sogar sehr sicher. Saren würde sie zu diesen Ort bringen, wo anderen Personen mit ihrer Gabe leben würden und sie dann dort zurücklassen.

Panik kam in Aleitha auf und sie blieb stehen. Nein, dass durfte nicht so passieren. Sie wollte nicht von ihrer großen Schwester getrennt sein und …

»`Leitha? Ist alles in Ordnung?«

Aleitha zuckte zusammen und sah, dass Saren ebenfalls stehengeblieben war und sie nun besorgt betrachtete. Aleitha warf sich plötzlich in die Arme ihrer Schwester und begann zu weinen. Saren, völlig überrascht davon, strich über Aleithas Haar.

»Sch…sch…ist ja alles gut«, murmelte Saren und verzog ihr Gesicht, als ein erneuter Schmerz durch ihre Brust raste. Sie unterdrückte ein Keuchen und hielt ihre Schwester fest.

Aleitha presste sich an Saren und sog die Geborgenheit auf, die sie bei ihr spürte. »Lass mich nicht allein, Saren. Versprich mir, dass du mich nie allein lässt.«

Saren fuhr abermals über das Haar ihrer Schwester. »Keine Angst, `leitha. Ich werde dich nicht alleine zurücklassen. Wir werden immer zusammen sein.«

Die jüngere Schwester klammerte sich an diese Worte und dennoch gab es eine leise Stimme tief in ihr, die ihr sagte, dass dies nicht geschehen würde. Dass Saren ihr Versprechen nicht einhalten würde.

 

Chaidra sah immer noch die drei Zeitwächterinnen an und fragte sich abermals, warum diese Saren suchten. Es musste einen Grund dafür geben, dass gleich ein ganzes Zeyren unterwegs war, um ein Mädchen zu suchen. Vor allen, da es von allen Elementen die Zeitwächterinnen am wenigsten zahlreich waren.

»Wenn ich fragen darf … warum sucht ihr nach Saren«, fragte sie vorsichtig, denn es war öfters so, dass Wächterinnen eines Elementes nicht über die Angelegenheiten mit anderen Elementen sprachen, sodass sie schon fast damit rechnete, eine Abfuhr zu erhalten.

»In ihr schlummern große Mächte«, sagte die weißgekleidete Frau und sah dann in die Richtung, wo sie alle die Schwestern vermuteten. »Wir müssen sie finden, ehe sie einen großen Schaden anrichten könnte.«

Dies überraschte Chaidra nun vollkommen. Nie hätte sie damit gerechnet, dass auch Saren eine Wächterin sein könnte und noch dazu eine der Zeit. Ein Schaudern befiel sie, als sie daran dachte, was für einen Schaden ein unausgebildetes Mädchen mit den Zeitsträngen anstellen könnte. Sie sah die drei Zeitwächterinnen an, ehe sie ebenfalls in die Richtung der Schwestern blickte.

Nun ist es noch dringender, dass wir sie vor den Männern finden!

»Dann sollten wir zusammen weitersuchen«, sagte Chaidra und deutet ihren Bruder an, dass er wieder aufsetzen konnte.

Die Sprecherin der drei anderen Frauen nickte zustimmend und sie bestieg ebenfalls ihr Pferd. Kurz darauf saß auch Chaidra wieder im Sattel.

 

Kurz nachdem Aleitha das Versprechen ihrer Schwester vernommen hatte, spürte sie, wie sich Saren in ihrer Umarmung versteifte und dann heftig die Luft einsog. Ihr Gesicht verzog sich und offener Schmerz war in diesen zu erkennen. Saren keuchte, taumelte aus der Umarmung und griff sich an die Brust.

Aleitha sah mit Schrecken, wie das Leuchten ihrer Schwester verschwand und in dem Moment, wo Saren zusammenbrach, sah sie wieder … nichts. Kein Leuchten und keine Düsternis.

Nicht schon wieder!

Sie sah zu Larren, der die Situation bemerkt hatte und zurückkam. Sein Gesicht sah ernst aus und Aleitha fragte sich schon, woran das liegen könnte, als sie Geräusche vernahm. Sie konnte Stimmen hören, das Geräusch von losen Steinen und etwas in ihr sagte, dass es die Männer des Fürsten waren.

Nein! Nicht jetzt!

Aleitha sah panisch zu ihrer Schwester, die reglos auf dem Boden lag und dann zu Larren, der sein Schwert zog. Ihr Gesicht wurde ganz bleich, als sie die Düsternis erkannte, die sich um den Mann legte und Aleitha wusste sofort, dass ihre Flucht ein Ende hatte. Sie öffnete ihren Mund, um Larren zu warnen. Um ihm zu sagen, dass er wegrennen und sein Leben retten sollte, als sie ein leises Sirren vernahm.

Dann sauste ein Pfeil durch die Luft und fuhr in die Brust von Larren, dem ehemaligen Säufer von Ferren. Er ätzte und fiel reglos zu Boden. Die Düsternis um ihn herum nahm zu und Aleitha wusste, dass es für ihn zu spät war. Wieder hatte sie nicht eine Person retten können.

Die Panik in Aleitha wurde immer größer. Sie sah zu ihrer Schwester und dann zu einer Felswand, wo hinter mehreren Felsen Männer mit erhobenen Waffen kamen und wusste nicht, was sie machen sollte. Eine Stimme tief in ihr schrie, dass sie rennen und sich in Sicherheit bringen sollte, doch eine leisere sagte, dass sie nicht ihre Schwester schutzlos zurücklassen durfte.

Voller Angst warf sich Aleitha auf ihre Schwester und weinte. Sie presste ihr Gesicht auf die reglose Brust von Saren und schloss die Augen.

Sie würde Saren nicht zurücklassen, und wenn es hieß, dass sie zusammen mit ihr hier sterben würde, dann sollte es so sein. Der Gedanke, getrennt von Saren zu leben, war sowieso schmerzhaft für sie. Sie konnte hören, wie die Männer immer näher kamen und dann spürte sie, wie jemand sie hart an den Schultern ergriff. Sie wurde hochgehoben und von ihrer Schwester weggezerrt.

»Nein! Nein!«

Sie wollte sich gegen den Griff wehren, doch das Einzige, was sie erreichte, war, dass sie geschlagen wurde. Ihr Kopf brüllte auf und sie sah mit tränenverschmiertem Gesicht, wie ein Mann zu ihrer Schwester trat und sein Schwert hob.

»Nein … nicht«, schrie Aleitha und dann brach etwas in ihr. Sie wusste nicht, was es war, doch ihre Angst und Panik hatte etwas in ihr freigesetzt, das nun mit voller Wucht aus ihr herausfuhr. Sie spürte, wie sie losgelassen wurde und sah, wie der Mann über Saren sein Gesicht vor Schmerz verzog. Er griff sich an die Brust und taumelte einige Schritte zurück.

Aleitha sah sich schreckenserfüllt um und sah, wie immer mehr Männer sich an die Brust griffen und sie konnte erkennen, wie rasend schnell ihr Leuchten sich in Düsternis verwandelte. Einer der Männer schrie auf, zeigte auf die Stelle, wo sich Navah, ihr Rabe befand und rannte weg. Doch er kam nicht weit und brach tot zusammen. Einer nach den anderen Männern schrie auf und fiel ebenfalls zu dem Boden.

Dann war es vorbei und eine unnatürliche Stille lag über das Gebirge.

Fassungslos sah Aleitha zu den Männern und nur ganz langsam drang es in ihre Gedanken, dass diese tot waren. Jeder Einzelne.

Erneut brach sie in Tränen aus und warf sich auf die Brust ihrer Schwester. »Wach auf, Saren … ich will nicht allein sein!«

 

Es war ein heftiger Schmerz, der Chaidra durchfuhr und sie keuchte auf. Ihr Gesicht verzog sich schmerzhaft und sie starrte nach vorne, von wo aus sie die Störungen in der Luft wahrnehmen konnte. Etwas Furchtbares war gerade passiert.

 

Kapitel Einunddreißig

 Kampf in AlHarten

 

Es sind die Tänzer, die den wahren Kampf gegen die Schatten führen und dabei spielt es keine Rolle, welchem Element sie angehören. Doch wenn man glaubt, dass die Tänzer gut sind, dann sollte man sich den Kampf der Ersten Generälen ansehen. Diese wissen es, wie man kämpft!

 

Yandor Kirsil,

Hochgeweihte der Shars,

Winter im Jahre 1768

 

Welches Element das Stärkste ist? Nun, das kann ich dir nicht sagen, denn jedes hat seine Vorteile und seine Nachteile. Es kommt nicht auf das Element an, sondern auf die Wächterin, die es benutzt.

Rae Sir Mandiria Olven,

Sommer im Jahre 421 vor dem Nebel

 

Wieder einmal war ein Streit zwischen Thanai und Akara entstanden, sodass es keine Überraschung war, dass die junge Feuerwächterin die Stadt verlassen hatte und Thanai wütend durch die Straßen von AlHarten ging. Sie waren heute Mittag in AlHarten angekommen und die Reise lag schwer auf ihrem Gemüt. Sie war froh darüber, dass sie morgen den Dreibogen nutzen würden und dann sofort in Sardenthal sein würden. Froh darüber, ihren Auftrag endlich erfüllt zu haben.

Und dann geht es nach Neirhain. Nolwine`s Umwandlung ist zwar zum größten Teil abgeschlossen, doch es schadet dennoch nicht, wenn sich andere Luftschwestern um sie kümmern.

Thanai blieb stehen und schloss die Augen. Sie spürte den Wind und fühlte sich dabei wohl. Der Wind half ihr, sich zu beruhigen. Sie wollte nicht mit ihrer Wut zum Gasthaus gehen, denn dann würde Zhanaile sofort merken, dass wieder etwas vorgefallen war.

Die Luftwächterin seufzte leicht und stockte dann. Ein plötzlicher Windhauch trug einen Geruch zu ihr, der hier überhaupt nicht hingehörte. Sie öffnete die Augen und sah sich um. Da es abends war, waren die meisten Straßen im Dorf leer und nur vereinzelt gingen Bewohner durch diese Straßen. Thanai sog die Luft in ihrer Umgebung tief ein und war sich sicher, dass sie sich nicht irrte. Irgendwo hier im Dorf war ein Schattenbesetzter und die Frau konnte sich nicht vorstellen, dass er etwas Gutes im Sinn hatte.

Sie konzentrierte sich auf die Umgebung und nahm dabei die Hilfe der Luftstränge in Anspruch. Sie suchte sich bestimmte Stränge heraus, die das ganze Dorf durchzogen und tastete sich geistlich an ihren voran. So durchsuchte sie das ganze Dorf, obwohl sie sich nicht vom Fleck bewegte. Da!

Nahe am Dorfbrunnen befand sich ein Besetzter und Thanai konnte sich nicht vorstellen, dass er mit guten Absichten beim Brunnen war. Sie suchte sich den schnellsten Weg zu dem Brunnen, wobei sie jedoch den Besetzten immer mithilfe den Strängen im Blick behielt. Dieser stand etwas abseits, doch sein Gesicht war zu dem Brunnen gerichtet.

Lange musste Thanai nicht laufen und dann trat sie aus einer Gasse. Sie blickte den Besetzten an und wollte sich schon auf ihm stürzen, als sie inne hielt. Sie erweiterte ihre Wahrnehmung so weit, dass sie auch außerhalb des Dorfes die Luftstränge wahrnehmen konnte und verzog ihr Gesicht. Auch außerhalb befanden sich ein Schattenbesetzter und auch mehrere Schatten.

Was suchen zwei Besetzte und mehrere Schatten so nahe an Sardenthal? Sind diese wahnsinnig geworden?

Es war klar, dass sich einige Feuerwächterinnen sich in AlHarten aufhalten mussten, denn nach dem Gebirge Sarden, ist das Dorf die erste Ansiedlung und somit der Punkt, wo die die Feuerschwestern zusammenkamen oder von dort abreisten.

Thanai schüttelte leicht den Kopf und wandte ihre Aufmerksamkeit den Mann zu, der vor ihr stand und immer noch zum Brunnen starrte. Er wirkte nachdenklich.

Soll sich Akara um diese die außerhalb kümmern … solange sie den Wald nicht in Brand setzt.

Die Luftwächterin ging näher auf dem Besetzten zu.

 

Zhanaile ir`Sir bedankte sich bei der Schankmagd, als sie ihr den gewünschten Tee brachte und fragte, wie lange sie noch auf ihre Freunden warten musste. Es konnte doch nicht so lange dauern, nach den Pferden zu schauen und sich mit dem Dorfältesten zu unterhalten. Doch je länger die Wasserwächterin auf die anderen wartete, desto sicherer wurde sie sich, dass etwas vorgefallen war und sie ahnte schon, was es sein musste.

Wieso müssen die zwei sich immer in die Haare bekommen.

Sie seufzte leise und sah dann zu Nolwine, die auch an ihren Tisch saß und sich nervös umsah. Das Mädchen war immer noch bleich, doch sah im Allgemeinen schon wesentlich besser aus. Zhanaile war darüber erfreut, denn sie wusste, dass eine Umwandlung schmerzhaft war und zwischendurch war sie sehr schockiert gewesen, dass die Reaktion bei diesem Kind so heftig gewesen war. Dennoch bezeugte dies die Wahrheit, dass es schlimmer war, je älter die betroffene Person war und dass die Erwachsenen so gut wie immer starben. Dennoch gab es auch Ausnahmen. Zhanaile kannte zwei Wasserwächterinnen, die in die dreißig gewesen waren, ehe die Gabe bei ihnen durchgebrochen war und beide hatten die Umwandlung überlebt. Auch wenn es sehr knapp gewesen war.

Die Wasserwächterin lächelte bei de Gedanken an die beiden Wasserschwestern, ehe sie einen Schluck des Tees nahm. Dieser wärmte sie im Inneren auf.

»Herrin?«

Zhanaile hob eine Augenbraue und sah wieder zu Nolwine, die sie unsicher ansah.

Gegen diese Unsicherheit muss das Kind dringend etwas unternehmen. Auf der anderen Seite ist bei den Erleuchteten aufgewachsen. Da war es verständlich, dass das Mädchen so nervös war.

»Ja«, sagte sie aufmunternd, während sie sich wieder fragte, wo die beiden anderen blieben.

Nolwine sah zur Tür, als würde sie sich dasselbe fragen, doch wandte dann ihren Blick wieder Zhanaile zu.

»Wie ist Sardenthal?«

Die Wasserwächterin lächelte leicht. »Was glaubst du denn? Ich bin mir sicher, dass du schon etwas von dieser Stadt gehört hast.«

Das Mädchen wurde rot. »Es heißt, dass dort alles brennt und damit das Feuer auch brennen bleibt, unzählige Personen geopfert werden.« Ein ängstlicher Ausdruck trat in ihre Augen. »So sagen es die Lehren der Erleuchteten. Das ist nicht meine eigene Meinung und …« Sie brach ab und sah plötzlich gehetzt aus.

Ein Seufzer entfuhr Zhanaile und sie hob beruhigend die Arme. »Ist schon in Ordnung. Ich werde es nicht Akara oder den anderen verraten. Sardenthal mag der Hort des Feuers sein, doch dies bedeutet nicht, dass dort alles brennt. Zwar gibt es in dieser Stadt viel mehr Feuer, als woanders, doch dies ist auch zu erwarten. Die Stadt selber ist so aufgebaut, wie die Alte Rune, die für Feuer steht und liegt vor einem Berg. Soweit ich weis, lodert im Berg selber die Ewige Flamme, auch wenn ich sie noch nie gesehen habe, doch ich glaube nicht, dass man deswegen lügt.« Sie hielt kurz inne. »Sardenthal richtig zu beschreiben ist schwierig. Man muss sie einfach selber gesehen haben, um die Herrlichkeit erkennen zu können. Selbst ich bin von der Stadt beeindruckt, auch wenn Wasser mein Element ist und nicht allzu lange dort ausharren kann.« Sie sah Nolwine ernst an. »Am besten lässt du dich überraschen und du brauchst keine Angst haben. Personen werden dort nicht ins Feuer geworfen.«

Nolwine nickte, doch der gehetzte Ausdruck wich nicht aus ihrem Gesicht. Zhanaile nahm einen weiteren Schluck und ihr Gemüt verdüsterte sich, als sie an die Erleuchteten denken mussten. Deren Lehren sorgte immer wieder dafür, dass viele Personen große Angst vor den Wächterinnen hatten. Dennoch war dieser Orden wesentlich besser als die Vereinigung des Schwarzen Blutes.

Ein Kribbeln auf ihrer Schulter deutete die Stelle an, wo sie vor fast einen Mondzyklus getroffen worden war und Traurigkeit kam in ihr auf. Es war einfach nicht richtig, dass die Wächterschaft sich gegen die Vereinigung zur Wehr setzten musste, wenn sie gleichzeitig die Welt vor den Schatten bewahrte und …

Es hässlicher Gestank drang in ihre Nase und sie richtete sich vom Stuhl auf. Schrecken trat in ihre Augen und sie drehte sich zur Tür um, wo ein Mann mit einer Kapuze gerade das Gasthaus betreten hatte.

 

Akara verspürte den Wind in den Haaren und fühlte sich frei. Die Luft ergriff ihre Strähnen, wirbelte sie auf und kühlte ihren Kopf, wobei sie sanft die Haut in ihrem Gesicht streichelte. So sanft, als wollte es sie liebkosen. Sie liebte den Wind, liebte es zu rennen. Es war ein unbegreifliches Gefühl, dass sie ergriff und warum sie es immer wieder tat.

Nachdem sie abermals einen Streit mit Thanai gehabt hatte, musste sie einfach einmal mal alleine sein. Im Nachhinein gesehen, war es ein törischer Streit gewesen, denn es ging darum, wann sie morgen den Dreibogen durchqueren würden. Akara wollte es erst abends machen, um so länger von Sardenthal weg zu bleiben, doch Thanai wollte gleich bei Morgengrauen den Feuerhort erreichen, um endlich ihre Aufgabe als erfüllt sagen zu können.

Verdammte Asche! Immer dasselbe!

Die Sonne neigte sich dem Horizont immer weiter zu, während Akara durch den Wald rannte. Immer darauf bedacht, nicht langsamer zu werden. Sie hielt die meiste Zeit die Augen geschlossen, da sie wusste, wo der Weg war...sie spürte ihn anhand der wenigen Feuersträngen und konnte rechtzeitig den Bäumen aus den Weg gehen, die vor ihr aufragten. In einem normalen Wald, wo es nicht brannte, gab es nur wenige Feuerstränge, welche von Lebewesen ausgestrahlt wurden. Es ist die sogenannte Körperwärme und selbst Pflanzen besaßen ein wenig Wärme, welche durch vereinzelte Feuerstränge angezeigt wurden. Diese nutzte die junge Feuerwächterin, um ihren Weg durch den Wald zu finden.

Seitdem sie das Dorf verlassen hatte, rannte sie, um ihren Kopf freier zu bekommen. Sie wollte nicht wütend auf Thanai sein, doch manchmal konnte sie es einfach nicht unterdrücken. Es war so, als würde sie automatisch wütend werden, wenn ihre Freundin nur ein klein wenig widersprach. Auf der anderen Seite war Thanai nun mal so und dies war auch der Grund, warum Akara eine so innige Freundschaft mit Thanai besaß. Das Wissen, dass diese Frau ihre Meinung offen sagte und sich nicht davon einschüchtern ließ, dass Akara der Feuersturm war.

Eine Freundin, die immer und überall die Wahrheit sagt!

Die Zeit verging, doch Akara achtete nicht darauf, sondern machte einfach immer weiter. Sie rannte immer noch, als die Sonne nun fast verschwunden war und die Nacht langsam hereinbrach. Es war wie ein Feuer in ihr, welches einfach nicht zu verlöschen war ... welches sie immer weiter antrieb ... welches sie fürchtete. Ein Donner war zu hören, doch er verklang und nicht folgte darauf. Kein Regen, der kommen und Akaras Gemüt kühlen würde.

Die Feuerwächterin erreichte das Waldende und verließ die schützenden Bäume. Sie öffnete die Augen und sah sich um. AlHarten war nicht weit entfernt, was daran lag, dass die junge Frau eher im Kreis gerannt und nicht nur in eine einzige Richtung gerannt war. Aus diesem Grund konnte sie die starken Feuerstränge spüren, die vom Dorf ausgingen und …

Etwas veränderte sich und Akara spannte sich innerlich an. Sie kniff die Augen zusammen und ergriff einen Feuerstrang. Diesen hielt sie fest und in ihrer Hand wurde dieser Strang als Flamme sichtbar.

Jemand war hier, obwohl die Bezeichnung jemand falsch war. Es war eher ein Etwas und es gehörte nicht hierher.

Die Feuerwächterin ging in die Knie, konzentrierte sich und wirbelte dann herum. Gleichzeitig stieß sie den Feuerstrang von sich und dieser raste auf einen Schatten zu, der abwehrend seinen Arm hob. Doch dies nützte ihn nichts, sodass das Feuer durch ihn jagte und er sich auflöste.

»Kommt raus«, rief Akara und ihr Inneres Feuer flammte auf, während ihre Augen sich dunkelrot färbten. »Ich weis, dass ihr hier seid!«

Zwischen den Bäumen kamen mehrere niedere Schatten und ein Besetzter hervor. Zwei der Schatten griffen sofort an.

 

Thanai stand wenig später hinter dem Schattenbesetzten und wusste, dass es jetzt ernst werden würde. Sie musste es schnell erledigen, um dafür zu sorgen, dass die Bewohner in Sicherheit waren und ihr Gegner keine Schatten Hilfe rufen konnte. Die Stränge der Luft sagten ihr, dass sich auch außerhalb des Dorfes einige Schatten aufhielten, sodass anzunehmen war, dass diese ihren Anführer zu Hilfe eilen würden, wenn er sie rief. Auf der anderen Seite jedoch befand sich auf Akara dort draußen und Thanai wusste, dass sie sich auf diese verlassen konnte.

Wenigsten ist sie heute bei klarem Verstand!

Die Luftwächterin konzentrierte sich und wandte den Blick an, sodass sie in der Lage war, alle Luftstränge um sich herum sehen zu können. Sie suchte sich zwei aus, die sich in ihrer Umgebung befanden und nahe an ihren Händen vorbeigingen. Sie verband diese Stränge mit ihren eigenen und presste sie in eine Form. Kurz darauf erschien in jeder ihrer Hand ein Dolch und sie verstärkte ihren Griff um diese. Dann verlagerte sie ihr Gleichgewicht nach hinten, verharrte kurz und drehte sich blitzschnell nach vorne, wobei sie ihre rechte Hand nach vorne stieß. Der Besetzte schwang sich leicht nach links und die Klinge fuhr in die Luft. Was jedoch der Schattenbesetzte nicht wissen konnte, war, dass die Luftwächterin dies mit Absicht gemacht hatte und nun fast gleichzeitig ihre linke Hand auch nach vorn führte und dabei in die Hocke ging, um mehr Kraft aufbringen zu können. Überrascht konnte ihr Gegner nur ganz knapp sein eigenes Schwert rumziehen und ein Klirr entstand, als cerdichtete Luft auf Stahl traf.

Der Mann grunzte leise, riss sein Schwert um neunzig Grad herum, ging dabei in die Hocke und sprang wieder schnell hoch, während er seine Waffe nach vorn stieß. Die junge Frau warf sich flach auf dem Boden, rollte sich blitzschnell ab und war einige Sekunden später wieder auf die Beine, wobei sie die Hilfe der Luft in Anspruch nahm. Danach trat sie drei Schritte zurück und blieb wartend mit beiden erhobenen Dolchen stehen.

»Du bist wirklich gut!«, zischte der Schattenbesetzte aufrichtig der Frau zu und wiegte sein Schwert in der rechten Hand. Sein Gesicht war vor Wut verzogen und in seinen Augen stand das Versprechen, das er den Tod über diese Frau bringen wollte.

Thanai nickte leicht, ließ sich aber ansonsten nicht von den Worten ablenken. Sie konzentrierte sich abermals auf die Luftstränge und erkannte, dass einige Meter hinter ihr ein Schatten aufgetaucht war und mit erhobener Kralle einen Dorfbewohner angreifen wollte. Ohne dorthin zu schauen, stieß sie einen Luftsträng durch dem Kopf des Schattens und dieser löste sich ohne ein weiteres Wort in Luft auf. Dann wandte sich Thanai wieder ihren direkten Gegner zu und griff abermals an.

Der Schattenbesetzte wartete und als sein Gegner näher kam, kniff die Augen leicht zusammen, wobei er seinen Oberkörper leicht schwenkte und warf dann sein Schwert hoch. Er rammte die linkte Faust vor. Thanai war davon so überrascht, dass sie den Faustschlag mit voller Wucht abbekam und nach hinten taumelte. Doch sie fiel nicht auf dem Boden, denn automatisch verdichtete sie die Luft hinter ihr und stand dann mit festen Schritt wieder auf dem Boden. Sie verzog ihr Gesicht, als sie spürte, wie etwas Blut aus ihrer Nase tropfte und sich auf dem Boden sammelte.

Wut kam in ihr auf, doch sie wusste, dass sie diese nicht einfach so loslassen konnte. Sie befand sich immer noch inmitten von AlHarten und konnte es nicht riskieren, mit ihrm Sturm die Bewohner zu verletzten.

Es wäre besser, wenn der Kampf außerhalb des Dorfes stattfinden würde! Sie fixierte ihren Gegner abermals und hob leicht ihre rechte Hand. Hoffentlich geht es Zhanaile und Nolwine gut.

Den Griff um den rechten Dolch verstärkte sie und rannte dann wieder nach vorne, wobei sie ihren linken Dolch in der Hand drehte und immer wieder so tat, als wollte sie angreifen. Der Schattenbesetzte bemerkte die Flinten, brachte sein Schwert wieder in die richtige Position vor seinem Oberkörper und griff selber an, da er den Kampf nun schnell zu Ende bringen wollte. Er schlug unablässig auf die Frau ein, und diese konnte nur mit Müh und Not die Schläge parieren. Jedenfalls sah es so aus.

Bringen wir es jetzt zu Ende!

Thanai ging schnell in die Hocke, streckte ihr rechtes Bein hervor und drehte sich so mehrmals um die eigene Achse, wobei sich die Luftstränge in der Umgebung als Stütze und auch als Antrieb nutzte. Der Besetzte sprang immer wieder über das ausgestreckte Bein weg, sodass er aufhörte das Schwert zu schwingen. Die junge Frau sprang deshalb blitzschnell auf, hob die rechte Hand mit dem Dolch und rammte diesen mit voller Kraft in die Magengegend ihres Feindes. Dieser stöhnte schmerzerfüllt auf und griff mit den Händen zu dieser Stelle. Er wollte den Dolch herausziehen, doch so weit ließ Thanai es nicht kommen. Sie wartete nicht ab, sondern schlug mit der linken Hand nach dem Schwertarm des Besetzten, sodass dieser sein Schwert fallen lassen musste und ein rotes Muster auf dessen Arm erschien.

Während sich der Luftdolch, der im Bauch des Feindes steckte, sich langsam auflöste, bildetet Thanai in ihrer rechten Hand einen neuen und rammte diesen in die Brust des Schattenbesetzten. Dieser riss die Augen auf und Unverständnis trat in diese. Blut drang aus seinem Mund und er es schien, als wollte er noch etwas sagen, doch dazu reichte seine Kraft nicht mehr. Das Licht in seinen Augen erblasste und er sackte auf dem Boden.

Thanai ließ die Dolche wieder zu Wind werden und wandte sich von ihrem Gegner ab.

 

»Das wollt ihr doch gar nicht«, sagte Akara leise und duckte sich unter den ersten Schatten weg. Sie rief Var`zar zu sich und in derselben Drehung schlug sie den Schatten den Kopf ab. Er löste sich auf und ein Zweiter nahm seinen Platz ein. Akara wich zurück, ergriff einen Feuerstrang und warf ihn auf den Zweiten. Auch er teilte das Schicksal des Ersteren.

Die Feuerwächterin richtete sich auf und sah dann zu den Besetzten und zwei andere Schatten.

»Glaubt mir … ihr wollt das wirklich nicht.« Sie fixierte mit ihren Blick den Besetzten. »Ich bin in keiner guten Laune und dies kann sich sehr negativ auf euch auswirken.«

Es war so, als würden die anderen nicht ihre Worte hören, denn die zwei Schatten griffen sie an. Akara atmete tief durch und ließ es zu, dass die Wut auf diese Wesen sie erfüllte. Aus der Wut wurde Hass und als die Schatten sie erreichte, griff sie nach ihrem inneren Feuer und holte es hervor. Immer mehr Flammen stiegen aus Var`zar und sie stieß das Schwert hervor. Hoch konzentriert wich sie den ersten Schatten aus und köpfte den Zweiten. Kurz darauf hatte sich auch der vierte und letzte niedere Schatten in Luft aufgelöst.

Akara wandte sich zu den Besetzten. Hass durchflutete sie.

»Und nun zu dir!«

 

Noch bevor andere Schatten durch die Tür kamen, spürte Zhanaile sie. Langsam setzte sie die Tasse auf dem Tisch und trat einige Schritte von dem Tisch zurück. Sie wandte ihre ganze Aufmerksamkeit den verhüllten Besetzten und seine Schatten zu, während sie hoffte, dass die Dorfbewohner die drohende merken und verschwinden würden. Zu ihrer Erleichterung schienen diese wirklich mitzubekommen, dass etwas nicht stimme, denn sie räumten den Platz um die Tür, sodass Zhanaile genügend Platz bekam.

Es waren insgesamt drei Schatten und der Schattenbesetzte. Mit anderen Worten vier Gegner an der Zahl. Der verhüllte Mann nahm seine Kapuze und schob sie nach hinten. Ein narbenverziertes Gesicht erschien und dieses Blicke hasserfüllt drein. Er verzog seinen Mund und hob den rechten Arm. Die niederen Schatten, die ihm gefolgt waren, hielten an und nahmen eine duckende Haltung an. Wenige Meter grenzten sie von Zhanaile.

»Wen haben wir denn da?”, sprach er leise und kicherte. »Wenn das nicht eine Ausgeburt des Wassers ist. Ich habe gehört, dass dein Kopf mir sehr viel einbringen würde. Nimm es also nicht persönlich.« Er deutete zwei seiner Schatten an, die Frau zu ergreifen. »Jeder muss von etwas leben und dein Tod wird ein Zeichen sein. Ein Zeichen, dass ihr letztendlich versagen werdet!”

Immer wieder dasselbe! Immer wieder kommt ein Schwarzes Blut und will uns töten. Manchmal frage ich mich, warum ich eigentlich noch kämpfe.

Zhanaile hob den rechten Arm, streckte ihn gegen den Himmel und sagte leise:

»Ich werde dir ein Zeichen geben, doch es wird ganz anders sein, als du es dir vorstellen kannst!”

Sie fühlte die Macht in sich und griff nach ihr. Sie spürte, wie Wasserstränge in der Luft um ihr herum sich aufbäumten und zu ihr kamen. Sie wurde immer unruhiger und sammelten sich. Auch in einer Schüssel, die hinter der Theke stand, wurden die Stränge unruhig und schienen nur darauf zu warten, dass Zhanaile sie zu sich rufen würden. Das Wasser in der Schüssel bäumte sich auf.

»Du hast einen Fehler begannen, Besetzter. Dafür musst du nun den Preis zahlen!”

Über ihren ausgestreckten Arm, bei ihrer Hand, bildete sich eine große Kugel aus Wasser, welches aus dem Wassersträngen bestand, die sie zu sich rief. Hauptsächlich war es das Wasser aus der Luft, doch auch das von der Schüssel zog sie zu sich. Die Kugel wurde immer größer und machtvoller. Dann ließ sie diese los und die Kugel raste auf die vier Gegner zu.

Der Besetzte brüllte einen Befehl, doch es war zu spät. Das Wasser prallte gegen die drei Schatten und sie wurden nach gerissen. Benommen lagen sie auf dem Boden.

»Na warte”, zischte der Besetzte und zog ein Schwert. Sein Gesicht war voller Zornesröte. »Das Wasser wird ihr auch nicht helfen, verdammtes Weib!”

Eine neue Kugel bildete sich und war so voller Bewegung, dass Zhanaile sie kaum halten konnte. Doch dann dachte sie an die letzten Jahre, an die Angriffe, die immer wieder stattfanden und sie füllte die Kugel mit noch mehr Wucht.

»Du solltest nicht die Kraft des Wasser unterschätzen, Besetzter. Denn dass wäre dein erster Fehler, der dir den Untergang bringen wird.”

Wieder ließ sie die Kugel los und diese raste mit voller Wucht gegen einen Schatten, der eine Keule abwehrend vor sich hielt. Doch dies brachte ihm nichts, denn das Kugel löste sich zwar in größere Tropfen auf, als sie auf die Keule traf, doch jeder Teil fuhr mit so größer Geschwindigkeit in den Körper des Schattens, dass er durchlöchert wurde und sich kurz darauf sofort in Luft auflöste.

Einer weniger!

Sie rief die fünf kleineren Kugel, die aus der großen entstanden sind und bewegte ihren Arm. Die Kugeln folgten der Bewegung und sie hob ihren anderen Arm. Drei Kugel fuhren in einer anderen Richtung als die zwei anderen. Ihre rechte Hand kontrollierte die drei Kugeln, während die anderen zwei die Bewegungen der linken folgten. Ein weiterer Schatten wurde durch drei Wasserkugeln vernichtet und kurz darauf auch der dritte. Beide lösten sich auf und nur der Schattenbesetzte blieb übrig, der mit aufgerissenen Augen auf die Stelle starrte, wo sich vorher seine Diener befunden hatten. Fassungslosigkeit trat in seinem Gesicht. Langsam wandte er sich zu der Wasserwächterin.

»Du bist eine Tänzerin?«

Diese Frage sagte Zhanaile, dass der Besetzte nicht erwartet hatte, auf eine Wächterin zu treffen, die eine Kriegerin war und eine Ausbildung für den direkten Kampf gegen Schatten und Besetzte besaß. Der Besetzte nahm einen Hocker, der vor den Tresen stand, und warf ihn in Richtung Zhanaile. Sie duckte sich unter diesen und sah, wie der Mann durch eine Tür verschwand, die zu einem Keller führte. Zhanaile führte die fünf kleinen Kugeln zu einer einzigen und verzehrte dann diese dann einem Schwert. Danach folgte sie ihren Gegner.

 

Es war Hass. Akara verspürte ihn und jede einzelne Nervenzelle war vom diesen Gefühl begriffen. Hass auf einer einzelnen Person, die vor ihr stand und nun mit erhobenem Schwert auf sie zutrat. Hass. Selbst jede Hautfaser brannte und ihre Augen waren zu engen Schlitzen verengt. Kontrollierter Hass stand in roten Augen geschrieben und sie selber hob ihr eigenes Schwert, das eine Aura der Macht verbreitete. »So wie es aussieht, sind nur noch wir beide übrig, Besetzter! Mach dich bereit zu sterben”, zischte sie und hielt ihr Schwert schräg vor sich.

Ihr Schwert. Das Schwert von Ethron. Var`zar, die ewige Flamme.

Ihr Gegner starrte sie aus düsteren ebenfalls verengten Augen an, die nur noch Abschaum und Verachtung zeigten. Seine grün-rötlichen Gewänder wedelten in dem Wind, der aufkam und durch die angrenzenden Bäume wehte.

»Flammenhure! Denkst du, ich habe Angst vor dir. Wenn einer sterben wird, dann wirst du es sein und nicht ich”, sprach der Besetzte und legte so viel Verachtung in seiner Stimme, wie es möglich war. Auch er trug sein Schwert vor sich und die Klinge dieser war mit seltsamen Runen versehen. Runen, die die Schatten anpriesen

Eine Hohe Klinge der Schattenbesetzten, die bei vielen Personen gefürchtet war.

Der Wind kam stärker auf und heulte nun durch den Wald nahe AlHarten. Dabei wirbelte er das rötliche kurze Haar der Frau auf und ab. Dennoch blieb Akara ruhig und starrte den Besetzten an, wobei sie auch auf die umliegende Umgebung achtete. Als ein Blitz zuckte, hoben beide die Schwerter gleichzeitig und es entstand ein helles Klirren, als beide Klingen aufeinandertrafen. Funken sprühten von Var`zar. Wieder zuckte ein Blitz und das Duell auf Leben und Tod begann. Ein Duell zwischen Akara, dem Flammensturm und dem Besetzen.

Ein Duell zwischen Wächterin und dem Schwarzen Blutes.

 

Zhanaile schwang sich über das Geländer der Treppe und sprang hinunter, sodass sie sich die Stufen ersparte. Dann sah sie einen Schatten in ihren Augenwinkeln und sie rollte sich ab. Krachend fiel ein Kronleuchter dorthin, wo sie vorher gestanden hatte.

Wie feige!

Mit einem Knurren richtete sich die Frau auf und drehte sich um. In einen Türrahmen sah sie den Besetzten verschwinden.

»Du wirst den Zorn des Wassers nicht entkommen, Schattenküsser!« Mit diesen Worten nahm die Wasserwächterin die Verfolgung wieder auf und holte den Mann immer mehr ein, bis sie plötzlich stehen blieb, ihr Schwert etwas kleiner machte, indem sie eine kleine Wasserkugel aus diesen zog und diese verdichtete. Aus dem Handgelenk heraus warf sie diese Kugel.

Der Besetzte brüllte auf und stolperte, als die Wasserkugel in seine rechte Wade eindrang.

Zhanaile zog das Wasser wieder zu sich und fügte es abermals ihrem Schwert zu und war wenig später bei dem Schattenbesetzten. Auf ihrer Stirn bildete sich Schweiß, doch diesen nahm sie freudig wahr. Sie wischte über ihre Stirn mit der linken Hand, zog die Wassertropfen mit sich und fügte auch diese ihrem Schwert zu.

»Euch Schwarzblütler muss doch endlich bewusst werden, dass wir nicht so leicht zu töten sind«, sagte sie, und auch wenn ihr inneres Wesen eher ruhig war, so konnte sie wütend werden, wenn man sie angriff.

Sie hob die Hand mit dem Schwert und wollte den Gegner dieses in die Brust rammen, als dieser vom Boden her die Asche, welche um dem nahe liegenden Kamin lag, ergriff und in die Augen Zhanaile’ warf. Diese fluchte leise auf, ließ ihr Schwert fallen und wich zurück.

Geblendet durch die Asche versuchte sie erstmal Abstand zu dem Besetzten zu bekommen. Als sie dann wieder sehen konnte, erkannte sie, dass der Feind sein Schwert ergriffen hatte und nun auf ihm zuging, wobei er mehr humpelte als rannte. Zhanaile wandte sich um, fluchte und sah sich suchend um. Als sie einen Tisch in der Ecke erkannte, auf dem eine kleine Schale, die Lampenöl enthielt, grinste sie plötzlich. Mit der einen Hand warf sie einen Stuhl in die Richtung des Besetzten, um dessen Verfolgung zu verhindern und mit der anderen rief sie ihr Wasserschwert zu sich. Dieses verschwamm in unzähligen Tropfen und formte sich in ihrer Hand neu. Sie sprang auf den Tisch zu, ergriff die Schale und ließ das Öl in ihrem Mund fließen. Kurzzeitig verzog sie ihr Gesicht, doch dann wandte sie sich schnell um.

Der Besezte war derweil den Stuhl aus dem Weg gegangen und kam zügig auf die Wasserwächterin mit erhobenem Schwert zu.

Zhanaile wich dem Schwert aus, stieß ihr eigenes vor und wie sie gehofft hatte, reagierte der Besetzte so, wie vorhergesehen. Er wandte sich leicht nach rechts. Zhanaile rannte zu einer Wand, wo sich eine Fackel befand und warf ihr Wasserschwert weg. Dieses fiel auf dem Boden und eine Pfütze entstand. Sie nahm die Fackel und sah wieder zu den Besetzten, der abermals auf sie zukam. Verwirrung stand in seinen Augen, denn es sehr seltsam, dass eine Wasserwächterin freiwillig Feuer zu sich nahm. Die Frau lächelte mit vollen Backen, da sie immer noch das Öl im Mund hatte und hielt sich die Fackel vors Gesicht. Dann spritzte sie das Öl aus ihrem Mund in das Feuer. Dieses wurde entzündet und Flammen jagten auf dem Besetzten zu. Dieser heulte panisch auf.

Das Schwert fiel scheppernd zu Boden und qualvolle Schreie hallten durch das Kellergewölbe. Erbarmungslos sah Zhanaile dem sterbenden Besetzten zu, der um sich warf, Vorhänge in Brand steckte und sich halb verwandelte. Sein Schatten versuchte den sterbenden Körper zu entkommen und sich auf die Frau stürzten, doch als er sie fast erreicht hatte, flog ein Dolch in ihn hinein.

Zhanaile wandte sich um und erkannte das grimmige Gesicht von Thanai, die auf der Treppe stand.

»Alles in Ordnung«, fragte die Luftwächterin und Zhanaile nickte.

»Was ist mit Akara?«

Thanai verzog ihr Gesicht. »Die ist im angrenzenden Wald beschäftigt. Ich hoffe, dass sie diesen nicht allzu sehr im Brand stecken wird.«

Zhanaile nickte verstehend und riss das Wasser, das auf dem Boden lag zu sich. Abermals formte sich das Schwert in ihrer Hand. »Lass uns zu ihr gehen!«

Auf dem Toten Besetzten achtete sie nicht, sondern folgte ihrer Freundin die Treppe hoch.

 

Mit einer Leichtigkeit fing Akara immer wieder die Schläge des Schattenbesetzten ab und dieser steigerte sich mehr und mehr in seinen Hass. Blind vor Wut schlug er mit seiner Schattenklinge um sich und verfluchte die Frau bis ins Tiefste. Akara konnte spüren, dass sein Blut vor Verachtung regelrecht kochte und der Mann schien sich nicht zu beruhigen. Es war deutlich zu erkennen, dass er die Frau und ihre verdammten Schwestern hasste. Hasste sie. So sehr! So sehr, dass er alle Vorsicht vergaß und nur Ehre zu seiner Familie bringen wollte, indem er das Feuerweib vor sich töten würde.

Akara erwiderte den hasserfüllten Blick mit der gleichen Intensität und sie riss sich innerlich sehr zusammen. Sie wusste, dass sie nicht ihr inneres Feuer loslassen konnte. Nicht in einem Wald, wo sich in der Nähe ein Dorf befand. Demzufolgte musste sie den Kampf nur mit ihrer Klinge beenden und dies war ganz nach ihrem Geschmack. Ihre Wut, die sie nach dem Streit auf Thanai hatte, übertrug sie nun auf ihrem Gegner.

Der Kampf hielt lange an und der Besetzte, sowie Akara waren bald von Schleim, Dreck und Blut beschmiert. Dennoch gab keiner auf und der gewaltige Kampf dauerte weiter an. Viele Bäume in der Nähe zerbrachen und das Gras um Akara herum wurde zu Asche verwandelt. In der Weite konnte man Schreie von Schatten vernehme, die irgendjemand zu töten schien. Doch dies schien den beiden Kämpfenden nicht zu stören. Dennoch merkte man, dass der Hass in dem Mann immer größer wurde.

»Meine Schatten! Meine treuen Diener”, schrie der Besetzte und stieß mit seinem Schwert zu. Doch Akara blockte diesen Schlag ab und führte einen anderen Schlag auf.

Sein unmenschlicher Schrei hallte über das große Schlachtfeld und er griff mit der einen Hand zu seiner linken Schulter, die jetzt gespalten war. Gespalten von Var`zar, der ewigen Flamme. Der Schattenbesetzte wurde hochrot vor Zorn und drosch nun unbeherrscht auf den anderen ein.

 

Nachdem Thanai zwei weitere Schatten erledigt hatte, atmete sie schwer und sah sich um. Sie erkannte, dass ihre Freundin ebenfalls zwei Schatten tötete, indem sie diese mit Wasser durchlöcherte.

»Wo kommen die denn alle her«, fragte die Luftwächterin und wandte ihren Kopf in die Richtung, wo Rauch zu erkennen war. Sie ahnte, dass Akara in einem Kampf verwickelt war, und war froh, dass diese ihr inneres Feuer gut unter Kontrolle haben musste, denn bisher stand der Wald noch nicht in Flammen.

»Beeil dich, Thanai«, sagte Zhanaile und sie rannte auf die Richtung des Rauches zu. »Ich spüre, dass Akara immer ungehaltener wird. Ich weis nicht, wie lange sie ihr Feuer zurückhalten kann.«

Ein grimmiger Ausdruck erschien auf Thanais Gesicht und sie nickte. Schnell folgte sie ihrer Freundin.

 

Der Schattenbesetzte und die Frau lieferten sich ein gewaltiges Duell. Man konnte nicht erkennen, wer dieses gewinnen sollte. Beide waren gut und gleichberechtigt. Doch nur einer konnte diese Nacht überlegen und den nächsten Sonnenaufgang miterleben. Doch wer würde es sein?

Mittlerweile goss es in Strömen und kleine Bäche voller Wasser hatten sich gebildet, die Schleim und Blut mit sich zogen. Wie von Geisterhand gelenkt machte das Wasser einen großen Bogen um die Kämpfenden, sodass ein trockener Kreis entstand.

Der Besetzte blickte die andere an und versuchte die Schwachstelle der Frau zu erkennen, denn jeder hatte eine und da war Akara bestimmt keine Ausnahme. Dennoch, sosehr er sich bemühte, er konnte einfach nichts erkennen und dies trieb ihn in den Wahnsinn. Ja, die Frau lächelte sogar, was dem Schattenbesetzteren nur noch mehr wütender machte.

Schnell drehte er sich beiseite und spürte, wie seine anderen Schatten einen nach den anderen vernichtet wurden. Irgendjemand kam näher und tötete seine Diener. Wie ein in die Ecke getriebenes Tier heulte er auf und schlug wieder auf die Frau ein, die ihn mit einem vorsichtigen Blick bedachte.

»Es ist aus, Besetzter! Niemand wird dir helfen können, denn deine Schatten ist so gut wie geschlagen und deine Kameraden haben dir den Rücken gezeigt! Wieso gibst du nicht auf ... es ist vorbei”, schrie Akara und parierte geschickt. Man konnte deutlich erkennen, dass sie fast am Ende ihrer Kräfte war. Etwas in ihr drängte sie, ihr Feuer freizulassen, doch dies konnte sie nicht machen. Nicht, solange sie keine Kontrolle über ihre Gefühle hatte.

Als der Schattenbesetzte dies hörte, zuckte er zusammen und wusste tief in Inneren, dass die Frau recht hatte. Seine Schatten war geschlagen und seine Verbündeten musste in der Stadt umgekommen sein. Dennoch... er könnte diese Nacht überleben, wenn er aufpasste ... er musste nur diese verdammte Frau töten.

»Höre, Feuerhure! Es ist erst aus, wenn einer von uns tot auf dem Boden liegt und dieser wirst du sein. Du denkst, weil deine Kameraden meine Schatten getötet haben, hast du gewonnen. Ich sage dir, dass du irrst! Es ist jetzt nicht aus und es wird solange andauern bis einer von uns vernichtet ist... und damit meine ich nicht meinen Tod! Denn du wirst es sein, der sterben wird”, entgegnete er und lachte dabei hämisch. Das wurde das Duell fortgesetzt und man schlug wieder aufeinander ein. Dieses Mal schrie Akara auf, denn nun hatte das Schattenschwert ihre rechte Schulter zertrümmert. Der Besetzte lachte dabei und fing den Schlag von Akara ab.

Danach gab es nur noch ein Austeilen und Einstecken von Schlägen. Mal schlug Akara zu und der Besetzte musste sich wehren, ein anderes Mal schlug dann der Besetzte zu und Akara musste sich verteidigen. Und dies dauerte Minuten an, bis es zu einer Stunde wurde und es war noch immer kein Ende in Sicht.

 

Schneller, schneller, ehe ein Unglück geschieht, fuhr es durch Zhanailes Kopf und sie war froh, dass es nun mittlerweile regnete. Dies war gut, denn so hatte sie nun genügend Wasser zur Verfügung, falls doch ein unkontrolliertes Feuer ausbrechen würde. Dennoch hoffte sie, dass es nicht so weit kommen würde.

 

Es regnete in Strömen und die beiden Kämpfer waren so sehr darauf bedacht, dass keiner von ihnen ein Fehler machte. Der Besetzte zeigte nur noch eine ungezähmte Wut, wobei die Frau eher gelassen, dennoch geschafft aussah. Beide waren am Ende ihrer Kräfte, doch keiner wollte aufgeben. Schattenbesetzter und die Feuerwächterin lieferten ein Duell, das nur deswegen solange andauerte, will Akara ihre Flamme unter Kontrolle hielt. Der Besetzte jedoch glaubte daran, dass es an dem Regen lag. Daran, dass die Wächterin kein weiteres Feuer außer ihrem Schwert rufen konnte, weil die Wasserstränge zu dicht hier waren.

Soll er das glauben, was er will!

Der ganze Boden fing unter Wasser zu stehen, doch niemand wollte aufgeben. Wollte sich als schwach bezeichnen. Man kämpfte, stöhnte und verfluchte den Gegner, wobei der Schattenbesetzter heftiger war als die Frau. Und sehr unfeine Worte wurden gewechselt, sowie die Stellung im Kampf, sodass kein Sieger in Sicht war. Doch dann ...

Dann blitzte es hell auf und der Besetzte hielt seine freie Hand gegen seinen Bauch, woraus eine eklige Flüssigkeit floss. Er schrie gepeinigt auf und starrte ungläubig die Frau vor sich an. Er konnte es nicht glauben und doch musste er zugeben, dass er verloren hatte. Wut erfüllte ihn. Sein innerer Schatten sagte sich von dem sterbenden Körper los und wollte sich auf die Frau stürzten, doch diese schwang abermals Var`zar und trennte den Schatten in zwei Teile. Diese lösten sich auf.

Schwer atmend ließ sich Akara auf dem Boden fallen und sog die Luft heftig in sich ein. Sie entließ Var`zar und schloss die Augen. Sie spürte das Wasser des Regens auf ihrem Gesicht und nahm dieses willkommen an. Als sie später Schritte vernahm, verzog sie ihr Gesicht.

»Ihr habt euch aber verdammt lange Zeit gelassen!«

 

 

Teil 4

 

Innerliche Kämpfe

 

 

Erst wenn du dir bewusst bist, wo deine Treue liegt, wirst du deinen Weg erkennen, mein Freund!

 

Unbekannte Herkunft

Kapitel Zweiunddreißig

 Giftige Argumente

 

 

Selbst in der besten Familie kommt es manchmal zu Unstimmigkeiten. Doch gerade in diesen Zeiten zeigt sich, wie gut der Zusammenhalt innerhalb einer Familie ist.

 

Unbekannte Herkunft

 

Miriam Thorn beugte sich vor und zupfte vorsichtig einige Blütenblätter von einem kleinen Strauch, der seine Blüte erst Ende des Herbstes entfaltete und wenn er es tat, dann auch nur für einige Tage. Aus diesem Grund musste sie sich beeilen, sodass schon früh aufgestanden war, um die begehrten Blütenblätter einzusammeln. Dabei ergriff sie es vorsichtig am Rande, übte leichten Druck aus und riss es dann mit einer heftigen Bewegung aus seiner Verankerung. Dabei verhinderte sie, dass das Blatt riss und somit auch nicht den Saft verlor, weswegen sie sich die Mühe machte, jedes Blatt einzeln zu zupfen und in einen kleinen Korb zu legen.

Sie sah das Blatt, das sie gerade gerupft hatte, und hielt es gegen das Licht, um zu sehen, ob es auch wirklich fehlerlos war. Schon der kleinste Riss oder eine Fraßstelle würde das Blatt nutzlos für sie machen. Doch sie sah, dass es perfekt war und sie legte es zu den anderen.

Abermals beugte sie sich vor und wiederholte den Prozess. So lange, bis von der Blüte nichts mehr zu sehen war und sie suchte nach einer neuen, welche sie abernten konnte. Dabei merkte sie nicht, wie die Zeit verstrich. Dies war nicht ungewöhnlich, denn sehr oft kam es vor, dass Miriam die Zeit vergaß, wenn sie sich in ihrem kleinen Garten hinter dem Haus befand und die Zutaten für ihre Arbeit zusammensammelte.

Schnell war eine neue Blüte gefunden, welche jedoch noch nicht ganz offen war, sodass sie diese nicht beachtete. Sie merkte sich die Stelle, um sie morgen pflücken zu können und suchte weiter. Heute hatte sie schon zwanzig Blüten von insgesamt vier Sträuchern abgeerntet und war froh, dass sie nur noch zwei Sträucher vor sich hatte. Doch die Arbeit war wichtig, denn die Blüten würden am nächsten Tag schon verwelkt und demzufolge nutzlos sein, sodass sie genau an dem Tag geerntet werden mussten, wo sie voll aufgeblüht waren. Schon seit acht Tagen ging Miriam früh aus dem Haus, um diese Arbeit zu erledigen und sie wusste, dass sie es noch mindestens die nächsten zehn Tage machen musste.

Sobald die Blütenblätter abgeerntet waren, würde sie diese in einem ihrer Arbeitszimmer, welche sich im Keller befanden, in eine bestimmte Flüssigkeit legen und sie somit haltbar machen. Diese Flüssigkeit würde verhindern, dass die Blätter vertrocknen würden. Danach würde sie diese bis zu zwei Jahre später noch nutzen können … nicht, dass ihr Vorrat so lange halten würde.

Nachdem Miriam die letzte Blüte am letzten Strauch abgeerntet hatte, warf sie einen Blick in den Korb und nickte zufrieden. Genau wie in den letzten zwei Tagen war auch heute die Ausbeute sehr zufriedenstellend gewesen. Keine der gesammelten Blätter waren kaputt gegangen oder hatten Fraßspuren. Sie lief zu einem Tisch, der neben einen verzierten Brunnen stand und stellte den Korb ab. Sie würde noch etwas Zeit haben, ehe sie diese Blätter behandeln musste, sodass sie sich im Garten umsah. Als ihr Blick auf den kleinen Hof fiel, der sich direkt am Haus befand, verfinsterte sich ihr Blick. Sie konnte ihre älteste Tochter Arianne bei ihrem täglichen Training erkennen.

Miriam gefiel es nicht, dass Arianne der Meinung war, sie müsse unbedingt in der Armee eintreten und Lorantha auch noch diesen Wunsch unterstützte, machte es nicht leicht für Miriam, ihre Tochter umzustimmen.

Der Blick der Frau wurde noch finsterer als sie an ihre Schwester dachte. Seit der Versammlung hatte sie nichts mehr von ihr gehört. Sie hatte nur durch einen Zufall erfahren, dass Lorantha mit einigen Soldaten nach Ardàsk aufgebrochen war, um herauszufinden, was aus den Jeraren geworden war, die verschwunden sind. Zuerst hatte Miriam dies nicht geglaubt, denn Lorantha hatte ihr immer Bescheid gesagt, wenn sie Creusan verließ und sei es auch nur für einen Tag. Aus diesem Grund war es auch schockierend und gleichzeitig schmerzhaft gewesen, als Miriam sicher war, dass es stimmte. Ihre Schwester hatte Creusan ohne ein Wort verlassen und es stand nicht einmal fest, wann sie zurückkommen würde. Für Miriam war es nicht überraschend, dass ihre Schwester persönlich nach Ardàsk gereist war. Sie hatte sogar schon damit gerechnet, dennoch war es wie ein Schlag für sie gewesen, als sie es erfahren hatte. Sie hatte gewusst, dass Lorantha immer noch sauer auf sie gewesen war, doch dies war nicht das erste Mal, sodass sich Miriam keine Gedanken darüber gemacht hatte. Doch wie sehr wütend ihre Schwester wirklich auf sie gewesen war, wurde ihr erst dadurch bewusst, dass sie ihr keine Nachricht gegeben hatte. Etwas, was noch nie passiert war.

Die Frau wandte ihren Blick von dem Hof ab und sah sich wieder in ihren kleinen Garten um. Dass Lorantha ihre Arbeit nicht wirklich mochte, war Miriam auch bewusst, doch dass sie den Verdacht hatte, Miriam wäre nicht loyal schmerzte ihr sehr. Sie würde alles für ihre Schwester machen und hatte solche Vorwürfe nicht verdient. Es war nicht leicht für Miriam, in den Schatten ihrer Schwester zu leben, doch sie unterstützte Lorantha und hegte keinen Groll ihr gegenüber. Um jedoch auch selber etwas zu sein und auch Macht zu besitzen, hatte sie sich als Tränkemeisterin des Schwarzen Blut ausbilden lassen und arbeitete für diese Vereinigung. Dass sie jedoch für sie arbeitete, bedeutete nicht automatisch, dass sie gegenüber ihrer Schwester nicht loyal ist.

Miriam kniff die Augen zusammen. Sie verstand es einfach nicht, wie ihre Schwester auf den unsinnigen Gedanken kam, dass man den Schwarzen Blut nicht trauen durfte. Diese Vereinigung hatte geschworen dem Volk der Jerarer in dem kommenden Krieg beizustehe,n und wenn Miriam ehrlich war, dann wusste sie, dass sie diese Hilfe brauchten.

Lorantha mag ja daran glauben, dass es die Jerarer von alleine schaffen, doch ich weis es besser. Alleine werden wir nicht weit kommen und ich arbeite für das Blut, damit es uns beisteht. Wirf mit also keine Illoyalität vor. Ich mache dies alles nur für unser Volk.

Wut kam in Miriam auf und sie presste die Lippen zusammen. Sie war wütend auf ihre Schwester, dass diese tatsächlich den Gedanken hatte, Miriam wäre ihr nicht treu ergeben. Gut, vielleicht war es keine gute Idee gewesen, die Fürstin aus Drukard einzuladen, doch woher hätte Miriam wissen sollen, dass Clarisse Oysen wieder einmal vorlaut werden würde.

Du hättest sie schon längst in die Schranken weisen sollen, Schwester. Dann würde sie nicht versuchen, dir zu schaden.

Ihre Gedanken wanderten zu den Hexer Vlar`zark. Sie hatte ihn eingeladen, weil sie von ihm die Informationen von den verschwundenen Jerarer gehört hatte. Er hatte ihr alles gegeben. Die Orte, die Zahlen und die Vermutung, dass die Wächterinnen dahinterstecken mussten. Dass also Lorantha darauf reagieren konnte, hatte sie Vlar`zark zu verdanken und deswegen war es nicht fair von ihr, dass sie ihn misstraute. Zwar verstand Miriam, dass Lorantha nach seinen Worten wütend auf den Mann gewesen war und sie würde mit Vlar`zark noch einmal darüber reden müssen, doch dass ihre Schwester es so übertrieb, hatte sie nicht vermutet. Dennoch würde sie sich hüten, diesen Hexer wieder einzuladen, wenn ihre Schwester eine neue Versammlung wollte und nicht ausdrücklich nach ihm verlangte.

Ich bin unserem Volk treu, Lorantha!

Die Wut in Miriam wich abermals Schmerz. Scherz darüber, dass die eigene Schwester ihr misstraute und ohne ein weiteres Wort nach Ardàsk aufgebrochen war. Doch was bedeutete dies? Sollte sich Miriam nun bei ihr entschuldigen? Dafür, dass sie das Richtige getan hatte?

Nein … es gibt nichts, wofür ich mich entschuldigen müsste. Lorantha wird es erkennen und sich schon wieder melden.

Miriam ergriff den Korb mit den Blütenblättern und ging in das Haus. Sie kam dabei an der Küche vorbei und warf einen Blick hinein. Außer dem Koch und seine Helfer, befand sich Khileisa in dem Raum.

Miriam runzelte die Stirn, als sie ihre jüngste Tochter sah. Sie war erleichtert, dass es Khileisa wieder besser ging und dennoch enttäuscht, dass ihre Tochter immer noch darauf beharrte, sie wäre nicht an ihre Tränke gegangen. Durch diese Behauptung sorgte sie dafür, dass Arianne und Tanata sich die haarsträubendsten Verschwörungen ausdachten, welche sie sogar Lorantha mitgeteilt hatten. Wie etwa ein Anschlag auf Khileisas Leben. Miriam würde solche Verdächtigungen ernst nehmen, denn sie liebte ihre Tochter ihr, doch sie kannte Khileisa sehr gut. Sogar so gut, dass sie es ihr zutrauen würde, einen der Tränke zu nehmen, nur um nicht an ein Fest teilnehmen zu müssen.

Es hatte Miriam geschmerzt ihre Tochter unter Schmerzen zu sehen, doch sie war nicht bereit gewesen, nachzugeben. Khileisa muss lernen, dass das Leben nicht immer nach der eigenen Meinung geht. Aus diesem Grund hatte sie, nachdem sie sicher war, dass ihre Tochter keinen tödlichen Trank genommen hatte, einfach abgewartet, bis der Trank seine Wirkung verlor. Sie hoffte, dass es für Khileisa eine deutliche Warnung war und das Kind nicht wieder so etwas machen würde.

In dem Haus gab es nicht viele Regeln für ihre Kinder, doch eine der wenigen, die existierten, war die Räume im Keller verboten waren und vor allen die Tränke, die Miriam für ihre Arbeit herstellte. Arianne hielt sich daran, Tanata ebenfalls, doch wie es aussah, hielt sich Khileisa nicht daran. Für einen Moment war Miriam versucht ihre Tochter zu bestrafen, doch als sie diese in der Küche stehen sah, schüttelte sie den Kopf. Khileisa hatte schon genug schmerzen durch litten und dies war Strafe genug. Das Kind würde sicher nicht noch einmal so eine Aktion starten. Da war sich Miriam sehr sicher. Sie wandte sich von der Küchentür ab und begab sich zu der Tür, die zur Kellertreppe führte. Sie blieb davor stehen und betrachtete das dunkle Holz der Tür genau. Ihr Blick fiel dabei auf die Klinge. In ihr kam der Gedanke auf, dass es vielleicht sicherer wäre, wenn sie ein Schloss anbringen würde. Dann würde dies mit aller größter Sicherheit nicht nochmal so etwas passieren. Innerlich machte sie sich eine Notiz und öffnete dann die Tür.

Während sie die Treppe zum Keller runterging, dachte sie wieder an ihre Schwester und an die Abneigung, die Lorantha gegen ihre Arbeit hatte. Dabei war Miriam sehr gut in ihrer Arbeit und eine der besten Tränkemeisterinnen, die das Schwarze Blut besaß. Es war für Miriam nicht einfach gewesen, sich einen guten Ruf zu erwerben und wenn sie genauer darüber nachdachte, dann hatte sie es getan, um ihre Schwester zu beeindrucken. Um dafür zu sorgen, dass Lorantha stolz auf sie sein würde … dennoch, je mehr Miriam darüber nachdachte, desto sicherer war sie sich, dass sie das Gegenteil erreicht hatte. Lorantha verabscheute die Foltermethoden, mit denen man eine Wächterin brach und sie misstraute das Schwarze Blut.

Doch ich muss wirklich die Frage stellen, wem deine Loyalität gehört, Schwester? Ist es unser Volk, oder ist es das Schwarze Blut.

Abermals durchfuhr Miriam Schmerz. Sie hätte nie, aber auch nie gedacht, dass sich ihre Beziehung zu Lorantha so ändern würde. Mit diesen Worten hatte Lorantha deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihr nicht mehr vertraute und wo sollte das Ende, wenn nicht einmal die eigene Schwester an einen glaubte.

Und nun ist sie ohne ein weiteres Wort nach Ardàsk aufgebrochen … verdammt, ich weis nicht einmal, wie es ihr geht. Und was soll ich den Kindern sagen? Sie haben immer wieder danach gefragt, warum ihre Tante sie nicht mehr besuchen kommt. Ich sollte ihnen sagen, dass Lor sich nicht mehr in Creusan aufhält, doch dann werden sie wissen wollen, warum ich es ihnen nicht eher gesagt habe. Ich will nicht, dass sie von unseren Streit erfahren … davon, dass Lorantha mir nicht mehr vertraut.

Als Miriam eine helle Tür mit einem eingebrannten Zeichen erreichte, blieb sie stehen und atmete tief durch. Sie sollte sich keine weiteren Gedanken darüber machen. Lorantha war nicht mehr in der Stadt und wenn sie dann zurückkommt, dann kann sie sich überlegen, was sie machen sollte. Jetzt jedoch gab es wichtigere Dinge zu erledigen. Morgen würden die ersten Wächterinnen kommen, welche sie brechen sollte und bis dahin musste sie noch einige Dinge vorbereiten.

Sie ging in das Zimmer und stellte den Korb mit den Blütenblättern auf einen Tisch. Danach entzündete sie eine Laterne, um Licht zu haben und schloss die Tür zu ihrem Arbeitszimmer.

 

Arianne verbeugte sich vor ihrem Lehrmeister und richtete sich wieder auf. Schweiß stand auf ihrer Stirn und sie nahm ein Tuch, das auf einem Stuhl am Rande des Hofes stand, gelegen hatte und wischte sich damit ab. Ihr Blick fiel dabei auf dem Garten ihrer Mutter, der etwas entfernt lag und sie runzelte die Stirn. Während des Trainings hatte sie mitbekommen, wie ihre Mutter sie beobachtet hatte. Arianne störte dies nicht, doch sie war es nicht gewohnt, denn ihre Mutter hatte ihre Abneigung immer deutlich zum Ausdruck gebracht.

Ganz anders als Tante Lor … Ich frage mich, wann sie uns endlich wieder besuchen kommt.

Arianne seufzte. Sie wusste sich nicht, wann es das letzte Mal gewesen war, dass ihre Tante länger als fünf Tage nicht zu Besuch bekommen war. Sicher, manchmal war sie länger weg, aber dann nur, wenn sie außerhalb der Stadt war, doch dies war ja jetzt nicht der Fall.

Oder vielleicht doch? Mutter ist wegen irgendetwas wütend auf Tante Lor … ob sie sich gestritten haben?

Es kam sehr oft vor, dass es Meinungsverschiedenheiten zwischen ihrer Mutter und ihrer Tante gab, doch diese haben nicht lange angedauert. Meistens war ihre Tante ein-zwei Tage später wieder auf das Anwesen gekommen und hatte sich mit ihrer Schwester ausgesprochen. Nun jedoch war Lorantha seit fast fünfzehn Tagen nicht mehr auf hier gewesen.

„Ari … träumst du“, ertönte eine fragende Stimme und Arianne zuckte zusammen. Sie drehte sich um und erkannte Tanata, die zu ihr getreten war. Arianne schalt sich, dass sie es nicht bemerkt hatte. Es konnte gefährlich sein, wenn sie ihre Umgebung vergaß. Vor allen, nachdem es einen Anschlag auf Khileisa gegeben hatte.

Mutter glaubt dies immer noch nicht, aber Tanata ist derselben Meinung wie ich.

Sie lächelte ihre Schwester an. „Nein, ich träume nicht. Ich habe gerade an Tante Lor gedacht und mich gefragt, wann sie wieder mal hierherkommt.“

Tanata sah sie überrascht an, ehe ein verstehender Blick in ihre Augen trat. „Ja … das habe ich mich die letzten Tage auch gefragt. Ob sie böse auf uns ist?“

Arianne schüttelte den Kopf. „Wieso sollte sie dies sein? Nein, wir haben nichts getan, damit sie böse auf uns sein kann, aber …“ Sie hielt inne, doch der Blick ihrer Schwester sagte ihr, dass sie nicht diesen Satz unbeendet lassen würde. Sie seufzte. „Aber es könnte sein, dass sie vielleicht mit Mutter einen Streit hatte. Du weist schon … erst die Sache mit Khileisa und dann die Ereignisse auf dieser Versammlung. Tante Lor war wirklich anschließend wütend gewesen und beide haben sich noch unterhalten, ehe Tante Lor gegangen ist.“

„Aber … aber sie haben öfters Streit und niemals hat es so lange angedauert.“ Tanata war nicht überzeugt. „Vielleicht hat sie einfach auch nur zu viel zu tun … und sie weis, dass Mutter ebenfalls viel Arbeit hat, weil sie ja morgen neue … Gäste bekommt.“

Arianne verzog ihr Gesicht, als sie dies hörte. Gäste war der falsche Ausdruck und das wusste auch Tanata. Die Frauen, die morgen ankommen würden, waren Gefangene und ihre Mutter würde sie quälen. Manchmal, wenn es ganz leise im Haus war, konnte Arianne die verzweifelten Schreie der Frauen hören. Warum muss Mutter auch im Keller arbeiten? Arianne verstand dies nicht. Sie sagte nichts direkt gegen ihre Mutter und kritisierte auch nicht ihre Arbeit, doch sie verstand es einfach nicht, dass ihre Mutter im Haus arbeiten musste. Dort, wo ihre Kinder aufwuchsen und man öfters die Schreie hören konnte. Sicher, der Keller und der Behandlungsraum waren so gelegen, dass in den oberen Etagen kaum etwas zu hören war, doch manchmal kam es dennoch vor, dass Schreie durchdrangen.

Immer wenn Khileisa diese dann hörte, verkroch sie sich zu ihrer ältesten Schwester und Arianne versuchte dann, sie abzulenken. Lawarn war zu jung, um wirklich zu verstehen, was geschah und Tanata selber … ihre mittlere Schwester war von dem Beruf ihrer Mutter fasziniert. Dies war etwas, was Arianne nicht verstehen konnte.

„Wenn das so ist, dann ist es kein Wunder, dass Tante Lor nicht vorbeikommen will … immerhin mag sie nicht Mutters Beruf“, sagte Arianne langsam, doch schüttelte dann den Kopf. „Aber diese Gäste kommen doch erst morgen … doch Tante Lor ist seit zehn Tagen nicht mehr hier gewesen … sie hat ja nicht einmal eine Nachricht geschickt und Mutter redet von ihr nicht … nicht seit der Versammlung. Nein, ich glaube, dass die beiden einen Streit hatten.“

Tanata sah immer noch skeptisch drein, doch sie widersprach nicht. Vielleicht war es ihr selber bewusst und sie wollte es nur nicht offen sagen. Sie verschränkte die Arme und sah zum Haus.

„Was für eine Stimmung … Mutter ist wütend auf Khil, weil sie immer noch schweigt. Khil ist verzweifelt, weil Mutter ihr nicht glaubt und nun soll Mutter mit Lor einen Streit gehabt haben …“ Sie sah zu Arianne. „Fehlte nur noch, dass wir uns streiten … dann ist der Familiensegen perfekt.“

Arianne legte einen Arm und ihre Schwester. „Sag so etwas nicht … das wird sich schon alles geben. Khil geht es wieder gut, und falls die Erwachsenen Streit gehabt hatten, dann werden sie sich auch wieder vertragen. Du weist doch, wie sehr Mutter ihre Schwester liebt … lange werden sie also nicht wütend aufeinander sein.“

„Ja vielleicht“, erwiderte Tanata leise und lehnte ihren Kopf gegen die Schulter ihrer Schwester. „Aber ich mag es nicht, wenn die beiden sich streiten. Dann kommt Tante Lor uns nicht besuchen … und ich mag sie sehr.“

Da bist du nicht die Einzige!

Arianne umarmte ihre Schwester. „Komm … lass uns zu Khil gehen. Sie wird eine Aufmunterung brauchen, nachdem sie nun so lange krank gewesen war.“

Tanata nickte. Gemeinsam gingen die beiden Schwestern in das Haus hinein. Als sie dann an der Kellertür vorbeikamen, verzog sich für kurze Zeit ihr Gesicht. Sie freute sich überhaupt nicht, dass ihre Mutter morgen neue Opfer bekommen würde.

Hoffentlich brechen die Frauen schnell … dass ist besser für sie und auch besser für uns.

 

Kapitel Dreiunddreißig

 Stellung in Siveas Spitzen

 

Siveas Spitzen ist ein Gebirge, dass sich in der Nähe von dem See Siveas Wasser und demzufolge im Land Ardàsk befindet. Wer die Person Sivea war, weis heute niemand mehr, doch einige vermuten, dass es sich um einen Herrscher handeln musste, der seinen Namen verewigen lassen wollte. Das Gebirge selber ist nur spärlich bewohnt und einige Bewohner glauben, dass dies auch der Grund ist, warum die Herrscher sich nicht allzugut um sie kümmern. Doch abgesehen von der unköniglichen Einstellung, ist Siveas Spitzen ein Ort, den man auch mal aufsuchen sollte. Das Gebirge besitzt viele verborgene Täler, die noch unberührt sind und deswegen eine Natur besitzen, die atemberaubend ist. Dennoch sollte man nicht alleine die Berge bewandern, denn immer wieder verschwinden Personen und niemand kann sagen weshalb …

 

Ausschnitt aus dem Werk „Die Länder auf dem Kontinent Shargariden,

von Abran Klaytos

 

 

Die Plane am Eingang des Zeltes raschelte, als Lorantha in ihre zeitweilige Behausung trat und sich finster umsah. Das Zelt war groß, war durch Planen in drei Abschnitte geteilt und dennoch hatte sie das Gefühl, das es hier eingeengt war. In dem einen Abschnitt stand ein großer Arbeitstisch, auf den mehrere Karten der Umgebung und einige Dokumente lagen. Ein einfacher Klappstuhl stand vor dem Tisch, doch dieser war aufgrund des unebenen Boden wacklig, sodass Lorantha sich selten darauf niederließ. Neben dem Tisch an der Seite der Zeltplane befanden sich mehrere Truhen, in die Rechte Hand ihre Arbeitssachen aufbewahrte. Hinter einer Plane gelangte sie zu dem Platz, wo sich ein großer Spiegel und andere Truhen mit ihren Kleidern befanden und hinter der anderen Abdeckung stand ein einfaches Holzbett, welche eine dünne Matratze besaß. Die Frau war sich sicher, dass sie die einzige im Lager war, die eine Strohmatratze fürs Schlafen hatte. Ein Zugeständnis ihres Ranges. Auch hatte sie wohl die Weichesten Kissen, die man hatte finden können und die wärmsten Decken, denn niemand im Lager wollte, dass sie sich unwohl fühlte. Denn eine Rechte Hand, die schlecht geschlafen hatte, war eine reizbare Hand und ließ gerne ihre Launen an die Soldaten aus.

Lorantha durchquerte ihr Zelt, bis sie bei dem Tisch war, und starrte missmutig auf diesen. Sie nahm einige Dokumente, sortierte sie, ehe sie das fand, was sie gesucht hatte. Es war nur ein kleines Stück Papier, wo eine schnelle Nachricht hin gekritzelt worden war.

 

Die Adler-Stellung musste aufgegeben werden! Wurden von Schatten überrannt. Sind auf dem Rückweg! Hochachtungsvoll Adran Lorsen

 

Diese Nachricht war nun vier Tage alt und mittlerweile hätte Hauptmann Adran und seine Männer schon längst wieder im großen Lager sein müssen. Doch das Fehlen von ihnen sagte Lorantha, dass etwas passiert sein musste. Hatten sich die Soldaten nicht rechtzeitig zurückziehen können und waren von den Schatten getötet worden? Oder mussten sie einen Umweg nehmen, um eventuelle Verfolger abschütteln zu können? Lorantha wusste keine Antwort darauf und dies machte sie wütend.

Sie legte die Nachricht wieder auf dem Tisch und nahm stattdessen eine andere. Diese war länger und stammte von einer Patrouille von fünf Soldaten, die an einer anderen Position Stellung bezogen hatten und ein Gebiet beobachteten, wo mehre Jeraren verschwunden waren. Bisher jedoch hatten die Männer keine besonderen Entdeckungen machen können und demzufolge fiel auch der Bericht für Lorantha langweilig aus. Sie seufzte tief und legte auch diesen Bericht zurück.

Insgesamt waren Lorantha und die Kompanie schon seit fünfzehn Tagen hier im Gebirge und bisher hatte sich nichts Außergewöhnliches ereignet. Vielleicht sollte Lorantha froh darüber sein, doch sie selber hatte das Gefühl, auf Kohlen zu sitzen. Sie wusste, dass die Fürsten auf eine Erklärung warteten, wohin das Volk der Jerarer verschwand und unruhig wurden. Nachdem Lorantha von den niederen Hexer Vlar`zark auf der Versammlung bloßgestellt worden war, waren sehr viele Adlige unsicher ihr gegenüber. Diejenigen, die auf der Versammlung waren, hatten dies befreundete Familien erzählt und so war die Nachricht wie ein Lagerfeuer im jerarischen Adel ausgebreitet: Die Rechte Hand hat sich von einen niederen Hexer in die Ecke treiben lassen und sich nur durch die Hilfe ihrer Schwester retten können.

Lorantha presste die Lippen zusammen und fragte sich abermals, ob es das Bündnis mit Adain Draken Wert war, dass sie sich diese Bemerkungen gefallen lassen musste. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie diesen Hexer hätte hinrichten lassen.

Vielleicht werde ich dies auch machen, wenn ich wieder zurück in Creusan bin.

Als Lorantha an Creusan dachte, musste sie automatisch auch an ihre Schwester denken, die sich dort aufhielt und wahrscheinlich immer noch wütend auf sie war. Lorantha selber war dies und sie hatte vor, sich an ihren Vorsatz zu halten. Sie würde nicht die Erste sein, die zurückkommt und um Verzeihung bittet. Letztendlich war es Miriams Schuld gewesen, denn sie hatte den Hexer und auch Clarisse Oysen zur Versammlung eingeladen. Wären beiden nicht anwesend gewesen, dann würde es keine Gerüchte geben und Loranthas Position wäre nicht in Wanken geraden. Doch trotz, dass Lorantha wütend auf ihre Schwester war, fragte sie sich, ob es von ihr nicht übertrieben war, dass sie ihrer Schwester einen Mangel an Loyalität unterstellt hatte. Miriam war zwar Mitglied des Schwarzen Blutes, doch noch viel länger war sie eine Jerarerin.

Wie konnte es so weit kommen?

Es schmerzte Lorantha im Inneren, das sie in Streit Creusan verlassen hatte, und fragte sich immer wieder, ob es gut gewesen war. Nicht mehr lange und die Jerarer werden sich erheben. Dann werden die im geheimen ausgebildeten Armeen losschlagen und die Welt ins Chaos stürzen. Niemand konnte wissen, was dann geschah und Lorantha ahnte, dass es sehr gefährlich werden würde. Was ist, wenn etwas passierte und sie hatte sich nicht mit ihrer Schwester wieder vertragen können? Das ist eine Frage, die sie sich immer wieder stellte. Doch dieses Mal wollte sie hart bleiben. Sie würde nicht auf Miriam zugehen. Sollte Miriam merken, dass sie einen Fehler gemacht hatte und einsehen, dass was der Preis ist, wenn sie sich zu sehr mit dem Schwarzen Blut identifizierte. Lorantha blickte auf einen Brief, den sie halb geschrieben hatte und dachte nach. Es war eine Nachricht für ihre Nichten und selbst ihr Neffe hat sie darin angeschrieben, doch kein einziges Mal erwähnte sie einen Gruß an ihre Schwester. Sie war sich unsicher, ob sie diese Nachricht losschicken sollte. Ihr gefiel der Gedanke nicht, dass sie aufgrund ihres Streits mit Miriam noch weniger Kontakt zu ihren Nichten haben würde. Dennoch kam es ihr wie Verrat vor, wenn sie den Kindern schrieb und dabei Miriam ignorierte. Vor allen war es unfair gegenüber den Kindern. Sie wollte nicht, dass diese sich hin und her gerissen fühlen.

Ein Seufzer entfuhr der Frau und sie wandte sich vom Tisch ab. Mit schnellen Schritten verließ sie ihr Zelt wieder und trat hinaus. Ein kalter Wind erfasste sie und sie zog ihren Mantel enger, während sie ihn zuknöpfte. Mit unlesbarem Blick sah sie sich im Tal um, dass versteckt in Siveas Spitzen lag. Es war nicht besonders groß, doch wurde durch einen kleinen Fluss durchzogen, der für ausreichend Trinkwasser sorgte, und war aufgrund seiner Stellung relativ windgeschützt. Dennoch kam es vor, so wie heute, dass ein eisiges Lüftchen durch die zerklüfteten Berge zog und Kälte mitbrachte. Eine Kälte, die den kommenden Winter andeutete.

Lorantha sah zu einem Pass, der in der Nähe war, und kniff die Augen zusammen, um ihn besser erkennen zu können. Vor vierzehn Tagen waren die Soldaten und sie durch diesen in das Tal gekommen und außer diesen Pass gab es nur noch einen zweiten, sodass das Lager hier nicht überraschend angegriffen und wenn doch, dann gut verteidigt werden konnte. Doch wer sollte sie schon angreifen? Niemand in Ardàsk wusste von dem Lager hier, außer einigen jerarischen Fürsten. Selbst das Schwarze Blut wusste nicht genauen Standort. Zor`zeirn wusste zwar, dass sie in Siveas Spitzen lagerten, doch wo genau, dass hatte sie ihm nicht geschrieben.

Ihr Blick ging von dem Pass und sie sah zu einem kleinen Felsvorsprung, der etwas erhöht lag. Dort stand ein großer Tisch … viel größer, als der in Loranthas Zelt und um ihn herum konnte die Frau drei Gestalten erkennen. Sie runzelte die Stirn und machte sich auf dem Weg dorthin.

Jeder Soldat, an dem sie vorbei kam, hielt in seiner Arbeit inne und verbeugte sich schnell. Die meisten hatten dabei einen unsicheren Blick aufgesetzt und atmeten erleichtert auf, wenn Lorantha an ihnen vorbeigegangen war.

Wenigsten ist meine Stellung hier im Lager nicht ins Wanken geraden.

Wie immer ignorierte sie die Männer und sah nur zwei Mal genauer hin, wenn sie merkte, dass es sich bei den Soldaten um Frauen handelte. In Pendrill`s Kompanie, die er mitgenommen hatte, waren insgesamt nur elf Frauen. Elf Frauen unter knapp zweihundertfünfzig Männer, was Lorantha vieles sagte. Zum einen, dass diese Soldatinnen es wussten, wie sie sich verteidigen konnten und dass sie für ihr Volk alles in Kauf nahmen, damit es sich endlich befreien konnte. Sie war stolz auf diese elf Frauen, auch wenn sie es nicht offen sagte.

Für den Weg zu dem Felsvorsprung brauchte sie nicht lange und kurz darauf trat sie an dem Tisch. Auf diesen war eine Karte von den Westen des Landes Ardàk aufgemalt und sogar teilweise eingeritzt. Eine Karte zu nutzen, würde nicht viel helfen, denn der Wind würde sie immer wieder davontragen. An der einen Seite des Tisches stand Pendril Fotgarn. Im Gegensatz zu den Treffen, die sie immer in der Kaserne hatten, trug er hier im Lager einen Teil seiner Rüstung. Wegen der Kälte trug er einen gut gepolsterten Gambeson und zum Schutz, falls es doch zu einem Angriff kommen sollte, einen Kettenhemd. Dies war es dann aber auch schon, denn der Rest würde ihm – so wie er es immer sagte – nur stören und solange kein Angriff passieren würde, würde er die anderen Teile nicht tragen. Etwas entfernt im Schatten eine Felsens stand ein junger Soldat, der Pendrils Adjutant war und ein Sack mit dem Rest der Rüstung trug. Armschienen, Beinschienen, Schulterschutz und Helm. Im Gegensatz zu Pendril trug der Soldat nur eine leichte Lederrüstung, die schon sehr ramponiert aussah. Lorantha runzelte die Stirn, als sie dies erkannte und fragte sich, ob der Soldat schon alt genug war, um eine Schlacht erlebt zu haben. Vielleicht sah die Rüstung aber auch nur so aus, als sie schon alt und von anderen benutzt war. Doch solange sie noch ihren Zweck erfüllte, würde sie in Benutzung sein.

Neben Pendril stand ein älterer Soldat, in dessen Gesicht eine große Narbe zu erkennen war und Lorantha brauchte eine Weile, ehe sie sich an den Namen des Mannes erinnerte: Harkon Gorden. Sie hatte schon einiges von ihm gehört und wusste, dass er Pendrils Favorit war. Harkon besaß den Rang eines Hauptmannes und den Ruf, dass er gewissenhaft und mit Ehre kämpfte. Er selber soll schon in der creud`vanschen Armee gekämpft haben, ehe er sich seines Erbe erinnert hatte und sich der Armee nur für die Jeraren angeschlossen hatte. Genauso wie Pendril trug der Mann einen Gambeson und Kettenhemd, doch an seinen Gürtel hing ein einfacher Helm, den er leicht ergreifen konnte, falls ein Angriff stattfinden würde.

Die dritte Person im Bunde war – Lorantha riss die Augen auf – die Fürstin Henriette Gallarn, welche auch bei der Versammlung gewesen war. Diese Frau trug einen dicken Umhang und war nicht gerüstet, was Lorantha auch nicht wirklich überraschte.

Irgendwie sieht sie fehl am Platze aus.

Sobald alle drei Personen die Rechte Hand erblickt hatten, verbeugten sich die Männer und Fürstin Gallarn knickste, wobei sie versuchte einen erfreuten Gesichtsausdruck aufzusetzen. Loranthas Laune verdüsterte sich, als diese Frau betrachtete, denn irgendjemand musste daran Schuld tragen, dass auch hier im Wesen von Ardàk das Gerücht aufgekommen ist, dass die mächtige eisige Rechte Hand sich von einem niederen Hexer hatte bloßstellen lassen. Lorantha besaß zwar keinen Beweis, doch sie war sich ziemlich sicher, dass Henriette Gallarn etwas damit zu tun hatte.

Lorantha nickte den beiden Soldaten grüßend zu und wandte sich dann ganz zu der Fürstin, die etwas bleich wurde. Wusste sie, dass Lorantha sie im Verdacht hatte?

„Fürstin Gallarn, ich muss sagen, ich bin überrascht, sie hier anzutreffen? Ich dachte, sie wollen erst in fünf Tagen hierherkommen?“ Lorantha hatten einen freundlichen Ton aufgesetzt, denn sie hatte keine Lust, sich mit dieser Frau zu streiten. Vor allen dann nicht, wenn sie sich quasi in ihrem Gebiet aufhielt. „War die Reise hierher anstrengend gewesen?“

Im Grunde genommen war dies eine dumme Frage, denn Lorantha wusste, dass die Reise in dieses Tal nicht angenehm für jemanden ist, der Luxus gewohnt war. Und zu dieser Art Frauen gehörte auch Henriette Gallarn, obwohl sie hier im Westen des Landes zuhause war. Doch dies bedeutete nicht, dass sie gleichzeitig auch im Gebirge freudig reiste. Dafür hatte sie ihre Untergebenen. Deswegen war Lorantha auch so verwundert, dass diese Frau eher da war, als gedacht. Henriette Gallarn sah nervös aus, obwohl die Rechte Hand keine hinterhältige Frage gestellt hatte. Sie warf immer wieder einen Blick zu den beiden Männern, ihre Schultern zusammensackten und sie einen betretenden Blick aufsetzte.

„Die Reise war angenehm. Jedenfalls so angenehm, wie eine Reise im Herbst durch das Gebirge sein kann, doch der Grund für die Reise ist nicht angenehm“, sagte sie leise und schwieg dann. Es war ihr deutlich anzusehen, dass sie sich nicht darauf freute, weiterzusprechen. Lorantha wartete dennoch einige Herzschläge, ob die Fürstin vielleicht doch noch den Mut zum Weitersprechen fand, doch als nichts kam, hob sie eine Augenbraue. „Und was ist der Grund, wenn ich nachfragen darf?“ Dabei betonte sie das Wort nachfragen und machte somit ihre Missbilligung deutlich, dass sie überhaupt dazu aufgefordert war.

Henriette zuckte zusammen, als hätte man sie geschlagen und ihr Gesicht wurde bleich. „Es sind Gerüchte aufgetaucht, dass weitere zwanzig Jeraren verwunden sind, wobei ich bei drei Fällen es sicher sagen kann. Diese drei gehörten zu meinem Gefolge und niemand hat sie seit drei … mittlerweile wohl acht Tagen gesehen.“

Obwohl die Nachricht schlecht war, kam in Lorantha so etwas wie Hochachtung auf. Mit dem letzten Zusatz hatte Fürstin Gallarn ihr mitgeteilt, dass sie die Reise von ihren Anwesen bis hierher in fünf Tagen zurückgelegt hatte. Um dies zu bewerkstelligen, musste diese Frau fast den ganzen Tag und Nacht gereist sein. Eine Anstrengung, die die meisten Adligen immer umgingen. Dies zeigte Lorantha, dass die Fürstin ihre Aufgabe ernst nahm und dass sie sogar die Nachricht persönlich überbrachte, ließ Lorantha ihren Groll etwas besänftigen. Vielleicht ist diese Frau doch zu etwas nütze … Nicht, dass Lorantha vorhatte, dies laut auszusprechen.

„Zwanzig Jeraren“, wiederholte Lorantha und sah dann zu der Karte. „Und wo genau sind sie verschwunden?“

Gallarn trat an den Tisch und deutete auf drei verschiedene Stellen, wobei eine Stelle sich in der Stadt befand, wo sich das Anwesen der Gallarn und eine zweite sich direkt im Gebirge befand. Diese zweite Stelle sah sich Lorantha genauer an. Sie runzelte die Stirn.

„Warum waren um diese Jahreszeit die Personen dort“, fragte sie und zeigte auf die betroffene Stelle. In deren Umgebung gab es außer Gestein gar nichts. Die geheimen Trainingsplätze der Armee lagen dort nicht und auch keine andere Siedlungen.

Ein nachdenklicher Ausdruck erschien auf Henriettes Gesicht und sie mehr Zeit verging, desto bleicher wurde sie. Sie schien keine Antwort zu finden und fürchtete sich wohl vor der Reaktion ihrer Vorgesetzten.

„Ich … ich vermute, dass sie vielleicht auf dem Weg nach Rinsert waren“, sagte sie langsam und unsicher. Der Ort, den sie nannte, war ein kleines Dorf, das sich im Gebirge befand und nur von Jeraren bewohnt wurde. Und es war die Siedlung, die sich am nächsten der Stelle befand, wo einige Jerarer verschwunden waren.

Lorantha betrachtete die Karte und fragte sich, ob dies stimmen konnte. Sie wusste, dass Rinsert wenige Bewohner hatte und deswegen kaum beachtet wurde … jedenfalls kaum von der ardàskschen Seite. Die Jerarer jedoch kümmerten sich um alle Orte, wo auch nur einer von ihnen lebte.

Nachdenklich tippte die Rechte Hand mit dem Zeigefinger auf ihre Lippen und runzelte die Stirn.

Waren sie auf dem Weg nach Rinsert, oder wollten sie etwas anderes? Und wenn ja, was haben sie dort gemacht und was ist mit ihnen passiert?

Sie sah Henriette wieder an. „Was ist mit dem Schatten. Sind diese dort aufgetaucht, wo die Personen verschwunden sind?“

Sollte diese Frage mit Ja beantwortet werden, wusste Lorantha, dass die Wächterinnen etwas damit zu tun hatten und dann würde es einfacher für sie sein, direkte Befehle zu geben.

„Nein, Herrin“, sagte Henriette kopfschüttelnd. „Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Mit Sicherheit kann ich es auf meinen Anwesen verneinen und auch in dem Dorf Eirn. Doch was auf den Ort im Gebirge zutrifft … da kann ich es nicht sicher sagen … man hat nur einen Rucksack gefunden und ansonsten nichts und dieser Rucksack musste schon tagelang dort gelegen haben.“

Dies war eine Antwort, die Lorantha überhaupt nicht gefiel und sie sah immer noch stirnrunzelnd die Karte an. Ihr war so, als würde sie etwas übersehen.

„Diese Schattensichtungen … sind sie überall dort aufgetaucht, wo auch die Personen verschwunden sind, oder auch an Orten, wo es keine Jeraren gibt?“

Abermals dachte Henriette Gallarn nach, ehe sie zu einer Antwort ansetzte. „Sowohl also auch. Sehr viele Schattenangriffe gab südlich der Hauptstadt Jahalat und einige hier im Gebirge.“ Sie hielt inne und riss dann die Augen auf. „Wenn ich genauer darüber nachdenke, dann werden nur die Vermisstenfälle im Gebirge mit den Schatten in Verbindung gebracht. Überall sonst, hieß es, dass sie einfach spurlos verschwunden sind.“

Lorantha erkannte aus den Augenwinkeln, dass Pendril etwas bleicher wurde, als er dies vernahm und Lorantha konnte sich schon vorstellen, woran das lag. Seine Kompanie war hier im Gebirge und nun heißt es, dass nur hier die Schatten auftauchten und woanders im Westen nicht. Dies bedeutete, dass sie sich direkt bei der Gefahr befanden und einige der Patrouillen, die unterwegs waren, hatten keine Erfahrung in dem Kampf gegen Schatten.

Lorantha musste an die kurze Nachricht von Hauptmann Adran Lorsen denken und dass seine Stellung von Schatten angegriffen worden waren und sie überfällig waren. Die Rechte Hand hielt inne und kniff die Augen zusammen. Diese Soldaten waren überfällig … mit anderen Worten, man konnte sie vielleicht auch als vermisst melden.

Verdammt! Jetzt verschwinden sogar meine eigenen Soldaten.

Sie legte ihre Hand auf die Stelle, wo sich die sogenannte Adler-Stellung befunden hatte und verglich sie dann mit Orten, wo in Siveas Spitzen Personen verschwunden waren. Sie sah zu Henriette.

„Ich will, dass du Kommandant Pendril alle Orte nennst, wo Schatten gesichtet worden sind und dafür sorgst, dass er auch über zukünftigen Sichtungen sofort informiert wird.“ Sie wartete ein Nicken der Fürstin ab und sah dann zu Pendril. „Ich vermute, dass Hauptmann Lorsen und seine Männer dieser Sache ebenfalls zum Opfer gefallen sind und möchte, dass ein Suchtrupp zusammengestellt wird.“

Der Kommandant nickte und wandte sich Harkon, der schweigend die Karte betrachtete und bisher nichts gesagt hatte. „Hauptmann Gorden, du wirst einige deiner Leute abstellen und ihnen diesen Auftrag übergeben. Dabei möchte ich, dass sowohl erfahrende Soldaten dabei sind, aber auch welche von den Rekruten, damit sie etwas mehr Praxiserfahrung haben können!“

Harkon Gorden salutierte, nickte der Rechten Hand kurz zu und drehte sich um, um den Befehl Folge leisten zu können. Nachdem der Soldat verschwunden war, betrachtete Lorantha wieder die Karte.

Irgendetwas übersehe ich … doch was?

Sie stutzte, als ihr ein Gedanke kam, und wandte sich wieder an die Fürstin. „Wo befinden sich Tempel von den sogenannten Wächterinnen?“

Falls Henriette Gallarn von dieser Frage überrascht war, ließ sie es sich nicht anmerken, sondern deutete auf einige Stellen auf der Karte. Pendril dachte mit und zeichnete mit einem Kohlestift ein kleines Dreieck an jeder betroffenen Stelle, sodass niemand vergessen konnte, wo sie sich befanden. Lorantha kniff die Augen wieder zusammen, als sie das Endprodukt sah.

Genau wie ich vermutet habe.

Im und um dem Gebirge Siveas Spitzen gab es keinen Tempel der Wächterschaft. Der nächstgelegene befand sich an den Fluss Reanel und war knapp dreihundert Ritte entfernt … was eine Reise von ungefähr sieben Tagen war. Zwar gab es einen Dreibogen im Gebirge, doch von diesen kannte kaum jemand etwas, denn er befand sich im Besitz der Jeraren und wurde von ihnen auch überwacht. Kein Tempel war in der Nähe … in den Dörfern und Städten lebten zwar öfters Wächterinnen, doch um Schatten zu rufen, musste man einen Riss erschaffen und dazu benötigte man einige Wächterinnen … zwei-drei alleine konnten dies nicht vollbringen und in Siveas Spitzen hielten sich, soweit Lorantha wusste, nur zehn Wächterinnen auf, die jedoch in unterschiedlichen Siedlungen lebten. Lorantha hatte erfahren, dass diese ihre Siedlungen seit Monden nicht mehr verlassen hatten. Demzufolge konnten diese nicht an den Schattenangriffen Schuld tragen, oder?

Sind vielleicht fremde Wächterinnen hier im Gebirge?

Lorantha wusste es nicht, und auch wenn sie die Wächterschaft nicht leiden konnte, so war sie sich unsicher, ob diese wirklich hinter diesen Angriffen steckten. Sie sah abermals zu der Fürstin.

„Was ist mit anderen Personen, die verschwinden. Leute, die keine Jeraren sind.“

Nun zeigte sich Überraschung auf Gallarns Gesicht und sie brauchte eine Weile, ehe sie es bemerkte und ihr Gesicht neutral machte. Doch die Überraschung blieb dennoch in ihren Augen bestehen.

„Andere … also …“ Plötzlich sah sie wieder unwohl aus, als würde ihr bewusst werden, dass sie etwas übersehen hatte. „Ja, es sind schon andere mit verschwunden, doch wie viele es sind, kann ich nicht sagen. Ich habe mich nicht danach erkundigt“, fügte leise entschuldigend hinzu.

Dies wunderte Lorantha nicht und sie machte der Fürstin auch keine Vorwürfe. Sie selber hatte ja auch nicht darüber nachgedacht. Wenn also auch andere Personen verschwanden, dann war es doch ein Zeichen dafür, dass die Schattenangriffe nicht nur auf das Volk der Jeraren abgesehen war. Warum also hatte Miriam dies so dargestellt. Hatte sie auch nichts davon gewusst, dass auch andere verschwanden. Abermals kniff Lorantha die Augen zusammen. Woher hatte eigentlich Miriam die Zahlen von den Verschwundenen. Gerüchte hab es viele, doch ihre Schwester hatte genaue Zahlen besessen und sogar gewusst, dass Henriette Gallarn gelogen hatte, als diese nur von den adligen Vermissten erzählt hatte. Woher wusstest du von den einfachen Volk, Miriam?

Loranthas erster Verdacht war das Schwarze Blut. Diese mussten es Miriam gesagt haben, doch warum haben sie nur die Jeraren erwähnt? Hat das Schwarze Blut auch nicht von den anderen gewusst, oder … Loranthas Augen weideten sich. Oder sie haben es gewusst und dies mit Absicht verschwiegen, um dafür zu sorgen, dass die jerarischen Adligen dachten, es ginge nur gegen das Volk der Jerarer.

Abermals sah sich Loranthas Verdacht bestätigt, dass man den Schwarzen Blut nicht trauen konnte. Und, Schwesterchen? Was für eine Ausrede hättest du dieses Mal parat, um deine Freunde zu verteidigen.

Vorsichtig sah Lorantha ihren Kommandanten und dann die Fürstin an. Sie wusste, dass Pendril das Schwarze Blut nicht leiden konnte, doch wie sah es mit Gallarn aus? War sie eine von Drakens Leuten, oder galt ihre Loyalität vollkommen den Jeraren?

„Also liegt die Zahl der Verschwundenen auf über zweihunderundachtzig Personen?“ Die vierunddreißig Adligen, die in Jahalat verschwunden waren, die knapp zweihundert, die Gallarn bei der Versammlung erwähnt hatte, die zwanzig neuen Vermissten und nun auch Adran`s Gruppe, welche aus fünfzehn Soldaten befanden. Und nun auch noch die unbekannte Anzahl der anderen.

Warum verschwanden sie? Was war das Ziel davon? Und wieso standen die Schatten damit in Verbindung.

Nicht nur die Wächterinnen beschäftigen sich mit Schatten … nein, es war auch das Schwarze Blut.

Henriette Gallarn nickte, um die Frage von Lorantha zu beantworten, doch sie achtete nicht darauf. Ihre Gedanken rasten und sie ihren Kommandanten an. Es war leicht zu erkennen, dass Pendril diese Erkenntnis nicht gefiel und vor alle die nicht, dass die Schatten hier im Gebirge aktiv waren. Seine Einheit war knapp zweihundertundfünfzig Mann stark und konnte sich gegen Schatten wehren, doch was ist, wenn mehr Schatten auftauchten? Lorantha wurde sich der Gefahr bewusst, in der sie sich befand, und konnte an Pendrils Blick auf ihr erkennen, dass er zu demselben Entschluss gekommen war. Er wurde bleich. Wenn der Rechten Hand unter seinen Schutz etwas passierte, dann könnte er gleich sein Grab schaufeln. Auch Fürstin Gallarn musste zu dem Entschluss gekommen sein, denn sie sah sich ängstlich um, als würde gleich ein Schatten hinter den nächstbesten Felsen vorgesprungen kommen. Dabei sah Henriette immer wieder zu Lorantha, als würde sie von ihr einen Befehl erwarten. Den Befehl, dass Lorantha zusammen mit ihr zurückreise würde.

Die Rechte Hand jedoch dachte nicht daran, sondern ein Plan formte sich in ihren Gedanken. Das Problem der Jeraren war, dass sie zu wenige waren und andere sie wahrscheinlich nicht unterstützen würden, wenn sie ihren Krieg beginnen würden. Indem sie versuchte herauszufinden, was aus den Jeraren geworden ist, würde sie doch auch gleichzeitig den anderen Bewohnern von Siveas Spitzen helfen. Vielleicht würde es sogar so weit kommen, dass diese Bewohner sich den Jeraren anschlossen.

Der König von Ardàsk schien nichts gegen das Verschwinden zu unternehmen. Warum also sollten die einfachen Gebirgsbewohner, dass zu ihm halten. Je länger Lorantha darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr dieser Plan. Um ihn jedoch erfolgreich meistern zu können, musste sie hier bleiben und sich notgedrungen der Gefahr aussetzen. Sie sah zu den anderen und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.

Es war wieder mal Zeit, einige Befehle zu äußern.

 

Kapitel Vierunddreißig

 Sinn des Gehorsams

 

Fragen? Du stellst keine Fragen, sondern erfüllst einfach nur die Befehle. Du bist nur ein einfacher Soldat und hast zu gehorchen. Alles andere kann für die egal sein!

 

Pendil Fotgarn,

jerarischer Kommandant,

Herbst im Jahre 2597

 

Gwelan blieb schnaufend stehen und stützte sich an der Felsenwand ab, während er nach Atem rang. Sein ganzer Körper schmerzte und er hatte das Gefühl schon seit Tagen unterwegs zu sein. Einige seiner Kameraden liefen an ihm vorbei und Neid kam in den ehemaligen Dieb auf. Diese Männer sahen nicht so aus, als würden sie gleich zusammenbrechen und einige unterhielten sich sogar leise. Wenn Gwelan sie ansah, konnte er es nicht glauben, dass diese Leute genauso wie er den ganzen Tag mit schwerem Gepäck gelaufen sind. Warum sahen sie so frisch aus, während er nach Atem rang und schwitzte, trotz, dass ein kühler Herbstwind durch die Felsen rauschte.

Der junge Mann spürte das Gewicht seines Kettenhemdes, seines Rucksackes und dem seines Schildes, dass er abgelegt und gegen die Wand gelegt hatte. Am liebsten würde er auch seinen Rucksack absetzen, doch er wusste, dass er sich keine Pause erlauben durfte. Sein Blick ging nach vorne und er konnte die Gestalt von Harkon Gorden ausmachen, sein Hauptmann und Vorgesetzter. Wie auch die meisten anderen älteren Soldaten sah er noch ganz frisch aus und seine Stimme hallte befehle schreiend durch die Spalte, welche sie gerade entlang gingen. Ehrfurcht kam in Gwelan auf und er fragte sich, wie lange er wohl brauchen würde, um so gut wie Harkon zu sein.

Wahrscheinlich werde ich vorher sterben.

Gwelans Gedanken wanderten zu ihren Aufbruch vor einem Tag und er fragte sich, warum er ausgerechnet in die Aufklärungstruppe geraten war. Zuerst hatte er gedacht, dass endlich die Langeweile, welche er in dem Lager verspürte hatte, vorbei sein würde, doch hatte er nicht damit gerechnet, mit seiner ganzen Ausrüstung durch die Berge zu laufen. Den ganzen restlichen Tag hatte er laufen müssen, bis er das Gefühl gehabt hatte, tot umzufallen und heute früh waren sie noch vor dem Morgengrauen aufgebrochen und seitdem liefen sie. Der Weg war uneben und öfters mussten sie über Steine klettern, die den eigentlichen Weg blockierten. Eine Aufgabe, die normalerweise nicht schwierig war, doch mit dem zusätzlichen Gewicht seines Kettenhemdes und seiner Ausrüstung, hatte er das Gefühl doppelt so viel zu tragen, wie er selber wiegte.

Er schloss die Augen und genoss den Wind, der kühlend über sein Gesicht wehte. Nur eine kleine Pause, dann würde er weiterlaufen. Sollten die anderen an ihm vorbeigehen … er würde halt den Schluss bilden.

Früher, als er noch in Creusan als Dieb gelebt hatte, hatte er nie so viel zu tragen gehabt. Viel Besitz hatte er nie besessen und das wenige immer bei sich getragen … außer wenn er auf Opferfang gewesen war, dann hatte er seine Schlafdecken in einem leer stehenden Haus versteckt. Damit sie ihn nicht behinderten, doch anderes besaß er nicht. Seine Kleider trug er solange bis sie quasi von ihm abfielen und dann hatte er sich neue besorgt. Es war ein einfaches Leben gewesen und er hatte sich nie mit zusätzlichem Gewicht abgeben müssen.

Doch dieses Leben ist nun vorbei!

Manchmal in den letzten Tagen fragte sich Gwelan, was er dem Schicksal angetan hatte, um so bestraft zu werden, doch er wusste die Antwort darauf. Er hatte sich ein falsches Opfer ausgesucht und musste nun mit den Konsequenzen leben. Seine Angst, dass diese Frau ihn genauestens beobachten würde, hatte sich nicht erfüllt. Seitdem sie hier im Tal lagerten, war er ihr nur drei Mal begegnet und alle Male hatte Gwelan das Gefühl gehabt, dass sie ihn nicht erkannt hatte. Doch sicher war er sich nicht. Andererseits war es ihm nur recht, denn er kannte die Geschichten der Rechten Hand und wenn sie sich nicht mehr für interessierte, dann war dies als ein gutes Zeichen anzusehen und er würde sich nicht beschweren.

Gwelan öffnete seine Augen wieder und sah, dass nur noch drei Soldaten hinter ihm waren und er setzte sich selber wieder in Bewegung. Ganz zum Schluss wollte er doch nicht gehen und so ignorierte er seine schmerzenden Beine und sah, dass schräg vor ihm Kreith ging. Er beschleunigte ein wenig und trat neben seinen Freund, welcher zwar schwitzte, aber nicht ganz so fertig aussah.

„Hey, Kreith“, sagte Gwelan leise und sah ihn fragend an. „Wie lange wir wohl noch laufen müssen?“

Kreith sah ihn stirnrunzelnd an und wandte seinen Blick wieder nach vorne. „Weis ich nicht. Ich vermute, dass Hauptmann Gorden will, dass wir unser Ziel erreichen und wenn dies stimmt, dann können wir froh sein, wenn wir noch vor Sonnenuntergang da sein werden.“ Ein mitfühlender Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. „Du wirst dich daran gewöhnen, Gwelan. Glaub mir … nach zwei-drei Tagen wird dir der Marsch nicht mehr so schlimm vorkommen.“

Zwei-drei Tage? Gwelans Gemüt wurde finster und er wäre fast gestolpert. Nur im letzten Augenblick konnte er sein Gleichgewicht wieder zurückbekommen und verhindern, dass er kopfüber auf dem Boden fiel. Kreith entfuhr ein leises Lachen. „Mach dir keine Sorgen, Gwelan. Wir werden nicht so lange laufen, da wir ja morgen unser Ziel erreichen und ein kleines Lager errichten werden. Von dort aus werden wir die Gegend erkunden und versuchen herauszufinden, was aus unseren Kameraden geworden ist. Dafür werden wir nicht all unser Gepäck mitnehmen müssen.“

Erleichterung durchfuhr Gwelan und gleichzeitig spürte er, wie er langsam rot wurde. War er so leicht zu durchschauen gewesen?

Schweigend lief er neben seinen Freund her und dachte über ihre Aufgabe nach. Sie war knapp und einfach. Sucht die Adler-Stellung auf und findet heraus was aus den Soldanten geworden ist. Findet Hinweise und erstattet aller zwei Tage Meldung. Wenn man auf Schatten stößt, soll kein Risiko eingegangen sondern sich zurückgezogen werden. Vor allen der letztere Teil des Befehles gefiel Gwelan. In seinem ganzen Leben war er noch nie auf einen Schatten gestoßen, doch er hatte schon einige Geschichten über diese Wesen gehört. Geschichten, die meistens blutig endeten. Gwelan hatte nicht vor, dass seine eigene so enden sollte und so war er froh darüber, dass sie keinen Befehl hatten, gegen diese Wesen zu kämpfen.

Während er einen Fuß nach dem anderen setzte, fragte sich der ehemalige Dieb, was den anderen Soldaten zugestoßen war. Er hatte von den Vorfällen gehört, dass Personen spurlos verschwanden und man dieses Verschwinden mit Schatten in Verbindung brachte. Waren seine Kameraden also getötet worden?

Kälte kam in Gwelan hoch und er sah sich um. Er schaute genau auf die beiden Felsenwände, die er durchschritt, und fragte sich, wo die Schatten sich jetzt gerade aufhielten und dabei auf die Frage, was Schatten überhaupt waren. Er hatte gehört, dass die Schatten Wesen waren, die jenseits des Gleichgewichtes der Welt lebten und nur durch Risse, welche das Gleichgewicht zerstörten, in diese Welt kommen konnte. Solche Risse jedoch entstanden nicht von alleine, sodass es hieß, dass die Wächterinnen, Frauen mit besonderen Gaben, diese verursachen sollen. Gwelan konnte sich nicht vorstelle, was diese Frauen dazu bewog. Wie schlecht musste man sein, wenn man Kreaturen in die Welt holte und zuließ, dass diese Wesen unschuldige Personen töteten. Gwelan selber war nie einer Wächterin begegnet … er hatte auch nicht vor, dies irgendwann nachzuholen, doch er musste sich eingestehen, dass er schon neugierig war. Jedoch nicht so neugierig, dass er sein Leben riskieren würde!

Je länger der Marsch andauerte, desto schwerer wurden Gwelans Beine und er war bald an einen Punkt angelangt, wo sein Denken nur noch von einen sich wiederholendem Wort dominiert wurde.

Schritt … Schritt … Schritt

Er kam seiner Aufforderung nach und setzte einen Fuß nach dem anderen. Mittlerweile war er wirklich der Letzte und musste sich zusammenreißen, dass er nicht den Anschluss verlor. Immer wieder blickte Hauptmann Gordon zu ihm hin und schrie Befehle, dass er nicht langsamer werden sollte.

Die Sonne neigte sich im Westen der Erde zu und es wurde langsam in dem Gebirge dunkler. Entgegen Kreiths Aussage, schaffte es die Gruppe nicht, ihr Ziel vor Sonnenuntergang zu erreichen, sodass sie immer noch liefen, als es dunkel war. Doch der Mond schien hell und wies ihnen den Weg, sodass sie ohne Probleme weiterlaufen konnte. Gwelans Körper brüllte protestierend, doch er wollte nicht stehen bleiben. Er wollte keine Schwäche zeigen und vor allen wollte er nicht alleine zurückbleiben. Nicht an einen Ort, wo es hieß, dass sich hier Schatten aufhalten sollten.

Warum bin ich hier … ach ja … weil es mein Befehl war und ich gehorchen muss. Mein Leben gehört jetzt der Armee und ich darf nur das machen, was man mir befiehlt.

Früher wäre Gwelan nie ohne zu zögern einen Befehl nachgekommen, den er nicht selber erfüllen wollte, doch sei Leben hatte sich sehr geändert. Er war kein freier Dieb mehr, sondern ein Soldat, von dem man verlange, dass er gehorchte. Tat er es nicht, dann musste er mit einer Bestrafung rechnen und in Gwelans Fall war es eine Hinrichtung. Die Hinrichtung, die die Rechte Hand ihn versprochen hatte, wenn er sich einen Fehler erlauben würde.

„STOP!“

Erleichter blieb Gwelan stehen und schaute dann auf. Er erkannte, dass die Spalte in eine Kuhle geführt hatte. Es war ein Platz, wo man Reste von einen früheren Lager erkennen konnte. Wahrscheinlich handelte es sich hierbei um die Adler-Stellung und mit Freude wurde ihm bewusst, dass sie sich am Ziel befanden. Doch seine Freude währte nur kurz, als er das erkannte, was dem Ort ein düsteres Aussehen verlieh. Er riss die Augen auf und starrte die Leichen an, die zwischen zerrissenen Zelten und umgekippten Gegenständen lagen.

Es waren die Soldaten, von denen man nichts mehr gehört hatte und so wie deren Gesichter verzogen waren, mussten sie qualvoll gestorben sein. Einige Männer sahen aus, als wären sie wilden Tieren zerfleischt worden und an manchen Stellen lagen abgerissene Körperteile.

Gwelan spürte, wie sein Magen rebellierte, und musste sich zur Seiten beugen, als er sein Essen erbrach, während sein Gesicht vor Schock verzerrt war. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte Gwelan ein solches Massaker gesehen. Zwar hatte er schon öfters Tote gesehen, doch noch nie so viele auf einmal und keine, die so zugerichtet waren. Plötzlich spürte er, wie jemand auf seinen Rücken klopfte und er sah beiseite. Er erkannte Luciens Gesicht, welches bleich war, doch in seinen Augen stand das Versprechen, dass er seine Kameraden rächen würde.

„Geht es wieder“, fragte Lucien.

Gwelan nickte und wurde rot. Er sah sich um und erkannte, dass niemand der anderen sich hatte übergeben müssen. Zwar sahen viele bleich und geschockt aus, doch er war der einzige gewesen, der sein Essen verloren hatte. Er sah zu seinem Hauptmann, der mit finsterem Blick die Szene vor sich betrachtete.

Für einen Moment sah es so aus, als würde Harkon Gorden losstürmen und sich auf einen Feind stürzen wollen, doch dann blinzelte er und sah zu seinen Männern.

„Räumt die Toten zur Seite, damit wir sie beerdigen können. Ein Teil von euch wird dies übernehmen und Gräber ausschaufeln, während der andere das zerstörte lager abräumt und ein neues ausbaut. Dabei will ich, dass ihr die Dinge nutzt, die nicht zerstört worden sind und alles Kaputte auf einen Haufen legt.“

Einige Männer salutierten und machten sich sofort auf die Arbeit, während der andere Teil immer noch reglos auf die Kuhle blickte. Harkon musste seine Befehle ein weiteres Mal ausrufen, bis auch die anderen sich in Bewegung setzten. Gwelan setzte seinen Rucksack ab und war froh, dass er zu der zweiten Gruppe gehörte und mithelfen sollte, das alte Lager ab- und das Neue aufzubauen. Zusammen mit Lucien zerrte er zerrissene Zeltplane von Holzgestellen und warf sie auf einen Haufen, der in einer kleinen Einbuchtung der Felsenwand befand. Einige andere Soldaten hatten hier schon andere zerstörte Dinge hingelegt. Gwelan arbeitete schweigend und seine Gedanken waren taub. Immer wieder sagte eine leise Stimme in ihn, dass er auch hätte hier liegen können und dass es wahrscheinlich auch so werden würde. Er hatte gehört, dass Hauptmann Adran und seine Männer erfahrende Kämpfer gewesen waren und nun waren sie tot. Hinrichtet von Wesen, die Bestien waren. Wie sollte da er hier überleben, wenn er auf eins treffen würde?

Er stürzte sich schnell auf die Arbeit, um so nicht an die furchtbaren Dinge zu denken, doch dies gelang ihm nicht. Wie auch, wenn er zersplitterte Balken zusammen mit Lucien beiseite räumte und an den Felswenden immer wieder Rillen sehen konnte, die einen an Spuren von Krallen erinnerten. Nein, er es ihm so, als wäre er in seinen persönlichen Alptraum gelandet und er würde keine Möglichkeit haben, von dort aus wieder zu erwachen. Gwelan trug gerade ein zerstörtes Schild zu dem Haufen und sah, dass Kreith das Pech gehabt hatte und Leichen tragen musste. Sein Freund beugte sich gerade vor und hob einen abgetrennten Arm auf, den er zu dem Fuß legte, welchen er schon trug.

Abermals kam in Gwelan ein Würggeräusch auf und er presste seine Lippen aufeinander, während er seinen Blick abwandte.

Warum bin ich noch einmal hier? – Weil es mein Befehl ist und ich gehorchen muss!

Ein Zittern befiel Gwelan und in ihm kam der Wunsch auf, dass die Rechte Hand ihm damals der Stadtgarde übergeben hätte. Dann würde er sich nicht hier befinden und müsste um sein Leben fürchten. Zuerst hatte er gedacht, dass er eine Chance bekommen hatte und er nicht mehr als Dieb leben musste. Er hatte Freunde gefunden und fühle sich als Teil einer Gemeinschaft. Doch wie hoch der Preis dafür sein würde, daran hatte er damals nicht gedacht.

Ich will nicht sterben!

Das Gefühl, dass er gespürt hatte, als er erkannt hatte, dass sein Opfer die Rechte Hand gewesen war, stieg wieder in ihm auf und das Zittern wurde stärker. Als er eine Hand auf seiner Schulter verspürte, machte er einen Satz nach hinten und schrie leise auf. „Sachte, Dieb“, ertönte eine tiefe Stimme und Gwelan erkannte, dass Harkon zu ihm getreten war. Sein Hauptmann sah ihn besorgt an. „Ist alles in Ordnung, Bursche?“

Bei dieser Frage hätte Gwelan am liebsten aufgelacht, doch er schluckte und nickte stattdessen nur. Er wollte nicht, dass sein Vorgesetzter dachte, er würde schwach sein.

Harkon legte seinen Kopf schräg und kniff die Augen zusammen, doch stellte Gwelans Antwort nicht in Frage. „Gut. Dann will ich, dass du Eiroon gehst und ihm hilfst, dass Essen vorzubereiten.“

Gwelan nickte, ehe er sich besann. „Ja, Sir“, rief er und suchte nach dem älteren Soldaten, der abseits einen Kessel aufgestellt hatte. Der Gedanke, jetzt etwas zu kochen, erschien Gwelan makaber, doch er wusste, warum sie es dennoch taten. Als Soldaten mussten sie bei Kräften bleiben. Sie mussten also essen, auch wenn die Situation so schlimm war. Auch Gwelan würde versuchen müssen, etwas runter zubekommen. Zwar wurde ihm bei diesen Gedanken schlecht, doch er würde gehorchen.

Dass war etwas, was er am zweiten Tag nach seiner Ankunft in der Kaserne gelernt hatte: Als Soldat musste man seinen Vorgesetzen gehorchen, auch wenn es einen vielleicht nicht leicht fiel. Doch es konnte Leben retten und jeder Soldat verließ sich auf den anderen. Und dass war der Sinn des Gehorchens. Man rettete dadurch Leben und sorgte dafür, dass kein Chaos ausbrach. Es gab Personen in der Armee die Befehle erteilten und dann gab es einfache Soldaten, die diese aufführten. So lief es bei der Armee und wenn jemand sich dagegen aufführte, dann wurde er hart bestraft. Manchmal war die Strafe der Tod.

Gwelan trat zu Eiroon und erkannte, dass der Mann einiges an Gemüse rausgesucht und Wasser zum aufkochen in den Kessen gegeben hatte. Der Mann, er besaß nur noch ein Auge, sah zu Gwelan und deutete dann auf das Gemüse.

„Schneid dies klein … wir werden einen Eintopf machen.“

Obwohl Gwelan schon alleine der Anblick von etwas Essbaren seinen Magen rebellisch machen ließ, gehorchte er und kniete sich vor einen großen Stein nieder, der als Tisch diente. Er nahm die Kartoffeln, Zwiebeln und anderes Gemüse und begann die meisten Erste einmal zu schälen, ehe er sie zerkleinerte. Die kleinen Stücke warf er dann in das Wasser und merkte, dass nach einiger Zeit seine Gedanken ruhiger wurden. Er merkte, dass seine innere Angst langsam verflog und sein Zittern aufhörte. Es tat ihm gut, sich um das Gemüse zu kümmern und war zum Schluss froh, dass er diesen Befehl bekommen hatte.

 

Es dauerte bis spät in die Nacht, bis sie es geschafft hatten, alle Tote zu bestatten und ein neues Lager aufzubauen. Als die Soldaten fertig waren, war auch der Eintopf so weit, dass man ihn essen konnte und jeder nahm eine große Portion. Zwar konnte man ihnen immer noch den Schrecken und auch den Ekel in ihren Blicken erkennen, doch sie aßen dennoch alle. Immerhin war es unsicher, ob und wann sie am morgen Tag etwas zu essen bekommen würden. Es war möglich, dass sie noch in der Nacht angegriffen werden und nicht den nächsten Morgen erleben würden. Dies sprach zwar niemand aus, doch Gwelan war sich sicher, dass jeder so dachte.

Er selber saß zwischen Kreith und Lucien, welche beide schweigen aßen. In der ganzen Kuhle herrschte ein betretenes Schweigen. Jeder dachte an die Toten und fragte sich, was hier wirklich passiert war. Auch Gwelan machte sich intensivere Gedanken, nachdem seine innerliche Angst etwas zurückgegangen war.

Ihr Befehl hatte gelautet, herauszufinden, was aus Adran und seine Männer geworden ist und dies wussten sie nun. Bedeutete dies, dass morgen wieder zum Tal zurückgingen? Gwelan hoffte darauf, doch etwas in ihm sagte, dass es nicht so sein würde. Sie hatten zwar die Leichen der Soldaten gefunden, doch somit wussten sie dennoch nicht, was genau passiert war.

Schatten! Es waren auf jeden Fall Schatten!

Für Gwelan kam nichts anderes in den Sinn und dennoch fragte er sich, warum diese Wesen die Soldaten angegriffen hatten. Innerlich lachte er auf. Diese Bestien brauchten keinen Grund, um andere zu töten. Soviel hatte er von den Geschichten über die Schatten mitbekommen.

Er sah sich in der Kuhle um.

Wie war es passiert? Waren die Soldaten im Schlaf überrascht worden? Sein, dass konnte nicht so geschehen sein, denn immerhin hatte es Hauptmann Adran geschafft, eine kurze Nachricht zu den anderen zu schicken. Also konnte er nicht im Schlaf getötet worden sein. In der Nachricht hieß es, dass die Schatten dabei waren sie zu überrennen und die Soldaten deswegen dem Rückzug antreten wollten. Viel geholfen hatte es ihnen nicht, denn sie alle waren ja hier in der Kuhle gestorben und …

Gwelan riss die Augen auf, als ihm etwas auffiel. Unter den Toten hatte er nirgends Adran Lorsen gesehen, und wenn er genauer darüber nachdachte, dann waren die Leichen nicht genug gewesen, als dass es sich um alle Soldaten hätte handeln können. Doch wo war der Rest.

„Du bist also auch draufgekommen“, murmelte Lucien neben ihm und sah Gwelan in die Augen. „Die meisten sind bis jetzt draufgekommen, dass hier nicht alle gefunden sind. Ich habe gehört, wie Hauptmann Gorden zu einen älteren Soldaten meinte, dass wahrscheinlich sieben fehlen und dass Hauptmann Lorsen darunter ist. Die genaue Anzahl ist jedoch nicht sicher zu sagen, da ja einige Körper zerrissen und verteilt dagelegen haben. Aber eines steht fest. Irgendwo da draußen sind noch die anderen.“ Er sah die Felswände um sich herum an und zuckte dann die Schultern. „Die Frage ist nur, ob diese noch leben oder auch schon tot sind.“

Bei diesen Worten schauderte Gwelan und stellte sich vor, dass irgendwo in der Nähe noch jemanden gab, der zwar lebte, aber durch seine Verletzungen nicht laufen oder rufen konnte. Der dazu verdammt war, zu sterben. Ihm wurde es kalt und seine Ruhe, die er während des Kochens zurückgewonnen hatte, verließ ihn wieder.

„Was werden deswegen unternehmen“, fragte er leise.

Abermals zuckte Lucien die Schulter. „Keine Ahnung. Ich nehme an, dass wir morgen die Umgebung nach Spuren untersuchen und wenn wir welche finden, werden wir sie folgen. Doch wie genau … dass werden wir wohl erst morgen erfahren, wenn der Hauptmann uns neue Anweisungen geben wird. Für heute sind sie ja klar: Aufessen und diejenigen, die keine Wache haben, sollen sich schlafen legen.“ Er sah zu Gwelan. „Ich bin froh, dass ich schlafen kann.“

Gwelan nickte. Auch er war nicht für die Wache eingeteilt worden und war erleichtert darüber, doch er war sich nicht sicher, ob er überhaupt schlafen konnte. Nicht, wenn er wusste, dass hier an dem Ort, wo sie lagerten, vor einigen Tagen Kameraden von ihm gestorben worden sind.

Stell dich nicht so an! Diese werden schon nicht als Geister aufstehen und dich heimsuchen.

Er glaubte nicht an Geister und hatte es auch nie getan, doch woran er glaubte war, dass die Schatten zurückkommen konnten. Niemand konnte diese Möglichkeit ausschließen, sodass die meisten nach dem Essen sich argwöhnisch umschauten und ihre Waffen griffbereit bei sich hatten. Gwelans rechte Hand ließ den Löffel los und wanderte zu dem Griff des Schwertes, das an seinen Gürtel hing. In der Kaserne hatte er nur mit dem Stab trainiert und erst seitdem sie im Tal waren, hatte er intensiver mit dem Schwert trainieren müssen. Die fünfzehn Tage, die er im Lager verbracht hatte, waren nicht genug gewesen, um in ihm das Gefühl aufkommen zu lassen, dass er sich verteidigen konnte, wenn es darauf ankam. Der ehemalige Dieb sah sich um.

Insgesamt waren sie zwölf Männern und von allen war er derjenige, der der Neuste und Kampfunerfahrenste war. Kreith und Lucien hatte zwar auch noch nie eine Schlacht miterlebt, doch dafür waren sie in dem Kampf wesentlich länger unterrichtet worden, als Gwelan. Plötzlich fühlte er sich fehl am Platze und schalt sich selber eine Narren. Damals, bevor sie aufgebrochen waren, hatte er sich gesagt, dass er seine Kameraden unterstützen und beschützen würde, Wie sollte er dies machen können? Er war eine Last und würde nicht einmal sich selber verteidigen können. Wie konnte er da der Meinung sein, dass er andere schützen wollte?

„Ich werde mich jetzt hinhauen“, sagte plötzlich Lucien und klopfte erst Gwelan und dann Kreith auf die Schulter. Dann erhob er sich und ging zu dem Teil der Kuhle, wo Schlafdecken ausgebreitet waren. Im kleinen Lager hier waren nur zwei Zelte aufgebaut worden: ein kleines für den Hauptmann und ein noch kleineres, wo ein Teil der Ausrüstung lagerte, die nicht unbedingt nass werden sollte. Alle anderen Soldaten mussten unter freien Himmel schlafen.

Gwelan aß den Rest des Eintopfes und sah dann zu Kreith, der die ganze Zeit beim Essen geschwiegen hatte. Es kam ihm vor, als wäre sein Freund in Gedanken versunken und Gwelan fragte sich, worüber er nachdachte. Dabei wurde ihm bewusst, dass er kaum etwas von seinen Freunden wusste. Er hatte keine Ahnung, ob sie noch Familie haben und wo sie aufgewachsen waren.

Gwelan, du bist ein Idiot! Wir werden wahrscheinlich gerade von Schatten beobachtet und du denkst darüber nach, woher deine Kameraden kommen. Diese Frage ist doch gerade wirklich Fehl am Platze! Du solltest lieber darüber nachdenken, wie du die nächsten Tage überstehen willst.

Seine innere Stimme hatte vollkommen recht und dennoch wurde er traurig, dass er so wenig über die beiden wusste. Auch von Doranth wusste er nichts und er dachte an seinen dritten Freund, der im Tal geblieben war.

Er hat es gut. Er muss nicht an einen Ort schlafen, wo kurz vorher Leichen gelegen haben. Warum hatte Harkon ausgerechnet mich mit ausgesucht. Wieso habe ich nicht versucht, ihm dies auszureden? Ganz einfach, weil es ein Befehl war.

Gwelan erhob sich und warf Kreith einen entschuldigen Blick zu. „Ich werde auch Schluss machen und versuchen zu schlafen.“

Kreith blinzelte, als wäre er von seinen Gedanken geweckt worden und nickte dann. Er sah nicht so aus, als wäre er darüber enttäuscht.

Wer weis, worüber er nachgedacht hat. Wahrscheinlich störe ich ihn sowieso.

Gwelan säuberte seine Schüssel und ging zu der Stelle, wo sein Rucksack stand. Er schnallte die Decken ab und verstaute seine Schüssel. Danach holte er seinen Trinkschlauch hervor und nahm einen kräftigen Schluck. Er hatte mitbekommen, dass es in der Nähe eine saubere Quelle gab, sodass er sich keine Sorgen darüber machen musste, dass ihm das Wasser ausging. Als er fertig war, steckte er den Schlauch auch weg und zog sein Kettenhemd aus. Er hatte gesehen, dass dies auch die anderen Soldaten getan haben, die geschlafen hatten. Erst als er es auf dem Boden legte, merkte er, dass er in den letzten Kerzenstrichen, seitdem sie in der Kuhle angekommen war, das Gewicht seines Kettenhemdes kaum gespürt hatte. Seltsam, worüber man nicht mehr nachdenkt, wenn die Gedanken nur noch furchbaren Dingen beherrscht werden.

Er streckte sich noch einmal und legte sich dann auf dem Boden neben seinen Rucksack. Er versuchte eine bequeme Stellung zu finden, doch es kam ihm so vor, als würden überall spitze Steinchen liegen. Nach einer Weile hörte er auf und schloss die Augen. Er versuchte Schlaf zu finden, doch blieb noch sehr lange wach. Immer wieder trat der Anblick der Toten vor seinen Augen und verhinderte, dass er einschlafen konnte.

Einmal war er fast eingeschlafen, doch dann schreckte er hoch und sah sich schockiert um. Es war ihm, als hätte er etwas gehört, doch er merkte, dass niemand beunruhigt war.

Denk nicht mehr daran. Versuch einfach zu schlafen. Du musst morgen fit sein.

Einfacher gesagt als getan.

Gwelan legte sich wieder hin und schloss abermals die Augen. Er hörte keine neuen Geräusche mehr, doch innerlich war er so geängstigt, dass er keinen richtigen Schlaf fand.

 

Kapitel Fünfunddreißig

 Tanata, Arianne und Khileisa

 

Um jemanden brechen zu können, musst du seine Schwachstelle herausfinden. Jeder besitzt eine und wenn du diese weist, dann bist du deinem Opfer überlegen.

 

Miriam Thorn,

Tränkemischerin des Schwarzen Blutes,

Herbst im Jahr 2597

 

 

Die Familie ist das Wichtigste! Sie steht immer an der ersten Stelle!

 

     Amelia Thorn,

jearische Fürstin,

Sommer im Jahre 2569

 

Fasziniert sah Tanata zu, wie ihre Mutter arbeitete. Sie beobachtete jede kleinste Bewegung und prägte sie sich ein, während sie im Hintergrund ein Wimmern vernehmen konnte. Ihre Mutter war gut und schaffte es, selbst die stolzesten Wächterinnen zu brechen. Dieses Mal hatte ihre Mutter nicht lange gebraucht, denn die Frau, die gerade auf dem Stuhl gebunden war, war eine Lebenswächterin und ihr schadete die Präsenz von toten Lebewesen.

Tanata sah zur Seite, wo auf einem Tisch mehrere leblose Hühner lagen. Das ganz rechte Exemplar zuckte noch und das Blut floss in Strömen heraus.

Begeisterung kam in dem Mädchen auf und sie freute sich, dass ihre Mutter zugelassen hatte, dass sie zuschauen durfte. Dass sie mit erleben konnte, wie ihre Mutter ihre Arbeit erledigte und dabei mit voller Präzision ranging.

Ihr Blick ging wieder zu dem Stuhl, der sich in der Mitte des Raumes befand. Auf diesen befand sich eine junge Frau, die nur noch von den Seilen, welche ihr um die Brust und Stuhllehne gebunden war, aufrecht gehalten wurde. Die Augen der Frau waren geschlossen und ihr Gesicht war tränenverschmiert. In regelmäßigen Abständen entfuhr der Frau ein Wimmern. Sie war blutbeschmiert, doch es war das Blut der Hühner, welche Miriam direkt vor der Frau getötet und ausgeblutet hatte.

Tanata hatte erfahren, dass sehr viele Lebenswächterinnen die Schmerzen von anderen Lebewesen teilen konnten, wenn sie sich nicht richtig konzentrierten. Ihre Mutter hatte der Wächterin etwas eingeflößt, das es der Wächterin verhinderte, die Schmerzen zu blockieren, sodass sie alle Eindrücke hilflos ausgeliefert war.

Am Anfang hatte sich die Wächterin gut geschlagen. Sie war zwar zusammengezuckt, doch ihre Selbstsicherheit war dann immer mehr geschwunden. Je mehr Hühner Miriam abgeschlachtet hatte, desto mehr war ihr Opfer zusammengebrochen. Nun waren ungefähr fünfzehn Hühner tot und die Frau auf dem Stuhl war nur noch ein wimmerndes Häufchen. Ein wenig war Tanata schon enttäuscht. Sie hatte mehr von der Frau erwartet und gehofft, dass ihre Mutter schmerzvollere Methoden hatte anwenden müssen. Doch soweit würde es nun nicht kommen.

Langsam wischte Mirian Thorn ihre blutigen Hände an einem Tuch ab und schleuderte es der Wächterin ins Gesicht. Dann hockte sie sich vor der Frau hin, griff fest in ihr Haar und riss den Kopf nach oben.

„Na … jetzt sind wir nicht mehr so vorlaut, Hexe“, zischte Miriam und sie sah mit Genugtuung, den Schmerz in den Augen der Frau. „Willst du mir jetzt die Fragen beantworten?“

Für einen Moment hoffte Tanata, dass die Frau sich weiterhin weigern würde, doch sie sah dann das abgehackte Nicken der Wächterin. Enttäuschung machte sich in ihr breit.

„Gut“, sagte ihre Mutter und ließ den Kopf der Frau los. Sie richtete sich wieder auf und sah verächtlich auf die gebrochene Frau. „Wo befindet sich der Ort, wo der große Hexer Hrath gefangen gehalten wird? Welcher Ort wird als die Tränende Ebene bezeichnet?“

Die Wächterin brach in Tränen aus und schluchzte auf. Sie murmelte etwas leise, doch Tanata konnte es nicht vernehmen. Ihre Mutter wohl ebenfalls nicht, denn Miriam schlug der Wächterin ins Gesicht.

„Ich hör dich nicht!“

Abermals ertönte ein leises murmeln, doch ehe Miriam erneut zuschlagen konnte, presste die Wächterin mit lauterer Stimme einige Worte hervor.

„Ich … weis es nicht …“

Der Blick in Miriams Augen wurde finster und die Erregung in Tanata stieg. Würde sie nun doch noch mehr zu sehen bekommen? Miriam ging zu einem Käfig, wo sich noch mehrere Hühner befanden und ergriff eines, welche laut gackerte und panisch mit den Flügeln schlug. Die Frau ging mit dem Tier vor der Wächterin und hielt es ihr vor dem Gesicht.

„Du willst nicht, dass ich noch mehr töte, Hexe … also sag mir, was ich wissen will, oder dieses Tier wird sterben!“

Verzweiflung trat in den Augen der Wächterin. „Ich weis es wirklich nicht … ich bin … keine Historikerin … ich …“

„Das hilft mir nicht“, sagte Miriam mit kalter Stimme und ergriff mit der rechten Hand einen Dolch. Sie hielt in der linken das Huhn fest. „Reize mich nicht, Hexe. Sag mir, wo sich die Tränende Ebene befindet!“

Aufmerksam sah Tanata zu, wie verzweifelter die Wächterin wurde und das Mädchen begann der Frau zu glauben. Diese schien wirklich nicht zu wissen, wo sich diese Ebene befindet. Zu diesem Entschluss kam wohl auch Miriam Thorn.

„Wenn das so ist“, sagte sie mit eisiger Stimme und schnitt dem Huhn den Kopf ab. Dieser fiel auf dem Boden und der Körper des Tieres begann, in ihrer linken Hand zu zucken. Während ein qualvoller Schrei durch den Raum hallte, warf Miriam den Körper auf dem Tisch, wo sich die anderen befanden. Dann sah sie die Frau an. „Wenn das so ist“, wiederholte sie, „dann hast du keinen Nutzen mehr für mich.“

Mit einer schnellen Handbewegung schlitzte sie die Kehle der Wächterin auf und warf dann ihren Dolch auf dem Boden. Während die Gefangene dabei war, ihr Leben auszuhauchen, sah sie auf dem Boden des Raumes. Miriams Gesicht war vor Ekel verzogen und sie säuberte ihre Hände abermals mit einen Tuch. Dann sah sie ihre zweitälteste Tochter an. „Du wunderst dich bestimmt, warum ich sie getötet habe“, sagte sie und Tanata nickte. „Lebenswächterinnen, die gebrochen sind, sind kaum zu etwas nütze. Um sie unter Kontrolle halten zu können, muss man ihre Hexenkräfte unterdrücken. Ohne diese jedoch, können sie sich nicht in der Nähe verletzten oder sterbenden Lebewesen aufhalten. Mit anderen Worten, sie haben dann keinen Wert mehr und es wäre Verschwendung sie zu behalten.“

Tanata nickte. Dies war eine logische Erklärung. Sie sah zu der toten Wächterin und erneute Enttäuschung, dass diese nicht allzu lange durchgehalten hatte, kam in ihr auf. Da hatte sie nun einmal die Erlaubnis ihrer Mutter bekommen, zuzuschauen und dann kam so etwas heraus.

„Nun gut. Wir machen für heute Schluss“, sagte Miriam und deutete zur Tür. „Morgen wird eine andere drankommen und bis dahin dürfen sie sich fragen, was hier drin passiert ist.“

Ein Lächeln trat auf Tanatas Gesicht und sie sah zu der einen Tür. Dahinter befanden sich die Zellen, wo die Wächterinnen darauf warteten, dass sie ein „Gespräch“ mit ihrer Mutter haben durften. Diese Zellen waren so angelegt, dass man die Schreie der Opfer hören konnte, was wohl dazu diente, die Wächterinnen schon in Angst und Schrecken zu versetzen. Dass sie sich mit wachsender Panik davor fürchteten, was mit ihnen passieren soll. Miriam Thorn öffnete eine andere Tür und mehrere Diener kamen herein. „Macht hier sauber. Ich will morgen keinen einzigen Blutflecken hier sehen können!“

Die Diener nickten heftig und machten sich eifrig ans Werk.

Tanata verließ mit ihrer Mutter den Raum und ging einen dunklen Gang entlang. Der Arbeitsplatz ihrer Mutter befand sich in einen abgelegenen Teil des Kellers ihres Anwesen und nur wenige wussten davon. In den meisten Räumen des Kellers befanden sich die Arbeitsmittel ihrer Mutter, wobei der größte Teil aus Phiolen mit verschiedenen Tränken bestand. Tanata war fasziniert von diesen und manchmal fragte sie sich, wieso sie nicht den Weg ihrer Mutter ging. Doch so oft, wie sie sich dies fragte, so oft verneinte sie dies in ihren Gedanken.

Ich will so mächtig wie Tante Lor werden!

Miriam Thorn besaß zwar Macht, doch nur die über Wächterinnen, die sie brach. Doch Lorantha Thorn war die Rechte Hand des verborgenen Herrschers und besaß viel mehr Macht. Dies war auch Tanatas Ziel. Sie wollte in die Fußstapfen ihrer Tante treten, doch sie sagte zu sich, dass sie dennoch das Handwerk ihrer Mutter lernen könnte. Es wäre bestimmt nicht falsch, wenn sie beiden machen würde.

Das Mädchen verabschiedete sich von ihrer Mutter, die noch weiter im Keller arbeiten wollte, und verließ das unterste Stockwerk. Als sie die Tür zum Keller hinter sich schloss und in Licht, das durch die Fenster fiel, trat, bemerkte sie, dass auf ihrem Kleid einige Blutspritzer zu sehen war. Sie verzog ihr Gesicht und machte sich auf dem Weg zu ihrem Zimmer.

Kurz bevor sie es erreichte, kam ihr Arianne entgegen. Diese sah auf das Blut und ihr Gesicht wurde glatt. Dies überraschte Tanata nicht, denn Arianne sah die Arbeit ihrer Mutter nicht mit Freuden entgegen und meinte, dass der Kampf auf einem offenen Platz wesentlich ehrvoller war. Was auch ein Grund war, warum Arianne unbedingt zur Armee wollte. Tanata verstand in dieser Hinsicht ihre Schwester nicht, doch sie sagte dies ihr nicht. Nicht solange Arianne ihr nachts das Kämpfen beibrachte. Außerdem war Arianne die ältere Schwester und es stand Tanata nicht zu, sie zu kritisieren.

„Bist du mit deinem Training fertig“, fragte Tanata und ihre Augen begannen zu leuchten, als Arianne nickte. „Hast du etwas Neues gelernt?“

Arianne schien zu zögern, ehe sie abermals nickte. Ihr Blick war immer noch auf das Blut gerichtet.

„Prima“, sagte Tanata und klatschte in die Hände. „Dann hast du heute nichts mehr vor, oder? Ich nämlich auch nicht und da können wir uns doch zusammentun. Du erzählst mir, was du heute gelernt hast und ich sage ihr, was ich gelernt habe.“

„Ich kann mir schon denken, was du heute gelernt hast“, sagte Arianne leise und ihr Blick verfinsterte sich. Dies jedoch dauerte nur einen Herzschlag und sie lächelte plötzlich. „Aber ich zeige dir nachher, was mit Ordan heute gelehrt hat. Doch nicht sofort. Ich habe Khil versprochen nach meinem Training bei ihr vorbeizuschauen.“

Tanata nickte. Sie erinnerte sich an das Versprechen, dass Arianne am Frühstück ihrer jüngsten Schwester gegeben hatte. „Weist du was? Ich zieh mich schnell um und dann komm ich zu euch.“

Arianne nickte zögerlich und Tanata ließ sie stehen. Sie eilte in ihr Zimmer, während sie weiter über ihre Zukunft nachdachte. Sie würde hart daran arbeiten, sehr viel Macht und Ehre zu bekommen, damit ihre Mutter und ihre Tante stolz auf sie sein werden. Auch Arianne wollte Tanata beeindrucken.

Ich werde Ehre unsere Familie bringen! Das ist mein größter Traum!

 

Arianne blickte finster hinter ihre Schwester her und wusste nicht so recht, was sie denken sollte. Sie hatte nur das Blut auf ihre Kleidung sehen müssen, um zu wissen, wo sie sich aufgehalten hat. Ariannes Gemüt wurde noch finsterer als ihr Blick, als sie sich umdrehte und sich auf dem Weg zu Khileisas Zimmer machte.

Sie ging langsam und dachte nach. Ihr war klar, was ihre Schwester dachte. Dass sie Ehre bringen würde, wenn sie den richtigen Weg einschlug. Doch welcher Weg war der Richtige für Tanata? Ariannes Weg war der in der Armee, das wusste sie und sie freute sich schon darauf. Doch Tanata … Ihre jüngere Schwester schien nicht wirklich wissen zu wollen, was sie wollte. Bisher hat es immer so ausgesehen, dass Tanata den Weg von Tante Lor einschlagen und ihre Nachfolgerin werden würde. Doch seit einigen Monden zeigte sie sich sehr an der Arbeit ihrer Mutter interessiert und dies gefiel Arianne überhaupt nicht. Sie wollte nicht, dass Tanata sich mit Folter und Qualen beschäftigte. Dies waren unehrenhafte Methoden.

Sie seufzte tief, als sie Khileisas Zimmer erreichte, und schüttelte ihren Kopf. Es würde ihr nichts bringen, darüber nachzudenken und nun hatte sie etwas Wichtigeres zu machen. Sie musste ihre jüngste Schwester aufmuntern, denn das Verhältnis zwischen Khileisa und ihre Mutter war immer noch angespannt. Ihre Mutter glaubte immer noch daran, dass Khileisa den Trank selber genommen hatte und sagte dies auch offen. Dies sorgte dafür, dass Khileisa den ganzen Tag in ihrem Zimmer blieb und es nicht verlassen wollte.

Was ist das bloß für eine Situation? Aus irgendeinem Grund kommt Tante Lor nicht mehr zu Besuch. Mutter ist wütend auf Khileisa. Khileisa ist verzweifelt und schließt sich ein. Tanata beschäftigt sich immer mehr mit Folter … wo ist die Zeit hin, wo wir noch eine normale Familie gewesen waren …

Sie schnaubte leise. Eine normale Familie waren sie noch nie gewesen. Dies war auch schwerlich möglich, wenn man in den jerarerischen Adel geboren wurde und noch dazu der Familie angehörte, aus der die Rechte Hand des verborgenen Herrschers stammte.

Manchmal frage ich mich, wie unser Leben wäre, wenn wir ganz Normal wären … wenn wir kein adliges Blut besitzen und meine Tante nicht so eine Stellung besitzen würde.

Es gab Tage, da sehnte sich Arianne so eine Situation her. Doch dann wurde sie wieder ernst und wusste, dass sie mit dem zurechtkommen musste, was war. Dies bedeutete, dass ihre Tante die Rechte Hand und ihre Mutter eine Folterin war.

Arianne atmete tief ein und klopfte an die Tür. Sie wartete. Am Frühstückstisch hatte sie Khileisa versprochen, bei ihr nach dem Training vorbeizukommen. Sie wollte sie endlich wieder einmal lachen sehen und dazu würde sie heute alles Mögliche versuchen.

Mutter mag sauer auf Khil sein, doch ich bin es nicht … ich und Tanata.

Auch wenn Arianne ihre Meinungsverschiedenheiten mit ihrer Schwester hatte, so wusste sie, dass sich auch Tanata um ihre kleine Schwester sorgen machte. Vielleicht würde es ja helfen, wenn Tanata zu ihnen stoßen würde.

Sie öffnete die Tür und trat hinein, obwohl von inne keine Antwort kam. Arianne sah sich um und erkannte, dass Khileisa am Fenster stand und nach draußen schaute. Sie schien nicht bemerkt zu haben, dass ihre ältere Schwester ins Zimmer getreten war.

„Na, Khil? Was siehst du dir an“, fragte Arianne und trat hinter Khileisa.

Khileisa zuckte zusammen und riss ihren Kopf um. Ihre Augen waren ängstlich aufgerissen, doch die Angst legte sich ein wenig, als sie erkannte, dass es nur Arianne war.

Warum hast du solche Angst, Schwesterchen?

Dies war Arianne in letzter Zeit immer mehr aufgefallen. Dass Khileisa bei jedem Geräusch zusammenzuckte, immer ängstlicher wurde und kaum noch ihr Zimmer verließ.

Sie sah ihre Schwester fest in die Augen.

„Khil? Ist alles in Ordnung?“

Ihre Schwester sah sie verständnislos an, als wüsste sie nicht, was Arianne meinte, doch dann nickte sie. Langsam. Zögerlich.

Arianne brach es das Herz, sie so zu sehen und umarmte sie. Sie wollte ihr Sicherheit geben. Ihr das Gefühl geben, dass sie nicht alleine war, auch wenn ihre Mutter immer noch wütend war. „Es ist alles gut, Schwesterchen … ich lass nicht zu, dass dir etwas passiert.“ Plötzlich spürte sie, wie Khileisa die Umarmung erwiderte und sich fest an Arianne drückte. Obwohl klammern das bessere Wort dafür wäre. Arianne wurde unsicher, doch ließ es dennoch zu. Wenn es dies war, was ihre Schwester brauchte, dann sollte sie es auch bekommen.

„Ari … du verlässt mich doch nicht, oder?“

Die Frage wurde leise gestellt, sodass Arianne sie kaum verstehen konnte. Sie lehnte ihren Kopf zurück und sah in die ängstlichen Augen ihrer Schwester. Die Traurigkeit in Arianne wurde größer.

„Natürlich, Khil. Ich lieb dich doch … du bist meine kleine Schwester und ich werde dich nie verlassen.“

Dass Arianne wusste, dass sie in zwei Jahren der Armee beitreten wird, verschwieg sie. Jetzt war es nicht gut, ihre Schwester zu verunsichern und außerdem war es ja erst in zwei Jahren. Bis dahin würde es ihrer Schwester wesentlich besser gehen. Hoffentlich!

Ihre Antwort schien Khileisa zu beruhigen, denn die Angst verschwand aus ihren Augen. Zwar war noch Furcht in ihn zu sehen, doch nun kam auch Hoffnung in ihr auf. Ein leichtes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht und Arianne Herz machte einen Sprung.

Also hatte es nur eine Umarmung und eine richtige Antwort gebraucht, um ihre Schwester wieder einmal lächeln zu sehen. Es war zwar ein trauriges Lächeln, das verloren aussah, doch es war immerhin ein Lächeln.

„Und nun, Khil … was hast du draußen beobachtet?“

Khileisa sah sie überrascht an und schüttelte dann den Kopf.

„Ich habe nichts beobachtet … ich … ich habe nur nachgedacht und dabei rausgesehen.“

Arianne runzelte die Stirn. Worüber hatte ihre Schwester nachgedacht, dass sie dabei das Klopfen an der Tür nicht gehört hatte. Es musste etwas Wichtiges sein und …

Ein Klopfen ließ sowohl Arianne als auch Khileisa zusammenzucken. In Khileisas Augen trat wieder Angst und sie klammerte sich an den Arm ihrer Schwester, welche dieses Verhalten sehr beunruhigend fand.

Was macht dir Angst, Khil?

„Dass wird wohl Tanata sein … sie wollte auch vorbeikommen“, sagte sie laut und rief dann noch lauter ein „Herein!“

Ihre Vermutung war richtig, denn es war wirklich Tanata, die hereintrat und fragend die Augenbraue hob, als sie sah, wie Khileisa an Arianne geklammert war.

Erleichert stellte Arianne fest, dass ihre Schwester saubere Kleidung anhatte und nirgend Blut zu sehen war. „Was ist denn hier los“, fragte Tanata und trat näher heran. Sie runzelte die Stirn und sah dann ihre kleine Schwester an. „Hey, Khil? Willst du den ganzen Tag hier im Zimmer verbringen?“ Sie legte ihren Kopf schräg. „Oder versteckst du dich vor Mutter hier?“

Khileisa zuckte zusammen und die Angst in ihren Augen nahm zu. Arianne funkelte Tanata wütend an, welche jedoch nicht zu merken schien, was passierte. Sie sah einfach nur fragend aus.

„Ich … ich …“, begann Khileisa und schluckte. Der Griff um Ariannes Arm wurde fester und sie sog die Luft ein, weil er zu schmerzen begann. Dennoch wagte sie es nicht, ihre Schwester darauf aufmerksam zu machen. „Ich bin müde“, schloss Khileisa und beide anderen Geschwister erkannten, dass es eine Ausrede war.

Tanata sah zu Arianne, doch diese setzte einen verzweifelten Blick auf. Sie hatte keine Ahnung, was wirklich mit Khileisa passierte.

Sie wurde vergiftet. Mutter glaubt ihr nicht … da ist es doch kein Wunder, dass Khil Angst hat und sich weigert das Zimmer zu verlassen. Verdammt! Ich muss dringend etwas dagegen unternehmen.

„Hey Khil … du kannst doch nicht die ganze Zeit hier drin sein“, sagte plötzlich Tanata und klang ganz sanft. Dies überraschte Arianne für einen Moment, doch dann lächelte sie. Vielleicht interessierte sich Tanata für Folter und der Arbeit ihrer Mutter, doch sie sorgte sich um ihre jüngere Schwester, die sie liebte. Vielleicht war es für sie nicht zu spät.

„Komm! Wir gehen raus“, fuhr Tanata fort und berührte Khileisa an der Schulter. „Draußen ist schönes Wetter. Das sollten wir nutzen.“

Khileisa verzog ihr Gesicht und es war zu sehen, dass ihr die Vorstellung, ihr Zimmer verlassen zu müssen, nicht besonders gefiel. Sie schüttelte den Kopf und verstärkte ihren Griff an Ariannes Arm. Arianne entfuhr ein Schmerzlaut, doch war froh, dass Khileisa es nicht bemerken zu schien. Dafür jedoch hörte Tanata diesen und sah auf Ariannes Arm. Ihr Gesicht verzog sich wieder fragen.

„Khil … du brauchst keine Angst haben, dass wir Mutter begegnen. Sie ist im ...“

„Sie ist beschäftig“, unterbrach Arianne ihre Schwester. Dass letzte, was sie wolle, war, dass Tanata ihrer jüngsten Schwester sagen würde, dass ihre Mutter wieder dabei war, jemanden zu foltern. Das würde Khileisa nicht besonders helfen.

Tanata schien zu merken, was Arianne dachte und nickte. „Ja. Wir können in den Garten gehen. Du weist doch, wenn Mutter ihre Briefe durchgeht und antwortet, dann braucht sie immer den ganzen Tag. Vor dem Abendbrot werden wir sie wahrscheinlich deswegen nicht sehen.“

Es brauchte noch andere Argumente, ehe Khileisa zögerlich den Arm ihrer Schwester losließ und noch mehr, ehe sie bereit war, das Zimmer zusammen mit ihren Schwestern zu verlassen. Arianne war froh darüber, doch sie tauschte mit Tanata einen besorgten Blick, als sie das Zimmer zusammen verließen.

 

Kapitel Sechsunddreißig

 Gwelans erste Schlacht

 

Schatten zu töten ist nicht leicht. Sie sind schneller als Menschen und man braucht mehrere Schläge, um sie zu besiegen. Doch wenn es sich um niedere Schatten handelt, dann sind sie nicht allzu gut. Deswegen hoffe, dass, wenn du auf diese Wesen triffst, du nur gegen die niederen kämpfen musst und dass du nicht allein bist. Denn nur dann wirst du eine Möglichkeit haben, diese zu überleben.

 

Bransen Zalton,

jerarischer Soldat,

Sommer im Jahre 2456

 

Genauso wie Lucien es vermutet hatte, wurde am nächsten Tag die Umgebung der Adler-Stellung genauestens untersucht. Gwelan wurde zusammen mit Kreith zwei anderen erfahrenen Soldaten nach Osten geschickt, um sich dort umzuschauen.

Der älteste der Soldaten hieß Baeren und hatte einen Glatzkopf. Einige behaupten, dass es daran lag, dass Baeren Grensen immer mit dem Kopf durch die Wand wollte und deswegen keine Haare mehr besaß, andere meinten, dass er sie sich abrasierte, um so einen finsteren Eindruck zu hinterlassen. Dies konnte sich der ehemalige Dieb sehr gut vorstellen, denn Baeren war groß, breit und sein Gesicht wurde von zwei Narben gekennzeichnet. Eine Narbe lief ihm über die Nase und an der Stelle sah sie auch so aus, als wäre sie gebrochen. Die andere Narbe befand sich auf der linken Wange. Er trug neben einem Kettenhemd auch noch einen Schulterschutz für die rechte Schulter und Armschienen. Trotz, dass er so aussah, dass Gwelan ihm am allerliebsten nicht nachts begegnen würde, besaß Baeren ein fröhliches Gemüt und machte gerne Scherze auf Kosten anderer.

Ian Yrsen war etwas Jüngerer und trug neben Schwert und Schild auch noch eine Armbrust. Über seine Brust waren zwei Gürtel gekreuzt, in denen man die Bolzen finden konnte. Im Gegensatz zu Baeren sah Ian so dünn aus, dass einige zum Spaß sagten, dass Ian zweimal in die Breite von Baeren passen würde. Auch unterschied der Mann sich von den anderen Soldaten dahingegen, dass er eine leichte Lederrüstung trug und Gwelan fand heraus, dass Ian einer der Späher in der Kompanie war. Er hatte schulterlange helle Haare, welche er zu einem einfachen Zopf auf dem Rücken zusammengebunden hatte. Nur ein paar Strähnen hingen ihm so neben dem Gesicht, dass es aussah, als würde diese es einrahmen.

Beide Soldaten haben fragen eine Augenbraue gehoben, als Hauptmann Gorden ihnen den ehemaligen Dieb zuteilte, doch haben nichts darauf gesagt. Ihnen schien dies zu gefallen, denn in Baeren kam ein Funkeln auf, dass Gwelan warnte. Irgendetwas hatte dieser Mann vor und der junge Bursche war sich sicher, dass es ihm nicht gefallen würde. Zusammen mit Kreith bestand ihre Gruppe aus vier Personen und Baeren wurde die Verantwortung übertragen. Dieser hatte auf die Schultern von Kreith und Gwelan geklopft, während er Harkon versicherte, dass ihnen nichts passieren würde.

„Keene Sorche, Hau`man. Wir kimmeern uns um de zwe“, sagte Baeren in einen starken Dialekt und grinste die beiden Rekruten an.

Danach ging es auch schon. Alle vier verließen die Adler-Stellung und machten sich in Richtung Osten auf. Als ersten ging Baeren, dann Kreith, Gwelan und den Abschluss bildete Ian, welcher zur Sicherheit einen Bolzen in die Armbrust geladen hatte. Gwelan selber wusste nicht so richtig, wonach er ausschauen sollte und sah immer wieder zu seinen anderen Kameraden, während er den Boden vor sich betrachtete.

Spuren … wir sollen Spuren finden … doch was für Spuren …

Für Gwelan sah der Boden unberührt aus. Jedenfalls so unberührt wie ein Untergrund in einem Gebirge sein konnte. Es gab Felsen, lose Steinchen und spärlichen Grasbewuchs. An vielen Orten gab es dann auch noch Gestein, das von Moos bedeckt war. Doch ansonsten gab es nichts, was ihn ungewöhnlich erschien. Dies beruhigte ihn, denn es sagte ihm, dass er nicht in etwas geraden würde, das gefährlich war, doch dann wurde er unzufrieden, als er daran dachte, den ganzen Tag hier im Gebirge zu klettern, um irgendwo Spuren zu finden. Die Aussicht darauf konnte schon sehr langweilig werden und …

„He! Her drübben!“

Baerens Stimme ertönte und Gwelan zuckte zusammen. Er sah von einem seltsam geformten Stein auf und erkannte, dass der große Soldat aufgeregt winkte.

Ob er was gefunden hat?

Mit schnellen Schritten war Gwelan bei dem Mann und auch Ian, sowie Kreith kamen angelaufen. Gwelan beugte sich vor und blickte die Stelle, auf die Baeren zeigte.

Er erkannte nichts.

Enttäuscht wollte er sich schon abwenden, als ihm etwas ins Auge fiel. Er kniff die Augen zusammen.

Einige Steine sahen so aus, als wären würden sie zusammenpassen. Die Ränder von diesen Steinen passten genau zu den Umliegenden und zusammen würden sie einen größeren Stein bilden.

Zufall? Oder eine Spur?

Gwelan sah auf und blickte zu Baeren, welcher ein grimmiges Lächeln aufgesetzt hatte.

„`ichtig! Das is ne normal“, sagte er leise und deutete dann auf einer anderen Stelle, wo ebenfalls solche Steinchen lagen. Als Gwelan noch weiter blickte, konnte er unzählige solche Stellen erkennen.

„Das ist nicht gut“, murmelte plötzlich Ian und Gwelan sah ihn fragend an. Der Soldate deutete auf die zerbrochenen Steine. „Dieses Gestein ist normalerweise sehr hart. Demzufolge musste es Schweres diese zerbrochen haben … etwas Schweres oder etwas Schlagkräftiges.“

„Schatten“, presste Gwelan hervor und sah sich zitternd um, doch Ian zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht … vielleicht auch nicht …“ Der dünne Mann richtete sich auf und sah in die Richtung, wo die Spur folgte. „Aber das werden wir herausfinden.“

Als Gwelan diese Worte hörte, zuckte er leicht zusammen. Ihm war klar, was dies bedeutete und dies gefiel ihm überhaupt nicht. Er hatte keine Lust, der Spur zu folgen, wenn er nicht wusste, wovon diese Spur handelte. Was ist, wenn sie inmitten eines Hinterhaltes kommen und …

Er zuckte zusammen, als er eine Hand auf seine Schulter verspürte.

„Ru`ig. Alles gut. Ik bin esse“, sagte Baeren und grinste ihn an. „Vermute, dass esse `iegen waren … könne also A`bnessen `schaffen.“

Verständnislos starrte Gwelan zu dem Mann und hatte Schwierigkeiten ihn zu verstehen. Er sah fragend zu Ian, welcher jedoch heftig nickte.

„Richtig. Ich vermute auch, dass es eher eine wilde Ziegenherde war, die wohl hier immer wieder vorbeikommt und nach und nach die Steine zertreten haben. Und wenn wir auf die Herde treffen, dann wir Abendessen besorgen. Die anderen Männern werden sich freuen.“

Gwelan starrte die beiden Männer, ehe ihm bewusst wurde, was dies hieß. Die zertretenen Steine stammten höchstwahrscheinlich von Ziegen, die hier immer wieder entlanggekommen sind? Konnte dies stimmen? Er sah zu Kreith, der ebenfalls skeptisch aussah, doch keine Anstalten machte, etwas zu sagen. Er schien zu denken, dass wenn die beiden Erfahrenen es so sagten, dann musste es auch stimmen.

Außerdem war die Aussicht, auf Ziegen zu treffen wesentlich angenehmer, als ein Treffen mit Schatten.

Die Angst in Gwelan verschwand und er schaffte es sogar, Baeren zurückzugrinsen.

„Gut, dann wollen wir mal schauen“, meinte Ian. „Ob es sich um Ziegen oder Schatten handelt.“

Alle vier machten sich auf dem Weg und folgten der Spur von den zerkleinerten Steinen, welche sich zu größeren zusammensetzten.

Der Tag schritt immer weiter voran, doch es kam ein Ende der Spur in Sicht. Als die Mittagzeit vorüberrüber war und die Sonne sich langsam dem Horizont wieder zuneigte, hielten Ian und Baeren inne. Beide sahen zu dem Stand der Sonne und blickten dann wieder hinter sich in die Richtung, woher sie gekommen waren. Ihre Gesichter sahen nachdenklich aus.

„Wir sollten bald umkehren“, sagte Ian und sag dabei Baeren fragend an. Dieser nickte grimmig, doch deutete nach vorne zu einem Felsen, der am Horizont zu erkennen war. „Bis da hinne und wenn nichte gefunden, dann zurücke“, sagte er.

Ian Yrsen stimmte zu.

Gwelan sah zu den Felsen und schätzte die Dauer ab, um diesen zu erreichen. Ein Kerzenstricht, vielleicht auch anderthalb. Also nicht mehr weit und dennoch verzog er sein Gesicht, wenn er an den Rückweg dachte. Die vorherige Aussicht, auf Ziegen zu treffen, war verschwunden und er verschwendete auch nicht mehr einen Gedanken daran, dass sie auf Schatten treffen konnten. Denn außer den seltsamen zerbrochenen Steinen waren sie auf nichts Ungewöhnliches getroffen. Dies bedeutete, dass die Langeweile wieder aufgekommen ist und er sich danach sehnte, dass etwas mehr Aufregendes passierte. Jedoch nicht sehr lange und er erinnerte sich an die Toten, die in der Adler-Stellung gelegen hatte. Du sollest froh sein, dass es hier so langweilig ist.

So bleibst du wenigsten am Leben und musst dich nicht fürchten, dass du sterben könntest!

Als alle vier den Felsen erreichten, machten sie eine kurze Pause und begaben sich dann wieder auf den Rückweg. Sie hatten nichts anderes außergewöhnliches gefunden und würden sich beeilen müssen, um nicht erst spät in der Nacht wieder in der Kuhle zurück zu sein. Die Reise zurück verlief ohne Schwierigkeiten, und als Gwelan wieder in die Kuhle blickte, merkte er, dass seine Beine schmerzten. Zwar hatte er heute nicht allzu viel tragen müssen, doch dafür hatte er viel klettern müssen und ein viel schnelleres Tempo angesetzt.

Kreith zerrte ihm zu dem Kessel, wo das Abendbrot ausgeteilt wurde, während Baeren sich auf dem Weg zu Harkon Gorden machte, um Meldung zu erstatten. Später erfuhr Gwelan, dass man in Westen verdächtige Spuren entdeckt hatte und deswegen Harkon beschlossen hatte, diese am nächsten Tag mit der ganzen Gruppe zu verfolgen.

Nachdem Gwelan sein Essen hatte, suchte er Lucien zwischen den anderen Soldaten, und als er ihn fand, gesellte er sich zu ihm.

„Hey, Lucien“, sagte Gwelan. „Und? Habt ihr etwas gefunden?“

Lucien sah von seinem Essen auf und schüttelt den Kopf. Sein Blick war düster und Gwelan erkannte, dass er keine gute Laune hatte. Dann jedoch fragte Lucien, was sie gefunden haben und der ehemalige Dieb erzählte von den Steinen, die zerbrochen waren und von der Vermutung, dass es wohl eher Ziegen als Schatten waren. Lucien lachte leise auf.

„Na, wenigsten habt ihr etwas gefunden. Wir haben nur normale Steine, runde Steine und … ach ja, auch eckige Steine gefunden … war ein totaler Reinfall“, sagte Lucien und deutete dann mit seinem Löffel auf eine drei Soldaten, etwas entfernt standen und sich leise unterhielten. „Diese drei haben die Spur gefunden, die wir morgen nachgehen werden.“

Neid klang in Luciens Stimme mit. Es schien ihm wirklich nahe zu gehen, dass seine Gruppe nichts gefunden hatte. Gwelan runzelte die Stirn, doch ging nicht näher darauf ein. Dann jedoch öffnete er den Mund, um etwas anderes zu fragen, als plötzlich ein lautes Kreischen durch die Luft hallte.

Eiseskälte kam in Gwelan hoch, als er diesen Ton vernahm und seine Ohren begannen zu schmerzen. Er sah, wie die älteren Soldaten aufsprangen und ihre Waffen zogen. „Bereit machen, Soldaten“, schrie Harkon durch das Lager und sein Blick wurde grimmig. „Der Feind ist nah!“

Bei diesen Worten wurde es Gwelan noch kälter und er wuchtete sich auf die Beine. Seine Schüssel mit dem Essen warf er weg und er zog sein Schwert. Sein Blick ging suchend umher, doch er konnte kein furchteinflößendes Wesen erkennen. Nur seine Kameraden, die sich ebenfalls umsahen.

Nicht … verdammt … ich bin noch nicht soweit …

Sein Arm begann zu zittern und Gwelan konnte sein Herz laut pochend hören. Neben ihm stand Lucien und auch er hatte sein Schwert gezogen. Die Enttäuschung, dass seine Gruppe nichts gefunden hatte, war aus seinem Gesicht verschwunden. Stattdessen war freudige Erwartung in diesem zu lesen.

„Nun … da müssen wir wohl morgen nicht die Schatten suchen …“

Luciens Worte erschienen dieses Mal falsch, denn nichts griff in der Nacht das Lager an. Erst nach zwei Kerzenstrichen, nach dem Kreischen, hob der Hauptmann die Alarmbereitschaft auf und langsam nahm das Leben im Lager wieder seinen Lauf. Die meisten Soldaten aßen den Rest ihres nun mittlerweile kalten Abendessens. Gwelan gehörte nicht zu dieser Gruppe. Sein Herz raste und es gelang ihm abermals nicht, die Nacht richtig zu schlafen. Immer wieder zuckte er bei dem leisensten Geräusch zusammen, sodass er spät in der Nacht zu der Wache ging und ihr Gesellschaft leistete.

Am nächsten Tag fühlte sich Gwelan nicht gut. Er war übermüdet und die Angst, die das Kreischen in ihm geweckt hatte, war immer noch tief in ihm vorhanden. Seine Vorstellungskraft war in der Nacht aktiv geworden und er hatte sich vorgestellt, wie dieses Wesen aussehen könnte … eine Bestie, die grauenhaft sein musste. Genauso grauenhaft wie der Schrei, den er vernommen hatte.

Erschöpft packte Gwelan seinen Rucksack und als er ihn sich aufsetzte, protestierten seine Muskeln auf. Doch der Befehl war deutlich gewesen: Alles wird mitgenommen, denn niemand wusste, wohin die Spur führen würde. Kurz bevor sie dann auch aufgebrochen waren, hatte Hauptmann Gorden eine Nachricht zu dem Hauptlager geschickt und ihnen mitgeteilt, was aus Adran und seine Männer geworden war und dass sie jetzt eine Spur verfolgen würden.

Gwelan reihte sich am Ende der Gruppe ein und setzte dann wieder einen Fuß nach dem anderen. Er konnte sehen, dass Lucien schräg vor ihm ging und voller Aufregung war. Gwelan schüttelte den Kopf. Wie konnte Lucien nur darauf hoffen, dass etwas passierte? Denn wenn etwas passierte, dann bedeutete es, dass es zu einem Angriff kommen würde. Einen Angriff, den Gwelan am liebsten aus dem Weg gehen würde.

Der Weg im Westen, wo die Spuren zu sehen war, war nicht gerade einfach und immer wieder musste Gwelan mit seinem Gepäck über Felsen klettern, die im Weg standen, und ein schnelles Vorankommen erschwerten. Einmal wäre er fast ausgerutscht, doch dann war Baeren auf einmal da und ergriff ihm gerade rechtzeitig an dem Arm. Dann zog der kräftige Mann hin den Felsen hinauf und klopfte ihn grinsend auf die Schulter.

Gwelan wurde rot und bedankte sich, ehe sie weiterhingen.

Die Sonne stieg immer höher und sorgte dafür, dass Gwelan zu schwitzen begann. Zwar war es Herbst und das Wetter nicht besonders warm, doch das Laufen und das Gepäck sorgten dafür, dass es dem Burschen sehr schnell warm wurde. Da auch kein Wind durch das Gebirge ging, gab es nichts, was ihn abkühlen konnte.

Irgendwann begann Gwelan aufzuhören, genauer über den Weg nachzudenken und er setzte abermals einen Fuß nach dem anderen. Immer weiter, ohne auf die Umgebung zu achte. Dies stellte sich als einen Fehler heraus.

Es war ein leises Sirren, das Gwelan aufschreckte und dann sah er, wie einige Meter vor ihm, ein Soldat zu Boden sank. In seinem Kopf steckte ein Pfeil.

Gwelan riss die Augen auf und Panik stieg in ihm auf, während Harkons befehlende Stimme durch die Felsen hallte. „Angriff! In Verteidigungsposition!“

Gwelan schüttelte den Kopf und begann an seinem Schwert zu ziehen, um es aus der Scheide zu holen. Seine Hände begannen zu zittern und sein Schwert wollte einfach nicht gehorchen. Die Panik in ihm wurde größer und dann sah er den Feind …

Mehrere seltsame Wesen, dessen Körper unförmig waren, kamen auf die Gruppe zu und zwei Männer konnten nicht schnell genug reagieren. Sie bekamen einen Schlag auf dem Kopf und kippten reglos um. Gwelan konnte nicht erkennen, ob diese Männer tot oder nur bewusstlos waren, doch dies kümmerte ihn im Augenblick nicht. Sein Herz raste, seine Augen starrten auf die Schatten und seine rechte Hand versuchte immer noch, das Schwert blankzuziehen.

Ein Schatten kam direkt auf ihm zu und hob eine Klaue, die messerscharfen Krallen besaßen.

Reglos starrte Gwelan seinen Angreifer an. Sein Kopf schrie, dass er wegrennen sollte, doch seine Beine wollten ihm nicht gehorchen. Plötzlich fühlte er sich schwerer und konnte sich nicht bewegen. Nicht einmal ein Zwinkern gelang. Der Schatten erreichte ihn fast und ließ die Klaue niedersausen. Gwelan realisierte noch, dass dies sein Tot sein würde, als er plötzlich einen harten Stoß bekam und auf dem Boden stürzte. Er ätzte und sah auf. Über ihm stand Baeren, der die Klaue des Schattens mit dem Schwert aufhielt und mit die linke Hand ballte. Dann stieß er seinen Arm vor und schlug dem Wesen mitten ins Gesicht.

Der Schatten schrie überrascht auf und taumelte einige Schritte zurück. Dann erschien zwischen seinen Augen ein Bolzen und das Wesen sackte zusammen.

Gwelan sah fassungslos, wie der Schatten sich auflöste. Er schien plötzlich aus Rauch zu bestehen und ein Wind zerstreute ihn.

Baeren wandte sich zu Gwelan und riss ihn auf die Beine. Dann zog er Gwelans Schwert aus der Scheide mit einem Ruck und drückte den Burschen das Schwert in die Hand.

„Pass auf, dass dich die Schatten nicht berühren. Bleibe in meiner Nähe und ich werde auf bis aufpassen“, sagte Baeren und überrascht stellte Gwelan fest, dass der Mann auf einmal mit keinen Dialekt sprach. Doch viel Zeit hatte er nicht, darüber nachzudenken, denn ein zweiter Schatten tauchte auf.

Baeren stürzte sich auf diesen und schwang sein Schwert immer wieder, um die Klauen des Wesens abzuhalten. Plötzlich war ein zweiter Soldat an seiner Seite und half dem älteren Kämpfer.

Gwelan blickte auf die Kämpfenden und sah sich dann um.

Er sah, dass fünf Schatten hier waren und dass sieben Soldaten reglos auf dem Boden lagen. Darunter war auch Kreith und die Angst in ihm ehemaligen Dieb wurde größer. Er konnte nicht erkennen, ob Kreith noch am Leben war und …

Abermals verspürte er einen Stoß und verlor sein Gleichgewicht. Er fiel auf dem Boden und blickte nach oben. Über ihm stand ein Schatten gebeugt und seine Klaue kam auf ihm zu. Gwelan hob sein Schwert abwehren, doch der Schatten riss es ihm aus dem Griff und schleuderte es beiseite. Dann stieß er seine Klaue erneut nach unten. Dieses Mal konnte Gwelan nur seinen Arm abwehrend heben und verspürte einen Schmerz, der durch seinen Arm schoss. Er schrie auf und starrte das Wesen über sich an. Plötzlich erschien eine Klinge zwischen den Augen des Schattens und er löste sich auf. Harkon Gordan stand mit grimmigem Blick über Gwelan und sah auf den verletzten Arm des Rekruten.

„Verletzter hier“, rief der Hauptmann und war dann wieder verschwunden. Sofort erschien ein anderer Soldat, der eine Tasche mit Verbänden trug.

Es war der Heiler der Truppe.

Dieser warf einen Blick auf die Wunde und auch Gwelan sah das erste Mal zu seinem Arm.

Das Kettenhemd hatte ihm nicht viel geholfen, denn dort, wo die Klaue ihn getroffen hatte, waren die Kettenglieder gerissen und einige stachen in seiner Wunde.

Der Heiler-Soldat öffnete eine Feldflasche und säuberte die Wunde mit etwas Brennenden. Gwelan sog die Luft heftig ein und biss die Zähne zusammen. Dann sah er, wie der Mann begann, die einzelnen Kettenglieder aus der Wunde zu puhlen und verstärkte den Druck auf seinen Zähnen. Er wollte nicht aufschreien.

Plötzlich merkte er, dass etwas anders war und er sah sich um.

Der Kampf war vorbei. Nirgends waren Schatten zu sehen, doch einige lagen reglos auf dem Boden.

Kreith war immer noch dabei.

Hauptmann Gorden ging zu jeden Reglosen und untersuchte ihn genauestens. Bei diejenigen, die tot waren, schüttelte er den Kopf und bei den anderen nickte er, woraufhin ein anderer Soldat zu den reglosen Soldaten ging und ihn versorgte.

Gwelan hielt die Luft an, als Harkon Kreith erreichte und ihn untersuchte.

Er schüttelte den Kopf.

Für Gwelan schien die Welt zusammenzubrechen und merkte nicht einmal, wie zwei Soldaten ihm das Kettenhemd auszogen, damit der Heiler die Wunde am Arm besser versorgen konnte. Für ihn gab es nur zwei Sätze, die in seinen Gedanken kreisten.

Kreith ist tot … Dass hätte auch ich sein können … Kreith ist tot … Dass hätte …

Kapitel Siebenunddreißig

 Schmerzen

 

Erst wenn du alles ausgeschlossen hast, wirst du dein Unrecht erkennen. Doch dann solltest du dich fragen, ob es nicht schon zu spät ist.

 

Amelia Thorn,

jerarische Fürstin,

Sommer im Jahre 2571

 

Es war ein leiser Schrei, der Arianne Thorn weckte und sie richtete sich im Bett auf. Verwirrt sah sie um sich, erkannte, dass sie sich in ihrem Zimmer befand, und fragte sich gleichzeitig, wer da gerade geschrien hatte. Sie schloss die Augen und lauschte auf die Umgebung.

Da!

Ein weiterer Schrei drang an ihre Ohren und Angst stieg in ihr auf. Angst um ihre Geschwister, doch dann fiel ihr ein, vom wem diese Schreie stammen musste und sie verzog ihr Gesicht. Wut kam in ihr auf. Große Wut, welche gegen ihre Mutter gerichtet war. Wieso musste diese so spät in der Nacht noch arbeiten? Arianne stieg aus ihrem Bett und dachte nach. Sie konnte natürlich nicht einfach so in den Keller gehen und ihrer Mutter sagen, dass sie aufhören sollte. Doch einfach so wieder einschlafen, dass konnte sie auch nicht. Nicht, wenn sie wusste, dass in dem jetzigen Moment eine Frau unten im Keller gequält wurde. Sie seufzte. Wie immer, wenn sie an die Arbeit ihrer Mutter und demzufolge auch an die Folter, die sie anwandte, dachte, wurde ihr Gemüt finster. Sie konnte es einfach nicht verstehen, warum ihre Mutter so gerne diese Arbeit verrichtete.

Das Schwarze Blut! Es liegt alles an ihnen! Die sind daran schuld, dass Mutter so geworden ist.

Arianne erinnerte sich noch deutlich daran, wie früher ihre Mutter gewesen war. So nett und hilfsbereit und voller Unterstützung für ihre Schwester Lorantha. Doch dann hatte die Vereinigung des Schwarzen Blutes Kontakt zu dem jerarischen Volk gesucht und das Unheil hat seinen Lauf genommen. Miriam Thorn hatte sich fasziniert von dem Blut gezeigt und hatte kurz darauf eine Lehre zu einer Trankemeisterin bei ihnen begonnen. Seit diesem Tag hatte sie sich immer mehr und mehr verändert. Arianne wusste nicht wieso und konnte es auch nicht nachvollziehen. Sie wurde traurig, wenn sie an die große Veränderung dachte und noch trauriger, als ihr bewusst wurde, dass Tanata dabei war, denselben Weg zu gehen. Dass ihre jüngere Schwester Freude an all der Folter empfand. Arianne suchte einen Weg, ihre Schwester davon abzuhalten, doch sie fand einfach keinen.

Vielleicht sollte ich mit Tante Lor reden. Tanata verehrte sie, und wenn Tante Lor sagt, dass diese Folter nicht in Ordnung war, dann würde sie vielleicht auf sie hören.

Arianne wusste, dass ihre Tante nicht von der Arbeit ihrer Schwester begeistert war und wusste, dass sie ihr helfen würde, Tanata auf dem rechten Weg zu bringen. Doch dieses Wissen half ihr gerade nicht. Ihre Tante befand sich zurzeit nicht in Creusan und Arianne wusste nicht, wann sie wieder zurückkommen würde.

Sie war schockiert gewesen, als sie erfahren hatte, dass es tatsächlich einen heftigen Streit zwischen ihrer Mutter und Lorantha gegeben hatte und dass ihre Tante sich zurzeit in Ardàsk aufhielt. Arianne vermisste sie und fragte sich immer wieder bange, inwieweit der Streit so schlimm war, dass sich die Beziehung zwischen Miriam und Lorantha dramatisch ändern könnte. Dass es so schlimm werden könnte, dass Miriam nicht mehr zuließ, dass ihre Töchter ihre Tante sehen konnten.

Sie schüttelte den Kopf. Selbst wenn es soweit kommen würde, würde es Arianne nicht davon abhalten, ihre Tante zu besuchen. In zwei Jahren würde sie das Haus verlassen und in die Armee eintreten. Dann konnte ihre Mutter ihr keine Vorschriften mehr machen. Doch was würde das Ganze für Tanata und Khileisa bedeuten? Tanata vergötterte Lorantha und sie war fassungslos gewesen, als sie gehört hatte, was vorgefallen war. Deutlich konnte Arianne bei ihrer Schwester die innerliche Zerrissenheit sehen … Tanata liebte ihre Mutter, doch sie verehrte auch ihre Tante. Was würde passieren, wenn es zu einem Bruch zwischen den beiden kommen würde. Wie würde sich Tanata entscheiden, wenn sie es müsste.

Arianne, hör auf, dir darüber so finstere Gedanken zu machen. Es hat schon öfters einen Streit zwischen den beiden gegeben und Tanata hat recht … bis jetzt haben sie sich immer wieder vertragen. Warum sollte es also nun anders sein?

Dies war ein Gedanke, den Arianne ganz fest hielt. Sie verließ das Bett und blieb für einen Moment verwirrt stehen. Was sollte sie am besten machen? Sie wollte, dass ihre Mutter heute Nacht aufhören würde, weiter Unschuldige zu quälen. Für das Mädchen waren die Wächterinnen unschuldig, denn sie glaubte nicht an all die Dinge, die man sich über die Frauen erzählte. Sie würde dies nie offen sagen, denn dann würde sie den Zorn ihrer Mutter auf sich lenken, doch sie würde nicht …

Plötzlich trat etwas anderes an ihre Ohren und sie runzelte die Stirn. Sie schloss abermals die Augen und lauschte auf die Umgebung. Es war kein Schrei, sondern ein leises Wimmern.

Überrascht riss Arianne die Augen auf.

Dieses Wimmern konnte nicht von einen der Opfer kommen, denn es würde nicht bis aus dem Keller heraus zu hören sein. Doch wenn es nicht eine der Frauen war, welche im Keller gefangen waren, wer konnte dann dahinter stecken. Arianne öffnete ihre Augen wieder und ergriff einen Umhang, der über einer Stuhllehne hing, und wickelte sich darin ein. Mit schnellen Schritten erreichte sie die Tür und trat auf den Gang.

Stille herrschte im Haus. Jedenfalls war es so still, wie es sein konnte, wenn jemand im Keller gequält wurde und ein anderer irgendwo in der Nähe wimmerte. Doch ansonsten gab es keine Geräusche. Es war auch finster in dem Gang, denn niemand war mehr wach.

Arianne sah zur Seite und erkannte, die Wachen, die neben ihrer Tür reglos standen und nach vorn starrten. Falls diese Männer überrascht waren, dass sie auf war, so zeigten sie es nicht. In ihren Blicken konnte Arianne deutlich Furcht erkennen. Diese Männer hörten ebenfalls die Schreie und wussten, dass jemand im Keller gequält wurde. Die Furcht in deren Augen galt jedoch nicht dem Opfer, sondern sie hatten Angst, irgendwann selber einmal in den Fängen ihrer Herrin ausgeliefert zu sein. Eine Angst, die sehr viele Diener im Haus hatten. Manchmal kam es dem Mädchen vor, dass diese Personen vor ihrer Mutter mehr Angst hatten als vor ihrer Tante. Dies jedoch war nachvollziehbar, denn Miriam Thorn war die Hausherrin und besaß mehr Handlungsfreiheit auf dem Anwesen, da ihre Schwester kaum hier war. Zwar hieß es, dass Lorantha Thorn strenger und kälter war, doch sie war kaum im Haus … vor allen in letzter Zeit nicht … nicht seit dem Streit, den es zwischen den beiden Schwestern gegeben hatte.

Ohne auf die Wachen zu achten, schloss sie die Augen wieder und lauschte in sich hinein. Sie konzentrierte sich auf die Herkunft des Wimmerns, den sie wollte wissen, wer dieses verursachte.

Arianne blendete die Schreie in der Ferne aus. Sie ignorierte auch ihr eigenes Atmen und das der Wachen, die sich nicht bewegtem. Sie richtete all ihre Gedanken ganz auf das Wimmern.

Da!

Es kam von links.

Das Mädchen öffnete die Augen und gab den Männern mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie sich nicht rühren und ihr nicht folgen sollen. Diese sahen zwar nicht glücklich über den Befehl aus, doch sie gehorchten.

Je näher Arianne dem Wimmern kam, desto mehr fragte sie sich, wer dies sein könnte. War es ein Diener, der etwas kaputt gemacht hatte und nun den Zorn der Hausherrin befürchtete? Sie ging immer weiter den Gang entlang und blieb dann plötzlich stehen. Nun konnte sie das Wimmern deutlich hören, ohne dass sie sich anstrengen musste. Arianne erkannte, dass sie vor der Tür zu einer Besenkammer stand, und runzelte die Stirn. Sollte es sich wirklich um einen Diener handeln?

Ihre Hand ging zu der Türklinge, doch sie öffnete nicht die Tür. Wie sollte sie reagieren, wenn es sich tatsächlich einem Dieb handelte, der voller Angst war. Sollte sie ihn trösten, obwohl sie wusste, dass ihre Mutter den Betroffenen hart bestrafen würde? Oder sollte sie ihn zu ihrer Mutter schleifen, damit sie von dem Vorfall erfuhr. Natürlich konnte sie auch versuchen, dass was der Diener angestellt hatte, wieder in Ordnung zu bringen und den ganzen Vorfall ihrer Mutter verschweigen. Bei den ersten beiden Fällen würde der Betroffene hart bestraft werden, dass wusste Arianne. Doch bei dem letzten Fall bestand die Gefahr, dass ihre Mutter es herausfinden würde und dann würde sie Arianne bestrafen. Zwar nicht hart, denn sie war ihre älteste Tochter, doch es würde auch nicht angenehm werden.

Vor allen, da Tante Lor nicht da ist … und irgendjemand muss sich um meine Geschwister kümmern. Ich kann es mir nicht erlauben, dass Mutter wütend auf mich ist.

Arianne atmete tief ein. Egal, wofür sie sich entscheiden würde, erst einmal würde sie herauffinden, was überhaupt los war.

Sie riss die Tür mit einem Ruck auf und machte sich auf den Anblick eines aufgelösten Dieners bereit. Sie riss die Augen ungläubig auf und taumelte zwei Schritte zurück.

In dem Besenschrank befand sich kein Diener, der weinte, sondern ihre jüngste Schwester Khileisa.

 

Der Schrei hallte noch lange nach, doch Miriam Thorn zuckte nicht einmal zusammen. Sie starrte mit einem kalten Blick auf die Frau vor sich, die an der Wand hing. Ihre Arme und Beine waren ausgestreckt und mit Ketten an der Wand befestigt. Dabei war ihr Körper bis zum bersten angespannt und wurde von roten Flecken bedeckt.

Die Frau war eine Wasserwächterin und vollkommen unbekleidet. Auf ihrer Stirn war immer noch ein blauer Tropfen zu erkennen, der das Zeichen für das Wasser war. Doch dies würde nicht mehr lange sein. Miriam hatte noch einiges mit ihren Opfer vor und schon alleine der Gedanke daran, ließ ihre innerliche Freude aufflackern. Sie legte das glühende Eisen auf einem Tisch und wandte sich der Frau zu.

„Du kannst es beenden! Beantworte einfach meine Frage … mehr verlange ich gar nicht“, sagte sie in leiser Stimme.

Tief in Inneren hoffte sie, dass die Wächterin sich weiterhin weigern würde, irgendwelche Fragen zu beantworten. Dann würde sie ihre Künste auch weiterhin ausführen können. Doch Miriam war klar, dass früher oder später jede Wächterin brach. Es war nur eine Frage der Zeit und dann würde die Freude vorbei sein.

Die Wächterin hob mühevoll ihren Kopf und neben dem Schmerz stand Wut in ihren Augen. „Ich werde dir gar nichts sagen, Schwarzes Blut“, presste sie hasserfüllt hervor.

Die Freude in Miriam wurde größer und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Sie beugte sich vor und drückte ihren Zeigte- und Mittelfinger in die Brandwunde, die sie gerade erst verursacht hatte.

Ein erneuter Schrei entfuhr der Wächterin, doch sie schüttelte ihren Kopf.

„Du willst also die Starke sein“, sagte Miriam langsam und verstärkte ihren Druck auf der Wunde. Der Schrei wurde lauter. „Du denkst, dass wenn du dich weigerst, ich schnell mein Interesse verlieren werde, doch dies wird nicht geschehen. Wir haben die ganze Nacht Zeit und ich verspreche dir, dass ich noch vieles für dich habe.“

Für einen Moment flackerte Angst in den Augen der Wächterin, doch dann stand wieder Hass in ihnen. Sie schaffte es, ihre Peinigerin anzuspucken.

Mit starrem Gesicht sah Miriam die Frau an, wischte dann ihr Gesicht ab und schlug unvermittelt die Wächterin ins Gesicht. Deren Kopf prallte gegen das Gestein und Blut schoss aus deren Nase.

„Ich werde dir einen Tipp verraten“, sagte sie leise und mit gefährlicher Stimme. „Man sollte seinen Folterer nicht reizen. Vor allen dann nicht, wenn man sich in einer schlechten Position befindet.“

Sie wandte sich von der Frau ab und trat zu dem Kamin, in dessen Kohle mehrere Eisenstangen lagen. Sie nahm einen nach den anderen in die Hand, betrachtete sie genau und suchte sich eine Stange, deren Spitze am hellsten glühte. Ein erneutes Lächeln erschien in ihrem Gesicht und sie drehte sich zu der Wächterin um.

„Wollen wir mal schauen, wie lange du letztendlich durchhalten wirst.“

Sie trat vor der Frau und sah sie abschätzend an. Ihr Blick ging über den verunstalteten Körper ihres Opfers und sie überlegte, welche Stelle sie als nächsten nutzen sollte. Sie fand eine, ihr Lächeln verwandelte sich in einem Grinsen und sie drückte das Eisen auf die ihr herausgesuchte Stelle.

Ein erneuter greller Schrei hallte durch den Raum.

 

Immer noch starrte Arianne auf ihre Schwester und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Dieses Wimmern stammte von Khileisa und nicht von einem Diener.

Khileisa selber schien nicht zu merken, dass die Tür zur Besenkammer geöffnet war. Sie lag auf dem Boden, hatte ihren Kopf zwischen ihre Hände genommen und weinte. Dabei entfuhr ihr immer wieder ein Wimmern, als würde sie schmerzen haben.

„Khil!“

Mit schnellen Schritten war Arianne an der Seite ihrer Schwester und wollte sie an ihrer Schulter ergreifen, als Khileisa leise aufschreiend zusammenzuckte. Sie riss ihre blutunterlaufenden Augen panisch auf und wich zur Wand der Kammer zurück. Mit voller Angst starrte sie auf Arianne.

Verwirrt hielt Arianne inne und wusste nicht so recht, was sie machen sollte. Fragen tauchten in ihr auf.

Warum hatte Khileisa solch große Angst? Wieso versteckte sie sich in der Besenkammer und weinte? Und warum schien sie Schmerzen zu haben?

„Hey, Khil … es ist alles in Ordnung“, sagte Arianne sanft und wollte näher zu ihrer Schwester kommen, doch diese presste sich noch weiter an die Wand. Ihr Blick ging gehetzt in der Kammer umher. So, als würde sie einen Fluchtweg suchen. Doch der einzige Weg, dem es gab, war durch Arianne versperrt. Die Verwirrung in Arianne wurde größer und sie hielt inne. Dann hob sie beide Hände vor sich, um ihrer Schwester zu zeigen, dass sie keine Angst haben musste.

„Khil … es ist alles gut“, sagte Arianne leise. „Du brauchst keine Angst haben. Ich bin es … Arianne.“

Der gehetzte Blick in Khileisas Augen wurde ein wenig ruhiger, doch die Angst blieb immer noch vorhanden. Sie drückte sich weiterhin gegen die Wand und schien nicht wirklich zu erkennen, dass keine Gefahr bestand. Dann verzog sich ihr Gesicht und sie krümmte sich zusammen. Ein erneutes Wimmern entfuhr ihr, während Tränen über ihr Gesicht flossen.

Angst stieg in Arianne auf, als sie ihre Schwester betrachtete. Irgendetwas stimmte überhaupt nicht mit ihr.

„Khil?“

Sie trat vor und hielt ihre Schwester fest. Diese schrie auf und begann sich zu wehren. Die Panik trat wieder in ihren Augen und sie versuchte aus der Umarmung ihrer Schwester zu gelangen. Tränen liefen Khileisa über das Gesicht. Arianne umarmte ihre Schwester, und versuchte Geborgenheit auszudrücken. „Alles ist gut, Schwesterchen … alles ist gut, Khil“, murmelte sie immer wieder und spürte, dass nach einiger Zeit sich Khileisas Körper entspannte. Sie hörte auf, sich zu wehren und verstummt auch. Dann merkte Arianne, dass Khileisa ihren Kopf auf ihre Schulter legte und wie der Stoff dort nass wurde. Nass von den Tränen ihrer Schwester.

Minuten vergingen, in denen Arianne ihre Schwester festhielt und immer wieder beruhigen auf sie einsprach. Sie spürte, wie sich ihre Schwester langsam beruhigte und als sie sich sicher, war, dass keine Gefahr mehr bestand, löste sie die Umarmung und sah ihre Schwester an.

In deren Augen stand immer noch Schmerz. Sie war bleich, ihr Gesicht sah eingefallen aus und ihre Wangen glänzten von der Nässe der Tränen.

„Khil?“

Khileisa zuckte zusammen, doch sie brach nicht nieder in Panik aus. Stattdessen suchte ihr verzweifelter Blick den ihrer Schwester.

„Arianne …“

Es war ein Hauch und Arianne hätte beinahe nicht ihren Namen verstanden. Doch da sie auf eine Entgegnung ihrer Schwester gewartet hatte, konnte sie diese hören.

„Ja“, sagte sie leise und beugte sich zur ihrer Schwester vor. „Ich bin hier, Khil.“

Erleichterung trat in die Augen ihrer jüngeren Schwester und in den Augenwinkeln sammelten sich Tränen, doch das Mädchen begann nicht wieder zu weinen.

Arianne legte einen Arm beruhigend auf die Schulter ihrer Schwester.

„Was ist passiert?“

Ariannes erster Gedanke war, dass ihre Schwester wieder krank war. Dies war die einzige Erklärung, die es für die Schmerzen und die Angst gab. Diese Schmerzen hatte Khileisa auch vor einen Mond gehabt und ebenso die Angst. Doch wenn sie wieder krank war, dann würde es bedeuten, dass …

Die älteste Tochter riss die Augen auf.

Seitdem ihre Mutter den Verdacht hatte, dass Khileisa an ihre Tränke gegangen war, hatte sie Vorsorge getroffen, dass ihre jüngste Tochter nicht mehr an diese kommen würde. Mit anderen Worten, es wäre für Khileisa nicht möglich gewesen, sich wieder selber zu vergiften und sie hätte auch keinen Grund gehabt. Dies wiederum hieß, dass wirklich jemand anderes dahinter stecken musste.

Dieses Mal muss Mutter einsehen, dass ich recht habe. Dieses Mal kann sie ihre Augen davor nicht verschließen.

Arianne zog ihre Schwester auf die Beine und stützte sie.

„Ich bring dich ins Bett, Khil“, sagte sie leise, obwohl sie nicht sicher war, ob Khileisa sie hören konnte. Der Blick ihrer Schwester war wieder trübe geworden und sie wimmerte wieder in unregelmäßigen Abständen. Zum Schluss gelang es Arianne mit der Hilfe ihrer beiden Wachen, die sie gerufen hatte, ihre kleine Schwester in ihr Zimmer zu bringen. Dabei fragte sie sich, wie es Khileisa gelungen war, ihr Zimmer so zu verlassen, dass ihre eigenen Wachen dies nicht mitbekommen haben. An den Blick beider Männer sah sie, dass diese überrascht waren, dass ihr Schützling nicht in ihr Zimmer war und dann wurde aus dem überraschten Blick ein ängstlicher. Sie starrten Arianne an und eine stille Bitte trat in ihre Augen. Arianne schloss die Augen. Sie wusste, was mit dem Männern passierte, wenn ihre Mutter erfuhr, dass Khileisa das Zimmer verlassen hatte, ohne dass es die Männer es gemerkt hatten. Arianne wollte nicht, dass sie bestraft werden würden, sodass sie ihre Augen wieder öffnete. Sie schloss die Tür zu dem Zimmer von ihrer Schwester und sah dann ihre Wachen an, sowie die zwei von Khileisa.

„Also … ich weis nicht, was hier passiert, aber ich werde Mutter nicht sagen, dass ihr nicht aufgepasst habt“, sagte sie zu den beiden Männern, in deren Augen Erleichterung trat. Sie sah ihre eigenen Wachen an. „Ihr werdet es auch verschweigen. Ich habe von Khileisas Zustand erfahren, weil ihr …“ Sie deutete auf die Wachen ihrer Schwester. „…gemerkt habt, dass etwas nicht stimmte. Ihr seit ins Zimmer gegangen und habt gesehen, dass es Khil nicht gut ging. Daraufhin ist einer von euch zu mir gekommen und habt mich geweckt. Ich bin zu Khil gegangen und habe festgestellt, dass sie krank ist. Verstanden?“

Die beiden Männer nickten eifrig, denn sie schienen zu begreifen, dass die älteste Tochter ihrer Herrin ihr helfen wollte. Sie beschützen wollten. Dann wandte sich Arianne zu ihren Eigenen. Sie sah diese streng an.

„Als einer der anderen zu euch gekommen war, habt ihr ihm erlaubt, mich zu wecken, da ihr wisst, dass ich mir große Sorgen um Khil mache. Ihr werdet niemanden etwas anderes sagen, sonst werde ich euch bestrafen und glaubt mir … ich kann schlimmer als meine Mutter sein. Außerdem wird es ihr nicht gefallen, wenn sie die Wahrheit erfährt … denn dann würde sie herausfinden, dass ihr mich nicht begleitet habt, als ich Khil gefunden habe. Und Mutter wäre es egal, ob ich es euch befohlen hätte. Haben wir uns verstanden?“

Sie sah in den Augen ihrer Wachen, dass sie vollkommen verstanden haben. Zwar gefiel es ihr nicht, selber Drohungen auszusprechen, doch sie wusste, dass es das Richtige war.

Was mach ich hier? Wieso decke ich Khils Wachen … immerhin könnte einer der beiden für ihren Zustand verantwortlich sein. Sie sah die beiden Männer an und schüttelte innerlich den Kopf. Nein, Arlon und Fredrick sind seit sieben Jahren Khileisas Wachen. Ich glaube nicht, dass sie dahinterstecken.

Sie atmete tief durch. „Gut, Arlon, Fredrick. Ihr werdet weiterhin vor Khils Tür Wache halten. Bran, Cajon … wir werden meine Mutter aufsuchen und ihr von Khil erzählen.“

Während die ersten beiden Genannten aufatmeten, wurden die beiden letzteren bleich. Es war allgemein bekannt, dass Miriam Thorn es nicht mochte, wenn man sie bei der Arbeit störte. Und dies genau hatte Arianne nun vor und ihre beiden Wachen würden sie begleiten müssen.

 

„Ich muss sagen, du bist wirklich hartnäckig“, murmelte Miriam und die Freude in ihr wurde größer. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal so eine Herausforderung gehabt hatte. Die meisten Wächterinnen, die sie die letzten Tage bearbeitet hatten, waren sehr schnell gebrochen. Doch diese Wasserwächterin vor ihr, hielt immer noch stand und schaffte es sie hasserfüllt anzublicken. „Es wird mir eine Freude sein, dich letztendlich doch zu brechen!“

Ihr Blick ging durch den Raum, während sie nachdachte. Was sollte sie als Nächstes unternehmen, um diese Frau in die Knie zu zwingen. Sie betrachtete lange einen bestimmten Schrank, doch winkte dann ab. Nein, dazu wäre später auch noch Zeit … wenn so lange die Frau aushalten würden. Sie trat an einem Tisch, auf dem mehrere Messer lagen. Es waren Messer, die sie nutzte, um ihren Opfern die Haut abzuziehen. Sie sah aus den Augenwinkeln zu der Frau.

Sollte sie dies machen? Sie könnte an den Füßen beginnen und sich dann langsam nach oben arbeiten. Jedoch bestand dann die Gefahr, dass die Frau verbluten konnte, sie hatte schon viele Wunden.

Miriam schüttelte den Kopf. Sie würde auf diese Möglichkeit erst greifen, wenn ihr keine andere Wahl mehr blieb.

Abermals trat sie an dem Kamin und blickte auf die glühenden Eisenteile. Feuer war das gegenteilige Element einer Wasserwächterin und demzufolge besaß es die meiste Kraft, um sie zu schwächen. Deswegen hatte Miriam auch damit begonnen, die Frau mit glühenden Eisen zu behandeln, doch es hatte nichts gebracht. Dies war erstaunlich, denn etwas in Miriam sagte ihr, dass sie mit dieser Methode bei der Frau nicht vorankommen würde.

Kopfschüttelnd trat sie an einen anderen Tisch und nahm eine Phiole in die Hand. Sie öffnete sie und roch daran. Abermals trat ein vorfreudiges Lächeln in ihrem Gesicht.

Sie wandte sich zu ihrem Opfer um.

„Wollen wir mal schauen, wie lange du letztendlich doch durchhalten kannst.“

Mit diesen Worten spritzte sie den Inhalt der Phiole auf das verbrannte Fleisch der Wächterin, welche sofort wieder zu schreien begann. Miriam Thorn nahm die Schreie in sich auf, labte sich daran und fühlte die Macht. Die Macht, die sie gegenüber anderen hatte und die ihr niemand nehmen konnte.

Als der Schrei verklang, holte sie aus, um nochmals die Wunden zu bespritzen, als ein Klopfen sie aus dem Konzept brachte.

Wütend wirbelte Miriam um und starrte auf die Tür.

Wer würde es wagen, mich jetzt zu stören!?

Das Klopfen wiederholte sich und Miriam kniff die Augen zusammen. Sie sah zu der Wächterin.

„Sieht so aus, als ob du eine kleine Pause haben würdest“, sagte sie und war innerlich beeindruckt, als sie den hasserfüllten Blick der Frau sah. „Wir machen gleich weiter.“

Miriam stellte die Phiole auf dem Tisch, ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Sie hoffte sehr, dass die Person auf der anderen Seite einen guten Grund besaß, sie zu stören. Sollte es nicht so sein, dann würde sich heute Nacht noch jemand anderes vor Schmerzen winden.

Sie riss die Augen überrascht auf, als sie ihre ältere Tochter Arianne und deren Wachen erkannte.

Miriam wusste, dass Arianne nie freiwillig den Keller betreten und sie gestört hätte, wenn es keinen guten Grund dafür geben würde. Sie kniff die Augen zusammen, trat auf dem Flur und schloss die Tür hinter sie. Die Männer hinter ihrer Tochter zuckten ängstlich zusammen, als Miriam sie ansah, ehe sie ihre Aufmerksamkeit Arianne zuwandte.

„Was ist los, mein Schatz?“

Arianne starrte erst die Tür hinter ihrer Mutter an und ein Schaudern befiel sie. Dies konnte Miriam sehr deutlich erkennen. Willst immer stark sein, Arianne, aber in Wirklichkeit bist du schwächer als deine Schwester Tanata. Sie fühlt sich hier unten nicht unwohl.

„Also“, fragte Miriam ungeduldig. Sie verschränkte die Arme. Sie hatte noch viel vor, denn immerhin wartete eine Herausforderung auf sie.

„Mutter … Khil geht es nicht gut.“

Miriam verzog ihr Gesicht, als sie dies hörte. Dies war der Grund, warum ihre Tochter sie störte? Doch dann erkannte sie die Sorge in Ariannes Blick und sie atmete tief ein. „Erzähl von vorne“, forderte sie ihre Tochter auf.

 

Einen halben Kerzenstrich später stand Miriam neben Khileisas Bett und blickte auf ihre Tochter. Diese war in einen unruhigen Schlaf gefallen, doch das war es nicht, was Miriam so verunsicherte. Es war das kranke Aussehen ihrer Tochter und zum ersten Mal fragte sie sich, ob Lorantha und ihre Töchter recht gehabt hatten. Dieses Mal konnte Miriam sicher sein, dass ihre Tochter nicht an eine ihrer Tränke gegangen war und wie eine normale Krankheit sah es auch nicht aus. Sie beugte sich vor, legte ihre Hand auf Khileisas Stirn und spürte, dass dies glühte. Das Kind hatte starkes Fieber und dabei ging es ihr noch beim Abendesse gut. Was also hatte dafür gesorgt, dass es ihr so schnell schlecht geworden war?

Da musste jemand mitgeholfen war und dies würde bedeuten …

Miriam sah auf und blickte in das besorgte Gesicht von Arianne, die an der anderen Seite des Bettes lag und ihre Schwester betrachtete. Wärme kam in Miriam auf. Auch wenn sie ihre Meinungsverschiedenheiten hatte, so liebte sie ihre älteste Tochter sehr und sie war auch stolz auf sie. Arianne würde zwar nie ihren Weg gehen, doch dafür einen eigenen finden. Was jedoch die Wärme in Miriam verursachte, war, dass Arianne sich sehr um ihre jüngeren Geschwister kümmerte. Genauso wie Lorantha sich um ihre jüngere Schwester Miriam gekümmert hatte.

Ein Stich durchfuhr Miriam und zum ersten Mal seit dem Streit mit ihrer Schwester fragte sie sich, ob sie nicht im Unrecht war. Ob sie sich darum kümmern sollte, den Streit aus der Welt zu schaffen. Sie hasste es, wenn sie sich mit Lorantha stritt und so schlimm war es noch nie gewesen.

Miriam sah auf ihre Jüngste.

Lorantha hatte Recht, was Khileisa anging … vielleicht … vielleicht ist auch bei ihren anderen Worten etwas dran. Wenn sie wieder in der Stadt ist, dann sollte ich mich mit ihr unterhalten.

Sie beugte sich abermals über Khileisa und strich ihr eine verschwitzte Strähne aus dem Gesicht. Ihr Opfer im Keller würde wohl länger warten müssen. Nun galt es darum, sich um ihre Familie zu kümmern.

 

Kapitel Achtunddreißig

 Loranthas Entdeckung

 

Vertrauen kann gut sein, doch manchmal muss man sich selber überzeugen. Deswegen ist es wichtig, dass man Risiken eingeht, um die Wahrheit zu finden … vor allem, wenn das eigene Gefühl einen dazu rät.

 

Lorantha Thorn,

Rechte Hand des verborgenen Herrschers,

Winter im Jahre 2594

 

Als Loratha Thorn ihr Zelt verließ, bemerkte sie, wie zwei Soldaten an ihre Seite traten und mit ihr durch das Lager liefen. Die Rechte Hand kniff die Augen zusammen und unterdrückte die Worte, die gerade dabei waren, in ihr aufzukommen. Seitdem sie und Pendril herausgefunden haben, dass die Schattenangriffe vor allem im Gebirge stattfinden, hatte der Kommandant darauf bestanden, dass sie immer von zwei Soldaten begleitet werden sollte. Sozusagen als Schutz, falls es zu einem Schattenangriff kommen sollte. Dafür selber hatte der alte Soldat die Frauen abkommandiert, sodass auch nachts im Zelt eine bei ihr Wache halten sollte. Lorantha war überhaupt nicht begeistert davon, doch sie erwähnte es nicht gegenüber ihren Leibwächterinnen, denn diese würde ja im Notfall ihr Leben für ihres einsetzen. Doch ihre Unzufriedenheit hatte sie Pendril sehr deutlich gemacht, welcher darauf jedoch lächelnd gemeint hatte, dass sie auch gerne außerhalb des Gebirges auf dem Gallarn Anwesen wohnen könnte. Etwas, was Lorantha erst recht nicht vorhat. Demzufolge blieb sie ruhig, akzeptierte ihre Soldaten und versuchte sie zu ignorieren. Darin war sie gut. Wenn sie jemanden nicht sprechen wollte, oder einfach zeigen wollte, dass sie gerade an ihm nicht interessiert war, dann ignorierte sie die Person. Die meisten verstanden diesen Wink und ließen sie dann in Ruhe. Niemand wollte sie herausfordern.

Lorantha begab sich auf dem schnellsten Weg zu dem Kartentisch, und als sie dort angekommen war, sah sie Pendril Fotgarn, wie er über den Tisch gebeugt war und mit Kohlestift einige Zeichen setzte. Die Rechte Hand kam näher. Sie betrachtete die Karte, sah sie unzählige Symbole darauf und runzelte ihre Stirn. Dreiecke standen für Tempel der Wächterinnen. Kreuze für die Plätze, wo Schatten gesichtet worden waren. Ein leerer Kreis kennzeichnete die Stelle, wo einige Gruppen ihr Zweitlager aufgerichtet hatten. Volle Kreise waren die Trainingsstätten der jerarischen Armee. Ein Viereck deutet auf die Stelle, wo Personen verschwunden sind und ein Viereck mit Kreuz stand für das Verschwinden, wo Schatten involviert waren. Pendril war gerade dabei ein weiteres Kreuz, dass von einem Viereck umrahm wurde zu setzen und zwar genau dort, wo sich vorher ein leerer Kreis befunden hatte. Lorantha kniff die Augen zusammen und dachte nach.

„Das ist die Adler-Stellung, oder“, fragte sie.

Der Kommandant sah auf und nickte. „Ja … Hauptmann Gorden hat uns eine Nachricht geschickt. In dieser stand, dass sie ein Teil von Adran`s Truppen dort tot gefunden haben. Jedoch nicht alle, sodass sie die Umgebung abgesucht haben. Sie haben Spuren gefunden und sind nun dabei, diese zu folgen. Dabei sind sie einmal auf Schatten gestoßen und Harkon hat vier seiner Männer verloren.“ Pendril hielt inne und sein Gemüt verfinsterte sich. „Er meinte, dass diese Schatten auf der einen Seite sehr brutal waren, aber auf der anderen Seite haben sie einige Soldaten eher geschont und wollten sie nur bewusstlos niederschlagen.“

Lorantha runzelte die Stirn, als sie dies vernahm, und sah dann wieder auf die Karte. „Bewusstlos? Warum sollten die Schatten dies machen? Was haben sie davon … auf der anderen Seite, könnte dies auch die Lösung des Rätsels sein. Die Personen sind ja immer verschwunden … es wurde keine Leichen oder so gefunden. Vielleicht haben die Schatten diese niedergeschlagen und sie dann fortgetragen.“ Lorantha tippte sich nachdenklich mit dem Zeigefinger auf ihre Lippen. „Die Frage ist nur, warum? Warum verschleppen Schatten Personen … dass ist doch entgegen ihrer Natur.“

Pendril sah nicht so aus, als hätte er eine Antwort parat.

„Und wer steckt wirklich dahinter“, fuhr Lorantha fort. „Ich bezweifle, dass die Schatten dies ohne Anweisungen machen … es sind immerhin nur Schatten, die nur Zerstörung im Kopf haben und nicht wirklich eigenständig denken können.“ Sie sah von einem Kreuz zu den anderen, als hoffte sie, eine Lösung zu finden. „Je mehr ich darüber nachdenke, desto unsicherer bin ich mir, dass die Wächterinnen etwas damit zu tun haben.“

Pendril sagte nichts darauf. Er selber blickte nun wieder auf die Karte.

Lorantha legte den Finger auf die Stelle, die das Tal und somit das große Lager markierte. Sie sah die Umgebung an und ihre Gedanken rasten. Nicht weit vom Tal, gab es ein Dorf, indem sie vor einigen Tagen Soldaten geschickt hatte, um den Dorfbewohnern zu zeigen, dass es jemanden gab, der auf sie aufpasste. Und dass es nicht der ardàsksche König war. Bisher hat es keine Rückmeldung von den Soldaten gegeben, doch ihre Aufgabe es auch, sich nur zu melden, wenn Personen verschwanden, oder Schatten auftauchten. Sie legte ihren Finger auf einen anderen Ort, wo es einen Schattenangriff gegeben hatte und runzelte plötzlich ihre Stirn.

„Pendril … kommt es mir nur so vor, oder haben die Angriffe alle in kleinen Tälern oder Einbuchtungen stattgefunden?“

Der Kommandant beugte sich vor und betrachtete die Karte genauer. Dabei sah er vor allen die Kreuze an und wie sie verteilt waren. Nach einigen Herzschlägen nickte er zustimmend.

„Jawohl, Herrin.“ Er klang zerknirscht, so als wäre er darüber unglücklich, dass es ihm nicht vorher aufgefallen war. „Es handelt sich tatsächlich um breitere Stellen, als nur Schluchten oder kleine Pfade.“

Lorantha dachte nach. Konnte es sein, dass die Schatten viel Platz brauchten, um anzugreifen, oder warum mieden sie enge Stellen? Ihr Blick schweifte zu dem Lager, das sich im Tal befand und ihr wurde wieder der Gefahr bewusst, in der sie sich befanden. Dies musste auch Pendril gedacht haben, denn sein Blick ging zu den beiden Soldatinnen, die etwas entfernt standen und die Umgebung im Auge behielten. Er schien seine Meinung bestätigt sehen, dass die Rechte Hand Leibwächter brauchte.

„Mir gefällt das Ganze nicht“, murmelte sie und sah dann zu einem Kreuz, dass sich nicht weit vom Tal befand und wo eine der ersten Personen verschwunden waren. Laut Henriette Gallarn wurden dort das letzte Mal fünf Soldaten gesehen, ehe sie verschwunden sind. Dass sie desertiert sind, daran dachte niemand mehr, und weil die verschwundenen Soldaten sehr erfahren und kampferprobt waren, deutete darauf, dass die Schatten wirklich gut waren.

Warum sammeln die Schatten Menschen ein? Was haben sie davon?

Lorantha erinnerte sich daran, dass es Menschen gab, die von einem Schatten besessen waren. Nicht so, wie Vlar`zark, der eine richtige Symbiose einging, sondern etwas anderes. Schattenbesetzte waren in den meisten Fällen freiwillige, doch es gab auch Situationen, wo Personen dazu gezwungen wurden. Meisten waren es starke Schatten, die noch mehr Macht haben wollten und sich deswegen einen Körper suchten. Die nicht darauf warten wollten, bis sich jemand freiwillig ihnen anbot. Was es auch hier der Fall? Verschwanden die Personen, damit die Schatten sich in ihnen einnisten konnten?

Lorantha spürte, wie sie bleich wurde und einige Schritte zurückwich. Schatten zu bekämpfen war für einen einfachen Soldaten nicht gerade einfach, doch gegen einen Schattenbesetzten, war es fast unmöglich zu gewinnen. Zwar gab es für solche Fälle speziell ausgebildete Krieger, doch solche waren in einer normaler Armee kaum zu finden. Sie sah abermals zu dem Lager und fragte sich, wie viele Soldaten hier in der Lage waren gegen einen Schattenbesetzten zu bestehen.

Unwillkürlich legte sie ihre Hand auf dem Griff ihres Schwertes und dachte an ihre Ausbildung. Sie selber hatte in ihrem Leben schon zwei-drei Mal gegen Schatten gekämpft, doch noch nie war sie einem Besetzten gegenüberstanden. Aufregung kam in ihr hoch, als sie daran dachte. Aufregung und Furcht. Sie schloss die Augen und atmete tief durch.

Denke an die Ruhe in dir. Noch sind keine Schatten hier aufgetaucht und wir sind schon seit zwanzig Tagen hier … Sie hielt inne und öffnete die Augen. Warum eigentlich? War diese Gruppe hier zu groß, als dass die Schatten es nicht wagten, sie anzugreifen?

Sie trat wieder an den Tisch heran und starrte auf die Kreuze. Ihr Blick ging wieder zu dem einen, der sich ganz der Nähe befand. Sie fällte einen Entschluss.

Wenn die Soldaten nichts herauffanden, dann musste sie selber einen solchen Ort anschauen. Vielleicht würde sie etwas finden, dass die anderen übersahen.

Sie sah Pendril an, dessen Blick ebenfalls auf die Karte gerichtet war. Sein Gesicht sah nachdenklich und grimmig aus.

Lorantha drehte sich um und verließ den Felsvorsprung, wobei sie sah, dass ihre beiden Leibwächterinnen ihr wieder folgten. Ihr Entschluss wurde gefestigt und sie suchte den schnellsten Weg, der zu ihrem Zelt ging. Dort angekommen gab sie den Soldatinnen ein Zeichen, dass diese draußen warten sollten.

Im Zelt angekommen, schnallte Lorantha ihren Gürtel mit dem Schwert ab und legte ihn auf das Feldbett. Dann zog sie sich um. Sie hatte vor die Stelle zu besichtigen, wo die fünf Soldaten verschwunden waren und wollte dafür sicherere Kleidung tragen. Ihr war zwar bewusst, dass es Pendril nicht gefallen würde, doch er musste nicht unbedingt erfahren, wo sie genau hinging. Lorantha entschied sich für dunkle robusten Hosen und ein ebenfalls so dunkles Hemd. Dann sah sie zu der Truhe, die sie bisher noch nicht geöffnet hatte. Sie ging zu dieser hinüber, kniete sich davor und hob den schweren Deckel. Eine einfache, aber robuste Lederrüstung war in ihr zu finden. Ein leichtes Lächeln trat auf ihrem Gesicht, als sie diese betrachtete, und holte den Torso hervor. Langsam fuhr sie mit dem Fingern über das eingebrannte Symbol eines Kranichs. Mit schnellen Handgriffen hatte sie die Rüstung aus der Truhe geholt und rief dann eine der Soldatinnen, ihr Name war Mina, herein. Diese trat in das Zelt, verbeugte sich und riss dann die Augen auf, als sie die Rüstung auf dem Tisch liegen sah. Ein fragender Ausdruck trat in ihrem Gesicht.

„Mina … ich möchte, dass ihr mir an Anziehen helf“, sagte Lorantha in einem Ton, der erwartete, dass die Soldatin nicht widersprach.

Die Soldatin nickte knapp, und auch wenn man ihr ansehen konnte, dass sie nicht wusste, was sie davon halten sollte, so sagte sie nichts. Sie war eine Soldatin und Lorantha war die Rechte Hand des verborgenen Herrschers. Nie würde sie ihre Anweisungen in Frage stellen. Vor allen nicht, wenn sie an all die Geschichten über diese Frau nachdachte.

Da die Rüstung gut gepflegt und alle Scharniere immer eingeölt waren, dauerte es nicht lange und Lorantha hatte ihre Rüstung an. Mina, die Soldatin zog einige Gurte enger und half dann auch noch der Rechten Hand, den Gürtel mit dem Schwert wieder umzuschnallen. Als sie fertig waren, wandte sich Lorantha der Soldatin zu.

„Gut … ich will, dass ihr noch einige eurer Kameraden zu uns holt … wir werden einen Ausflug in die Berge machen.“

Deutlich war der Unwille in den Augen der Soldatin zu erkennen, doch abermals sagte sie nichts, sondern nickte und verbeugte sich. Dann verließ sie das Zelt, um der Aufforderung Folge zu leisten.

 

Lorantha starrte auf dem Rücken der ältesten und erfahrensten Soldatin, die an erster Stelle ging und darauf zu beharrte, vor der Rechten Hand zu sein, falls von vorne ein Angriff starten konnte. Lorantha gefiel dies nicht, doch die Soldatin war da nicht zu erweichen zu gewesen und hatte auch nicht mit den Wimpern gezuckt, als Lorantha ihr gedroht hatte. Brunhilde, so hieß diese Soldatin, hatte ruhig erwidert, dass die Sicherheit der Rechten Hand bei ihr und ihren Soldatinnen lege und in Fragen der Sicherheit, die Rechte Hand keine Befehlsgewalt besaß. Dann hatte sie noch hinzugefügt, dass sie gerne zum Kommandanten Fotgarn gehen konnten, um nachzufragen, wer in diesem Fall die Befehle besaß.

Natürlich hatte Lorantha nicht vorgehabt Pendril aufzusuchen, denn dieser hätte nie zugelassen, dass sie das Tal verließ, um einen Ort aufzusuchen, wo Schatten gesichtet worden waren. Also presste Lorantha die Lippen zusammen und gab mit einer Geste zu verstehen, dass Brunhild vorangehen sollte.

Neben Mina und Brunhild waren noch sechs anderen Soldatinnen mitgekommen. Es war Brunhild deutlich anzusehen, dass sie lieber noch viel mehr gehabt hätte, doch die restlichen drei Soldatinnen, die für die Sicherheit von Lorantha verantwortlich waren, schliefen, damit sie in der Nacht Wache halten konnten und Lorantha hatte sich insoweit durchgesetzt, dass keine Männer mitkommen sollten. So blieb der Soldatin nichts anderes übrig, als sich mit dem wenigen zufrieden zugeben.

Der Weg zu dem Schauplatz war uneben und öfters mussten sie sich zwischen einer engen Spalte quetschen, doch keiner der Frauen beschwerte sich. Sie alle sahen sich aufmerksam um und versuchten die ganze Umgebung im Auge zu behalten. Bei jedem kleinsten Geräusch zogen die Soldatinnen fast die Schwerter.

Lorantha war klar, dass sie diese Frauen in eine unschöne Situation brachte. Sie verließ die Sicherheit des Lagers und die Soldatinnen waren für ihre Sicherheit zuständig. Wenn ihr also etwas passierte, dann würden die Frauen dafür gestraft werden und nicht einmal ihr Versuchen würde etwas daran ändern. Und Lorantha wusste, woraus die Strafe bestehen würde, wenn die Rechte Hand starb, während die Leibwächter überlebten.

Doch ihr Mitleid hielt sich in Grenzen, denn sie musste einfach einen Schauplatz selber sehen, denn ein Gefühl sagte ihr, dass sie alle etwas übersahen. Schweigend ging Brunhild voran, wobei sie jedoch nicht die Erste war. Eine jüngere Soldatin war als Späherin vorausgeschickt worden, damit sie sehen konnte, ob der Weg auch sicher und passierbar war. Auf jeder Seite neben Lorantha ging, wenn es der Platz erlaubte jeweils eine Seite eine Soldatin und hinter ihr folgten vier andere. Diese Konstellation war Lorantha nur recht, denn die meisten heimtückischen Angriffe starteten von hinten und deswegen befanden sich dort die meisten Personen. Von vorne war der Weg insoweit abgesichert, dass die Späherin in kurzen Abständen ein Vogelzwitschern von sich oder ein Zeichen in der Wand eingeritzt hinterließ, um zu sagen, dass der Weg sicher war.

Die Rechte Hand legte ihre Hand auf dem Griff ihres Schwertes und war sich sicher, dass mittlerweile Pendril herausgefunden haben musste, dass sie das Lager verlassen hatte. Sie hatte einen jungen Soldaten eine Nachricht für den Kommandanten gegeben, mit der Anweisung zwei Kerzenstriche zu warten, ehe er es Pendril übergeben sollte. Für einen Moment hatte die Frau Mitleid mit dem Soldaten, doch dieses verflog wieder. Pendril hätte nie, aber nie zugelassen, dass sie sich diese Gefahr aussetzte.

Ich bin die Rechte Hand! Ich muss selber etwas unternehmen und darf nicht nur Soldaten ausschicken. Wegen dieser Versammlung ist sowieso schon mein Ruf so gut wie hin … ich darf ihn nicht noch mehr verlieren, indem ich nichts unternehme und mich stattdessen in der Sicherheit des Lagers aufhalte. Ich bin ein Vorbild! Ich bin der Vertreter des verborgenen Herrschers!

Als sie an die Versammlung dachte, gingen ihre Gedanken automatisch wieder zu ihrer Schwester. Mittlerweile hatte sie seit über dreißig Tagen nicht mehr mit ihr gesprochen. Gut, seit zwanzig Tagen war sie nicht mehr in Creusan, doch sie hätte auch eine Nachricht schicken können. Doch sie wollte eisern bleiben und nicht als Erste nachgeben. Miriam musste sich selber entscheiden, was sie wollte und wenn sie sich nicht bei Lorantha meldete, dann wusste die ältere Schwester, dass sich Miriam für das Schwarze Blut entschieden hatte. Ein Ausgang, den Lorantha nicht erhoffte, doch sie fürchtete diesen. Und wenn es so wäre, dann würde Lorantha dafür sorgen müssen, dass Miriam nicht mehr allzu viel von ihren Plänen mitbekommt … auch wenn es dann hieß, dass sie nicht mehr in Kontakt mit ihr stehen konnte.

Das schlimmste an der Situation war, dass Lorantha dann nicht mehr allzu oft ihre Nichten sehen würde. Dies schmerzte sie sehr, denn sie hatte alle drei sehr gerne und auch Lawarn, auch wenn sie ihn nicht allzu oft sah. Sie seufzte, als sie an die Kinder ihrer Schwester dachte und ihre Gedanken ging zu dem Brief, der sich in ihren Zelt befand. Sie hatte zwei Briefe geschrieben, doch keinen davon beendet. Der erste Brief war für alle drei Nichten und erzählte nur belangloses Zeug, wie etwa, dass sie ihre Nichten liebte, dass sie sich nicht gemeldet hatte, weil der Befehl so schnell kam und sie sich mit ihnen treffen würde, wenn sie wieder in Creusan war. Das zweite Schreiben jedoch war nur an Arianne gerichtet, ihre älteste Nichte. Lorantha wusste, dass sie ihr voll und ganz vertrauen konnte. In diesem Brief hatte sie von dem Verdacht geschrieben, dass das Schwarze Blut nicht ganz so offen und gut ist, wie es Miriam hoffte und dass Arianne auf ihre Geschwister aufpassen sollte. Lorantha war klar, dass sie mit diesen zweiten Schreiben Arianne in eine schwierige Position bringen würde, doch sie ahnte, dass sie jemanden von ihren Verdacht erzählen musste.

Du machst dir zu viele Gedanken, Lor. Arianne mag das Schwarze Blut nicht und wird nicht wegen deinen Worten verunsichert werden. Arianne ist klug, und wenn es notwendig war, dann würde sie die richtigen Entscheidungen treffen.

Dennoch wartete Lorantha ab, diese beiden Briefe loszuschicken. Sie wartete darauf, dass ihre Schwester ihr eine Nachricht schicken würde … dass Miriam sich für die Jeraren und ihre Schwester entschied, doch je mehr Zeit verging, desto sicherer wurde Lorantha, dass dies nicht passieren würde.

Traurigkeit stieg in ihr hoch, als ihr bewusst wurde, dass sie ihre Schwester verlieren könnte. Und zwar an das vermaledeite Schwarze Blut.

Was soll ich nur machen, Miriam. Wie kann ich dich überzeugen, dass du diese Leute nicht blindlings trauen darf …

Lorantha schüttelte ihre Gedanken ab und richtete ihre Aufmerksamkeit nach vorne. Sie konnte ein Zwitschern vernehmen und wusste, dass der weitere Weg sicher war. Wenn sie sich genau erinnerte, dann mussten sie auch bald am Ziel sein und …

Plötzlich blieb Brunhild vor ihr stehen und starrte auf einen schmalen Spalt, indem der Wen endete. Ihr Blick wurde finster und sie wandte sich an die Rechte Hand.

„Herrin, ich … es gefällt mir nicht, durch diesen Spalt zu gehen“, sagte die Soldatin mit fester Stimme.

Lorantha sah zu dem Spalt und dann auf das Zeichen, dass daneben in den Felsen geritzt war. Sie hob eine Augenbraue. „Warum nicht? Laut Rineila ist der Weg sicher.“

„Das mag sein, aber mir gefällt es dennoch nicht“, sagte Brunhild und sah dann plötzlich die Rechte Hand flehend an. „Ich könnte doch Soldatinnen auf die andere Seite schicken und diese schauen sich genau um. Ich verspreche, dass sie jede Kleinigkeit bemerken werden, sodass ihr nicht dorthin gehen müsst.“

Bei diesem flehenden Ton wurde Lorantha bewusst, wie sehr unwohl sich die Soldatin fühlte und wie unsicher Brunhild war, doch Lorantha dachte nicht daran, ihr Vorhaben aufzugeben. Sie schüttelte den Kopf.

„Ich bin mir sicher, dass deine Leute dies machen würden, Brunhild, doch ich will mich selber überzeugen! Also hört auf, mich umzustimmen wollen und geht voraus.“

Die Soldatin verzog ihr Gesicht, doch nickte dann ergeben. Sie gab zwei Soldatinnen ein Zeichen, dass diese vorausgehen sollten und sah dann noch einmal zur Rechten Hand. Schien jedoch zu begreifen, dass weiteres Reden keinen Sinn hatte und drehte sich zu dem Spalt. Sie ging voraus und Lorantha folgte ihr, während die vier restlichen Soldatinnen hinter ihr hergingen.

Als Lorantha in der Spalte war, fühlte sie sich nicht gerade wohl, doch sie würde sich hüten, dies Brunhild zu sagen. Ihre Hand verkrampfte sich auf den Schwertgriff und sie sah nach oben. Es wäre ein leichtes, schwere Felsen hinunterzuwerfen und die Opfer würden nicht einmal ausweichen können. Ein perfekter Platz für eine Falle.

Als sie die Spalte durchquert hatten und auf einen freien Platz traten, atmete Lorantha tief ein. Sie blieb am Eingang der Kuhle stehen und sah sich um.

Der Platz, den sie erreicht hatten, war ungefähr zweihundert Meter lang und hundert Meter breit. Also nicht groß, doch groß genug, um in das Schema der Schattenangriffe gut zu passen. Auf dem ersten Blick, konnte Lorantha nichts erkennen und sie fragte sich, ob es vielleicht doch keine allzu gute Idee war, darauf zu bestehen, hierzukommen. Doch irgendetwas mussten die anderen hier übersehen haben! Dies war ein Ort, wo fünf Soldaten verschwunden waren und um den gleichen Zeitraum wurden mehrere Schatten in der Umgebung gesichtet. Dies musste doch etwas zu bedeuten haben!

Lorantha ging tiefer in das kleine Tal und bemerkte, dass es nur einen einzigen Zugang besaß. Und zwar die Spalte, durch sie gerade gekommen waren. Sie drehte sich um und sah den Eingang an, während sie aus dem Augenwinkeln erkannte, wie die Soldatinnen Stellung bezogen und alles genau beobachteten. Brunhild und Mira selber, begannen sich im Tal umzuschauen.

 

Je mehr Zeit verging, desto unsicherer wurde Lorantha. Sie hatte gehofft, auf etwas zu stoßen, dass ihr verraten würde, was hier genau passiert war. Sie schalt sich innerlich einen Narren.

Gallarn hat schon Leute hierhergeschickt, damit sie etwas finden sollten und später dann auch Pendril. Wie konntest du glauben, dass sie etwas übersehen haben könnten.

Nachdem Lorantha sicher war, dass sie alles untersucht hatte, wollte sie schon den Befehl für den Rückweg geben, als sie innehielt. Ihr Blick auf einen Felsen, der zum größten Teil von Moos bedeckt war. Sie runzelte die Stirn und ging zu diesen Steinbrocken, hockte sich hin und berührte eine Stelle, wo das Moos ausgehört hatte zu wachsen und konnte den Teil eines Zeichens sehen. Sie zog ihren Dolch und begann das Moos abzukratzen. Als sie fertig war, starrte sie mit ausgerissenen Augen auf das Symbol, dass sie freigelegt hatte.

Es war ein Kreis, indem vier Punkte zu erkennen waren. Das Zeichen für das Schwarze Blut.

Warum bei den Geweihten gibt es in diesem kleinen Tal das Zeichen für das Blut?

Das Symbol musste alt sein, denn es war ja fast vom Moos bedeckt gewesen, was darauf deutete, dass dieses nicht erst vor kurzem hier eingeritzt geworden war. Doch was hieß dies? Dass doch das Schwarze Blut hinter dem Verschwinden stand und nicht die Wächterschaft? Dies würde Loranthas Verdacht bestätigen, doch sie war sich unsicher. Das Zeichen war viel älter, als der Zeitraum, wo die Angriffe stattfanden. Vielleicht war dieser Ort hier früher ein Versteckt gewesen und würde heute nicht mehr benutzt werden.

Lorantha sah auf und erkannte, dass die anderen Soldatinnen nichts von ihrer Entdeckung gemerkt hatten. Sie betrachtete Brunhild genau, ehe sie diese zu sich winkte. Sie musste jemanden von ihrer Entdeckung zeigen, denn alleine würde sie nicht allzu weit kommen.

„Was haltet ihr davon“, fragte sie die Soldatin und zeigte auf das Symbol. Dabei beobachtete sie genau Brunhild.

Diese beugte sich vor und blickte den Felsen an, ehe sich ihre Augen ungläubig weiteten. Brunhild fuhr mit der Hand über das Symbol und ihr Blick wurde finster.

Also stimmen die Gerüchte, dass Brunhild nicht gut auf das Schwarze Blut zu sprechen ist … dass ist gut … dann kann ich ihr vertrauen.

„Das ist das Symbol unserer Verbündeten“, sagte Brunhild langsam und betonte das Wort Verbündete verächtlich. Sie fuhr abermals über das Symbol, ehe sie zu der Rechten Hand aufschaute. „Was bedeutet dies?“

Lorantha setzte einen grimmigen Blick auf. „Das weis ich nicht, aber dass werde ich herausfinden.“ Sie sah sich im Tal um und ihr Blick fiel auf einen anderen Felsen, der ebenfalls sehr von Moos bewachsen war und seltsam aussah. Sie ging mit schnellen Schritten dorthin und kratzte das Moos weg.

Abermals kam das Zeichen für das Schwarze Blut zum Vorschein.

Die Rechte Hand wollte wieder Brunhild zu sich winken, als sie eine Bewegung hinter sich merkte. Sie erkannte, dass Mina zu ihr getreten war und sich neugierig über dem Felsen beugte. Ihr Gesicht wurde plötzlich blank und Vorsicht trat in ihren Augen. Die Soldatin sah zu der Rechten Hand und leichte Panik kam in ihr auf.

Lorantha runzelte die Stirn und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch da hatte Mina plötzlich einen Dolch in der Hand und stieß diesen hervor.

Lorantha riss ihren Arm hoch und spürte einen scharfen Schmerz, als die Klinge in ihren Oberarm fuhr. Zwar hatte sie eine Lederrüstung an, doch sie besaß nur Armschienen für den Unterarm, sodass der Oberarm schutzlos war. Ein keuchen entfuhr ihr und sie wich einige Schritte zurück.

Aus dem Augenwinkeln erkannte sie, wie Brunhild und einige Soldatinnen auf den Verrat von Mina aufmerksam wurden und etwas schrien, doch Lorantha musste ihre Aufmerksamkeit auf die Soldatin vor sich richten.

Mina gehört zum Schwarzen Blut!

Dies wurde Lorantha sofort klar, während sie ihren Dolch wegwarf und ihr Schwert ziehen wollte. Doch Mina ließ ihr keine Zeit, denn sie wusste, dass wenn die anderen Soldatinnen kamen, sie nicht gegen sie bestehen konnte. Also warf sich die Soldatin auf die Rechte Hand und schleuderte sie so zu Boden.

Lorantha, völlig überrascht davon, konnte ihr Gleichgewicht nicht halten und fiel nach hinten. Ein beißender Schmerz durchfuhr ihren Kopf, als dieser auf etwas Hartes prallte und ihr Blick begann zu verschleiern. Sie sah über sich, wie Mina den Dolch ausholte und dann spürte Lorantha einen Schmerz unterhalb ihres Armes bei der Brust. Sie wollte aufschreien, doch ihre Sinne wurden immer benebelter, während ihr Kopf hämmerte als wollte er platzen. Sie spürte nur noch, wie Mina von ihr weggerissen würde, ehe Lorantha von Finsternis umgeben wurde.

 

Kapitel Neununddreißig

 Auf Drakens Burg

 

Und der Sturmkönig erschien. Er fegte über das Land, entwurzelte mächtige Bäume und hinterließ die pure Zerstörung. So zeigte er dem König, dass er seine Worte ernst meinte und forderte einen erneuten Tribut.

 

Ausschnitt eines Märchen „König Haral und der Sturmkönig“

 

Adain Draken lief aufgeregt und mit wütendem Gesichtsausdruck durch den Raum und zog dabei Kreise. Immer wieder fiel sein Blick auf einen anderen Mann, der geduckt vor der Tür stand und ängstlich drein sah. Man konnte mehrere Brandwunden an seinen Gewand erkennen und ein entstelltes Auge, welches immer noch eine gelbliche Flüssigkeit absonderte. Wimmernd vor Schmerzen wischte der ängstliche Mann diese aus seinem Gesicht. Ein Luftstoß ging durch den Raum und schien in Richtung des Kamines zu gehen.

Adàin, der bei seinen Runden innehielt, setzte einen undurchsichtigen Gesichtsausdruck auf und wandte sich dem Kamin zu. Dort stand im rabenschwarzen Gewand mit silbernen Ornamenten ein hagerer Mann, dessen Lippen ein kaltes Lächeln zeigte.

Der Herrscher schnaubte verächtlich und ging zum Fenster, welches er mit einem lauten Knall zuschlug. Das Heulen des Sturmes wurde mit einem Schlag leiser.

»Vlar`zark«, zischte Senlar und wandte sich wieder dem Kamin zu. Er fegte eine rote Strähne aus seinem Gesicht. »Was willst du schon hier…Unser Treffen ist erst später!«

Vlar`zark, der niedere Hexer, behielt sein falsches Lächeln und verbeugte sich.

»Ehrwürdiger Herrscher aus dem Hause Draken«, begann er, wobei er den Titel spöttisch aussprach. »Ich habe gestern von dem Kampf in Greisarg und von den späteren in AlHarten gehört. Ist nicht so gut gelaufen, wie du es geplant hattest?“

»Kampf? Wohl eher Niederlage«, unterbrach Adàin den niederen Hexer und warf einen Krug in den Kamin. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass Vlar`zark ihn so behandelte.

»…Der Kampf in Greisarg war beeindruckend.« Fuhr Vlar`zark unbeirrt fort und plötzlich wurde sein Gesichtsausdruck ernst. »Was erwartest du, Draken?! Der Feuersturm war anwesend gewesen. Selbst die mächtigsten Schatten haben Probleme gegen sie zu bestehen. Das weißt du und dennoch weigerst du dich, etwas gegen sie zu unternehmen … Langsam muss dir doch auch bewusst sein, dass wir erst gegen diese Frau unternehmen müssen, ehe wir gegen die restlichen Wächterinnen vorgehen.« Der niedere Hexer streckte sich, wobei seine Gelenke knacksten. Sein Blick suchte dem des Herrschers „Ich weiß, dass du wütend bist, doch wir haben zurzeit andere Probleme.“

Adain kniff die Augen zusammen, als er den Ton des Hexers vernahm. Tief in Inneren konnte er die Macht von Swel spüren und etwas ihn sagte, dass er sich nichts von einem niederen Hexer gefallen lassen sollte. Von einem Hexer, der nur von einem schwachen Schatten besetzt war. Für einen Moment war Adain versuchte, die Macht in ihm zu nutzen und den Schatte in Vlar´zark zurechtzuweisen. In klar zu machen, dass er der Herrscher und Vlar`zark nur der Diener war.

„Andere Probleme?“ Der König hasste es, wenn jemand ihn dies sagte und dabei auch noch trotzig in sein Gesicht blickte. Was ein Zeichen dafür war, dass Vlar`zark keinen wirklichen Respekt besaß. „Und was ist das Problem?“

„Die Jerarer … einige werde langsam misstrauisch“, sagte der Hexer und begegnete den Blick seines Königs ruhig. „Viele misstrauen dem Schwarzen Blut und ich vermute, dass auch die Rechte Hand dazugehört.“

Adain wischte die Bemerkung mit einer Handbewegung beiseite. „Die ist immer misstrauisch. Außerdem bist du doch dafür verantwortlich … du hättest sie nicht so reizen dürfen.“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Wir werden sie noch brauchen.“

„Aber war es gut, sie nach Ardàsk zu schicken? Wenn sie die Wahrheit über das Verschwinden herausfindet, dann …“

„Dann was? Niemand wird ihr glauben. Selbst ihre eigene Schwester ist auf unsere Seite und das weis die Rechte Hand. Sie wird nicht so wahnsinnig sein und uns beschuldigen. Außerdem wie sollte sie es herausfinden? Wir haben in dem Gebirge keine Spuren hinterlassen, oder Drussus?“

Adain wandte sich an dem Mann, der immer noch an der Wand gepresst stand und aus dessen Wunde weiterhin Eiter tropfte. Dieser Mann begann zu zittern, doch er nickte heftig …

„Ja, Herr“, presste Drussus hervor. „Wir haben nichts Verdächtiges hinterlassen.“

„Siehst du, mein Freund“, sagte Adain und sah zu dem Hexer. „Und wenn doch, dann werden unsere Leute wissen, was sie machen sollen und … Drussus wird seine Strafe bekommen, falls er doch etwas übersehen hat. Nein, die Jeraren sind nicht das Problem … das größte Problem, dass wir haben, sind immer die Wächterinnen. Vor allem der Feuersturm. Da hast du schon recht … doch was sollen wir bitte gegen sie unternehmen? Ich habe schon so oft Schatten auf sie gesetzt … sowohl Besetzte, als auch höhere. Vielleicht willst du ja kein Glück bei ihr versuchen, Vlar`zark?“

Bei der letzten Fragte starrte Adain den Hexer fest in die Augen, als wollte er ihn herausfordern. Als wollte er, dass dieser zugab, dass nicht einfach war, gegen den Feuersturm anzutreten.

Vlar`zark erwiderte den Blick ruhig. Er schien nicht im Geringsten beunruhig. Ganz im Gegenteil, denn er strömte Gelassenheit aus … Gelassenheit und ein Gefühl des Sieges.

Adains Wut verstärkte sich, als ihm dies bewusst wurde und er presste die Lippen aufeinander. Am liebsten würde diesen Mann zurechtweisen, doch er brauchte ihm, damit er ihm half, Hrath zu wecken. Der Herrscher wandte seinen Blick von dem Hexer ab und sah zu Drussus, der immer noch ängstlich die beiden Männer anstarrte. Verachtung stieg in Adain auf. Verachtung darüber, dass die meisten seiner Diener hier auf der Burg rückradlose Kreaturen waren.

Schweigen breitete sich aus und dies nährte noch mehr die Wut in Adain. Er starrte wieder den Hexer an, der immer noch ruhig war.

„Der Feuersturm wird sterben. Wenn Hrath frei ist, dann wird er gegen sie kämpfen und sie töten“, sagte Adain und sah den Hexer herausfordernd an. „Es sei denn, du traust ihm das nicht zu.“

Vlar`zark verzog seine Lippen zu einem leichten Lächeln. Er nickte. „Ich traue dies unseren Meister sehr wohl zu, doch wir beide wissen, dass Hrath, sobald er frei ist, Zeit braucht, um an Stärke zu gewinnen. Demzufolge sollten wir alles unternehmen, um die Aufmerksamkeit der Wächterinnen woanders hinzulenken.“ Er hob eine Hand, als er merkte, dass Adain etwas sagen wollte. „Ich weis, wir haben in Ardàsk unsere Schatten losgesetzt, doch dies wird den Feuersturm nicht unbedingt lange aufhalten. Nein, wir brauchen etwas anderes, womit sich der Sturm beschäftigen kann.“

Adain verschränkte seine Arme. Das gesagt zu bekommen, was er selber schon wusste, sorgte nicht dafür, dass er es leichter ertragen konnte.

„Und was sollen wir sonst noch unternehmen? Wir hetzten Schatten auf sie. Wir haben ein Kopfgeld auf sie angesetzt und Schattenbesetzte stellen sich ihr entgegen … sie ist der Feuersturm!“

Vlar`zark nickte und sein Lächeln wurde stärker. »Richtung, genau da fängt das Problem an. Wir müssen sie erst töten! Wie jedoch tötet man jemanden, die anscheinend unbegrenzt Feuer besitzt?« Er sah den Herrscher lange an. Adàin Draken runzelte die Stirn missmutig. »Ganz einfach! Wir hetzen den Sturmkönig auf sie!«

Stille herrschte danach. Adàin wurde noch wütender. Er trat einige Schritte zu Vlar`zark und zischte ihn an.

»Hältst du mich für blöd? Oder Idiotisch?« Seine Stimme wurde laut. »Was kommt als Nächstes? … Dass ich nicht lache. Der Sturmkönig!«

In den Augen des Hexers blitzte es gefährlich auf, ansonsten blieb sein Gesichtsausdruck ruhig. Sein falsches Lächeln wurde noch tiefer.

»Warum fragen wir nicht auch noch den Riesen von Eisark oder den Mann vom Siveas Wasser…die können uns auch helfen!« Die Stimme von Adàin Draken wurde gehässig. »Oder…wie heißt der Typ aus `Der Wolf von Roùth´ ? Der würde uns bestimmt auch behilflich sein können…«

Vlar`zark schüttelte leicht den Kopf. Doch er wartete ab, bis der Herrscher alle möglichen fiktiven Personen durchgenommen hatte und voller Wut einen weiteren Krug zu dem Mann an der Wand warf. Als dann jedoch Schweigen herrschte, fuhr der niedere Hexer durch sein schwarzes kraftloses Haar und sprach:

»Dein Problem ist, dass du viel zu schnell die Beherrschung verlierst!« Adàin machte Anstalten, etwas zu erwidern, doch ließ der andere ihn nicht zu Wort kommen. »Wenn du die Güte hättest, mir weiterhin zuzuhören, dann würde ich es dir erklären!« Er verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die Wand. »Sicher, der Sturmkönig ist eine Figur aus der Märchenwelt, aber ich meinte damit eine reale Person … eine, die alle Eigenschaften des Sturmkönigs beinhaltet. Die so sehr von den Priesterinnen gefürchtet wird, dass man es nicht wagt, seinen Namen auszusprechen. Jemand, der viel Macht hat und den Wächterinnen das Fürchten lehrt…dessen wahre Gestalt niemand weis…der als unbesiegbar bei den Schwarzen Blut gilt!« Er stemmte sich von der Wand und trat einige Schritte in den Raum. »Wen würdest du diese Eigenschaften nachsagen?«

Adàin Draken schwieg und dachte nach. Derweil wurde das Fenster wieder aufgestoßen und drei Fledermäuse flogen hinein. Zwei setzten sich auf die rechte Schulter, eine auf die linke des Hexers. Dieser blickte den Herrscher auffordernd an.

Drussus, der immer noch an der Wand stand und unter den Schmerzen leicht stöhnte, dachte auch über die Frage nach, bis ihm ein geeigneter Kandidat einfiel. Er wurde bleich und fragte sich, ob der niedere Hexer diesen Mann gemeint haben könnte. Er stand zitternd auf, sah abwechselnd zwischen seinen Meister und Vlar`zark. Dann holte er all seinen Mut und sprach, wobei seine Stimme leicht vibrierte.

„Ich wüsste so eine Person.“

Adain hielt in seinen Überlegungen inne und sah seinen Untergebenen scharf an.

„Also?“ Die Stimme von Adain klang schneidend.

„I`thulathàv“, flüstere der Mann und konnte in den Augen von Vlar`zark erkennen, dass er ins Schwarze getroffen hatte.

»Es interessanter Gedanke, Vlar`zark!« sagte Adain leise und seine Stimme klang ungewöhnlich sanft. »Es gibt nur einen Hacken … wie willst du den Attentäter dazu bringen, uns zu helfen … soweit ich informiert bin, hat er sich zurückgezogen, um sich von den Kampf gegen einige Wächterinnen zu erholen … und dass schon vor mehr als zehn Jahren. Keiner weis, wo er zu finden ist!«

»Ich stimme dir zu, Meister Draken«, sprach der Hexer, wobei er allerdings seine Worte vorsichtig abwog. »Es wird in der Tat schwierig sein, ihn zu finden! Aber wenn wir ihn erstmal gefunden haben, dann wird er uns mit Freude unterstützen … glaub mir…«

Der Herrscher blieb skeptisch. »Er hat keinerlei Grund, uns helfen zu wollen … müssen. Und du kennst I`thulathàv…er ist jähzornig, ungehalten und man muss schon verrückt sein, um sich mit ihn einzulassen! Er hat immer einen hohen Preis.«

Vlar`zark wischte die Entgegnung von Adàin Draken mit einer Handbewegung weg. Er hatte ein hinterhältiges Lächeln aufgesetzt.

»Oh…die Tatsache, dass er den Feuersturm töten darf, wird sein Preis sein … glaub mir…«

»Er hat aber keinen Streit mit ihr«, schrie plötzlich Draken, dem das doch zu nervig wurde. »Der Feuersturm hat sich nie mit ihn angelegt … die kennen sich überhaupt nicht. Nenn mir einen Grund, weshalb I`thulathàv sich mit dieser Frau anlegen sollte!«

»Ich nenn dir zwei Gründe!

Erstens: I`thulathàv ist ein Schwarzes Blut und immer darauf bestimmt, dass die Wächterinnen nicht allzu mächtig werden. Mit dem Feuersturm sind sie mächtig. Außerdem hasst er die Feuerwächterinnen. Zweitens: Wenn ich es richtig verstanden habe, dann ist der Feuersturm mit derjenigen verwandt, die damals I`thuluthàv das rechte Auge genommen hat. So wird er seine Rache bekommen!“

Draken kniff die Augen zusammen. Dies waren in der Tat Gründe, die dem Attentäter bewegen konnten, sich gegen den Feuersturm zu stellen. Dennoch war er skeptisch.

„Sie ist in der Lage gegen hohe Schatten zu kämpfen und sie zu besiegen. Wie soll ein einzelner Mann, und selbst wenn es der beste Attentäter des schwarzen Blutes ist, gegen sie bestehen.“

„Oh…um sein Ziel zu erreichen, muss er natürlich Schattenbesetzt werden. Doch etwas in mir sagt, dass er dies mit Freude im Kauf nehmen wird!“ Vlar`zark sah grinsend zu den Herrscher. „Ich weiß auch, wo er eventuell zu finden ist!“

Der Herrscher legte den Kopf schräg. „Einverstanden! Aber beeile dich. Wenn Zor`zein und seine Leute den Ort von Hrathors Bannung gefunden haben, muss du bei ihnen sein. Du musst unser aller Herrscher befreien.“

Der niedere Hexer nickte, verbeugte sich und wandte sich zur Tür. „Natürlich! Hrathor hat oberste Priorität!“

Als Vlar`zark verschwunden war, fragte sich Adàin, ob es eine gute Idee war, den wahnsinnigen Attentäter wieder in den aktiven Dienst zu holen. Doch die Aussicht, dass der Flammensturm getötet werden könnte, war so verführerisch, dass ihm jedes Mittel recht war.

Bald. Sehr bald würden sich all seine Wünsche erfüllen!

 

Als Vlar`zark in einer Hütte nahe der Burg war, atmete er tief durch. Hass kam in ihm auf und seine Hände zitterten. Deutlich hatte er die Verachtung des Königs ihn gegenüber verspürt und er wusste, dass diese sich nie legen würde. Erst recht nicht, da es Adain Draken anscheinend gelungen war, die Macht der Swijr-Schatten für sich zu gewinnen. Diese Art von Schatten gehörten zu den mächstigen, und auch wenn Adain nicht wirklich schattenbesetzt war, so verfügte er nun über große Kraft. Kraft, um selbst Vlar`zark in die Schranken weisen zu können.

Der Hexer schloss die Augen und ballte seine Hände. Das Zittern wurde stärker. Er war es, der die ganze Arbeit machen musste. Er sollte den Ort von Hraths Gefängnis finden, sollte dafür sorgen, dass sich der Hass der Jeraren gegen die Wächterschaft immer mehr steigerte und dass die Wächterinnen abgelenkt worden, damit sie nicht mitbekamen, was das Schwarze Blut überhaupt plante. Alles lag an ihm und das einzige, was Adain Draken machte, war Befehle zu geben und die Worte dieses Mantikoren zu lauschen.

Vlar`zark konnte das Vieh nicht leiden und genauso wenig den König. Lange würde er es sich nicht mehr gefallen lassen. Immer Befehle zu bekommen und nicht ernst genommen zu werden.

Eines Tages Draken … eines Tages, dann werde ich dir dein Herz rausreißen und es dir in den Mund stecken. Ich werde den Blick in deinen Augen genießen, wenn das Leben dich langsam verlässt.

Es würde nicht einfach werden, das wusste Vlar`zark. Der König hatte die Macht über diese Schatten bekommen, die selbst seinen inneren Schatten übertrumpfen würden und …

Sei vorsichtig! Ich lass mich nicht beleidigen.

Vlar`zark zuckte zusammen und sah sich in der Hütte um. Natürlich war niemand zu sehen. Die Stimme kam aus seinen Inneren und stammte von den Schatten, mit er eine Symbiose eingegangen war. Der Hexer atmete tief durch.

Xeik, du weist genau, wie ich das gemeint habe. Meine Wut ist gegen ihn gerichtet und nicht gegen dich! Doch selbst du kannst es nicht mit der Macht von Swel aufnehmen. Das wissen wir beide sehr gut.

Schweigen dröhnte in den Gedanken von Vlar`zark, als sein Schatten nichts darauf erwiderte. Doch der Hexer brauchte keine Erwiderung. Er wusste, was Xeik dachte und sehr wütend war. Wütend darüber, dass Vlar`zarl recht hatte.

Der Hexer trat zu einem Tisch, der in der Hütte stand und starrte auf die Karte. Diese zeigte Ardàsk und die Stellen, wo er seine Schatten losgeschickt hatte. Ein finsteres Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als er daran dachte, dass die Rechte Hand sich gerade in dem Gebirge aufhielt. Wenn sie wüsste, wie viel sie mit ihrer Frage auf der Sammlung recht hatte … doch was hat es dir genützt, diese zu stellen, Weib? Du hast deine Position ins Wanken gebracht … das brauchst du nicht zu leugnen.

Er war immer noch der Meinung, dass es zu gefährlich war, dass Lorantha Thorn sich in Ardàsk aufhielt. Wenn sie die Wahrheit hinter dem Verschwinden der Jeraren kommt, dann wird das Bündnis zwischen den Blut und den Jeraren zerstört werden.

Warum muss sie unbedingt misstrauisch sein? Warum kann sie nicht so wie ihre Schwester sein?

Er tippte mit dem Finger auf die Karte und seine Gedanken wanderten zu seinen Vorschlag, den er gegenüber Adain gemacht hatte. Der Sturmkönig!

Natürlich war es nur ein Märchen und er hatte diesen Vergleich auch nur benutzt, um Draken deutlich zu machen, dass sie endlich gegen den Feuersturm vorgehen mussten. Und zurzeit war I`thulathàv die einzige Person, der Vlar`zark zutrauen würde, das Problem zu lösen. Ein Attentäter, dem die Risiken egal waren und dessen Hass auf die Wächterschaft so groß war, dass sie auch unter den Wächterinnen bekannt war. Ja, diese Person würde den Sturm zum verlöschen bringen. Die Frage war nur, wo befand sich der Attentäter? Er hatte zwar Adain Draken gesagt, dass er wüsste, wo er ihn finden konnte, doch dies war gelogen gewesen. Keine Sorge, `zark.

Wir werden ihn finden … und wenn nicht, dann werden wir den Feuersturm töten!

Vlar`zark verzog sein Gesicht und schüttelte den Kopf. Er konnte deutlich das Verlangen von Xeik spüren, sich der Feuerwächterin zu stellen, doch Vlar`zarl war kein Narr. Er wusste, dass er diesen Kampf nicht überleben würde und um seine eigenen Pläne zu vollbringen, musste er jedoch am Leben bleiben.

Manchmal bist du ein Feigling, Hexer!

Vlar`zark zuckte zusammen und sein Gesicht wurde finster. Es war schlimm, dies von anderen Personen zu hören, doch dass sein innerer Schatten ebenfalls der Meinung war, machte es noch schmerzhafter. In letzter Zeit war Xeik immer aufmüpfiger geworden und mehr als einmal spielte Vlar`zark mit dem Gedanken, die Symbiose zu lösen und sich einen neuen Verbündeten zu suchen. Jemanden, der mächtiger wäre.

Tu das, Hexer und du bist in dem Moment tot, wo du mich freigibst. Dass wissen wir beide, also höre auf, solche Reden in deinen Geist von dir zu geben.

Und dies stimmte! Dies war der einzige Grund, warum er sich Xeiks Launen auslieferte und ertrug. Doch er wusste, dass eines Tages einen Weg finden würde, Xeik loszubekommen und einen mächtigeren Schatten als seinen Verbündeten zu finden.

Ein Lachen ertönte in Vlar`zarks Kopf.

Du bist so lustig, `zark. Doch anstatt darüber nachzudenken, wie du mich ersetzen kannst, solltest du dir darüber Gedanken machen, wie du deine Aufgaben erfüllst. Du musst den Ort finden, der als die tränende Ebene bekannt ist und du musst nun auch noch einen Attentäter finden, der nicht gefunden werden will … keine leichten Aufgaben … Aber du musstest du Draken versprechen, dass du es erfüllen kannst.

Vlar`zark schloss seine Auge. Er hasste es, wenn Xeik recht hatte und ignorierte dass Lachen in seinen Kopf. Eines Tages würde es auch diesen Schatten zeigen, dass er kein Versager war. Spätensten dann, wenn er seine Ziele erreicht hatte. Ja, dann würde Xeik ihn um Verzeihung anflehen, doch Vlar`zark würde ihn diese nicht gewähren.

Das Lachen in Vlar´zarks Kopf wurde lauter.

 

Kapitel Vierzig

 Düstere Stimmung

 

Manchmal nimmt das Schicksal einen grausamen Verlauf und das einzige, was du machen kannst, ist diesen zu akzeptieren. Wenn du dagegen ankämpfst, dann hast du schon verloren.

 

Rae Sir Neiselle Urzen,

Hohe Tante,

Im Jahre 109 vor dem Nebel

 

Gwelan atmete erleichtert auf, als er endlich wieder das Hauptlager sehen konnte und seine Gedanken drehten sich immer um die eine Tatsache: Er hatte überlebt. Leider hatte sein Freund Kreith nicht so viel Glück gehabt. Gwelans Herz wurde schwer, als er daran dachte und auch daran, dass er ebenfalls auf dem Boden hätte liegen können. Hätte ihn nicht zuerst Baeren und dann anschließend Harkon gerettet, dann wäre er auch tot gewesen. Dieses Wissen hatte sich so tief in seinem Kopf gegraben, dass er glaubte, dass dieser dabei war, zu platzen. Nachdem die Schatten vernichtet und die Verletzten versorgt worden waren, hatte Hauptmann Gorden befohlen, die vier Toten zu begraben und dann eine Stelle gesucht, wo man ein kleines Lager aufbauen konnte. Diejenigen, die nicht verletzt worden waren, bauten das Lager auf und wurden für die Wache eingeteilt. Auch Gwelan hatte in der Nacht eine Wache zusammen mit Baeren bekommen.

Der ehemalige Dieb verzog sein Gesicht, als er mit dem Arm gegen die Felsenwand kam und unterdrückte ein Keuchen. Er hatte Glück gehabt, denn obwohl die Verletzung an seinem Arm schmerzte, konnte er diesen bewegen und würde keine bleibenden Schäden zurückbehalten. Jedenfalls sagte dies Finn, der Soldat, der ihm auf dem Feld verarztet hatte. Doch jedes Mal wenn Gwelan mit dem Arm gegen etwas stoß, dann glaubte er nicht an Finns Worte, denn dann durchzog ihm ein brennender Schmerz und erinnerte ihn daran, dass er knapp mit dem Leben davon gekommen war.

Im Nachhinein, als seine Angst sich gelegt hatte und sein Arm verbunden war, fragte er sich, was mit ihm passiert war. Bei dem Anblick der Schatten hatte er sich nicht rühren können … so als wäre er am Boden festgewachsen gewesen. Ebenfalls war es ihm nicht gelungen, sein Schwert zu ziehen und dies sorgte noch mehr dafür, dass er rot wurde und sich nutzlos vorkam. Dann, als er endlich seine Waffe gehabt hatte, hatte diese ihn dennoch nichts genützt. Der Schatten hatte diese einfach weggefegt und ihn dann …

Gwelan blieb stehen und schloss die Augen.

Sein Herz raste wieder und er konnte das Rauschen seines Blutes im Kopf hören.

Es ist vorbei … du bist wieder in Sicherheit …

Immer wieder und wieder sagte er sich diese Worte vor, bis er spürte, dass sein Körper sich beruhigte und er seine Augen wieder öffnen konnte.

Zwölf Mann waren sie gewesen, als sie aufgebrochen waren, doch nur sechs kamen im Lager zurück. Vier würden nie mehr das große Tal betreten und zwei Soldaten hatten sich bereit erklärt, die Spur noch weiter zu verfolgen. Gwelan glaubte nicht daran, dass er diese beiden jemals wieder sehen würde. Dies stimmte ihn traurig, weil Ian einer der beiden Männer war. Er konnte es nicht verstehen, wieso der dünne Mann sich freiwillig gemeldet hatte.

„Irgendetwas stimmt hier nicht“, ertönte neben Gwelan eine Stimme und der ehemalige Dieb zuckte zusammen. Er wandte seinen Kopf und erkannte Lucien, der mit ernstem Gesichtsausdruck neben ihm stand und auf das Lager blickte.

Sie beide waren am Pass oben stehen geblieben, sodass sie einen guten Ausblick in das Tal besaßen. Gwelan konnte hinten den kleinen Fluss erkennen, der das Lager mit Wasser speiste und auf der einen Seite der Felswand befand sich der Vorsprung, wo meistens Kommandant Pendril sich aufhielt. Der Bursche sah sich genauer um und fragte sich, was sein Freund mit diesen Worten gemeint haben könnte. Dann kniff er die Augen zusammen.

Deutlich konnte er eine Stimmung vernehmen, die nicht hierher gehörte. Es war so, als würde etwas Düsteres über das Tal liegen und das Gemüt aller Soldaten verdunkeln.

Irgendetwas muss passiert sein, während wir unterwegs waren, fuhr es Gwelan durch den Kopf und er sah seinen Freund Lucien fragend an. Lucien hatte eine kleine Wunde im Gesicht, doch diese war nur oberflächlich, sodass er keinen Verband besaß und auch ansonsten als Kampftauglich eingestuft wurde. Gwelan hatte gehört, dass Lucien zwei Soldaten geholfen hatte, einen Schatten zu vernichten und er spürte, wie er rot wurde. Lucien hatte aktiv bei dem Kampf geholfen, doch was hatte er getan? Er war erstarrt gewesen und musste sich zweimal retten lassen. Kein guter Anfang, um in der Armee Ruf und Ehre zu bekommen.

Lucien zuckte mit den Schultern. Er schien zu ahnen, was Gwelan ihn fragen wollte, doch er wusste auch keine Antwort.

„Los … Bewegung ihr zwei … ich will heute noch ein gutes Essen haben!“

Plötzlich stand Baeren hinter den beiden Rekruten und Gwelan zuckte abermals zusammen. Er sah den kräftigen Mann an und war von ihm fasziniert. Dieser Mann hatte ihm das Leben gerettet und es hieß, dass er daran beteiligt war, zwei Schatten zu vernichten. Für Gwelan war Baeren ein Held. Dann jedoch kniff der Bursche die Augen zusammen. Wieder konnte er hören, dass Baeren nicht in so seinen schrecklichen Dialekt sprach. Bedeutete dies, dass der Mann doch nicht aus Renairen kam?

„Los, los! Wir sind hier doch nicht angewachsen, oder“, sagte Baeren und grinste über das Gesicht. Er gab Gwelan und auch Lucien einen kleinen Stoß im Rücken und beide Burschen taumelten nach vorne. „Harkon will, dass wir endlich alle unten im Tal ankommen!“

Bevor Baeren ihn noch ein weiteres Mal vorstoßen konnte, begann Gwelan loszulaufen und sah, dass sein Freund dies ebenfalls unternahm. Die schnellen Schritten kamen sie dem Lager immer näher und somit auch immer näher der Stimmung.

 

Es war so, als würde sie in der Luft schweben. Als hätte sie keinen Körper und dies schien beruhigend zu sein. Lorantha Thorn spürte gar nichts mehr und fragte sich, was passiert war. Sie erinnerte sich daran, dass sie einen Platz aufgesucht hatte, um dort etwas zu suchen. Sie hatte auch etwas gefunden, doch was es war, konnte sie nicht sagen. Ihre Gedanken waren benebelt. Sie konnte diesen nicht beseitigen und dies verursachte eine Angst in ihr. Sie wollte ihren Verstand klären, doch irgendetwas zog sie immer wieder in die Benommenheit zurück, sodass sie sich nicht erinnern konnte, was genau passiert war.

Ich habe etwas gefunden, doch was war es? Es war wichtig, dass weis ich genau.

Wie immer, wenn sie etwas nicht gleich verstand, oder sich nicht erinnern konnte, kam Wut in ihr auf. Sie wollte aufschreien, wollte fluchen, doch sie brachte keinen Ton hervor. Dann wurde ihr wieder bewusst, dass sie ihren Körper nicht spürte und die Wut verpuffte. So, als wäre sie nie da gewesen.

Was ist hier los?

Dann wurde ihr Kopf klarer und sie merkte, dass es Dunkel war. Was es schon nachts? Es war Tag gewesen, als sie diesen Ort aufgesucht hatte, doch nun schien dieser vorbei zu sein. Doch was war während dieser Zeit passiert?

Wieder stieg Panik in Lorantha auf und sie begann sich dafür zu schämen. Sie wusste nicht wieso, aber sie fühlte sich, als wäre sie gefangen … als wäre ihr Geist gefangen, denn sie konnte einfach nicht ihren Körper spüren. Sie wollte es … sie wollte einen Arm heben, doch da gab es nichts.

Je mehr Zeit verrinn, obwohl sie nicht sagen konnte, wie viel, desto panischer wurde sie. Irgendwas war passiert. Etwas dass wichtig war.

Bin ich tot? Ist es das?

Sie wollte sich erinnern. Sie wollte wissen, was los war, doch es gelang ihr einfach nicht. Immer mehr Panik kam in ihr hoch, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte. Sie begann zu schreien, doch sie brachte kein Ton hervor. Irgendwann kam eine Dunkelheit, die nicht nur ihr Sehsinn, sondern ihr ganzes Bewusstsein verschluckte.

 

„Was ist passiert?“

Fassungslos starrte Gwelan auf Doranth, der gerade dabei war, einige Waffen zu reinigen und konnte einfach nicht glauben, was sein Freund da gerade gesagt hatte. Er musste sich verhört haben … ja genau, dass muss es gewesen sein.

Doranth, der die ganze Zeit im Lager hatte bleiben müssen, sah seinen Freund ernst an und unterbrach seine Arbeit. Er nickte grimmig. „Ja, die Rechte Hand wurde von einer Verräterin angegriffen und man ist sich nicht sicher, ob sie es überleben wird, oder nicht. Bratan, der Heiler, versucht zwar sein Bestes, doch sie soll eine heftige Kopfwunde haben … angeblich hat sie ihren Kopf aufgeschlagen, als sie von der Verräterin zu Boden gestoßen wurde. Jedenfalls ist Kommandant Pendril sehr außer sich vor Wut und Sorge. Wut darüber, dass es Verräter bei uns gab und Sorge, dass die Rechte Hand sterben könnte … dass wäre nicht gut, denn immerhin ist er für die Lage hier draußen verantwortlich.“

Gwelan hatte schweigend zugehört und konnte es immer noch nicht fassen. Er erinnerte sich an die Frau, die ihn erwischt hatte, an den kalten Blick in ihren Augen und all die Geschichten, die er über sie gehört hatte. Nie, aber auch nie hätte er gedacht, dass dieser Frau etwas zustoßen konnte. Für Gwelan war sie unverwüstlich erschienen.

Doch das ist sie nicht. Jeder ist sterblich, selbst du. Und Kreith hat es schon erwischt.

Er warf einen Blick in die Richtung, wo er das Zelt des Heilers vermutete und hoffte mit vollem Herzen, dass diese Frau es überleben würde. Dann jedoch stockte er. Was wäre, wenn sie starb? Wäre er dann nicht frei? Das Einzige, was ihm bisher von einer Flucht abgehalten hatte, war, dass ihr Versprechen, ihn hinrichten zu lassen. Doch wenn sie tot war, dann würde sie dies nicht machen können, oder? Er sah seinen Freund Doranth an und schüttelte innerlich den Kopf. Nein, er würde nicht fliehen, denn dass würde bedeuten, dass er seine Freunde in Stich lassen würde. Er wollte nicht, dass Lucien und Doranth sterben würden. So sterben wie …

„Ist wirklich eine finstere Sache“, sagte Doranth, als er ebenfalls in Richtung des Zeltes des Heilers blickte. Dann jedoch sah er Gwelan an und sein Blick wurde fragend. „Was ist eigentlich bei euch passiert. Ich habe gehört, dass es zu einem Schattenangriff gekommen ist? Wie sehen diese Wesen denn aus und wie geht es Lucien. Und Kreith … er schuldet mir noch zwei Kupfer.“

Bei diesen Worten wurde es Gwelan kalt und er suchte nach einen Ausweg, nicht derjenige sein zu müssen, der Doranth von Kreiths Tod berichten musste. Doch so sehr er auch nach einen Ausweg suchte, er konnte keinen finden. Gwelan verzog sein Gesicht.

„Du … Doranth … ich muss dir was sagen“, begann er zögerlich, und als er den fragenden Blick seines Freundes sah, sprudelte alles aus ihm heraus. Er erzählte von der grausigen Entdeckung am Adler-Pass, von der Spur, die sie gefunden hatten und von Schattenangriff. Er verschwieg, dass er da versagt hatte. Er wollte nicht, dass Doranth ihm die Schuld an Kreiths Tod geben würde. Dann erzählte er stockend, wie viele gestorben sind und dass unter den Toden auch ihr Freund gehörte.

Als Gwelan fertig war, sah Doranth bleich aus und in seinen Augen stand Schmerz. Doch er sagte nichts und fragte auch nichts nach. Stattdessen begann er, seine Aufgabe wieder aufzunehmen und Waffen zu reinigen.

Für einen Moment wusste Gwelan nicht, was er machen sollte. Er wusste, dass Doranth sich am besten mit Kreith verstanden hatte und nun war sein bester Freund tot. Sollte er ihn trösten, doch Gwelan fand, dass es dafür keine richtigen Worte gab. Seine Schulter sackte zusammen und er sah dabei zu, wie Doranth gewissenhaft seiner Arbeit nachging.

Hätte ich etwas ändern können? Hätte Kreith überlebt, wenn ich mir mehr Mühe geben hätte. Wenn ich nicht erstarrt gewesen wäre?

Diese Fragen haben ihm schon auf dem ganzen Rückweg beschäftig, doch er hatte es nicht gewagt, mit jemanden laut darüber zu reden. Er wusste nicht, was die anderen davon halten würden und fürchtete sich vor einer Reaktion. Der Reaktion, dass man ihn die Schuld gab. Jeder Soldat in Harkons Trupp hatte gekämpft und keiner war so erstarrt gewesen.

Du bist ein verdammter Narr! Du hast dir geschworen, deine Kameraden zu beschützen, doch dabei bist du derjenige, der Schutz braucht. Du bist ein Versager!

Gwelan gab seiner inneren Stimme recht. Es stimmte, dass er versagt hatte. Er hatte gedacht, dass sein Leben sich bessern würde, als er die neue Chance bekommen hatte, doch nun wurde ihm vollends bewusst, dass es nicht stimmte. Sein Leben war nicht besser. Er hatte die Gefahr, durch Hunger und Kälte zu sterben, mit der Gefahr, durch einen Feind erschlagen zu werden, getauscht. Nichts war besser geworden. Nein, dass stimmte nicht. Er hatte Freunde gefunden, doch wie lange würden sie leben? Kreith hatte er nur knapp über einen Mondzyklus gekannt und nun war er tot. Erschlagen von einen Feind.

Langsam setzte sich Gwelan neben Doranth auf dem Boden und winkelte seine Beine an. Er hatte überlebt, doch war dies gerecht gewesen? Kreith war bei dem Training immer besser gewesen. Er war ein besserer Kämpfer. Er hätte überleben und Gwelan hätte sterben sollen. Dies wäre für die Armee wesentlich besser gewesen!

 

 

Es war ein heftiger Schmerz, der durch Loranthas Kopf blitzte, sodass sie leise aufstöhnte. Sie spürte etwas schweres Feuchtes auf ihrer Stirn, wollte die Hand haben und das Lästige wegschieben, doch sie konnte keinen ihrer Glieder bewegen. Abermals durchfuhr sie ein Schmerz und ganz träge kamen ihr die Erinnerungen. Ihr wurde bewusst, dass sie ihren Körper spüren konnte und Erleichterung kam in ihr. Doch als sie dennoch nachdenken wollte, was passiert war … wo sie sich befand … wollte es ihr einfach nicht gelingen. Obwohl sie versuchte die Fetzen ihrer Erinnerungen zusammen zusetzen, gelang es ihr nicht, denn immer wenn sie dachte, dass sie etwas verstand, kam eine große Dunkelheit, die ihr das schon verstandene wieder entriss.

Zeit verlor sich für Lorantha. Sie wusste nicht, wo sie sich befand und selbst dass wann konnte sie nicht beantworte. In einer Dunkelheit treibend, ist das einzige was sie spürte das feuchte auf ihrer Stirn und ab und zu andere Berührungen, die sie jedoch nicht einordnen konnte. Sie sah die Gesichter ihrer Nichten, das Anwesen Thorn und ihre Schwester Miriam vor sich. Konnte aber nichts damit anfangen. Dann jedoch, Lorantha wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, brach alles über sie wie eine riesige tobende Welle ein und mit einem lauten Schrei richtete sie sich auf. Das Feuchte auf ihrer Stirn verschwand und sie riss die Augen auf, als ein brüllender Schmerz durch ihren Kopf hallte.

Es war dunkel und es regnete. Dies waren die ersten beiden Gedanken, die Lorantha durchfuhren, als sie sich umschaute. Ihr Atem ging stockend und das Brummen hinter ihrer Stirn wurde immer heftiger. Plötzlich ergriff jemand sie an die Schulter und drückte sie sanft auf dem Boden zurück. Erschöpft und ohne richtig so wissen, wo sie war, leistete sie keinen Widerstand. Als sie lag, schloss sie wieder die Augen und kurz darauf spürte sie, wie wieder etwas Feuchtes auf ihre Stirn gelegt wurde.

Gedanken wurden wieder verwischt, Erinnerungsfetzen tauchten zusammenhanglos auf und dann kam das Fieber. Es ergriff Lorantha voller Wucht, ließ sie schwitzen und den Bezug zur Realität verlieren. Zwischendurch, wenn ihre Gedanken klar waren, hatte sie das Gefühl, dass sie sich auf einen harten Untergrund befand und immer wieder hörte sie Stimmen aus der Ferne, konnte sie aber nicht verstehen. Ihr Bewusstsein weigerte sich diese aufzunehmen, sodass alles an ihr vorbeiging, ohne ihr klar zu machen, was passierte.

Dann wurden ihre Gedanken klarer, und obwohl das Fieber sie noch beherrschte und ihre Glieder schmerzten, wachte sie dennoch eines Abends mit klarem Blick auf. Verwirrt, denn sie wusste nicht, wo sie sich befand, starrte sie nach oben und erkannte die Plane eines Zeltes. Wieder waren ihre ersten beiden Gedanken, dass es dunkel war und es regnete. Sie konnte das prasseln der Tropfen gegen das Zelt vernehmen.

Mit einem leisen Stöhnen richtete sich Lorantha auf, und erst als sie aufrecht war, merkte sie, dass etwas Feuchtes von ihrer Stirn fiel. Ihr Blick wanderte zu einem kleinen Feuer, dass etwas entfernt brannte und sie erkannte, dass zwei Personen um dieses saßen. Verwundert stellte sie fest, dass diese Rüstungen trugen und mit dieser Erkenntnis wurde ihr bewusst, dass sie in einem Zelt der Armee befinden musste. Wieso bin ich hier? Was ist passiert? Die letzte klare Erinnerung, die sie hatte, war, dass sie sich mit ihrer Schwester gestritten und dann das Anwesend wütend verlassen hatte. Stöhnend griff sie sich an ihrem Kopf und kurz darauf war jemand an ihrer Seite.

„Herrin! Ihr musst euch wieder hinlegen“, sagte eine sanfte Stimme.

Herrin? Verwirrt sah Lorantha die junge Frau, welche in einer Lederrüstung gehüllt war, an und runzelte die Stirn. Sie versuchte sich zu erinnern, wer diese war, doch konnte keinen klaren Gedanken fassen. Dann fiel ihr Blick auf einen Anhänger, den die Frau um den Hals trug. Etwas Bekanntes lag in diesen. Ihre Stirn runzelte abermals, ehe sich ihre Augen weideten. „Ihr gehört der creusanschen Einheit an?“

Ein besorgter Ausdruck trat in den Augen der jungen Frau und sie warf einen Blick zu einer anderen Person, die im dunklen stand. Dann wandte sie sich wieder Lorantha zu und nickte.

„Ja. Das wisst ihr doch, oder?“ Ein leichter Hauch von Panik schwang bei diesen Worten mit.

Lorantha schloss die Augen. Wusste sie dass? Woher denn? Sie konnte ja nicht jeden Soldat in der Kaserne kennen … was ist passiert? Abermals aufstöhnend presste sie ihre Hände gegen ihren Kopf und war sich unsicher. Sie konnte sich nicht an das vergangene erinnern und dennoch sagte eine leise Stimme in ihr, dass es wichtig war, dass sie sich erinnerte. „Ja, ich erinnere mich“, antwortete sie leicht verspätet, obwohl es nicht stimmte. Sie erinnerte sich nicht an die Frau und sie wusste auch nicht, wieso sie hier war. Wo auch immer das hier sein sollte. „Aber ich…müsste ich nicht in Creusan sein…“ Als sie ein drittes Mal aufstöhnte, da ihr das nachdenken Schmerzen bereitete, beschloss sie dies erst einmal zu unterlassen. Es musste einen Grund geben, warum sie hier war, doch dieser wollte ihr nicht einfallen. Damit jedoch die Schmerzen nicht zu stark wurden, wollte sie das Denken erst einmal unterlassen. Erschöpft legte sie sich wieder hin.

Irgendwann schlief Lorantha wieder ein und dann kamen die Träume. Es waren eher die Erinnerungen, welche ihr erklärten, warum sie sich nicht mehr in Creusan befand und was passiert war. Sie erinnerte sich an die Versammlung, die katastrophal gewesen war, daran, dass sie nach Ardàsl mit einer Kompanie gereist war und an ihre anschließende Reise zur dem Ort, wo Jeraren verschwunden waren. Zum Schluss fiel ihr die Entdeckung wieder ein und die Schmerzen, die sie gespürt hatte, als diese Soldatin sie angegriffen hatte. Doch an all dies erinnerte sie sich im Traum, während ihr Körper schlief und sich weigerte, aufzuwachen.

 

Gwelan starrte auf den Becher in seiner Hand und konnte den Alkohol riechen, den der verdünnte Wein verströmte. Er stand zwischen Lucien und Doranth. Sie alle drei befanden sich etwas abseits von dem Hauptlager und starrten Schweigen vor sich hin. Lucien war aufgetaucht, hatte sowohl Gwelan, als auch Kreith zur Seite gezogen und dann einen Trinkschlauch mit Wein hochgehalten. Dabei hatte er beide fest angesehen.

„Wir sollten auf ihm trinken“, hatte er leise gemurmelt und keiner von ihnen musste nachfragen, wen er gemeint hatte.

Es war den Soldaten und auch den neuen Rekruten verboten, ohne Erlaubnis Wein zu trinken, selbst wenn er verdünnt war, doch Lucien hatte meint, dass er von Hauptmann Gorden die Zusage bekommen hatte. Einzige Bedingung war, dass sie nicht direkt im Lager taten, sodass sie nun etwas entfernt an einer Felsenwand standen und sich innerlich darauf vorbereiteten auf ihren Freund zu trinken.

Gwelans Hand verkrampfte sich um den Tonbecher und er verzog sein Gesicht. Er wollte nicht auf Kreith trinken, denn dann würde er sich der Wahrheit vollkommen stellen müssen. Er würde sich eingestehen müssen, dass er versagt hatte und Schuld an dem Tod seines Freundes trug. Er wollte einfach alles nur vergessen.

Doranth räuspert sich und hob plötzlich seinen Becher. „Auf unserem Freund!“

Mehr sagte er nichts und mehr war auch nicht notwendig. Gwelan hob ebenfalls seinen Arm.

„Auf unserem Freund“, sagte er gleichzeitig wie Lucien und trank dann.

Der Wein schmeckte scheußlich, dass war Gwelans erster Gedanke, doch er leerte den Becher trotzdem. Er fühlte, dass er dies Kreith Schuldig war. Danach herrschte wieder Stille.

Lucien sah finster aus, während er den Becher betrachtete, den er in der Hand hielt und seine Augen zogen sich zusammen. Es schien dem ehemaligen Dieb, dass dieser Mann sich gerade ein innerliches Versprechen gegeben hatte. Er konnte sich sehr gut vorstellen, was es war.

Doch wie stand es um ihn selber? Würde er den Mut haben, innerlich zu schwören, dass er Rache nehmen würde? Dass er dafür sorgen würde, dass Kreith gerächt wird und sein Freund deswegen in Frieden Ruhen konnte.

Doch was würde es ändern? Es würde Kreith nicht zurückbringen … es würde nur mich in Gefahr bringen.

Gwelan verzog sein Gesicht.

Doch du bist es ihm schuldig! Du bist sein Kamerad. Du bist dabei gewesen, als er gestorben war, und hast noch am Abend zuvor mit ihm zusammen gegessen … dass muss dir doch etwas wert sein!

Ihm etwas Wert sein? Das Einzige, was ihm immer von Wert war, war sein eignes Leben und seine Bemühungen, es zu erhalten. Nie, aber auch hatte er als Dieb über das Leben anderer nachgedacht … für ihm war immer das eigene Leben am wichtigsten gewesen.

Du hast damals gesagt, dass du dein Leben ändern willst. Wie sollst du dies erreichen, wenn du immer noch an deinen inneren Werten festhältst. Deine Werte als Dieb? Du besitzt doch Ehre und die Ehre verlangt, dass du deinem Freund versprechen wirst, dass er gerächt werden würde.

Langsam senkte Gwelan die Hand mit dem Tonbecher und er sah seine Freunde an. Deutlich an ihren Blicken der Racheschwur zu erkennen. Doch wie sah sein eigener Blick aus? Würde er den Schritt wagen und ebenfalls schwören, dass er sein Leben riskieren würde, um Kreith zu rächen? Er schloss die Augen.

Die Antwort war ganz einfach. Er würde es machen, denn Kreith war einer seiner ersten richtigen Freude gewesen. Selbst, wenn alles in ihm danach schreit, dass er dies nicht schwören sollte, wusste er, dass er es Kreith schuldig war. Und ein Dieb würde seine Schulden bezahlen … jedenfalls die, die er als seine Schuld ansah.

Ich lebe noch, doch Kreith ist tot. Er ist dabei gestorben, um seine Truppe zu beschützen … mit anderen Worten auch mich … Also bin ich ihm etwas schuldig!

Gwelan hob seinen Tonbecher und hielt ihn in dem Himmel. Er öffnete seine Augen und großer Ernst stand in ihnen.

Kreith! Ich schwöre hiermit, dass ich deinen Tod rächen werde. Ich werde nicht eher ruhen, bis ich herausgefunden habe, warum die Schatten hier sind und warum die Jeraren angegriffen werden. Dies schwöre ich bei meinen Namen: Gwelan Flinkhand!

 

Als Lorantha Thorn das dritte Mal erwachte, war ihr Verstand klar und sie konnte sich wieder an alles erinnern. Daran, dass sie das Zeichen des Schwarzen Blutes gefunden hatte und dass Mina eine Verräterin war. Diese Soldatin musste dieser Vereinigung angehören und dass sie versucht hatte, sie zu töten, bedeutete, dass Lorantha recht hatte. Irgendetwas hatte das Schwarze Blut vor und dies war nicht im Sinne der Jerarer.

Lorantha richtete sich im Bett auf und verzog ihr Gesicht, als sie einen Schmerz in ihren Kopf verspürte. Sie hob ihre Hand und griff nach ihrer Stirn, als sie inne hielt. Etwas stimmte nicht!

Panisch wurde ihr bewusst, dass sie jeden Millimeter ihres Körpers spürte. Sie vernahm ihre beiden Arme, ihre Brust, die an einer Seite schmerzte und ihren Kopf, der innerlich hämmerte. Was sie jedoch nicht spürte, war die Anwesentheit ihrer Beine.

Sie riss ihre Augen auf und blickte auf die Decke, mit welcher sie zugedeckt war. Sie konnte deutlich ihre Beine sehen, konnte die Umrisse unter der Decke erkennen und dennoch spürte sie nichts. Fassungslos blickte sie auf ihre Beine. Auf etwas, dass sie deutlich sehen, aber nicht mehr spüren konnte und die Erkenntnis, was dies bedeutete, kroch in ihren Kopf. Ganz langsam und sie merkte, wie sich ein greller Schrei in ihr bildete. Sie öffnete ihren Mund, doch schloss ihn dann wieder mit einem Schnappen. Sie kämpfte die Panik in ihr nieder und starrte nur auch die Beine.

Nie, aber auch nie, würde sie ihre Pein rausschreien. Dass konnte sie nicht machen. Sie war die Rechte Hand. Sie musste Stärke zeigen, sonst würde Vlar`zark gewinnen und sie selber alles verlieren.

Lorantha wusste nicht, wie lange sie auf ihre Beine gestarrt hatte, doch irgendwann trat ein älterer Soldat zu ihr und sprach sie. Sie hörte ihn zwar, doch nahm ihn nicht wahr. All ihre Aufmerksamkeit war auf ihren Beinen gerichtet.

Ihre Beine, die sie nicht mehr spüren konnte.

 

 

 

 

 

 

 

Teil 5

Jagd der Schatten

 

 

Schatten? Sie sind keine Lebewesen und befinden sich außerhalb des Gleichgewichtetes. Aus diesem Grund verschwinden sie auch, wenn sie man sie tödlich trifft. Sie sind kein Teil dieser Welt und deswegen darf man ihnen gegenüber nicht nachsicht sein!

 

Rae Vashà Rowanne Horlen,

Letzte Trägerin Var`zar,

Herbst im Jahre 2137

Kapitel Einundvierzig

 Neuer Auftrag

 

 

Und es war der Feuersturm, der die Hoffnung zu den Feuerwächterinnen brachte, denn es hieß, dass sie der Champion von Ethron sei und in seinen Namen kämpfen wird.

 

Rae Vashà Yael Or,

Oberste Flammenwärterin,

Sommer im Jahre 2591

 

„Das darf doch nicht wahr sein“, fluchte Thanai leise und funkelte Akara wütend an. „Sag mir, dass das nicht stimmt.“

Die junge Feuerwächterin verzog ihr Gesicht, als Zhanaile einen frischen Verband um ihre Schulter legte und fest verschnürte, doch ihren Blick hielt sie auf Thanai gerichtet. „Und wenn doch? Reg dich ab, Lüftchen. Niemand konnte ahnen, dass man uns schon seit einigen Dörfern beobachtet hatte.“

Thanai kniff die Augen zusammen und warf dann einen Blick zu Nolwine, die in der Ecke des Zimmers stand und ausah, als wäre sie in die Ecke getrieben worden. „Du hast jemanden gesehen, der uns beobachtet und keinen davon erzählt, Kind! Das …“

„Jetzt hör aber auf“, unterbrach Akara und lächelte Nolwine beruhigend an. „Sie hat es mir erzählt, weil du ja zu beschäftigt warst, um dich um deine zukünftige Luftschwester zu kümmern und Fischlein hat bei den Brunnen geholfen. Also ist das Mädchen zu mir bekommen und es mir gesagt. Sie trifft demzufolge keine Schuld.“

Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen in den Raum, während man Thanai deutlich ansehen konnte, dass sie kurz davor war, wieder einen inneren Sturm loszulassen. Sie schluckte heftig ihre Wut hinunter.

„Und warum hast du nichts gesagt, Akara! Verdammt, wir hätten diesen Angriff verhindern können.“

Akara schüttelte langsam den Kopf und fluchte leise auf, als Zhanaile die letzten Handgriffe an ihrer Schulter unternahm. „Das glaubst du doch selber nicht, Lüftchen. Außerdem, wer hätte wissen sollen, dass diese Gestalt ein Beobachter sein sollte. Ich meine, wir werden doch fast immer von irgendwelchen Personen beobachtet und zum größten Teil sind es nur harmlose Personen.“ Sie bewegte ihren Arm, um den Sitz des Verbandes zu testen und warf dabei einen dankbaren Blick zu der Wasserwächterin, die eine Schüssel, welche Wasser mit Blut vermischt beinhaltete, nahm, um sie zu leeren. „Der Angriff auf AlHarten hat außerdem nicht dem Dorf gegolten, sodass die Schäden gering sind.“

Ein herausfordernder Blick trat in Akaras Augen und sie starrte damit Thanai genau an. Es schien so, als würde sie ihre Freundin auffordern wollen, etwas dagegen zu sagen. Als jedoch die Luftwächterin schwieg, fuhr Akara fort.

„Falls du noch nicht mitbekommen hast, haben die Besetzten Steckbriefe von uns und … Apropos Steckbriefe, warum hast du uns nicht gesagt, dass dieser Attentäter, der Fischlein verletzt hatte, auch welche bei sich gehabt hat.“

Akara nahm einen Steckbrief, der sie selber zeigte, und hielt ihn hoch. Als sie ihn vor zwei Kerzenstriche gefunden hatte, hatte sie bei dem Worten >Vorsicht! Gefährlich!< lachen müssen. Sie sah abermals zu dem Bild und konzentrierte sich dann. Sie ergriff einen Feuerstrang, der direkt bei dem Papier war und ließ ihn auflodern. Sofort entzündete sich dieser Steckbrief und nach wenigen Herzschlägen war nur noch Asche übrig.

„Ich denke, dass wir ein Recht darauf gehabt hätten, so wie du jetzt darauf beharrst, dass wir euch von dem Beobachter erzählen sollen. Ich bitte dich, Lüftchen! Seitdem wir von Greisarg aufgebrochen sind, habe ich so an die fünfzehn Personen gesehen, die eventuell Beobachter hätten sein können. Fahr also nicht Nolwine an, denn immerhin könnte es ja auch einer der anderen gewesen sein.“

Zhanaile, die sich bisher nicht in das Gespräch eingemischt hatte, hielt in ihrer Bewegung inne und sah dann Akara scharf an. „Wir wurden den ganzen Weg beobachtet und du hast nichts gesagt?“

Akara zuckte mit den Schultern. „Wir werden andauernd beobachtet … wir sind Wächterinnen. Wenn ich jedes Mal eine Warnung aussprechen müsste, dann müsste ich es ja fast täglich unternehmen.“ Die Feuerwächterin erhob sich von dem Stuhl und verzog leicht das Gesicht, als ein Verband über ihren Oberkörper sich spannte. „Eine Warnung ist doch überflüssig. Wir wissen, dass das Schwarze Blut uns jagt und wenn man den Steckbriefen glauben darf, dann sind sie besonders an uns interessiert …“

Abermals kam Schweigen auf, während Thanai an einem Fenster stand und ihre Freundin immer noch wütend anfunkelte. Zhanaile verstaute das Verbandsmaterial und Akara begann mehrere Übungen zu machen, um zu sehen, inwieweit ihre Verletzungen sie beeinflussen. Das Mädchen Nolwine stand immer noch in einer Ecke und Furcht war in ihrem Gesicht zu sehen.

Seit dem Angriff des Schwarzen Blutes waren drei Kerzenstriche vergangen und nach einer Zählung war herausgekommen, dass es insgesamt drei Besetzte und deren Schattendiener, die so um die vierundzwanzig gewesen sein mussten, ihre Gegner waren. Für jede Wächterin ein Besetzter und der Stärkste von ihnen hatte sich Akara vorgenommen.

Zhanaile war immer noch davon beeindruckt, dass ihre Freundin es vermieden hat, ihrem inneren Feuer groß zu nutzen, sodass es kaum Brandspuren gab. Zwar waren das Gras und einige Bäume angesengt, doch durch den Regen, der immer noch andauerte, war kein großer Schaden entstanden. Die Wasserwächterin warf einen Blick zu Akara und dieses Mal war es ein besorgter, denn dadurch, dass ihre Freundin nicht das Feuer zur Hilfe gerufen hatte, hatte sie Verletzungen einstecken müssen, die ihr sonst erspart geblieben wären. Keine davon war lebensbedrohlich, doch nach Akaras Worten war der Besetzte sehr gut gewesen. Dieser Kampf hätte deswegen auch anders auffallen können und Zhanaile war über das jetzige Ergebnis mehr als froh.

Drei Besetze, um uns zu töten. Kein Wunder, dass Thanai so gestresst ist.

Zhanaile schwenkte ihren Blick zu der Luftwächterin, welche ebenfalls Verletzungen fortgetragen hatte, doch diese waren meist nur oberflächlich gewesen. Zhanaile selber hatte es am wenigsten erwischt, auch wenn sie noch den Nachgeschmack des Öles in ihren Mund hatte. Sie verzog leicht das Gesicht, was ihr die Aufmerksamkeit von Akara einbrachte, welche anfing leise zu lachen.

„Mithilfe von Öl einen Besetzten in Flammen zu setzen, Fischlein … und das von einer Wächterin, deren Element Wasser ist. Ich weis nicht, wer mehr darüber überrascht war: dein Gegner oder ich, als ich es erfahren habe.“ Sie grinste nun über das ganze Gesicht. „Diesen Trick muss ich mir merken, obwohl er bei einer Feuerwächterin wohl nicht besonders gut ankommen würde.“

Die Wasserwächterin wurde leicht rot, doch erwiderte nichts darauf. Sie selber war im Nachhinein auch überrascht gewesen und konnte immer noch nicht glauben, dass sie dies getan hat. Auf der anderen Seite war sie so in dem Gefecht vertieft gewesen, dass sie einfach nur instinktiv gehandelt hatte. Doch dass sie ausgerechnet hatte Feuer nehmen müssen, war etwas, dass ihr überhaupt nicht gefiel. Feuer war das gegenteilige Element und sie sollte nicht ihr Leben auf dieses verlassen.

„Hey, Fischlein, mach nicht so ein Gesicht! Du hast einfach instinktiv gehandelt und dabei spielt es doch keine Rolle, welches Element du benutzt. Du hast ja nicht mit den Strängen gewirkt, sodass dir auch keine Feuerwächterin böse sein kann.“ Akara trat zu Zhanaile und legte ihr einen Arm um die Schulter, während ihr Blick jedoch zu Thanai wanderte. „Es mag sein, dass ich es euch hätte sagen sollen, aber wenn ich ehrlich bin, dann hätte ich nie gerechnet, dass so nah an Sardenthal ein direkter Angriff auf uns stattfinden würde. Außerdem ist es schon verwunderlich, dass keine Feuerschwestern hier im Dorf sind … normalerweise befinden sich mindestens zehn Schwestern hier.“ Sie schüttelte den Kopf. „Was hat sich der Rat eigentlich dabei gedacht, diese hier abzusetzen und wo sind sie eigentlich?“

Zhanaile schob Akaras Arm von ihrer Schulter. „Ich habe im Gasthaus gehört, dass sie eine Übung abhalten wollten und erst morgen früh zurückerwartet werden.“ Sie sah zu ihrer Freundin. „Kannst du in der Nähe spüren, ob in den Feuersträngen gewirkt wird?“

Akara hob eine Augenbraue. „In der Nähe? Wie nah? Ich kann von hier aus Sardenthal spüren, wie dort in den Strängen eingewirkt wird und dieser Ort ist fast fünf Tage entfernt von hier … wenn man nicht gerade durch den Bogen reist. Aber ganz nah?“ Akara schloss die Augen und rief die Feuerstränge in der Umgebung vor ihren inneren Blick. Sie ging einzelne Stränge entlang und suchte somit die Umgebung ab. Dabei breitete sie ihre Gedanken immer weiter aus, bis sie im Westen an einer Stelle sah, wie dort die Feuerstränge in reger Bewegung waren. Sie konzentrierte sich fest darauf und spürte, dass dort in der Tat irgendeine Übung abgehalten wurde. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht und sie griff gedanklich nach zwei Strängen und entfachte inmitten ihrer Schwestern ein loderndes Feuer, ehe sie sich zurückzog und die Augen wieder öffnete. Belustigung stand in ihnen.

„Ja … es wird eine Übung abgehalten und nun werden sie sich um ein kleines Feuerchen kümmern müssen“, sagte sie lachend.

Thanai schüttelte den Kopf. „Kindskopf! Manchmal frage ich mich wirklich, inwieweit du erwachsen bist, Akara.“

Die junge Feuerwächterin zuckte mit den Schultern. „Wenn es nach Seranins Meinung geht, dann wird es noch lange dauern, ehe ich erwachsen werde.“

Ein Schnauben war Thanais Antwort darauf, doch dann wandte sie sich zu Nolwine, die immer noch in der Ecke stand und die ganze Zeit kein einziges Wort gesagt hatte. Jetzt jedoch stand keine Angst mehr in deren Augen, sondern Müdigkeit. Die Luftwächterin seufzte. Es war wirklich nicht fair von ihr gewesen, dass sie ihre Wut an dem Kind ausgelassen hatte, denn diese hatte ja von dem Beobachter erzählt und konnte nichts dafür, wenn Akara diese Information nicht weitergereicht hat.

„Ich würde sagen, wir machen für heute Schluss, denn wir wollen morgen früh … ganz zeitig früh“, betone sie und sah dabei Akara an“, den Dreibogen aufsuchen und dann endlich nach Sardenthal reisen!“

Die Antwort auf dieser Aussage war ein finsterer Blick von Akara, doch die Feuerwächterin erwiderte nichts, sondern zuckte mit den Schultern und verließ den Raum.

Was für ein Wunder, dass wir es tatsächlich bis nach AlHarten geschafft haben und Akara bisher kein einziges Mal versucht hat, zu entwichen.

Thanai war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte und erneute Schuldgefühle machten sich in ihr breit, wenn sie daran dachte, dass sie ihre Freundin zu einer Ernennung begleitete, die diese nicht haben wollte.

Zhanaile hat recht. Wir hätten sie nicht finden dürfen. Da wäre alles viel einfacher gewesen.

Die Luftwächterin scheuchte Nolwine ins Bett und wünschte dann auch Zhanaile eine erholsame Nacht, ehe sie sich selber zur Ruhe begab.

 

***

 

„Verdammt“, fluchte Telsa und starrte auf das Feuer an, das vor wenigen Herzschlägen inmitten des Lagers erschienen war, und sah sich wütend um. Sie starrte ihre elf anderen Feuerschwestern an. „Wer ist dafür verantwortlich?“

Schweigen dröhnte ihr entgegen und jeder sah verwirrt aus. Diese Verwirrung sah sogar so echt aus, dass die junge Flammentänzerin glaubte, dass diese Personen wirklich keine Ahnung hatten, was gerade passiert war. Telsa atmete tief durch und sah dann wieder zu den Flammen.

Eigentlich hätte es eine Übung werden sollen, um den jüngeren Mitgliedern der Wache zu helfen, ein Schwert aus dem inneren Feuer zu formen und damit zu kämpfen. Dies war eine Technik, die nur diejenigen konnten, die genügend inneres Feuer besaßen und eine hohe Konzentrationsgabe besaßen. Da Telsa wusste, dass jeder ihrer Schwestern hier diese beiden Voraussetzungen erfüllte, hatte sie beschlossen, diese Technik bei ihnen zu verbessern. Immerhin konnte man nie wissen, wann es zu einem ernsten Kampf kommen würde.

Wer hat das Feuer entfacht? Wenn es keiner von uns war, dann musste …

Telsa schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Gleichgewicht ihrer Umgebung. Sie spürte bei einigen Strängen, dass kurz zuvor eine Wächterin diese berührt haben musste. Doch es waren Stränge, die nicht von der Übung betroffen waren, sodass es keiner von ihnen sein konnte. Demzufolge war eine fremde Wächterin dafür verantwortlich gewesen. Langsam und mit voller Konzentration suchte sie die berührten Stränge und merkte schnell, dass diese nach AlHarten führten.

Es war nichts Seltenes, das eine Feuerwächterin sich in dem Dorf aufhielt, denn dieser Ort befand sich direkt vor Sardent und man musste durch ihn reisen, wenn man nach Sardenthal wollte. Aus diesem Grund war Telsa auch nicht misstrauisch, als sie die Gegenwart einer Feuerschwester in dem Ort spürte.

Sie suchte AlHarten systematisch ab und konnte immer deutlicher die Anwesenheit einer Schwester von sich spüren. Dann jedoch, als sie diese schon fast erreicht hatte, spürte sie etwas anderes und verharrte. Eine mächtige Präsenz war anwesend. Eine Präsenz, die sie sehr gut kannte. Sie verlor die Kontrolle und riss die Augen auf. Sofort befand sich ihr Geist wieder in ihrem Körper.

Ihre Feuerschwestern sahen sie fragend an und Telsa wischte sich den Schweiß von der Stirn, während sie spüre, wie eine leichte Kühle in ihr aufstieg.

„Der Feuersturm befindet sich in AlHarten“, erklärte sie und sah, dass einige jüngere Flammentänzer voller Ehrfurcht in Richtung des Dorfes blickten. Telsa sah zu dem Feuer, das immer noch loderte, und runzelte ihre Stirn. Sie konnte sich vorstellen, was passiert war und dass Akara Sorhain dieses Feuer einfach nur entzündet hatte, um sie zu ärgern.

Kindskopf, fuhr es durch ihren Kopf, doch sie lächelte dabei. Also haben die anderen endlich Akara gefunden. Dann wird die Ernennung in wenigen Tagen stattfinden.

Telsa seufzte und konzentrierte sich auf das Feuer vor ihr. Sie suchte die betroffenen Stränge heraus und begann, diese zu besänftigen. Kurz darauf erstarben die Flammen.

„Nun gut! Wir machen noch einen Durchgang und dann geht es zurück nach AlHarten. Wir wollen dann den Sturm begrüßen, ehe sie weiter nach Sardenthal reisen wird.“

Sofort begannen die anderen mit voller Eifer sich auf die Übung zu stürzen. Telsa musste ein Auflachen unterdrücken. Wenn man die richtige Belohnung in Aussicht stellte, dann versuchte selbst die mürrischste Tänzerin sich anzustrengen und den Feuersturm persönlich zu begegnen ist vor allen für die jüngere Generation der beste Ansporn, den es gab.

Kopfschüttelnd wandte sie sich zu einer Feuerschwester, die erst seit zwei Monden zu ihrer Truppe gehörte, und gab ihr einige Ratschläge, wie sie ihr inneres Feuer am besten einsetzen sollte.

 

***

 

Es war ein Poltern, dass Akara weckte und sie musste nicht einmal die Augen öffnen, um zu wissen, dass einige ihrer Feuerschwestern sich in AlHarten befanden. Sie lächelte leicht und stand auf. Jemand musste also mitbekommen haben, dass sie diejenige gewesen war, die diese Übung gestern Nacht gestört hatte und Akara wusste auch, wer es war, denn sie hatte kurz darauf die Gegenwart einer Schwester gespürt, die sie seit fast zweieinhalb Jahren nicht mehr gespürt hatte.

Akara zog ihre lockere Kleidung an, wohl wissend, dass dies wieder einmal Thanai nicht gefallen würde, und verließ dann ihr Zimmer. Ihr Weg führte in den Schankraum und sie setzte ein breites Grinsen auf, als sie die Treppe runterging. Jedoch verschwand das Grinsen als sie auf halber Treppe erkannte, dass sich im Schankraum zwölf Feuerwächterinnen aufhielten und einige einen ehrfurchtsvollen Blick aufgesetzt hatten.

Na toll … Wächterinnen, die alle Geschichten glauben und nicht ihren eigenen Verstand einsetzen.

Das Murmeln, das in Schankraum geherrscht hatte, verstummte langsam, nachdem eine Wächterin nach der anderen Akara sah und einige verhoben sich, um eine Verbeugung anzudeuten. Akara verzog ihr Gesicht und suchte dann die Wächterin, deren Anwesenheit sie in der Nacht gespürt hatte.

„Wenn das nicht Telsa ist“, sagte sie und trotz, dass sie die übertriebene Verehrung einiger Wächterinnen furchtbar fand, stahl sich wieder ein Lächeln auf ihre Lippen. „Ich hoffe, ihr hattet eine gute Übung.“

Die angesprochene Wächterin schnaubte leise, doch sie klang dabei nicht wütend. In ihren Augen stand Freude und sie ergriff Akaras rechten Arm. „Jedenfalls war es eine Gute, bis jemand der Meinung war, er müsste dort eingreifen, Akara!“

Akara legte ihren Kopf schräg. „Eingreifen? Ich habe doch nicht eingegriffen … nur ein kleines Feuerchen gemacht, damit ihr nicht friert.“

Ein erneutes Schnauben war zu vernehmen, doch dann wurde Telsa ernst.

„Wir haben von den Angriffen gehört“, sagte sie und betrachtete dann Akara genau. Sie verzog ihr Gesicht, als sie den Verband erkannte. „Ich hoffe, dass es euren Begleiterinnen gut geht.“

Akara nickte abwesend und zupfte an den Verband, der um ihre Schulter war. „Jaja… Lüftchen und Fischlein haben sich gut geschlagen. Es war ein interessanter Kampf gewesen.“ Sie sah ihre Freundin an. „Es gibt neuerdings einen Steckbrief von mir vom Schwarzen Blut. … Ich glaube, dass sie mich nicht mögen“, fügte sie leise lachend zu und sah sich dann im Schankraum um. Sie merkte, dass alle anwesenden Feuerwächterinnen ihr gebannt zuhörten und seufzte innerlich. Sie breitete die Arme aus. „Aber um eine Rae Vashà zu töten, da braucht es mehr als nur einen Besetzen und niedere Schatten!“

Zustimmende Rufe ertönten und Telsa hob fragen eine Augenbraue, doch Akara winkte ab.

Ein Geräusch auf der Treppe ließ Akara dorthin schauen und sie musste abermals lächeln, als sie Nolwine erkannte, die mit einem verunsicherten Blick in den Schankraum blickte. „Alle mal herhören“, rief Akara und zeigte dann auf dem Mädchen, das bleich wurde. „Hier ist eine zukünftige Luftschwester, also seid nett zu ihr und zeigt euch von der besten Seite. Sie soll nicht denken, dass wir Feuerschwestern rüpelhafte und unzivilisierte Personen sind.“

Telsa stieß Akara in die Hüfte. „Wenn einer rüpelhaft und unzivilisiert ist, dann bist du das, Akara! Was hast du angestellt, dass sie so aussieht, als wäre sie einen Geist begegnet.“

Akara wurde ernst. „Sie ist leider den Feuersturm begegnet“, sagte sie leise und Telsa nickte verstehend. Die Flammentänzerin warf einen mitleidigen Blick zu dem Mädchen.

„Das ist in der Tat so, als würde man …“

„DAS DARF DOCH NICHT WAHR SEIN!“

Stille herrschte im Schankraum, während alle nach oben blickten, wo auf einmal Thanai auftauchte und ein hochrotes Gesicht hatte. Sie war wütend aus.

„Ich war es nicht“, sagte Akara automatisch, doch die Luftwächterin achtete nicht darauf. Sie drängte sich an Nolwine auf der Treppe vorbei und blieb vor Akara stehen, wobei sie einen Finger in ihre Brust bohrte. In der anderen Hand hielt sie einen Brief, der wohl in der Nacht angekommen sein musste.

„Hör auf, so einen Unsinn von dir zu geben“, zischte sie Akara an und warf dann die Arme in die Luft. „Ich dachte, ich würde dich heute endlich loswerden und nun das.“

Akara zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen. „Das was?“

Thanai presste den Brief in Akaras Händen und wandte sich dann zum Tresen. „Wir sollen nach Ardask reisen und uns mit den anderen Ersten Generälen treffen. In dem Land sind mehrere höhere Schatten aufgetaucht und wir sollen herausfinden, was dahinter steckt.“ Sie holte einen Tonbecher hervor und knallte ihn auf dem Holz des Tresens. „Ich fasse es nicht. Ich hatte wirklich gehofft, dass ich morgen nach Neirhain reisen könnte.“

Die junge Feuerwächterin warf einen fragenden Blick zu Telsa, doch sie zuckte mit den Schultern, sodass Akara den Brief nahm und ihn entfaltete. Sie las ihn sich durch und ein finsterer Ausdruck trat in ihre Augen. Plötzlich loderte eine Flamme in der Nähe von Akara auf und Telsa sprang zur Seite.

„`kara!“

Akara zuckte zusammen und sah zu der Flamme. Sie murmelte eine Entschuldigung und löschte sie wieder, während sie den Brief zerknüllte.

„In den Brief steht, dass alle ersten Generäle sich in dem Gasthaus Tanzender Wolf treffen sollen, Thanai“, sagte sie und warf einen Blick zu der Luftwächterin. „Damit bist du und Zhanaile gemeint. Ich habe nichts damit zu tun.“

Ein Schnauben entfuhr Thanai. „Das glaubst auch nur du, Akara! Im letzten Abschnitt steht dein Name und du wirst die Erste Flammenträgerin werden … egal, ob du es willst, oder nicht. Also komm mir nicht so.“ Sie sah zu der Treppe, auf der immer noch Nolwine stand, die bleich aussah.

„Wir werden nachher reden, Nolwine“, sagte sie und überlegte gleichzeitig, was sie mit dem Mädchen machen sollte. Sie warf einen Blick durch den Schankraum und fragte sich, ob sie eine Feuerwächterin bitten sollte, das Kind nach Sardenthal zu einer Luftwächterin zu bringen. Das Problem jedoch war, dass sich Thanai nicht sicher war, ob sich eine Luftschwester gerade im Feuerhort aufhielt. Denn wenn nicht, dann würde das Mädchen in große Schwierigkeiten stecken und alleine konnte Thanai das Kind nicht lassen. Nicht, wenn die Gefahr bestand, dass sie noch von einigen Kämpfen heimgesucht wird.

Vielleicht kann ich dem Feuerrat bitten, eine Wächterin zusammen mit dem Mädchen nach Neirhain zu schicken. Dies wäre eine Möglichkeit, doch innerlich gefiel es der Luftwächterin nicht. Sie wusste zwar, dass sie sich auf die die Feuerschwestern verlassen konnte, doch was geschah, wenn ein erneuter Anfall das Mädchen heimsuchte, während sie unterwegs waren. Nein, sie konnte dies nicht riskieren, doch welche andere Möglichkeit blieb ihr dann?

Ich weis, dass in Jahalat einige Luftschwestern sind und das Gasthaus Tanzender Wolf befindet sich in einer kleinen Stadt nahe Jahalat. Vielleicht sollte ich das Mädchen mitnehmen und es dann einer Schwester in Jahalat übergeben.

Ein schlechtes Gewissen kam in Thanai auf, als ihr bewusst wurde, dass sie so klang, als wäre Nolwine eine Bürde. Doch das Mädchen konnte nichts dafür und daran sollte Thanai denken. Sie schwankte ihren Blick zu Akara, die zwischen ihren Feuerschwestern stand und finster dreinsah.

Dass kann noch schwierig werden, vor allen sie auf Rae Arth Ordaine treffen wird. Eine Begegnung, die Thanai schon sehr fürchtete. Sie sah zu dem Tresen und erkannte, dass sie während der ganzen Zeit automatisch einen Tee zusammengesetzt hatte. Sie nahm den Krug und trat zu Akara, welche sie fragend ansah, doch dann mit den Schultern zuckte. Akara berührte den Krug und sofort begann das Wasser im inneren zu kochen.

„Danke“, murmelte Thanai und verteilte den Tee an diejenigen, die etwas haben wollten, während ihre Gedanken immer noch um den neuen Auftrag kreisten.

Angriffe in Ardask? Von höheren Schatten und gleich mehreren? Das war etwas ungewöhnliches, denn es gebrauchte immer eine große Kraft, um Schatten durch einen Riss in diese Welt zu holen. Je mächtiger der Schatten sein sollte, desto gefährlicher war es.

Wieso habe ich das Gefühl, dass etwas Gewaltiges auf uns zukommen wird?

 

 

Kapitel Zweiundvierzig

 Der Weg der Flammen

 

Mit Macht kommt auch die Verantwortung! Du hast eine mächtige Gabe, Akara, also nutze sie gefällig auch und höre auf, Schande auf dich zu laden.

 

Rae Vashà Seranin Xior,

Flammentänzerin,

Sommer im Jahre 2594

 

Mit geübten Handgriffen schnallte sich Seranin Xior den Schwertgürtel um ihre Hüften und überprüfte den Satz des Schwertes. Sie fuhr mit der rechten Hand über den Griff und schloss dabei die Augen. Ein Gefühl der Ruhe kam über sie und sie nahm es willkommen an. Ihre rechte Hand wanderte von dem Griff zu ihrer Gürteltasche, welche offen war und sie griff hinein. Heraus holte sie ein kleines Amulett, dass eine Flamme zeigte und in dessen Mitte ein Rubin eingelassen war. Sie öffnete die Augen.

Lange starrte sie den Anhänger an, ehe sie leise seufzte.

Hinter ihr erklang ein gedämpftes Winseln und Seranin drehte sich um. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht und sie trat zu dem Schwarzwolf, wo sie sich niederbeugte und ihm über den Kopf strich.

„Ist schon, Zahn“, murmelte sie und steckte den Anhänger wieder in die Tasche. „Du hast recht. Es lohnt sich nicht, sich darüber Gedanken zu machen, wenn man es eh nicht ändern konnte.“ Sie erhob sich wieder und sah zu ihrem Bett, wo ein sorgsam verschnürtes Bündel lag. Stolz trat in ihre Augen.

Der Schwarzwolf erhob sich und seine Ohren stellten sich auf. Sein Blick ging zu der Tür und kurz darauf vernahm Seranin ein Klopfen.

„Herein?“

Seranin hob eine Augenbraue, als sie sah, wer eintrat und warf einen Blick zu Zahn, der leise grollte. Doch es klang nicht bedrohlich, sondern erfreut. Verräter, fuhr es ihr durch den Kopf und sie funkelte ihren Wolfsgefährten wütend an.

„Ilenya … was führt dich zu mir“, fragte sie den Neuankömmling, während sie sich dem Fenster zuwandte.

Vria … ich…“, begann Ilenya, doch brach wieder ab. Sie sah nervös aus und zuckte leicht zusammen als Zahn aufstand und seinen Kopf gegen ihre Beine drückte.

Ein leises Seufzen entfuhr Seranin und sie wandte sich wieder der anderen Feuerwächterin zu. „Spuck es schon aus! Ich werde dich schon nicht gleich auffressen. Dass würde Zahn sowieso nicht zulassen.“

Ilenya nickte und sah kurz zu dem Wolf, der sie mit großen Augen treuevoll ansah. Ein leichtes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Es gibt Nachricht von Rae Lùvar Thanai Reman. Sie und Rae Sothà Zhanaile ir`Sir sind zusammen mit Vria Akara auf dem Weg hierher. Nicht mehr lange und dann kann die Ernennung stattfinden.“

Ein Schnauben entfuhr Seranin und sie verzog ihr Gesicht.

„Ernennung. Dass ich nicht lache. Wenn es nach ihr gehen würde, dann würde sie sich in irgendeine Spelunke volllaufen lassen und der Welt den Rücken zukehren.“ Sie warf die Arme in die Luft und die Wut in ihr wurde größer. „Es ist doch kaum zu fassen. Lass mich raten, wo die beiden sie gefunden haben: besoffen liegend in einer Ecke.“ Sie sah ihre Freundin an. „Ich versteh es einfach nicht, Ilenya. Da hat jemand so ein großes Talent und schmeißt es einfach weg. Sie hat eine Verantwortung und es ist einfach eine Schande, dass sie diese nicht nimmt. Die Ernennung wird uns alle schaden, wenn Akara nicht endlich ihren Hintern hochbekommt und anfängt sich verantwortungsvoll zu benehmen.“

Seranin atmete tief durch und warf Zahn einen weiteren wütenden Blick zu, als er sie belustig ansah.

„Ich weis, dass du dies nicht gerecht findest, dass sie die Erste …“

„Falsch, Ilenya“, unterbrach Seranin. „Ich weis, dass Akara das Recht hat, als Erste Flammenträgerin ernannt zu werden. Sie ist die bessere von uns beiden und das gebe ich auch ehrlich zu. Doch es ist nicht gut, wenn sie nicht mit dem Herzen dabei ist. Sie ist eine Feuerwächterin, doch manchmal benimmt sie sich, als wäre sie dem Wasser oder dem Leben geweiht. Sie ist schwach und diese Schwäche wird ihr Untergang sein, wenn sie das Amt als Erste Generalin annehmen wird … was heißt hier annehmen! Die anderen zwängen sie hinein und wundern sich dann, warum sie Sardenthal meidet und nichts von sich hören lässt.“

Es war ein offenes Geheimnis, dass Akara ihren Streit mit dem Rat der Flammen gehabt hatte und seitdem nicht mehr im Flammenhort gewesen war. Nun hat der Rat beschlossen, Akara das Amt der Ersten Flammenträgerin zu übertragen und dabei sind sich alle sicher, dass Akara es selber nicht wollte. Wie gut war es, die Sicherheit von Sardenthal jemanden anzuvertrauen, der es nicht will? Seranin selber würde die Zweite Flammenträgerin sein und damit die Vertretung von Akara. Schon alleine der Gedanke, unter Akara dienen zu müssen, machte Seranin wütend. Nicht wütend, weil sie den Posten der Ersten lieber hätte, sondern weil sie genau wusste, dass Akara das Amt nicht respektierte.

Ich wäre besser dazu geeignet, fuhr es Seranin durch den Kopf, doch sie sagte es nicht laut. Ihr war klar, dass Akara die bessere Feuerwächterin und Kämpferin war und somit war es eine logische Entscheidung, dass Akara über ihr stehen würde. Dass das Seranin störte, war einfach nur die Einstellung von Akara. Sie hatte es noch nie verstehen können und war sich sicher, dass sie auch nie werden würde. Dafür waren sie beide viel zu verschieden.

„Sei nicht wütend auf Akara“, sagte Ilenya leise. Seranin betrachtete Ilenya. Sie kannte diese Frau schon, seitdem sie nach Sardenthal gekommen war, denn Ilenya hatte im selben Jahr angefangen, die Kunst des Feuers zu erlerne, wie sie. Man konnte mit Recht sagen, dass sie Freunde waren, auch wenn Ilenya keine besonders starke Gabe besaß und es abzusehen war, dass sie nie eine hohe Stellung bekommen würde. Doch dies hatte Ilenya nicht davon abgehalten, ihr bestes zu geben. Seranin selber hatte früher während der Ausbildung oft mit ihr geübt. Als Akara nach Sardenthal gekommen war, waren Ilenya und Seranin schon seit vier Jahren dort gewesen, doch schon nach einem Jahr hatte Akara all das gelernt, wofür sie diese vier Jahre gebraucht hatten. Neid war damals in Seranin aufgekommen und dieser hielt bis heute an. Sie war immer die Jahresbeste gewesen und dann war das andere Mädchen aufgetaucht, das sich nichts aus ihrer Gabe gemacht hatte und war dann auch noch besser gewesen. Seranin hatte einen würdigen Gegner bekommen und sich immer an Akara gemessen. Sie wollte besser werden als sie, doch dies war einfach nicht möglich gewesen. Während jede Feuerwächterin irgendwann eine Grenze erreichte und gegen eine innere Kälte ankämpfen musste, war es so, dass Akara scheinbar eine unendliche innere Flamme besaß. Eine Flamme, die nie auszugehen schien. Da konnte selbst Seranin, deren eigene innere Flamme sehr hell und stark loderte, nicht mithalten. So kam es, dass sie immer die zweite war.

Ilenya hatte sich auch mit Akara angefreundet, was wohl eher daran lag, dass diese ihr oft das Leben gerettet hatte. Seranin nahm es nicht übel, doch sehr oft war es so, dass Ilenya zwischen den Fronten geriet und dann versuchte, Frieden zu stiften, wenn ein Streit zwischen Akara und Seranin ausbrach. So wunderte sich Seranin nicht, dass Ilenya es wieder versuchte.

„Ich bin nicht wütend auf Akara“, sagte Seranin und meinte es auch so. „Ich verstehe sie einfach nicht. Sie hat von Ethron wohl die beste Gabe bekommen und nimmt diese nicht wirklich an. Sie könnte so viel erreichen, wenn sie es annehmen würde. Sie ist eine Feuerwächterin und sollte sich auch dementsprechend benehmen. Außerdem …“

Ein Grollen von Zahn ließ Seranin inne halten und sie verstummte. Sie warf einen Blick auf ihren Schwarzwolf und kniff die Augen zusammen. Dieser legte seine Ohren an und ging zur Tür. Er sprang an die Klinge und öffnete die Tür. Ein Kunststück, dass Zahn als Welpe gelernt hatte und wofür Akara verantwortlich gewesen war.

Ein Schatten legte sich über Seranins Augen. Natürlich hatte Akara dies Zahn nur beigebracht, weil sie wusste, dass sie damit Seranin ärgern würde. Es gab nämlich nichts nervigeres als einen Wolf, den man nicht in einem Zimmer einsperren konnte, wenn man seine Ruhe haben wollte. Dass er jetzt aus dem Zimmer ging, konnte zwei Dinge bedeuten: Er hatte Hunger oder etwas war vorgefallen, was sie nicht mitbekommen haben. Seranin warf einen Blick zu ihrer Freundin.

„Komm. Lass uns nachsehen, was Zahn hat.“

Zahn zu folgen war nicht besonders schwer, denn er wartete bis sie ihn eingeholt hatten und dann ging er gemächlich in Richtung große Feuerhalle, wo Seranin schon von weiten erkennen konnte, dass die beiden Feuerrätinnen und die Oberste Flammenwärterin in einem Gespräch verwickelt waren.

Rilja Houren war von den Rätinnen die ältere und zahlte schon über fünfzig Jahre, was jedoch bei einer Wächterin keine allzu besondere Rolle zählte. Doch sie war eine Frau, die sich von kühler Logik führen ließ und immer offen für andere Ideen war, solange diese gut argumentiert wurden. Die andere Rätin, Myrelin Zeiten, war noch sehr jung. Sogar so jung, dass viele überrascht waren, als man ihr das Amt übertragen hatte. Seranin war nicht überrascht gewesen, denn sie in ihren Jahrgang die drittbeste gewesen – gleich nach Akara und Seranin. Die letzte Frau, Shiannon Hylen war die Verwahrerin der Glut und somit die oberste Chronistin der Feuerwächterinnen. Sie zählte sogar schon mehr als Siebzig Sommern und es hieß, dass sie ein sehr gutes Gedächtnis besaß. Eine Eigenschaft, die man als Chronisten besitzen musste.

Seranin warf einen kurzen Blick zu Ilenya und hob fragend eine Augenbraue. Es war nicht selten, dass diese drei Frauen in einem Gespräch zu finden waren und dennoch kam in Seranin Neugierte auf. Sie trat zu den anderen und verbeugte sich leicht.

„Ah … Vria Seranin“, sagte Rilja erfreut und warf einen verschmitzten Blick zu ihrer jüngeren Kollegin. „Wir habe gerade von dir gesprochen. Und hier ist Vria Ilenya – Möge die Flammen euch beiden hold sein!“

Seranin nickte knapp, während Ilenya den Gruß erwiderte. Es war ihr anzusehen, dass sie sich in der Gegenwart der anderen nicht besonders wohl fühlte, sodass Zahn zu ihr trat und abermals seinen Kopf gegen ihre Beine beruhigend drückte. Eigentlich ist er ja mein Gefährte! Seranin warf ihren Wolf einen Blick zu, ehe sie sich an Rilja wandte.

„Wirklich, Rätin? Ich hoffe doch nur Gutes.“

Auf Riljas Gesicht erschien ein breites Lächeln und sie täschelte Seranins Arm. „Aber sicher doch, nicht wahr Myrelin? Gerade haben wir über dein Duell mit Vria Akara gesprochen, dass zum letzten Tilith stattgefunden hat. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass ihr beide es so lange ausgedehnt habt. Beeindruckend, wirklich beeindruckend!“

Seranin schenkte der Rätin ein Lächeln, doch es gefiel ihr nicht leicht. Auch sie erinnerte sich an den Kampf vor drei Jahren und so wie bei all den anderen Duellen, hatte sie zum Schluss hin abermals gegen Akara verloren. Doch dies war nicht überraschend gewesen. Was jedoch überraschend war, war die Tatsache, dass ihr Duell knapp sechsundzwanzig Kerzenstriche angedauert hatte … fast den ganzen Tag. Was ein Meisterwerk war und ein Zeichen dafür war, dass Seranin ihre innere Flamme sehr wohl lange zum Brennen bringen konnte. Doch zum Schluss hat Akara gewonnen, denn ihr inneres Feuer verging nie.

„Es war ein interessanter Kampf. Ich habe einiges von Vria Akara gelernt“, sagte sie leise und meinte ihre Worte auch so. Sie lernte immer etwas Neues, wenn sie gegen Akara kämpfte und so hoffte sie, dass sie eines Tages vielleicht doch schaffen wird, gegen sie zu bestehen.

„Sicher. Wir haben alle etwas dabei gelernt“, stimmte Rilja zu und Myrelin fügte leise hinzu.

„Zum Beispiel, dass es nicht gut wäre, sie zu reizen.“

Rilja warf einen überraschten Blick zu Myrelin und dann zu der Verwahrerin der Glut. Shiannon zuckte mit den Schultern, ehe sie sich zu Seranin wandte.

„Du weist es ja noch nicht, aber es wurden mehrere Schatten in Ardask gesichtet. Es gibt Vermutungen von mehreren Rissen und Übergriffe vom Schwarzen Blut. Aus diesen Grund hat der Rat der Elemente beschlossen, alle Ersten Generäle dorthin zu schicken. Zum einen, um etwas gegen die Schatten zu übernehmen und zum anderen, um dafür zu sorgen, dass sie ein Gespür füreinander bekommen.“ Sie hielt kurz inne, ehe sie fortfuhr. „Vor vier Monden wurde eine neue Verteidigerin des Wissens und der Zeit ernannt. Ich nehme an, dass du sie kennst: Rae Sir Lilith Arken und Rae Zhajà Hyane Zwier. Außerdem ist auch Rae Arth Ordaine Horren dabei. Sie dürfte ihr glaube ich auch bekannt sein.“

Seranin nickte leicht. „Ja, Vria Shiannon. Die drei waren zur selben Zeit auf Shar`sen, genauso wie Rae Lùvar Thanai Reman und Rae Sothà Zhanaile ir`Seir.“

Wenn dann Akara Sorhain endlich zur Ersten Flammenträgerin ernannt werden würde, würde dann bedeuten, dass von den acht Ersten Generälen sechs zur selben Zeit ihre Ausbildung auf der Insel der Shars gehabt hatten. Dies war gut, denn so kannte man sich und konnte besser miteinander umgehen. „Ja und wir haben beschlossen, schon Akara mit ihnen zu schicken. Sie ist sowieso die Erste Generalin und die Ernennung wird bis nach der Aufgabe warten können“, fügte Rilja hinzu und ein Schatten legte sich über ihre Augen. „Ich hoffe, dass dies ihr zeigen wird, dass wir es ernst meinen.“

Seranin hatte da so ihre Zweifel und fragte sich, wie das erste Treffen nach zwei Jahren zwischen Akara Sorhain und Ordaine Horren verlaufen würde. Wenn man sagen wollte, dass Seranin Akara nicht leiden konnte, dann war es so, dass Ordaine Akara regelrecht hasste. Obwohl hassen auch das falsche Wort war. Es war einfach nur so, dass beide in einem Raum eine schlechte Mischung war. Für einen Moment verspürte sie einen Stich, dass sie nicht bei der Aufgabe teilnehmen konnte, doch dann stimmte sie den anderen zu. Vielleicht war eine klare Aufgabe das Richtige für Akara, um ihr den Weg zu zeigen. Sie sah die anderen an.

„Ich bin mir sicher, dass Vria Akara mit den Schatten fertig werden wird“, sagte sie und nahm mit einen Stich wahr, dass dies die Wahrheit war.

„Da bin ich mir sicher“, entgegnete Myrelin. „Vor allen, nachdem sie Greisarg gerettet hat. Wenn die Berichte stimmen – und ich sehe keinen Grund, dass dies nicht sein sollte – dann haben mehrere Schattenbesetzte versucht, sie direkt zu töten. In einem Duell.“

Für einen Herzschlag fragte sich Seranin, ob die Besetzten lebensmüde waren. Es gab einen Grund, warum Akara Sorhain den Beinamen „Feuersturm“ hatte. Dann erinnerte sie sich daran, dass es hieß, dass das Schwarze Blut einfach nicht gewusst hat, dass Akara sich in Greisarg aufgehalten hat. Wahrscheinlich haben die Schattenbesetzten gedacht, dass Akara eine normale Feuerwächterin gewesen war. Was für ein Fehler! Gerne hätte sie den Ausdruck auf ihren Gesichtern gesehen, als ihnen klar geworden war, wer ihre Gegnerin gewesen war.

„Gibt es in Ardask schon viele Opfer“, fragte Ilenya, die bisher die ganze Zeit geschwiegen hatte und Zahn am Kopf streichelte.

Rilja sah sie lächelnd an und Seranin vermutete, dass die Rätin sich freute, dass Ilenya sich entschlossen hatte, sich an dem Gespräch zu beteiligen. Dann jedoch verschwand das Lächeln.

„Es hält sich in Grenzen. Bisher wurden keine Siedlungen angegriffen und an den meisten Plätzen nur das Vieh gerissen. Doch dies wird nicht lange bleiben. Die dortigen Wächterinnen wurden angewiesen, die Bewohner zu beschützen, doch für die direkte Jagd werden die Generäle übernehmen. Wir werden derweil eine Kompanie Flammentänzer bereithalten, falls es notwendig ist und sie angefordert werden. Doch ich hoffe sehr, dass die Anwesenheit der obersten Krieger der Elemente reichen wird.“ Die Rätin wandte sich an Seranin. „Ich spiele mit den Gedanken Vria Llyanai`s Kompanie loszuschicken. Könntest du dafür sorgen, dass sie bereit sind, falls es dazu kommen?“

Seranin verbeugte sich und stimmte innerlich die Wahl zu. Sie nickte den Anwesend zu und wandte sich ab, wobei sie merkte, dass sich auch Ilenya hastig verabschiedete und zusammen mit Zahn ihr folgte. Lächelnd verließ die zukünftige zweite Flammenträgerin die Flammenhalle.

 

 

Kapitel Dreiundvierzig

 Zweifel

 

Wenn man etwas nicht versteht, dann hat man Angst davor. Das ist verständlich und dennoch sollte eine Person versuchen, es zu verstehen und sich nicht von der Angst beherrschen zu lassen. Denn wenn die Angst die Überhand gewinnt, dann ist es schon zu spät.

 

Rae Louà Garsiene ir`Horven,

Erste Rätin des Todes,

Sommer im Jahre 111 vor dem Nebel

 

Mit nach vorn gerichtetem Blick starrte Aleitha auf den Weg und folgte ihrer Schwester. Sie fühlte sie unwohl, musste gegen eine innere Panik ankämpfen und glaubte sich langsam verloren. Immer wieder sah sie vor ihrem inneren Auge, das reglose Gesicht von Jarren, wie das Leuchten um ihn herum aufgehört hatte und wie er von einem Pfeil zu Boden gesunken war. Jarren, der ehemalige Soldat und Säufer war tot und Aleitha fühlte sich schuldig.

Es war immer schlimm, wenn sie jemanden verlor und es nicht verhindern konnte, dass einer starb, doch dieses mal, war es so, dass sie sich direkt verantwortlich fühlte. Dass sie selber den Pfeil geführt hatte. Dass sie persönlich den Mann ermordet hatte.

Jarren war gestorben, weil er mit ihnen unterwegs gewesen war und dies bedeutete, dass sie tatsächlich verantwortlich war. Die Männer des Fürsten waren hinter ihr her gewesen, weil sie Aleitha hatten töten wollen. Der Soldat hatte sie begleitet, um sie zu beschützen und dabei sein Leben gelassen.

All wäre das nicht schon schlimm genug, hatte Aleithe mit ansehen müssen, wie auch die Verfolger gestorben sind. Sie wusste nicht wie es passiert ist, doch sie war sich ziemlich sicher, dass sie die Schuld daran trug.

Ich habe an dem Tag über zehn Menschen getötet.

Dieses Wissen lastete schwer auf das Mädchen und sie musste immer wieder weinen Die Tränen kamen, ohne dass sie es verhindern konnte. Sie fühlte sich, als würde sie das alles nicht mehr ertragen können. Erst die Veränderung von Saren, welche nun fast täglich bewusstlos wurde, dann die Angst, dass sie beinahe ihre Schwester verloren hätte und den nicht verhinderten Tod von Jarren … all die Ereignisse dröhnten in ihrem Kopf und sie wusste, dass sie diesen nicht entkommen konnte. Sie wollte es, doch immer wenn sie an etwas dachte … an etwas Erfreulicheres, dann schlichen sich die finsteren Gedanken zu ihr und rissen wieder ihre Aufmerksamkeit an sich.

Während Aleitha lief, füllten sich ihre Augen wieder mit Tränen und sie musste heftig schlucken. Sie blinzelte, denn sie wollte nicht, dass Saren dies merkte.

Saren. Ihre ältere Schwester.

Irgendetwas passierte mit ihr, doch Saren weigerte sich beharrlich, darüber zu unterhalten. Aleitha bekam den Verdacht, dass Saren nicht einfach nur bewusstlos war. Nein, irgendetwas passierte während der Zeit und dieses Unwissen machte sie zusätzlich verwirrt.

Warum sprach ihre Schwester nicht davon? Hatte sie Angst, dass Aleitha ihr nicht zuhören würde?

Ein schlechtes Gewissen stieg in Aleitha auf und sie blieb stehen. Sie selber hatte Saren auch nichts von Nevah erzählt. Sie hatte ihr nicht vollkommen vertraut, wie konnte sie also von Saren verlangen, dass diese ihr alles erzählte? Die Angst, dass sie ihre Schwester verlieren konnte, brach wieder in ihr aus. Sie verdrängte alle anderen Gedanken und hinterließ ein Gefühl, dass sich beinahe in Panik änderte. Aleitha riss die Augen auf und begann zu zittern. Ihr Blick auf dem Rücken ihrer Schwester gerichtet, die ohne etwas zu wissen weiterhin und nichts von den inneren Qualen ihrer Schwester bemerkte.

Ich werde allein sein!

Nach dem Angriff und den Tod der Männenr, hatte es lange gedauert, ehe Saren wieder erwacht war und sie hatte mit Schrecken all die reglosen Männer gesehen. Ihr Gesicht war bleich geworden und als sie auch erkannte, dass Larren unter den Toten gehörte, kamen sogar Schuldgewisse in ihre Augen. Dann hatte sie sich vergewissert, dass es Aleitha gut ging, sie fest an sich gedrückt und dann Vorräte ihrer Verfolger eingesammelt. Vorräte und noch andere nützliche Gegnstände. Aleitha war schockiert darüber gewesen, doch sie hatte nichts gesagt. Für sie war es wichtig gewesen, dass Saren wieder bei Bewusstsein und sie nicht alleine war.

Alleine unter all den Toten.

Nachdem Saren die Verfolger geplündert hatte, nahm sie zusätzlich eine Armbrust und hängte sich einen Gürtel voller Bolzen über ihre Brust. Aleitha war überrascht gewesen, da ihre Schwester überhaupt nicht mit so einer Waffe umgehen konnte, doch ein Blick von Saren hatte genüg, dass sie weiterhin schwieg.

Danach waren sie weitergegangen. Im Inneren hatte Aleitha sich gewünscht, sie hätten Larren vergraben können, doch dazu war keine Zeit gewesen. Die Geschwister hatten keine Ahnung, ob sich noch mehr von den Verfolgern in der Nähe aufhielten und Saren bestand darauf, so schnell wie möglich weiterzugehen. Gesagt. Getan.

Nun war seit dem Vorfall zwei Tage vergangen und sie hatten das Gebirge verlassen. Dafür waren sie in einem Wald gekommen und Aleitha fühlte sich unwohl. Sie kannte die Gegend nicht, sie hatte Angst, dass sie entdeckt werden konnten und sie konnte die Erlebnisse vor zwei Tagen nicht wirklich verarbeiten. Sie versuchte es, doch immer wieder reduzierten sich ihre Gedanken auf nur zwei Tatsachen:

Ich habe Männer getötet.

Saren verändert sich und ich weis nicht, was mit ihr passiert.

Zwei Dinge, die ihr immer mehr zu schaffen machte.

In den letzten beiden Tagen hat es kaum ein Gespräch zwischen den Geschwistern gegeben und Aleitha fühlte Einsamkeit in sich aufkommen. Sie war es gewohnt, dass Saren sie in die Arme nahm, ihr Geborgenheit schenkte und sie beruhigte, wenn etwas passierte. Aleitha vermisste dies nun und sehnte sich nach einer Umarmung ihrer Schwester. Nach etwas, dass ihr sagte, dass Saren sie nicht für ein Monster hielt.

Unwillkürlich musste Aleitha an die Frau Chaidra denken und über das, was diese Wächterin gesagt hatte. Nie hatte sie auch einmal erwähnt, dass Aleitha selber Personen töten konnte, wenn sie fest daran dachte … wenn sie es sich fest vorstellte und dennoch nicht machen wollte.

Ich bin ein Monster und dies hat nun auch Saren gemerkt …

Genau davor fürchtete sich Aleitha. Dass ihre Schwester sich nun doch abwandte, weil sie die Männer getötet hatte.

„`leitha?“

Aleitha zuckte zusammen und sah auf. Sie hatte nicht gemerkt, wie ihre Schwester zurückgekommen war und sie nun betrachtete. Es war ein sorgenvoller Blick und Aleitha musste heftig schlucken. Dies war ein Blick, den sie sich die ganzen letzten beiden Tagen herbeigesehnt hatte. Ein Blick, der ihr zeigte, dass ihre Schwester sie vielleicht doch nicht hasste und.

Oder sie hat Angst, dass du sie töten könntest.

Diese Stimme zerstörte Aleithas Hoffnung und sie brach vollends in Tränen aus. „Aleitha!“

Sofort war Saren bei ihr und …

… Und umarmte sie.

Aleitha drückte sich gegen ihre Schwester, klammerte sich heftig an ihr und hatte Angst loszulassen. Angst davor, dass sie ihre Schwester verlor und nichts dagegen unternehmen konnte.

Sie spürte, dass Saren begann ihr über das Haar zu streicheln. „Ist ja gut, Schwesterchen. Alles wird gut, dass verspreche ich.“

Am liebsten hätte Aleitha laut aufgelacht. Wie sollte es denn gut werden. Wie konnte es denn gut werden, wenn sie ein Monster war? Mit dem Gefühl, ertrinken zu müssen, klammerte sie sich an ihre Schwester und weinte.

 

Chaidra verspürte immer noch heftige Kopfschmerzen und musste gegen ein Gefühl der Übelkeit ankämpfen. Deutlich nahm sie noch die Störung in den Todsträngen wahr, die vor zwei Tagen entstanden waren und deutlich sah sie die Szene, die ihre Reisegruppe kurz darauf erkannt hatten. Eine Szene, voller Schrecken und Tot.

Die Frau hatte keine Ahnung, was wirklich vorgefallen war, doch sie wusste, wie es ausgegangen war. Das Mädchen hatte Angst gehabt und dabei in den Todsträngen gewirkt. Und zwar so brutal, dass alle Personen in der Umgebung gestorben sind … Nein, Chaidra schüttelte den Kopf. Nicht alle, denn es gab keine Leiche von der älteren Schwester, was jedoch seltsam war. So stark und unkontrolliert Aleitha in den Strängen gewirkt hatte, hätte sie gar nicht ihre eigene Schwester beschützen können … Es sei denn …

Chaidra sah zur Seite, wo eine der Zeitwächterinnen ritt und runzelte die Stirn. Alle drei Zeitwächterinnen waren sehr schockiert bei den Anblick der toten Männer gewesen, doch niemand hatte nachgefragt war passiert war. Sie haben schweigend begonnen, die Toten auf einen Haufen zu legen und diesen dann angezündet, nachdem Chaidra die Totstränge in der Umgebung beruhigt hatte. Das war ein harter Kampf für die Wächterin gewesen, denn immer wieder waren diese Stränge ihr entwicht und hatten sich aufgebäumt. Sie hatten sich einfach nicht beruhigen wollen.

Diese Aleitha hat Macht … eine große Macht und wenn sie nicht bald zum Todhort kommt, dann wird es große Konsequenzen geben!

Nun war es noch dringender, dass sie es schafften, rechtzeitig die Schwestern zu finden. Kadalin hatte zwar gemeint, dass keine Männer des Fürsten mehr am Leben waren, um die Kinder zu verfolgen, doch es waren immer wieder Schatten aufgetaucht. Chaidra hatte die Angst, dass die Kinder nicht mehr durch den Fürsten würden, sonder durch die Schatten und gegen diese konnte selbst Aleitha nichts ausrichten, wenn sie unkontrolliert in den Strängen des Todes wirkte.

Nachdem die Männer verbrannt waren, war der Tag schon wieder vorbei gewesen und sie mussten ihre Suche beenden. Kadalin hatte darauf bestanden und die Zeitwächterinnen haben zugestimmt. Chaidra war mit dieser Entscheidung nicht glücklich gewesen, doch sie hatte nicht widersprochen. Sie wusste, dass es gefährlich war, nachts im Dunklen durch das Gebirge zur reisen.

Nun haben sie das Gebirge verlassen und waren in einem Wald gekommen. Chaidra hätte frustriert aufschreien können. Zwar war es einfacher, die Spuren der Kinder zu finden, doch es teilweise noch schwieriger mit den Pferden durch den Wald zu kommen. Die Bäume standen relativ eng beieinander und immer wieder gab es großes Wurzelwerk, das dafür sorgte, dass die Tiere beinahe stolperten.

Warum konnten die Kinder nicht einen einfachen Weg nehmen?

Diese Frage stellte sich Chaidra schon sehr oft, doch sie wusste die Antwort. Die Schwestern waren sich sicher, dass man sie noch verfolgte und sie hatten Angst, dass man sie leicht finden würde. Es beruhigte Chaidra, dass die beiden nicht leichtsinnig geworden sind, nachdem sie ihren dritten Begleiter verloren haben.

Unter den Männern des Fürsten war ein Mann gewesen, dessen Kleidung nicht zu den Verfolgern passte und er demzufolge die dritte Person sein musste, von der Kadalin Spuren gefunden hatte. Es war ein ihr unbekannter Mann und er war nicht durch die Gabe von Aleitha getötet worden. Nein, ihm hatte ein Pfeil getötet und Chaidra konnte sich langsam vorstellen, was genau passiert war.

Andrak`s Männer haben den Helfer der Schwestern aus dem Hinterhalt mit dem Pfeil erschossen und sich dann auf Aleitha gestürzt. Diese hatte in ihrer Panik in den Todsträngen gewirkt. Wie da allerdings die Saren passte, wusste Chaidra nicht. Dass Mädchen hätte sterben müssen, wenn sie sich dort befunden hätte. War sie also woanders gewesen … hatte sie sich getrennt?

Chaidra schüttelte den Kopf. Nein, Kadalin war sich sicher, eine Spur von Saren entdeckt zu haben und zwei Spuren haben später auch den Platz des Schreckens verlassen. Doch warum lebte Saren noch?

Rae Louà Chaidra?“

Bei der fragenden Stimme zuckte Chaidra zusammen und sie nach links. Neben ihr ritt die Frau in Weiß und sah sie mit fragenden Augen an.

„Worüber zerbrecht ihr euren Kopf, Rae Louà?“

Die Todwächterin seufzte. Ihr hätte bewusst sein müssen, dass die anderen ihr Nachdenken bemerken würden. Doch vielleicht hatten diese beiden Frauen eine Erklärung für etwas, was nicht sein konnte.

„Ich denke gerade darüber nach, was vor zwei Tagen genau passiert ist, Rae Zhajà Thanjata“, antwortete sie und überließ es ihrem Pferd, den sicheren Weg durch den Wald zu finden und Kadalin zu folgen.

Thanjata, die gesprächsfreudigere der drei Zeitwächterinnen nickte, als hätte sie diese Antwort erwartet und sah dann nach vorne. Dorthin, wo sich irgendwo die Schwestern aufhalten mussten.

„Was für eine schreckliche Sache, die passiert ist. Doch, was passiert ist, liegt doch auf der Hand: Die Männer haben die Schwestern angegriffen und diese junge Aleitha – sie hieß doch so? – hat sich verteidigt und das auch noch erfolgreich. Ihr könnt ihr keine Schuld geben, dass sie ihr Leben retten wollte.“

Chaidra schloss die Augen. Ja, das konnte Chaidra nicht und dennoch … die Art und Weise wie Aleitha in den Strängen gewirkt hatte … sie gab dem Mädchen keine Schuld daran. Im Gegenteil, sie war erleichtert, dass es ihr gut ging, doch sie konnte auch nicht einfach darüber hinwegsehen. Das Kind musste ausgebildet werden. Nein, was ihr zu denken gab, war ihre Schwester und nicht wirklich Aleitha selber.

Die Todwächterin sah Thanjata fest an.

„Ich denke auch eher über Saren nach … sie war dabei gewesen und … und hat es überlebt.“

Die Zeitwächterin nickte bedächtig. „Ja und das ist auch gut so. Niemand möchte, dass eine der Schwester stirb.“ Thanjata erwiderte den festen Blick von Chaidra. „Ich nehme an, dies verwirrt euch. Dass Saren dabei war und es überlebt hatte?“ Thanjata lächelte geheimnisvoll. „Nun, lass mich ihnen sagen, dass Saren nicht wirklich bei dem Vorfall dabei gewesen war.“

Mit diesen Worten gab die Zeitwächterin ihrem Pferd einen Schenkeldruck und das Tier lief schneller.

Verwirrt blickte Chaidra der Frau hinterher.

Saren war nicht wirklich anwesend gewesen. Was bedeutet dies. Sie seufzte. Ist wohl eine Zeitwächterinnenangelegenheit. Da werde ich wohl nichts Genaueres erfahren.

Im Grunde genommen konnte es Chaidra egal sein, wie Saren es überlebt hatte, denn wichtig war nur, dass sie überlebt hatte. Wäre sie gestorben, hätte das fatale Auswirkungen auf Aleitha gehabt. Viel angehenden Todwächterinnen gaben jemanden getötet, die sie nicht wollten, und waren dann an dem Wissen zerbrochen. Wenn man dann auch noch die eigene Schwester tötete, ohne es zu wollen … Nun, dies hätte dem armen Kind den Rest gegeben.

Hoffentlich holen wir sie bald ein.

Die Suche dauerte für Chaidra schon viel zu lange und am liebsten würde sie sich eine Pause gönnen. Eine Zeit, wo sie nicht reiten, klettern und unter freien Himmel schlafen musste. Es störte sie nicht und sie war es auch gewöhnt, doch um diese Zeit wäre sie schon längst wieder Zuhause gewesen. In Kardsen, dem Hort des Todes.

Bitte lass und die Kinder so schnell wie möglich einholen. Aleitha muss unbedingt nach Kardsen, damit sie dort eine angemessene Ausbildung bekommt.

 

Saren hielt ihre Schwester fest und versuchte ein beruhigendes Gesicht zu machen. Es fiel ihr nicht leicht, doch dies hatte nichts mit Aleitha zu tun. Nein, Saren war innerlich sehr aufgewühlt und mit jedem Anfall, den sie hatte, steigerte sich ihr Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr und dies machte ihr Angst. Sehr große Angst sogar.

Sie atmete tief ein und schalt sich innerlich einen Narren. Sie hatte gespürt, dass Aleitha innerlich zerrissen war und dennoch nichts unternommen. Seit dem Vorfall mit dem Verfolgern, und seit Jarrens Tod war ihre jüngere Schwester wortkarg geworden und immer am Weinen. Saren wollte sie trösten, wollte ihr sagen, dass sie nicht die Schuld an den Tod trug, doch sie konnte es nicht. Sie konnte nicht die richtigen Worten finden, denn sie selber innerlich zerrissen.

Egal, was mit ihr passierte, es machte ihr Angst. Eine sehr große Angst sogar und sie konnte es nicht verhindern. Sie verstand nicht, was los war und wieso sie diese seltsamen Ereignisse sah. Meistens waren es Szenen, wo sie sah, wie Personen starben und sie konnte es nicht verhindern, doch dann gab es auch noch andere Ereignisse. So hatte sie diese Sivean schon dreimal gesehen. Einmal, wo dieser Mann ihr ein Zeichen in die Brust geritzt hatte, dann wo sie sich mit einer verhüllten Person unterhalten und ein drittes Mal, wo sie gegen ein seltsames Wesen gekämpft hatte. Dabei hatte diese Frau bei dem dritten Mal wesentlich jünger ausgesehen und war mit zwei anderen Personen unterwegs gewesen. Doch wer war diese Frau? Und wer waren die anderen Personen, die sie sah? Und was sah sie eigentlich?

Waren es Träume? Waren es Visionen? Oder waren es … ja was?

Saren hatte keine Antwort darauf und dies verursachte eine immer größere Angst in ihr. Sie fürchtete sich vor einen erneuten Anfall. Davor, was sie als Nächstes sehen würde und vor allen davor, dass sie ihre kleine Schwester alleine zurückließ. Vor zwei Tagen war genau diese Situation eingetroffen, vor der sich Saren am meisten gefürchtet hatte. Dass sie einen Anfall erleiden, und Aleitha schutzlos zurückließen würde. Doch da war auch noch Larren gewesen, welcher jedoch den Angriff der Männer nicht überlebt hatte und ihre Schwester war ganz alleine gewesen. Alleine zwischen all den Verfolgern und Saren hatte ihr nicht helfen können.

Verdammt! Ich habe versprochen, dass ich auf sie aufpasse. Dass ihr nichts passieren würde.

Sie hatte keine Ahnung, wie es Aleitha letztendlich gelungen war, sich gegen die Männer zu verteidigen und sie zu töten. Saren hatte keine Wunden an den Männern erkennen können und Aleitha wollte nicht darüber reden. Nun, Saren war es egal, wie es passiert war. Wichtig für sie war nur, dass es passiert war und dass es ihrer Schwester gut ging.

Doch würde dies auch ein zweites Mal gut gehen?

Saren wusste nicht, wie viele Verfolger noch hinter ihr her waren und ihr innerer Instinkt sagte ihr, dass es da noch welche gab. Also mussten sie nun ohne Larren weiterkommen und sie war nun alleine für ihre Schwester verantwortlich.

Ich lass nicht zu, dass ihr etwas passiert. Nein! Das werde ich nicht!

Doch wie sollte sie dies machen? Was würde passieren, wenn sie wieder einen Anfall bekam und ihre Schwester abermals schutzlos zurückblieb?

Nun gab es keinen Larren mehr, der auf sie aufpassen konnte und dieses Wissen verursachte einen ihr unbekannten Schmerz. Sie hatte Larren immer misstraut, ihm unterstellt, dass er nicht ehrlich war und nun war er gestorben, weil er auf sie aufgepasst hatte. Hatte sie ihn nun Unrecht angetan? Sie vermisste diesen Mann, auch wenn sie es nicht laut aussprechen würde, doch irgendwie hatte sie sich daran gewöhnt, dass er da war. Dass sie sich gestritten hatten und der immer gewusst hatte, was als Nächstes kam. Ja, sie war Larren eine Menge schuldig und würde nun nicht mehr die Gelegenheit haben, ihre Schuld zu bereinigen.

Saren seufzte und merkte, dass ihre Schwester sich beruhigt hatte. Aleitha weinte nicht mehr und hatte ihren Kopf an Sarens Brust gelegt.

„`leitha?“

Aleitha sah auf und so etwas wie Hoffnung stand in ihren Augen. Dieser Blick schmerzte Saren, denn er sagte, dass Aleitha hoffte, dass alles so gut wie früher werden würde. Doch das würde nicht passieren. Das konnte nicht mehr passieren. Dazu hatte sich ihr Leben zu sehr geändert.

Chaidras Offenbarung, dass Aleitha eine Todwächterin war und deswegen an irgendeinen Ort ausgebildet werden musste. Andràks Männer, die sie verfolgten und einige, die nun tot waren. Sarens Veränderung, die sie nicht verstand und wovor sie Angst hatte. Nein, ihr Leben würde nicht mehr weitergehen, wie früher. Nach Ferren konnten sie nicht mehr zurück. Aleitha musste diesen Ort aufsuchen und würde dort wenigsten sicher sein und Saren? Ja, was würde sie machen? Sie wusste es nicht und dies machte ihr schwer zu schaffen. Sie hatte Angst vor ihren jeden neuen Anfall, da sie einfach nicht wusste, was sie sah. Manchmal waren es so grausame Dinge, dass sie Angst hatte, die Augen zu schließen, weil sie diese dann sehen würde.

Was passiert mit mir?

Saren merkte, dass ihre Schwester sie betrachtete und aus der Hoffnung in ihren Augen langsam Sorge wurde. Sie lächelte Aleitha beruhigend an.

„Komm, `leitha. Lass uns weitergehen. Wir müssen von hier weg“, sagte Saren leise und ihre Schwester nickte verstehend.

Gemeinsam machten sie sich wieder auf dem Weg. Saren ging vor, um einen Pfad durch diesen dichten Wald zu finden und sah, dass ihre Schwester ihr folgte.

Während Saren einen sicheren Weg suchte, spürte sie das Gewicht ihres Rucksackes auf ihren Schultern und presste die Zähne zusammen. Wenn sie nicht gerade in Gedanken versunken war, spürte sie, wie schwer ihr Gepäck war und sie nahm die Armbrust, die eine Lederschlaufe besaß, durch der sie ihrem linken Arm gesteckt hatte und wechselte die Waffe auf ihren rechten Arm und legte sie auf ihre rechte Schulter. Dabei spürte sie, wie ihre Schulter schmerzgepeinigt aufschrie und erinnerte Saren daran, dass es hier draußen noch andere Gefahren gab, als die Männer des Fürsten.

Schatten. Doch was sind Schatten? Und wieso war es mir gelungen, gegen welche zu kämpfen. Dass hätte mir doch nichts gelingen dürfen.

Es machte Saren Angst, dass sie in diesem Tal auf einmal Erinnerungen gehabt hatte, die nicht ihre eigenen gewesen waren. Dass sie auf einmal gewusst hatte, was sie unternehmen sollte und wie sie gegen diese Wesen hatten kämpfen müssen.

Was passiert mit mir? Ihr Blick wanderte zu ihrer Schwester, die nun neben ihr lief. Ob Aleitha sich auch so hilflos gefühlt hatte, als sie gemerkt hatte, dass mit ihr etwas nicht stimmte? Als sie erkannte, dass sie den Tod anderer sehen konnte?

Saren wusste im Grunde genommen nicht viel über ihre Schwester und wie sie es geschafft hatte, damit zurecht zukommen. Sie wusste, dass Aleitha sich immer innerlich quälte, wenn sie den Tod in jemanden sah und diesen dann nicht verhindern konnte. Saren hatte dann versucht, eine Stützt für ihre Schwester zu sein, doch wer würde nun für sie selber eine Stützte sein? Sie konnte nicht Aleitha von ihren Ängsten erzählen, denn sie musste stark bleiben. Sie musste alleine damit fertig werden und dürfte ihre jüngere Schwester nicht damit belasten.

Ich bin die Ältere … ich muss die Starke sein, sonst ist Aleitha verloren.

Immer wieder sagte Saren dies zu sich. Sie versuchte sich selber zu überreden und warf dabei immer wieder einen Blick zu ihrer Schwester. Sie musste standhaft bleiben. Für Aleitha musste sie alleine damit zurechtkommen.

Plötzlich durchfuhr ihr ein scharfer Schmerz und sie keuchte auf. Mit einem Mal spürte sie das Gewicht auf ihrem Rücken doppelt und ihre Beine knickten zusammen. Ein weiter Schmerz und der von ihr so gefürchtete glühende Haken verbiss sich in ihren Geist und riss ihn mit brutaler Gewalt aus dem Körper.

 

Mit Schrecken sah Aleitha, wie ihre Schwester abermals zu Boden ging und das Leuchten um ihr herum verschwand. Verschwand, um durch nichts anderes ersetzt zu werden.

Nicht schon wieder!

Panik kam in Aleitha auf, doch sie kämpfte diese nieder. Sie ließ ihren Rucksack auf dem Boden fallen und rannte zu ihrer Schwester. Mit schnellen Griffen zerrte sie die Armbrust und Sarens Rucksack weg und drehte ihre Schwester in eine bequemere Position. Etwas anderes konnte Aleitha nicht machen. Nun konnte sie nur warten und hoffen, dass ihre Schwester bald wieder erwachen würde. Sie trug die Rucksäcke zwischen zwei Wurzeln in Sarens Nähe und hockte sich dann neben ihrer Schwester, während sie spürte, dass erneute Angst in ihr aufstieg.

Was ist, wenn dieses Mal ihre Schwester nicht erwachen würde? Was ist wenn Saren für immer in so einen Zustand sein würde?

Aleitha hatte keine Ahnung, was sie dann machen sollte. Sie wusste nicht, was mit Saren passierte und dieses Unwissen zerfraß sie innerlich. Tränen stiegen erneut in ihr auf und sie umarmte sich selber, während sie ihren Blick starr auf ihre Schwester gerichtet hatte.

Ihr war bewusst, dass sie sich in keiner geschützten Position befanden und dass ihre Verfolger sie schnell finden konnten, doch was sollte sie machen? Saren war zu schwer für sie, als dass sie sie woanders hintragen konnte und außerdem kannte Aleitha sich hier nicht aus. Sie hatte also keine andere Wahl, als zu hoffen, dass sie genügend Vorsprung besaßen und niemand auf sie treffen würde. Bei jedem kleinsten Geräusch zuckte sie zusammen. Zwischendurch nahm sie die Armbrust und starrte auf diese. Sie hatte keine Ahnung, wie man diese spannte. Also war diese Waffe nutzlos für sie. Doch vielleicht würde der bloße Anblick andere Personen davon abhalten, sie anzugreifen. Aleitha glaubte nicht daran, doch sie hatte nichts anderes, woran sie glauben konnte, sodass sie sich an diesen Gedanken klammerte, während ihr Blick auf ihrer Schwester gerichtet war.

Dabei sah sie, wie der Stoff an Sarens Schulter etwas röter wurde und ihre Angst wurde. Sie hatte die letzten zwei Tage total vergessen, dass ihre Schwester noch von dem Angriff dieser Wesen verletzt war und schalt sich einen Narren. Ihre Schwester trug das meiste Gewicht und lief immer ohne sich zu beklagen. Aleitha konnte gezwungenermaßen eine Pause machen, wenn ihre Schwester bewusstlos war, doch was war mit Saren? Sie machte keine wirklichen Pausen und lief den ganzen Tag. Erst abends, wenn sie ein Lager aufbauten, nahm sie ihr Gepäck ab und am nächsten Tag ging es zeitig weiter. Aleitha bezweifelte, dass Saren sich während ihrer Bewusstlosigkeit erholen konnte und ihr schlechtes Gewissen wurde stärker.

Ohne sich zu beklagen trug Saren das meiste Gewicht. Sie machten nie wirklich Pausen, weil Aleitha sich ja bei ihren Anfällen erholte. Wie lange konnte da Saren durchhalten?

Aleitha ergriff die Hand ihrer Schwester und drückte sie fest. Sie nahm sich fest vor, in den nächsten Tagen mehr auf ihre Schwester zu achten. Mehr darauf zu achten, dass sie größere Pausen einlegten.

Jetzt muss ich mich um Saren kümmern!

Kapitel Vierundvierzig

 Durch den Dreibogen

 

Manchmal verschwinden Reisende durch einen Dreibogen und kommen nicht auf der anderen Seite auf. Sie werden die Verschollenen genannt und nur sehr wenige schaffen es, den Weg zurückzufinden. Deswegen birgt dieses Reisen immer eine Gefahr. Man ist zwar schnell, doch spielt gleichzeitig mit dem eigenen Leben.

 

Rae Sir Ursulè Jepak,

Erste Heilende,

Sommer im Jahre 2585

 

Nolwine war aufgeregt. Anders konnte sie es nicht sagen. Vergessen waren die Unsicherheit und das Gefühl, nicht zu wissen, was sie machen sollte. Das Einzige, was ihre Gedanken erfüllte war, dass sie kurz davor war, durch einen der berühmten Dreibögen zu gehen.

Das Mädchen hatte zuerst nicht gewusst, wie sie darauf reagieren sollte, dass sie mit nach Ardask reisen sollte und nicht nach Neirhain. Zwar war sie froh, dass sie nicht Thanai verlassen und alleine zu diesem sogenannten Lufthort reisen sollte, doch dies änderte nichts daran, dass sie gerne in Neirhain wäre. Der Gedanke, noch weiter zusammen mit der Feuer- und der Wasserwächterin zu reisen, verursachte ein ungutes Gefühl in ihr. Sie wusste nicht, was sie genau davon halten sollte. Sie hatte gedacht, dass diese Zhanaile ruhiger und offener gegenüber Akara war, doch nachdem Nolwine gesehen hatte, wie diese Wächterin im Gasthaus diese Schatten getötet hatte, war sie sich nicht mehr so sicher.

Die kommende Nacht hatte sie damit verbracht, indem sie an all die Geschichten gedacht hatte, die sie bei den Erleuchteten gehört hatte, und wunderte sich nicht mehr darüber, warum es hieß, dass die Wächterinnen gnadenlose Mörder seien. Auf der anderen Seite waren es Schatten gewesen, die diese Wasserwächterin vernichtet hatte und dies war ja nicht nichts Schlimmes. Diese Frau hatte sich nur selber verteidigt und dass war nicht schlechtes. Wer weis außerdem, was die Schatten im Dorf angerichtet hätten, wenn sie nicht vernichtet worden wären. Nolwine seufzte und schob die Gedanken beiseite, sodass wieder nur Aufregung in ihr herrschte. Sie würde in ungefähr zwei Kerzenstriche das erste Mal durch einen Bogen reisen. Sie sah sich im Schankraum um und war froh, dass er leerer war, als heute Morgen, wo unzählige Feuerwächterinnen hier gewesen waren. Zwar hatte Thanai ihr versichert, dass diese Frauen nicht böse waren, doch Nolwine hatte bei ihnen ein seltsames Gefühl bekommen. Die Luftwächterin hatte dann erklärt, dass es daran lag, dass diese anderen Elemente zugehörig waren und je mehr Personen von anderen Elementen sich in der Nähe aufhielten, desto stärker spürte man dies. Doch nach einiger Zeit würde sich dies geben, da es notwendig war, dass Wächterinnen verschiedener Elemente zusammenarbeiten.

Was habe ich den EINEN getan, dass ich hiermit bestraft werde, fuhr es ihr durch den Kopf, doch dann verwarf sie diesen Gedanken wieder. Es war ein Geweihter, der Geweihte der Luft gewesen, der ihr die Gabe verliehen hatte und wenn sie an Akaras Worten glaubte, dann war es ihm egal, dass sie an den EINEN glaubte. Doch konnte dies stimmen? Bei den Erleuchteten hieß es immer, dass die acht Geweihten einen zwangen an sie zu glauben.

Aber Akara glaubt nicht an Ethron und diesen scheint das nicht zu stören. Jedenfalls sagte das die Feuerwächterin und Nolwine konnte nicht glauben, dass diese sie anlügen sollte.

Das Mädchen schloss die Augen und spürte deutlich, wie ein leichter Lufthauch durch den Schankraum ging. Er hatte etwas Beruhigendes dabei und sie fühlte sich wohl. Es war auch ein wenig unheimlich, wie sehr in die letzten Tagen sie sich daran gewöhnt hatte, den Wind zu spüren und es auch noch gut zu finden. Luft ist mein Element, also ist es natürlich, dass ich mich hier wohlfühle. Wie war es dann mit den Feuerwächterinnen? Fühlten sie sich gut, wenn sie bei einem Feuer waren? Etwas störte sie an diesen Gedanken, doch sie verfolgte ihn nicht weiter. Sie sollte sich keine Gedanken um Feuer machen, wenn Luft zu ihr gehörte und darüber war sie auch froh. Wenn sie schon eine Wächterin sein sollte, dann wenigsten nicht von Feuer. Ein Element, das zerstörerisch sein konnte. Doch auch Wasser konnte vernichtend sein, denn dies hatte Zhanaile gestern bestätigt.

Hör auf dir darüber Gedanken zu machen. Sie hat sich verteidigt und den Dorfbewohnern das Leben gerettet.

„Nolwine?“

Das Mädchen zuckte zusammen und sah dann zur Tür, wo die Wasserwächterin stand und sie fragend ansah. „Wir wollen uns auf dem Weg machen“, sagte sie lächelnd. „Hol deine Sachen und dann geht es los.“

Es geht los!

Mit klopfenden Herzen rannte Nolwine die Treppe zu ihrem Zimmer hoch und schnappte sich einen Rucksack, den sie heute Morgen von einer der Feuerwächterinnen bekommen hatte. Thanai hatte nach einen rumgefragt, weil die Luftwächterin der Meinung war, dass das Mädchen einen haben sollte, da die Reise ja länger dauern würde, als vorne herein geplant. Das Mädchen schwang ihn sich über die Schulter und verließ dann das Gasthaus auf dem schnellsten Weg.

Draußen vor dem Gebäude stand der Planenwagen und davor stand Gepäck. Zwei schwere Rucksäcke und ein Beutel. Zhanaile war gerade dabei sich einen Rucksack auf dem Rücken zu schwingen und die Riemen so einzustellen, dass er bequem saß. Thanai stand neben dem Zweiten und sprach gerade mit dem Wirt.

Verwirrt trat Nolwine näher heran und die Luftwächterin erspähte sie. Thanais Gesicht war ernst, doch in ihren Augen lag eine fröhliche Begrüßung.

„Ah, gut das du da bist, Nolwine. Schau nochmal nach, ob du irgendetwas im Wagen vergessen hast. Wir werden ihn hier lassen müssen.“

Diese Worte überraschte das Mädchen und dies schien Thanai zu merken.

„Ja, wir können ihn und die Pferde nicht mitnehmen. Pferde mögen es nicht besonders durch Dreibögen zu reisen, wenn sie es nicht von klein auf gewöhnt sind, und trifft bei unseren drei Tieren zu. Aus diesem Grund werden wir sie hier lassen und uns in Ardask neue Tiere besorgen.“ Sie hielt kurz inne und fuhr dann fort, wobei ihr Ton etwas finsterer klang. „Akara wird ihre Stute mitnehmen, denn Feuertänzer ist an den Dreibögen gewöhnt.“

Nolwine nickte verstehend und sah sich um. Nirgendwo konnte sie die Feuerwächterin sehen.

„Akara ist noch mit ihren Schwestern unterwegs und wird beim Bogen auf uns warten“, erklärte Thanai und wandte sich dann den Wirt wieder zu.

Das Mädchen stieg in den Wagen, obwohl sie sicher war, dass sie dort nichts gelassen hatte. Sie selber besaß ja nicht viel, denn ihr meister Besitz war immer noch bei den Erleuchteten. Dennoch schaute sich noch einmal genau alles durch, und als sie sicher war, dass sie doch nichts übersehen hatte, verließ sie den Wagen.

Während dieser Zeit hatte Thanai ihr Gespräch beendet und den zweiten Rucksack genommen, sowie der Beutel. Sie sah zu, wie Zhanaile noch einmal den Pferden auf den Hals klopfte und dann machten sie sich schon auf dem Weg um das Dorf zu verlassen.

 

Akara starrte den Dreibogen an und verzog ihr Gesicht vor Wut. Sie kämpfte innerlich gegen ihre innere Flamme und betrachtete den weißen Stein, aus dem das Bauwerk bestand. Während sie es betrachtete, fragte sie sich, wie es sein konnte, dass der Stein immer noch so weiß war und nicht in Laufe der Zeit sich verdunkelt hatte. Manchmal schien es ihr so, als würde ein Zauber über den Dreibögen liegen. Ein Zauber, der verhinderte, dass Algen oder Schmutz an ihnen hängen blieben. „Blödsinn“, murmelte sie und wandte ihren Kopf zur Seite, um Telsa anzuschauen, die neben ihr stand.

„Was“, fragte Telsa und sah verwirrt aus. „Was ist Blödsinn?“

„Einfach alles“, antwortete Akara und kniff ihre Augen zusammen. „Die Dreibögen, der Auftrag, die Ernennung. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Ethron dies mit Absicht macht. Er weis, dass ich meine Ruhe vor ihm haben will und dennoch nervt er mich. Warum kann er mich nicht einfach in Ruhe lassen?“

Telsa schwieg und gab keine Antwort. Die Flammentänzerin wusste sehr gut, wie Akara zu diesem Thema stand und wusste, dass keine gut gemeinten Worte etwas ändern konnte.

„Komm schon Tel … sag auch etwas dazu“, drängte Akara und klopfte ihrer Freundin auf dem Rücken. „Du musst doch auch eine eigene Meinung haben?“

„Du willst meine Meinung wissen“, fragte Telsa, und als Akara ernst nickte, fuhr sie fort. „Meiner Meinung nach ist es eine sehr gute Entscheidung von dem Flammenrat. Die Stelle der Ersten Flammenträgerin ist bei dir sehr gut aufgehoben und jede Feuerwächterin sieht zu dir auf. Ich meine, du hast den größten Teil meiner Truppe gesehen.“

Akaras Gesichtsausdruck verfinsterte sich noch mehr. „Oh ja … und ich könnte deswegen meine Beherrschung verlieren. Die glauben doch alle, ich wäre jemand Heiliges und dabei sind sie noch grün um die Schnäbel.“

„Du kannst es ihnen nicht übel nehmen. Du bist der Flammensturm und hast schon sehr viele Taten vollbracht, wo du noch in der Ausbildung warst. Sehr viele sehen dich als Vorbild an.“ Telsa hob abwehrend die Arme, als sie sah, wie ihre Freundin etwas erwidern wollte. „Das ist nicht meine Meinung, Akara. Ich weis, dass es dir nicht gefällt, doch ich stimme dem meisten zu. Du bist die Erwählte von Ethron, und dass du deine Gabe nicht ausnützt, lässt dich in meinen Augen noch höher steigen.“

Die junge Feuerwächterin öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch dann hielt sie inne und sah zu einem Pfad, der nach AlHarten führte. Sie presste die Lippen zusammen, als sie Thanai, Zhanaile und Nolwine erkannte. Innerlich schüttelte Akara den Kopf. Sie konnte die Entscheidung von Thanai nicht verstehen, dass das Mädchen mit nach Ardask kommen sollte. Keiner wusste, was auf der anderen Seite des Bogens sie genau erwartete und dennoch bestand ihre Freundin darauf, das Mädchen nach Jahalat zu bringen. Anderseits, was soll eine angehende Luftwächterin alleine im Feuerhort. Akara seufzte leise und klopfte dann ihrer Freundin abermals auf die Schulter.

„Pass auf dich auf, Telsa“, sagte sie und ergriff den Unterarm ihrer Flammenschwester. „Sorg dafür, dass hier in AlHarten alles in Ordnung bleibt und wenn du das nächste Mal Seranin siehst, dann richte ihr viele Grüße von mir aus!“

Telsa lachte leise auf. „Das werde ich machen, auch wenn ich glaube, dass sie nichts viel auf deine Grüße gibt.“ Dann wurde sie ernst. „Pass du selber auf dich auf. Marantha ist der Meinung, dass etwas Gewaltiges auf uns zukommt und sie meint, dass du im Mittelpunkt stehst.“

„Toll!“ Akara hätte nicht gedacht, dass sich ihre Laune noch mehr sinken konnte, doch nun war sie eines besseren belehrt worden. Sie kannte Marantha, welche eine Flammenseherin war und deswegen Vorahnungen im Feuer fühlen konnte. Vorahnungen, die sich immer erfüllten und somit dafür sorgten, dass die junge Feuerwächterin einen Tiefpunkt am heutigen Tag erreichte.

Sie verabschiedete sich von Telsa und wandte sich dann ihrer Reisegruppe zu.

 

Noch nie hatte Nolwine einen Dreibogen in der Nähe gesehen und wusste deswegen im ersten Augenblick nicht, ob sie enttäuscht sein sollte. Sie konnte ein Gebilde erkenne, dass aus drei Halbbögen bestand, welche zu einem Dreieck angeordnet waren. Da gab es nichts Mysteriöses oder Gefährliches.

„Enttäuscht“, ertönte eine fragende belustige Stimme und das Mädchen sah zur Seite. Akara Sorhain war zu ihr getreten und sah belustigt an. „War auch mein erster Eindruck gewesen, doch dieser wird sich dann ändern.“ Dann legte Akara ihren Kopf schräg. „Ich hoffe, dass du einen festen Magen hast, Nol.“

Nolwine wurde rot und wusste nicht, ob es an den Worten lag oder daran, dass diese Feuerwächterin sie mit Nol angesprochen hatte. So hatte immer Balestrano sie genannt … jedenfalls so lange, bis er sich von ihr abgewandt hatte, weil er dachte, sie wäre nun verloren gewesen. Und weil er Angst vor mir hat! Es stach in ihren Herzen, wenn sie daran dachte. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass sie einen so guten Freund wie ihn auf so eine Art und Weise verlieren würde.

„Ist jemand da drin“, fragte Akara und schnipste gegen Nolwines Stirn, welche darauf blinzelte. Akara sah sie breit lächelnd an.

„Ja … ich … ich war gerade in Gedanken versunken“, stammelte das Mädchen.

„Wirklich?“ Akara hob fragend eine Augenbraue. „Du bist doch nicht in Wirklichkeit eine Geistwächterin, oder?“

„Lass den Blödsinn“, mischte sich Thanai ein und sah dann zu dem Dreibogen. „Bringen wir es hinter uns. Ich nehme an, dass du deine Stute mitnehmen wirst, `kara?“

Die Feuerwächterin nickte und trat zu ihrem Pferd, während Thanai sich zu Nolwine wandte. „Hör nicht auf Akara. Manchmal erzählt sie viel, wenn der Tag lang ist, oder wenn sie schlecht gelaunt ist. Du brauchst dir wegen den Dreibogen keine Sorgen machen. Es ist ganz einfach. Akara wird zusammen mit ihrem Pferd als erstes durchgehen und dabei den Bogen aktivieren. Danach gehst du und Zhanaile, sowie ich werden den Schluss bilden. Du musst einfach durch einen Bogen gehen und alles Weitere wird von alleine passieren. Da brauchst du dir keine Gedanken machen.“

Nolwine nickte, doch ganz sicher war sie sich bei dieser Sache nicht. Auf der anderen Seite, wollte sie nicht, dass die anderen sie für zu überängstlich halten würden. Einfach durchgehen. Nichts kann passieren. Sie ergriff die Riemen ihres Rucksackes und sah dann zu dem Dreibogen, welchen sich Akara näherte. Die junge Feuerwächterin trat zu den Bogen, der nach Norden zeigte, und berührte leicht das weiße Gestein. Sofort begann der Bogen zu leuchten und dann … dann passierte nichts weiter.

Nolwine runzelte die Stirn und fragte sich, ob etwas schief gelaufen war. Dass konnte doch nicht alles sein, oder?

Akara trat an ihre Stute und ergriff sie an die Zügel. Das Pferd sah etwas nervös aus, doch unternahm kein Fluchtversuch, als die Feuerwächterin das Tier näher zu den Bogen führte. Sie hielt kurz vorher inne, klopfte noch einmal beruhigend auf den Hals der Stute und schritt dann unter den Bogen durch.

Das Mädchen riss die Augen auf, als sie sah, wie der vordere Teil des Pferdes und die Wächterin verschwanden. Es sah als, als würde sie in einem nicht erkennbaren Raum verschwinden und kurz darauf war auch das Hinterteil des Tieres verschwunden. Was genau ist passiert?“

Nolwine zuckte zusammen, als sie eine Hand auf ihrer Schulter verspürte und sah zur Seite. „Jetzt bist du dran, Nolwine“, sagte Thanai und sah sie aufmunternd an. „Einfach an nichts denken. Dir kann nichts passieren. Geh durch und dann ist es auch schon vorbei.“

Zweifel kamen in dem Mädchen auf, doch dann auch Neugierde. Sie fragte sich, was es für ein Gefühl wäre, durch einen Dreibogen zu gehen und atmete tief ein. Sie richtete sich ganz auf und trat entschlossen unter den Dreibogen. Sofort ergriff sie das Gefühl, als würde etwas an ihr ziehen und dann kam es ihr vor, als würde sie aufhören zu existieren.

 

Schweiß hatte sich auf ihrer Stirn gebildet und ein angespannter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Ihre beiden Augen hatten das Ziel fixiert und ließen es nun auch nicht mehr los. Das Ziel, es waren zwei Männer, die sie nicht kannte und einihe Meter entfernt standen. Sie waren durch die aufkommende Nacht sehr schlecht zu erkennen. Verwirrung kam in ihr auf. Was machte sie hier? Hätte sie nicht durch einen Bogen gehen und woanders rauskommen sollen? War dies hier das Ziel? Ardask? Doch wenn es so war, wo war dann die Feuerwächterin und ihr Pferd?

Die beiden Männer, die sich in der Nähe aufhielten. Wer waren sie? Nolwine hatte das Gefühl, dass sie einen von ihnen kannte, so sie konnte sich dies nicht vorstellen, wer es sein wollte. Wo war sie? Panik kam in ihr auf und sie spürte, dass sie nur schwierig atmen konnte.

Wo waren die anderen?

Nolwine hatte gedacht, dass sie keine größere Angst haben könnte, als damals, als der eine Schattenbesetzte sie hatte töten wollen. Als sie im Zimmer voller Flammen fest gesteckt hatte und gedacht hatte, dass sie verbrennen würde. Doch nun wusste das Mädchen, dass sie sich geirrt hatte, denn eine noch viel größere Angst beschlich sie und sie konnte nichts dagegen unternehmen. Sie spürte, wie sich ein Schluchzen in ihr ansammelte. Am liebsten würden sie sich irgendwo hinhocken und hemmungslos weinen.

Warum machst du es dann nicht?

Die Stimme klang ein wenig belustigt und Nolwine hatte das Gefühl, dass diese sich lustig über sie machte. Ja, warum weinte sie nicht? Weil sie wusste, dass sich nichts ändern würde, wenn sie dies tat.

Dann frag doch die Männer, ob sie dir helfen können. Schlimmer kann es doch nicht werden, oder?

Die Stimme hatte recht. Nolwine sah zu den Männern, doch zögerte dann wieder. Abermals war sie sich sicher, dass sie einen von ihnen kannte. Doch woher?

Vorsichtig und mit zitternden Beinen schlich sie sich weiter vor, wobei sie verschiedene Sträucher als Deckung benutzte. Kein einziger Laut kam von ihr und so gelangte sie hinter einen Busch, der sich direkt vor diesen Männern befand. Dort legte sie sich flach auf den Boden und atmete so leise wie möglich.

„Da würde ich mir nicht so sicher sein, Ethron!“, drang eine tiefe Stimme zu ihr. „Du kannst nicht mit gewissheit sagen, dass die Zeit gekommen ist. Ich meine, Ileà ist sich unsicher und Vraja weigert sich sowieso, irgendetwas zu verraten. Dennoch denke ich, dass du etwas siehst, dass nicht da ist, mein Bruder.“

Ethron? Ileà? Vraja? Nolwine begann noch mehr zu zittern. Wer waren diese Personen und warum sprachen sie von Geweihten. Und welche Zeit soll angeblich beginnen.

„Houa du bist einfach zu stur“, entgegnete Ethron, dessen Stimme wütend und bedrohlich klang.

Nolwine schloss die Augen. Jetzt wusste sie, woher der eine Mann ihr bekannt vorgekommen war. Der ihr bekannte Mann war Houa, doch wieso hatte sie das Gefühl gehabt, dass sie ihn kannte. Sie hatte ihn doch nie gesehen.

Aber er ist dein Schutzherr und hat dir eine Gabe verliehen.

War dies der Grund, warum sie dachte, sie würde Houa kennen? Weil er der Geweihte war, der ihr diese Gabe verliehen hatte? Das war doch …

„Ach was Ethron! Du bist derjenige, der stur ist. L`leik und Hrean stimmen mir ebenfalls zu. Verschließ dich nicht vor der Wahrheit, nur weil du glaubst Schatten zu sehen“, sprach wieder der erste und seine Stimme war voll Dringlichkeit und emotionsvoll.

„Ich weis nicht, Houa…ich denke, dass es bestimmt andere Möglichkeiten gibt, was diese Zeichen bedeuten. Außerdem können wir es uns nicht leisten, wenn ich doch recht habe, wir aber nichts dagegen unternehmen. Immerhin steht das Schicksal der ganzen Welt auf dem Spiel!“

„Wirklich“, fragte Houa und schnaubte. „Wie immer übertreibst du und selbst wenn, dann erkläre mir, wie du es ändern willst. Auch wir sind an den Worten der Schicksalsmeisterin gebunden. Setzt du Hoffnung auf deinen Champion? Sie will nichts mit dir zu tun haben.“

Nolwine spürte in sich eine Leere, obwohl sie nicht wusste, wieso. Sie hatte das Gefühl, dass sie gerade etwas wichtiges belauschte und fragte sich gleichzeitig, ob es richtig von ihr war. Durfte sie Personen belauschen, die vielleicht die Geweihten waren? Außerdem war es nicht…

„Was machst du denn hier?“

Das Mädchen zuckte zusammen, als Houa sich zu ihr wandte und seine Augen sich weit öffneten. Dann trat Verständnis in seine Augen.

„Bogenreise“, sagte er zu dem Mann namens Ethron. „Du hast dich verirrt, mein Kind. Lass mich dir den richtigen Weg zeigen.“

Houa beugte sich zu Nolwine hinunter und berührte sie leicht an der Stirn. Ein heftiger Schmerz erschien in ihrem Kopf und sie hatte das Gefühl, dass dieser platzen wollte. Sie öffnete den Mund zum schreien, doch spürte, wie sie wieder aufhörte zu existieren.

 

Mit leicht aufkommender Panik starrte Thanai auf dem Dreibogen und schalt sich im Inneren. Sie sah besorgt zu Akara. „Und sie ist nicht rausgekommen?“

Die Feuerwächterin sah sie finster an. „Nein, weist du was? Sie ist erschienen und ich habe sie in der Satteltasche von Feuertänzer versteckt. Verdammt Thanai! Denkst du wirklich, dass ich darüber Späße mache?“ Sie sah zu den Bogen. „Manchmal kommt es vor, dass jemand verloren geht. Da kannst du auch nichts dagegen unternehmen. Diese Gefahr besteht immer.“

 

Finsternis umgab sie. Leere erfüllte sie.

Mit einem Gefühl, als würde sie schweben befand sie sich in einem Raum. Oder Gang? Oder draußen in einem Wald? Sie wusste es nicht, denn die Dunkelheit war undurchdringbar. Als sie ihren rechten Arm hob, konnte sie diesen nicht erkennen. Sie sah nichts. Nur schwärze, die sie zu schlingen drohte.

Ihr Herz raste so schnell, als wollte es auch ihrem Herzen springen und Hilflosigkeit stieg in ihr auf.

Wo war sie? Was war passiert? … Wer war sie?

Langsam lief sie los. Jedenfalls glaubte sie dies, denn sie spürte, wie sich ihre Beine bewegten. Sie wurde schneller, ihr atmen keuchender. Sie versuchte der allgegenwärtigen Finsternis, um ihr herum zu entkommen, doch es wollte ihr einfach nicht gelingen. Plötzlich durch flammte sie ein stechender Schmerz an ihrer Hüfte. Sie schrie auf, presste ihre Hand dagegen und riss sie wieder weg. Deutlich fühlte sie die Nässe und mit einem Schrecken leckte sie ihre Hand ab. Es schmeckte süßlich. Wie Blut.

»Was ist hier los!?«

Ihre Stimme verlor sich in der Dunkelheit um sie herum und der Schmerz in ihrer Hüfte wurde stärker. Ätzend ging sie in die Knie. Ihr Herz wurde schneller, sodass es zu schmerzen begann. Ihre Augen gingen suchend umher, doch sie konnte einfach nichts erkennen.

Ein erneuter Schmerz durchzuckte sie und plötzlich hatte sie das Gefühl zu fallen. Sie fiel, wurde immer schneller und ihr Körper drang mit einem lauten Platsch ins Wasser ein. Ihr Mund füllte sich mit Salzwasser, ihre Luft wurde aus ihren Lungen gepresst. Sie spuckte, wollte neu Luft holen, doch es war nur Wasser, das ihre Lungen füllte. Sie hörte ihr Blut rauschen, füllte den dumpfen Schmerz an ihrer Seite und mit einem letzten Gedanken, den sie nicht einmal verstand, schalteten sich ihre Sinne ab.

 

„Atme! Verdammt Nolwine, atme langsam“, ertönte eine Stimme, während Nolwine versuchte, wieder Luft zu bekommen. Ihre Brust schmerzte immer noch und sie hatte das Gefühl, dass diese ihr platzen wollte. „Ganz ruhig, ganz ruhig. Gleich ist alles vorbei.“

Nur mit großer Anstrengung gelang es Nolwine sich zu beruhigen und sie schlug sie Augen auf. Verwirrt merkte sie, dass sie auf dem Rücken lag und in den Himmel schaute. Sie konnte erkennen, dass die Luftwächterin über sie gebeugt war und sie mit besorgtem Gesichtsausdruck anblickte.

„Was…“, ächzte sie und befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie hunderte von Ritten gerannt.

„Warte kurz“, sagte Thanai und verschwand aus dem Blickfeld des Mädchens. Dann erschien sie wieder und hielt ihr einen Trinkschlauch mit Wasser an die Lippen. Das Nass tat Nolwine gut und sie spürte, wie es langsam ihre Kehle hinunterfloss. Als sie genug getrunken hatte und ihr Mund nicht mehr trocken anfühle, richtete sie sich auf und merkte, dass Akara ihr dabei half. „Was ist passiert“, fragte sie und sah im Hintergrund den Dreibogen. Dann kamen die Erinnerungen und sie wurde bleich.

„Für einen Augenblick warst du verlorengegangen“, sagte Akara düster und warf ebenfalls einen Blick zu den Bogen. „Kurzzeitig sah es so aus, als würdest du nie mehr rauskommen.“

Kälte erfasste Nolwine als sie dies hörte und fragte sich, ob das, was sie erlebt hatte, wirklich passiert war. Oder hatte sie es sich nur eingebildet? War es möglich, dass sie zwei Geweihten begegnet war? Dass sie diese belauscht hatte? Nein … es muss eine Einbildung gewesen sein. Und was war mit dem Gefühl, ertrinken zu müssen? Ängstlich sah sie zu den Dreibogen und nahm sich vor, nie wieder mit so einem Ding zu reisen.

„Jetzt ist aber wieder alles in Ordnung“, meinte die Feuerwächterin und schenkte dem Mädchen ein leichtes Lächeln. „Ist mir auch mal passiert und ich sage dir, dass ich die verrücktesten Dinge gesehen habe. Mach dir deswegen keine Sorgen. Es werden keine bleibenden Schäden zurückgeblieben sein.“

Nolwine sah die Feuerwächterin an. Diese hatte auch schon mal so etwas erlebt? Dann stimmte es also, dass es nur Einbildungen gewesen waren. Schade, ich wäre gerne Houa begegnet. Sie schüttelte den Kopf. Was sagte sie da für einen Unsinn. Sie wollte nie einen Geweihten begegnen, denn ihr Glaube war der an den EINEN.

Zusammen mit Akara und Thanai gelang es Nolwine ganz aufzustehen und die Feuerwächterin bestand dann darauf, dass sie auf Feuertänzer klettern sollte, um auf ihn zu reisen. Sie mussten heute noch ein kleines Dorf erreichen, wenn sie nicht im Freien übernachten wollten. Nolwine sah zu den Dreibogen zurück.

„Wie lange war ich …“ Sie brach ab und schüttelte leicht de Kopf.

„Wie lange du da drin verschollen warst“, fragte Akara und zuckte dann mit den Schultern. „Thanai und Zhanaile waren vor dir raus gekommen, obwohl du vor ihnen den Bogen betreten hast. Und dann hat es nicht wirklich lange gedauert und warst dann erschienen. Mach dir keine weiteren Gedanken darüber … so etwas geschieht nicht oft.“

Dies mochte stimmen, dennoch würde sich Nolwine hüten, noch einmal durch so einen Bogen zu reisen. Das eine Mal war ihr genug.

 

Kapitel Fünfundvierzig

 Flucht

 

Die Wächterinnen sind hinterhältig und böse. Sie dienen den Schatten und man darf ihnen nicht trauen. Sie verderben deine Seele, und wenn du dich ihnen anschließt, dann bist du verloren. Also hüte dich vor ihnen!

 

Horance Leysen,

Hochgeleuchtete der Erleuchteten,

Winter im Jahre 2594

 

Das Dorf, das sich in der Nähe vom Dreibogen befand, hieß Clarstaat und war nicht besonders groß. Dennoch war Nolwine froh, als sie es sie es erreichten und sie stieg mithilfe von Akara von dem Pferd. Es wunderte sie sehr, dass die ganze Zeit über die Feuerwächterin einen Blick auf ihr geworfen und Thanai die ganze Zeit geschwiegen hatte. Warum sprach die Luftwächterin kein einziges Wort mehr mit ihr? Hatte Nolwine etwas getan, um sie zu verärgern? War die Frau enttäuscht, dass sie während des Übergangs sich verloren hatte?

Es war doch nicht meine Schuld.

Schweigend folgte Nolwine zu einem Gasthaus und wunderte sich, wie sehr das Schweigen von dieser Frau sie innerlich schmerzte. Für sie war Thanai eine Bezugsperson geworden, denn sie war eine Luftwächterin und verstand alles, was mit Nolwine passierte. Was würde es nun bedeuten, wenn diese Frau sich von ihr abwand und ihr möglicherweise nicht mehr half?

Dieser Gedanke machte dem Mädchen Angst. Sie kannte sich nicht in der Welt der Wächterschaft aus und hatte keine Ahnung, wie sie alles angehen sollte. Sie kannte nur die Geschichten der Erleuchteten und diese schienen nicht der Wahrheit zu entsprechen. Kurze Zeit später saß Nolwine auf dem Bett ihres Zimmers und spürte, wie wieder die große Ungewissheit in ihr aufkam. War es richtig, dass sie ihre Gabe annahm? Sollte sie nicht lieber dagegen ankämpfen?

„Du sollst den EINEN ehren und preisen“, murmelte Nolwine das erste Gesetzt des Kodex leise und schloss die Augen. Sie hielt sich immer noch daran fest, doch wie konnte sie dies tun, wenn sie gleichzeitig das zehnte missachtete. Der Kodex der Zehn war dazu da, dass man alle einhielt und es war nicht rechtens, dass sie sich nur die aussuchte, die in ihrer jetzigen Situation passten.

„Was soll ich nur machen“, flüsterte sie leise. Eine große Einsamkeit kam in ihr auf und der Schrecken, den sie noch vom Dreibogen hatte, saß tief in ihr. Ich bin nur ein einfaches Mädchen und kann nicht die Gabe der Luft besitzen. Vielleicht hat dies Thanai gemerkt und redet deswegen nicht mehr mit mir. Nolwine schüttelte den Kopf. Sie sollte nicht in das Schweigen zu viel hineininterpretieren. Es war immerhin nur drei Kerzenstriche lang gewesen und früher hatte es noch viel längeres Schweigen gegeben. Also gab es keinen wirklichen Grund, warum sie sich so viele Sorgen machte. Auf der anderen Seite jedoch hatte das Mädchen das Gefühl, dass sich etwas geändert hatte. Etwas, dass sie nicht verstand und sich deswegen davor fürchtete.

Die Nacht kam auf und je länger Nolwine darüber nachdachte, desto sicherer war sie sich, dass nun etwas anders war.

Sie wollte nicht, dass ich mitkomme. Das hat sie sehr deutlich gesagt.

War das der Grund? Konnte es sein, dass diese Frau nun so abweisend war, weil sie wütend darüber ist, dass sie mitkommen musste.

Es wäre wohl besser gewesen, wenn sie mich nie gefunden hätte. Tränen kamen in ihr auf und sie hielt sich nicht davon ab, lautlos zu weinen. Ich bin nur eine Bürde! Diese Erkenntnis krallte sich tief in sie hinein und sie musste heftig schlucken. Das musste es sein. Sie war ein Hindernis. Vielleicht sollte ich einfach gehen …

Dieser Gedanke war so erschreckend wie verlockend, sodass das Mädchen immer weiter darüber nachdachte. Die letzten Tage waren so unwirklich gewesen, dass es einen Haken haben musste und dieser war, dass sie eigentlich nicht erwünscht war. Da wäre es doch wirklich das Beste, wenn sie sich einfach auf dem Weg machen würde und die alles hinter sich lassen würde.

Was hält mich eigentlich hier?

Sie wusste die Antwort. Es war Thanai, die ihr versprochen hatte, sich um sie zu kümmern und sie nach Neirhain zu bringen. Zum Hort der Lüfte, doch wollte Nolwine eigentlich dorthin? Wollte sie wirklich ihren Glauben aufgeben und eine Wächterin werden?

Nein, Nolwine wollte dies nicht. Sie wollte eigene Entscheidungen treffen und nicht ihr Leben verändern, nur weil sie krank gewesen war. Umwandlung … wer weis, vielleicht war es keine Umwandlung, sondern nur eine normale Krankheit und die Wächterin will mir nur das andere einreden. Wenn das stimmte, dann war alles erlogen und die Erleuchteten hatten doch recht. Doch was war mit der Situation, wo sie die Diebe getötet hatte? Vielleicht hat sie alles zu verantworten und hat selber in Wirklichkeit die Luft befohlen die Männer anzugreifen und sagt nur in nachhinein, dass ich das gewesen war. Sollte dies stimmen, dann hat sie mich die ganze Zeit angelogen.

Aus dem Gefühl der Einsamkeit wurden Verwirrung und Unsicherheit. Vielleicht stimmte dies, was die Erleuchteten sagen. Dass die Wächterinnen Mädchen verderben, indem sie ihnen vorgaukeln, dass sie ihnen nur helfen wollen. Was ist, wenn das gerade mit mir passiert? Plötzlich war sich Nolwine nicht mehr so sicher, dass die Frauen ihr helfen wollen und Angst kam in ihr auf. Was werden die von mir wollen?

Das Mädchen erhob sich vom Bett und sah im Zimmer umher. Ihr Blick fiel auf dem Rucksack und ein Gedanke formte sich in ihren Gedanken.

Ich muss hier weg!

Sie schnappte sich den Rucksack und sah dann zur Tür. Wenn sie durch diese gehen würde, dann würden die Wächterinnen es sicherlich bemerken. Wäre es da nicht sicherer, wenn sie durch das Fenster das Gasthaus verlassen würde? Sie trat zu dem Fenster und war froh, dass sich ihr Raum im Erdgeschoss befand, sodass sie nicht hochspringen musste. Sie öffnete das Fenster und hielt dann noch einmal kurz inne. Dann trat ein fester Ausdruck in ihre Augen und sie kletterte hinaus. Kurz darauf hatte sie das Dorf verlassen.

 

Nach knapp einem Kerzenstrich, seitdem Nolwine das Dorf verlassen hatte, konnte sie von weiten einen großen Wald erkennen, der sich am Horizont aus dem Boden wie ein Gebirge erhob. Es musste Gil`reans Hain sein, wenn Nolwine sich richtig an die Worte von Akara erinnerte und als sie an diesen Namen dachte, musste sie an Thanai denken und daran, wie sehr diese Frau sie doch getäuscht hatte. Sie wusste nicht, warum der Gedanke daran so schmerzhaft war, doch sie wusste, dass es nicht anders sein konnte. Man hatte sie an der Nase herumgeführt und wenn sie nicht selber darauf gekommen wäre, dann wäre ihre Seele wohl schon längst verloren gewesen. Doch wie konnte sie sich in Thanai so getäuscht haben, Sie erinnerte sich daran, wie wohl sie sich bei ihrer Gegenwart gefühlt hatte. Zwar waren es immer nur einige Augenblicke gewesen, doch dies hatte gereicht, dass sie sich geborgen gefühlt hatte. Geborgen! Etwas, was Nolwine schon sehr lange nicht mehr gefühlt hatte. Selbst in ihrer eigenen Familie und Konvent hatte sie sich nicht so wohl gefühlt.

Nolwine erreichte beim Sonnenuntergang den Wald und schlug an seinem Rand ihr Lager auf. Sie fühlte den kalten Wind, während sie aus mehreren Steinen einen Kreis bildete und in diesem Moos, sowie getrocknetes Gras schichtete. Danach holte sie Feuerstein und Zunder hervor. Sie kniete sich nieder und schlug beides schnell und hart zusammen. Wenig später prasselte ein großes Feuer. Vor einigen Tagen hatte Akara ihr gezeigt, wie man am besten ein Feuer aus Stein und Eisen entfachte, ohne dass man eine Gabe besitzen musste. Als das Feuer prasselte, musste sie an die Feuerwächterin denken und bedankte sich innerlich für diese Lehrstunde. Ein Feuer war sicherer, denn Nolwine wusste nicht, was für Tiere hier in der Gegend lauerten und wollte nicht als Mahlzeit enden.

Sie hüllte sich in einer dicken Decke ein und fragte sich, wie clever es war, kurz vor Winteranfang die Personen zu verlassen, die sich ja um sie gekümmert hatten, auch wenn deren Motive nicht edel gewesen waren. Nun war sie alleine und bald würde der Winter anfangen. Es war wirklich eine dämliche Idee gewesen! Sie sah in die Richtung, wo sich das Dorf befand und spielte kurz mit dem Gedanken, wieder zurückzugehen.

Nein! Reiß dich zusammen. Du darfst nicht von deinem wahren Weg abkommen!

Sie legte sich auf dem Boden und war kurz darauf eingeschlafen.

Die Nacht zog auf und der Mond fing an, seine Runden zu drehen. Es wurde immer kälter und dunkler. Ein heftiger Wind strich durch die Grasweide, die sich am Wald anschloss und wirbelte Staub auf. Langsam kam Regen auf. Erst schwach, dann immer heftiger und kurz darauf strömte es. Schwere Tropfen drückten das Gras nieder und in einigen Stellen bildete sich ein kleiner Teich. Die Luft roch rein und feucht.

Mitternacht war schon fast verstrichen, als das Gewitter endlich aufhörte und nur die feuchte Luft von dem Ereignis erzählte. Mit einem unfreundlichen Grunzen, warf das Mädchen ihren Umhang zur Seite und strich ihr nasses Haar nach hinten. Sie fühlte sich irgendwie durchnässt und unsauber. Nolwine stand auf, regte sich und hielt inne. Plötzlich verspürte Nolwine eine grausige lähmende Kälte. Etwas das nicht hierher gehörte. Als sie jedoch sich umdrehen wollte, um nachzusehen, was es war, spürte sie heftige Schmerzen, die in ihren Kopf auftraten und sie taumelte. Nicht schon wieder, fuhr es ihr durch den Kopf, ehe sie auf dem Boden aufschlug.

Sie presste die Zähne zusammen und versuchte einen Schrei zu unterdrücken, als ein erneuter Krampf sie heimsuchte. Lange dauerte der Schmerz an und letztendlich war es eine Dunkelheit, die ihr die hoffende Erlösung brauchte.

 

Sie lenkte ihre Schritte nach Westen und wusste nicht so wirklich, wo sie überhaupt hinging. Sie fühlte sich überhaupt nicht gut und abermals kam in ihr der Gedanke auf, dass sie doch besser zurückgehen sollte. Doch dann dachte sie an ihren Glauben und entschied dagegen und ging weiter.

Ein Schritt nach dem anderen. Immer ein Schritt nach dem anderen.

Sie kamen nur langsam voran und die Sonne schien zwischen den verhangenen Wolken hervor. Die Zeit strich dahin und aus Minuten wurden Stunden, doch das Mädchen wusste einfach nach einiger Zeit nicht mehr, wo sie sich befand. Sie hatte vor einiger Zeit den Wald betreten und konnte nur noch Bäume sehen. Vor ihr, hinter ihr und neben ihr. Sie nahm diese nicht wirklich wahr, sondern dachte an ihrer Familie. Daran, wie sich ihr Leben in den letzten Mond geändert hatte. An die Angst, die bei den Schattenangriff auf Greisarg gehab hatte.

Nolwine schreckte auf und bemerkte, dass sie fast im Laufen eingeschlafen war. Sie schalte sich selber einen Narren und achtete wieder auf ihre Umgebung. Diese hatte sich sehr verändert: Es wurde lichter und aus dem kerngesunden Gras und einzelnen Sträuchern wurden knorrige Gerippe von Lebewesen, die mal Bäume gewesen waren. Auch wurde der Boden immer schlammiger, sodass man denken konnte, dass man sich in einem Moor befand. Auch gab es keine Tiere hier … jedenfalls keine lebendigen. Man konnte Skelette erkennen. Bleiche Knochen schauten aus Schlammlöchern hervor und die Luft war von einem fauligen Geruch befallen. Auch konnte man Personen erkennen, die halb verwest waren und an ihren Haltungen sah man, das er versucht hatte aus diesen Schlammlöchern zu kommen.

Ein Schaudern befiel das Mädchen und sie schüttelte sich. Dabei achtete sie aufmerksam auf die Umgebung, dass ihr auch nichts entging. Wenn man von draußen den Wald ansah, dann würde man nicht vermuten, dass dieser im Sterben lag. Traurigkeit überfiel sie, denn sie achtete alles Lebendige und etwas so sterben zu sehen, machte ihr das Herz schwer. Dann kam der Schmerz. Sie hielt inne und schloss die Augen. Sie spürte, dass sich ein neuer Krampf anbahnte und fürchtete sich davor. Wie sollte es weitergehen, wenn sie immer wieder von Schmerzen geplagt werden würde.

Mit der Zeit wird sich dein inneres Gleichgewicht an die Umwandlung gewöhnt haben. Dann werden auch die restlichen Schmerzen vergehen und du brauchst dich nicht mehr vor Krämpfen zu fürchten. Deutlich vernahm Nolwine die Stimme von Thanai und erinnerte sich an das Gespräch. Sie hatten es kurz nach ihrem Erwachen auf dem Planenwagen geführt und die Luftwächterin hatte versucht sie zu beruhigen. Dies war ihr auch gelungen. Wie konnte jemand so nett sein und gleichzeitig böse? Nolwine stand einige Zeit reglos war und mit einer gewissen Erleichterung nahm sie wahr, wie die Schmerzen in ihr vergingen. Das Mädchen presste die Augen noch fester zusammen und versuchte sich auf etwas anderes zu konzentrieren. An etwas Freundliches zu denken. Etwas, dass ihr keine Schmerzen bereitete. Langsam verblasste der Schmerz und hinterließ eine seltsame Ruhe.

Nolwine öffnete die Augen und sah sich um. Sie sah die tote Umgebung und fragte sich, ob dies Schatten zu verantworten hatten. Immerhin hieß es, dass diese sich hier in dem Land aufhielten. Angst kam wieder in ihr auf und sie hoffte, dass sich in ihrer Umgebung keine aufhielten. Dann hielt sie inne und sah zu einem Baum, wo sie eine Bewegung wahrnahm. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte, was sie verursacht hatte.

Ein kleiner Igel schritt aus dem Schatten einer toten Eiche und tapste unbeholfen über ein Fleckchen Erde, der noch kein Schlamm war. Man konnte deutlich erkennen, dass er zitterte und alle paar Schritte stehen blieb, um sich umzuschauen. Dann zuckte er aber zusammen und rollte sich blitzschnell ein, denn eine riesige Schlange war aufgetaucht und schlängelte sich auf das arme Tier zu.

Nolwine sah dies und fragte sich, ob die Schlange auch was essen würde, das Stacheln besaß. Und so wie es aussah, würde es diese Spezielle machen, sodass das Mädchen schnell ihren Rucksack auf dem Boden setzte und in inneren einen Dolch hervorholte. Sie zog ihn aus der Scheide und betrachtete die Waffe. Sie hatte sie von Akara erhalten, aber bisher noch nie benutzen müssen. Mit dem Dolch bewaffnet schritt sie zu der Stelle, wo sich die Tiere befanden. Dabei musste sie aufpassen, dass sie nicht in einen der Sümpfe trat. Sie erreichte die Stelle mit dem zitternden Igel und der angriffslustigen Schlange. Sie hob ihren Dolch und ließ sie in Sekundenschnelle nach unten sausen.

Der Körper der Schlange zuckte noch lange, obwohl der Kopf einige Zentimeter entfernt lag. Aber nach einer kleinen Weile wurde das Zucken immer schwächer und schwächer, bis es vollständig aufhörte und der Kopf ruhig dalag. Auch erst jetzt konnte man erkennen, dass diese Schlange silbrig-rot war und dunkle rote Flecken besaß. Was es jedoch für eine spezielle Art war, konnte das Mädchen nicht sagen. Doch die rötliche Farbe deutete darauf, dass diese giftig sein musste. Soviel wusste sie von den Lehrbüchern aus dem Konvent.

Nachdem Nolwine sich versichert hatte, dass auch keine weiteren Schlangen in ihrer Nähe waren, nahm sie den kleinen Igel hoch und bemerkte, dass dieser in ihre Hand passte und somit noch jung sein musste. Dann erkannte das Mädchen, dass der Igel eine dunkle Färbung hatte und einige Stacheln jedoch ganz hell waren, sodass ein wunderschönes Muster entstand. Sie merkte, wie das Tier vor ganz großer Angst zitterte und sie konnte auch das Herz des Kleinen deutlich verspüren.

Ganz langsam und behutsam fing das Mädchen an, den Igel zu streicheln. Dabei achtete sie darauf, dass sie diesen nicht wehtat, und konnte vernehmen, dass die Atmung des Tieres ruhiger wurde und schließlich regelmäßig war. Und dann nach einigen Minuten Sanftes streicheln, sowie Beruhigendes zureden, begann der Igel sich aufzurollen.

Zuerst ganz zögernd und langsam, danach immer schneller. Als Erstes tauchten zwei Beine auf, worauf später auch noch ein Bauch erschien. Als letzten tauchte dann die Nase mit dem ganzen kleinen Kopf auf. Sein Körper war von einer hellen braunen Farbe und seine Beine hatten eine dunklere Färbung.

Nolwine erfreute sich an dem Aussehen des Igels und streichelte ihn weiter, weil sie merkte, dass dieser es genoss. Ein Rascheln war zu hören und Nolwine zuckte zusammen. Sie sah sich aufmerksam um, doch konnte nichts erkennen, dass das Geräusch verursacht haben könnte. Nachdem sie eine Weile gelauscht hatte, war sie sich sicher, dass nichts in der Nähe war, sodass sich Nolwine wieder den Igel zuwandte. Dabei fragte sie sich, was diese wohl aßen. Sie blickte um sich, um eine Idee zu bekommen.

Ein glücklicher Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht und er zog mit seiner freien Hand einen Regenwurm aus seiner Höhle, wo er raus geschaut hatte. Diesen legte er vor den Igel, worauf dieser begann, ihn zu beschnuppern. Zögernd fing er an, an diesen zu knappern. In einer halben Minute war dann auch der Regenwurm verschwunden. Nolwine biss die Zähne zusammen, als dies sah und musste ein Würgen unterdrücken, doch sie hielt den Igel nicht davon ab, etwas zu fressen. Als der Igel fertig war, blickte er das Mädchen mit großen Augen an, ehe er sich in die Hand kuschelte und die Augen schloss. Wenig später konnte Nolwine den Igel ruhig atmen hören und sie verzog das Gesicht, denn plötzlich wusste sie nicht, was sie mit einem schlafenden Igel anfangen sollte.

Sie blickte sich um, um etwas zu finden, wo sie den Kleinen hintun könnte, doch fiel ihr nichts ein. Danach kam sie zum Entschluss, dass es das Beste war, ihn mitzunehmen. Sie trat zu ihrem Rucksack und legte den kleinen Igel vorsichtig in diesen hinein. Sie überprüfte, dass nichts in der Nähe war, was ihn verletzten könnte und schloss dann den Rucksack.

Eine leichte Windprise kam auf und wedelte durch das Gras, das zwischen die Sumpflöcher hervor lugte. Auch erfasste sie die dunklen Haare des Mädchens, die nun die tote Schlange ansah. Ohne zu wissen wieso, nahm sie vorsichtig den Kopf dieser. Sofort kam ein letzter Reflex des Kopfes und er biss sich in den kleinen Finger des Mädchens. Diese fiel vor Schreck zurück und fluchte. Sie hätte daran denken sollen! Da sie keinen Schmerz verspürte, steckte sie schnell den Kopf sowie Körper der Schlange in eine Seitentasche ihres Rucksackes und hob diesen auf ihrem Rücken. Sie hatte den plötzlichen Drang diesen Sumpf … Moor zu verlassen.

Die Sonne ging langsam unter und hinterließ einen kleinen orangen Schleier am Horizont. Der Wald Gildean Hain hüllte sich nach und nach in Dunkelheit ein, die bald darauf von dem bleichen nächtlichen Wanderer, der Mond, erhellt wurde. Tiere begaben sich zur Nachtruhe und eine bedrückende Stille kam in den großen Wald auf.

Nolwine bemerkte, dass es ihr immer wärmer wurde und sie stöhnte auf. Wahrscheinlich war diese Schlange doch giftig gewesen. Sie schalt sich einen Narren und blickte ihre Hand an, welche schon bläuliche Flecke hatte.

Der Mond stand hoch und strahlte ein sanftes leuchten aus, was nur schwach durch die Wolken trat, die nun das Firmament bedeckten. Doch reichte das Licht dazu, dass Nolwine unter großen Mühen schaffte, den Rucksack auf dem Boden abzustellen und notdürftig einige Zweige zusammentrug. Jedoch gestaltete es sich schwieriger ein Feuer zu entfachen und es verging eine lange Zeit, bis endlich einige Funken ein Feuer schafften. Ein Knacksen war zu vernehmen und Nolwine wirbelte schnell herum. Hinter ihr standen drei verhüllte Gestalten. Das Mädchen ging leicht in die Hocke und betrachtete die Fremden ganz genau, doch dann hob eine der dreien die rechte Hand.

„Friede! Wir wollen nichts Böses…wir haben nur das Feuer gesehen und dachten uns, dass es sicherer wäre, wenn man in einer Gruppe übernachten würde“, sprach der Fremde und man konnte eine helle Stimme vernehmen, die wahrscheinlich sehr gerne lachte. Er trat drei Schritte vor und nun konnte Nolwine einen jungen Mann erkennen, der breit grinste. „Ich bin Ardeon!“

Nun traten auch die anderen beiden vor, es war ein anderer Mann, welcher den Ersten ziemlich ähnlich sah und eine junge Frau, welche eine Armbrust über die Schulter geworfen hatte. An diese hingen zwei Kaninchen.

Wenig später saßen vier Personen um das Feuer und Nolwine hat herausgefunden, dass der andere Mann Garlon und die Frau Rikka hieß. Die drei waren Söldner und waren auf den Weg nach Jahalat, um irgendjemanden zu besuchen. Sie unterhielten sich über einiges, doch zum Schluss kamen sie auf das Thema des Waldsterbens, als Garlon merkte, dass es Nolwine nicht gut ging. Schnell kam heraus, dass es wirklich eine giftige Schlange gewesen war und das Garlon, der einige Jahre bei einem Heiler verbracht hatte, sodass er genau wusste, was zu machen war. Er rührte einige Kräuter, die er mit sich trug an und verdonnerte Nolwine dazu, das Gebräu, welches zum Himmel stank, zu trinken. Diese machte es auch, doch bevor sie alles ganz austrinken konnte, fiel sie kopfüber in einen Schlaf und träumte von Schmerzen und Qualen.

Am nächsten Tag ging es Nolwine wesentlich besser und mit schweren Herzen verabschiedete sie sich von der anderen Reisegruppe. Sie war traurig, wieder allein weiterreisen zu müssen, doch gleichzeitig auch froh. Es war ihr nicht leicht gefallen, ihre inneren Schmerzen zu verheimlichen. Wie hätte sie auch den anderen ihre Krämpfe erklären können. Die drei Söldner versuchten sie zu überreden, mit nach Jahalat zu reisen, da es sicherer war, doch Nolwine ahnte, dass sie diese nicht lange täuschen könnte. Aus diesem Grund verließ sie lustige Gruppe.

Den kleinen Igel hatte sie immer noch und aus irgendeinem Grund, den sie nicht verstand, half er ihr die aufkommende Einsamkeit zu ertragen. Sie musste ihr ganz fest an ihn denken und alles um ihr herum verblasste. Er half ihr mit ihren Gefühlen, doch die Krämpfe war sie weiterhin hilflos ausgeliefert.

Sie lief immer weiter nach Westen und wusste nicht genau, warum eigentlich. Doch der Gedanke, dass die anderen ihr vielleicht folgen würden, trieb sie immer weiter voran. Zwischendurch bereute sie, nicht das Angebot der Söldner angenommen zu haben, doch dann sagte sie sich, dass es so besser wäre. Sie wollte keine fremden Personen in ihrem Unglück hineinziehen.

Der dritte Tag ihrer Flucht brach an und Nolwine fühlte sich immer schlechter. Sie konnte jedoch nicht sagen, ob es an den Schlangenbiss lag oder an ihrer sogenannten Umwandlung. Sie glaubte nicht an das ersterer, weil der eine Söldner ihr ein Gegengift gegeben hatte, sodass nur das zweite übrig blieb.

Warum musste diese Frau mir dies antun?

Tränen liefen über Nolwines Gesicht und sie lief immer weiter, wobei sie vollends die Orientierung verlor. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich nun befand und fragte sich kurz, ob es besser wäre, wenn sie doch umdrehte. Doch in welche Richtung war das Umdrehen? Sie hatte keine wirkliche Ahnung mehr, woher sie gekommen war und wohin sie eigentlich wollte.

Als die Sonne unterging, kam sie an einen Hügel und starrte diesen an. Sie musste ein Nachtlager irgendwo aufschlagen, wo es nicht gefährlich war, doch wo gab es schon einen ungefährlichen Ort, wenn es hieß, dass Schatten im Land umherstreiften. Plötzlich fiel ihr ein Höhleneingang in die Augen und Nolwine runzelte die Stirn. Vielleicht sollte sie dort Schutz suchen. Lange starrte sie auf diesen und fragte sich, ob die Höhle bewohnt war.

Ich werde es nicht herausfinden, wenn ich hier draußen verharre und nicht nachschaue.

Sie schulterte ihren Rucksack besser und sah den Eingang näher an. Irgendwie verspürte sie eine seltsame Kraft, die ihr zuflüstern schien, dass sie in diese Höhle gehen sollte, doch etwas in ihr warnte sie. Irgendetwas an dieser Höhle gefiel ihr überhaupt nicht und es bereitete ihr Angst. Vielleicht war es eine Falle von den Wächterinnen? Bei diesen Gedanken schüttelte sie leicht den Kopf. Sie musste versuchen sich beruhigen und nicht immer und überall Gefahren sehen.

Nolwine nahm einen dicken Ast und holte aus ihrem Rucksack eine kleine Flasche hervor. Diese öffnete sie und tränkte das eine Ende des Astes in eine bräunliche Flüssigkeit. Danach suchte sie sich einen festen Stein und Heu. Mit Eisen und den Stein entfachte sie ein Feuer aus dem Heu und hielt das getränkte Ende des Astes hinein. Dieser fing sofort Feuer. Mit dieser primitiven Fackel in der linken Hand machte sie sich auf dem Weg in die Höhle, denn ihre Neugier hatte zum Schluss doch gesiegt. Es war ein Gefühl, dass ihr zuflüsterte, sie musste hineingehen und nichts könnte sie davon abhalten. Sie musste es einfach, oder sie würde platzen!

Es war dunkel, es roch muffig und von der Decke tropfte Wasser. Auch war der Eingang nicht gerade groß, sodass Nolwine sich nicht vollständig aufrichten konnte. Sie folgte den Gang und merkte, dass dieser immer breiter wurde. Nach einem halben Kerzenstrich konnte sie aufrecht wieder laufen und wurde dadurch schneller. Das Gefühl in ihr wurde immer seltsamer und drängender.

Nach einem ganzen Kerzenstrich sah sie von weiten, dass der Gang zu der eigentlichen Höhle fuhr und sie blieb kurz vorher stehen. Vorsichtig blickte sie in dieser und ihr Herz machte einen erfreuten Sprung.

Die Höhle war riesig und schien verlassen zu sein. Also gab es hier keine Tiere, die sie angreifen könnte. Sie könnte also die Nacht hier verbringen und bräuchte sich keine Gedanken wegen Unwetter zu machen. Nolwine setzte ihren Rucksack ab und holte den Igel, sowie ein Stück Brot hervor, das die Söldner ihr am morgen gegeben hatten. Sie setzte das Tier auf de Boden und betrachtete es, während sie langsam aß und fragte sich abermals, was sie eigentlich machen sollte. Sie konnte ja schlecht ewig weglaufen.

Eins nach den anderen. Erst einmal schlafen und morgen schaue ich dann, wie es weitergeht.

Nolwin legte ihren Umhang auf dem Boden und nutzte den Rucksack als Kopfkissen. Durch ihre Müdigkeit brauchte sie nicht lange, bis sie eingeschlafen war.

 

Kapitel Sechsundvierzig

 Familienbande

 

Das Wichtigste im ganzen Leben ist die Familie. Wenn man sich alleine fühlt, dann findet man bei ihr Geborgenheit. Wenn man Schmerzen hat, dann sorgt sie dafür, dass es einen besser geht. Wenn man Angst hat, dann tröstet sie einen und sagt, dass dies nicht notwendig ist. Familie ist wichtig und kein Außenstehender kann sie wirklich ersetzen.

 

Rae Zhajà Silwyana ra`Jorsen ai`Zen,

Zeyren von Sharren El`Sent

Sommer im Jahre 115 vor dem Nebel

 

„Saren! Wir sollten eine Pause machen“, sagte Aleitha nun schon zum sechsten Mal und spürte Verzweiflung in sich aufsteigen. Sie selber brauchte keine Pause, doch sie konnte erkennen, dass es Saren nicht besonders leicht fiel, mit ihr Schritt zuhalten und immer wieder ihr Gesicht vor Schmerzen verzog. „Komm. Wir haben doch heute schon genug geschafft.“

Saren schüttelte den Kopf und blickte starr nach vorne. „Nein, Aleitha. Ich weis, dass es nicht einfach ist, doch wir werden weitergehen. Wir müssen. Wir haben keine Ahnung, wann die anderen uns einholen werden und bis dahin müssen wir weit weg sein! Wir können es uns nicht leisten.“ Sie sah zu ihrer Schwester und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Nicht mehr lange, dass verspreche ich dir. Ich weis, dass du es noch aushalten kannst.“

Aleitha wurde verzweifelter. Es ging ja gar nicht um sie, sondern um ihre Schwester. Sie selber konnte noch den ganzen Tag laufen, denn kurz, nachdem sie heute Morgen aufgebrochen waren, war Saren wieder einmal ohnmächtig geworden und Aleitha hatte sich ausruhen können. Doch kaum war Saren wieder aufgewacht, hatte sie darauf bestanden weiterzugehen, obwohl sie sichtlich erschüttert war. Was hatte Saren so erschüttert?

Immer mehr bekam Aleitha die Bestätigung, dass ihre Schwester nicht einfach nur bewusstlos wurde, sondern, dass etwas ganz anderes dahinterstecken musste.

Doch wie immer, sprach Saren nicht davon und so blieb Aleitha nichts anderes übrig als ihre Schwester schweigend zu folgen, als sie aufgebrochen sind. Nun sind sie schon den ganzen Tag unterwegs und haben selbst im Laufen etwas zu Mittag gegessen.

Während es Aleitha nicht allzu sehr störte, dass sie liefen, so sah sie die Erschöpfung ihrer Schwester an und versuchte sie dazu zu drängen, doch eine kleine Pause einzulegen, doch Saren wollte nichts davon hören. Sie wurde nicht langsamer und schien nicht einmal in Betracht zu ziehen, dass eine kleine Pause alle helfen konnten. Doch Aleitha war nicht gewillt, einfach so aufzugeben. Sie musste dafür sorgen, dass ihre Schwester sich nicht überanstrengte. Doch wie konnte sie dies anstellen? Saren war stur, und wenn sie stur war, dann war es unmöglich sie zu etwas zu überreden, was sie nicht wollte.

Warum musst du so stur sein? Warum nur?

Die Verzweiflung in ihr wurde größer und schien sie zu erdrücken. Sie hatte Angst um ihre Schwester und wusste einfach nicht, was sie unternehmen sollte? Sie fühlte sich hilflos. Hilflos dazu verdammt, zusehen zu müssen, wie es ihrer Schwester immer schlechter ging.

„Bitte, Saren“, sagte Aleitha nachdrücklich. „Nur eine Kleine … du kannst doch kaum noch gehen und …“

„Mir geht es gut“, presste Saren hervor und setzte einen sturen Blick auf. „Du brauchst mich nicht vorzuschieben, Aleitha. Ich weis, dass es hart ist, doch du wirst es schon aushalten. Wir werden weitergehen!“

Aleitha blieb stehen.

„Es geht doch gar nicht um mich“, schrie sie plötzlich und begann zu weinen. Saren blieb überrascht stehen und wandte sich zu ihrer Schwester. Ihre Augen waren vor Schreck geweidet und sie trat an ihre Schwester. Sie beugte sich vor und versuchte die Tränen wegzuwischen.

„Nicht weinen, `leitha.“ Sagte sie leise und verzog besorgt das Gesicht. „Komm schon, hör auf zu weinen.“

„Du…du …es geht doch nicht um mich“, wiederholte Aleitha leiser und schniefte. Sie sah ihre Schwester an. „Es geht um dich, Saren! Denkst du, ich merke nicht, dass es dir nicht gut geht? Dass du immer erschöpfter wirst, wenn du nach deinen … wenn du wieder aufwachst. Und dann bestehst du darauf, dass meiste Gepäck zu tragen und läufst immer weiter, obwohl du kurz davor bist zusammenzubrechen.“ Ihre Verzweiflung trat in ihre Augen. „Ich habe Angst, Saren! Ich habe Angst um dich!“

Darauf wusste Saren nichts, was sie erwidern sollte. Sie starrte ihre Schwester an, während Aleitha weiter weinte und leise schluchzte.

 

Verdammt! Genau das wollte ich vermeiden!

Saren wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte sehr versucht, sich die eigene Erschöpfung nicht anmerken zu lassen, doch anscheinend war sie nicht erfolgreich gewesen. „`leitha, ich…“ Sie brach ab. Was sollte sie sagen? Dass ihre Schwester sich irrte und sich keine Sorgen machen sollte. Dies wäre eine Lüge und Saren wollte nicht ihre eigene Schwester anlügen. Saren schloss die Augen.

Wenn es nach ihr ginge, dann würde sie gerne eine Pause einlegen, doch sie hatte Angst. Angst davor, dass die Verfolger sie jeden Moment finden würden. Zwar gab es in den letzten Tagen keine Anzeichen dafür, dass sie immer noch verfolgt wurden, doch sie traute den Frieden nicht. Sie wollte ihre Schwester so weit wie möglich von hier wegbringen und durfte deswegen keine Rücksicht auf sich selber nehmen. Sie verzog ihr Gesicht, als durch ihre Schulter ein neuer Schmerz zog. Nachdem sie vorgestern so schlecht gefallen war, hatte sich die Wunde an ihrer Schulter neu geöffnete und schien seitdem zu brennen. Zwar hatte Aleitha diese ausgewaschen und neu verbunden, doch Saren war sich sicher, dass die Wunde dabei war, sich zu entzünden. Sie spürte Wärme von dieser auskommen. Doch was konnte sie schon dagegen unternehmen? Sie waren hier mitten im einen Wald und waren bisher auf keine einzige Person getroffen. Sie hatten keine wirklich sauberen Verbände oder andere Dinge, die ein Heiler bei sich tragen würde. Sie konnten nichts anderes machen, als dass, was sie schon unternahmen. Die Wunde auswaschen und verbinden.

Saren öffnete ihre Augen wieder und sah ihrer Schwester, die immer noch weinte. Sie seufzte.

„Nun gut, `leitha. Wir werden eine kleine Pause machen“, sagte sie leise und erkannte die Erleichterung, die Aleithas Augen trat. Saren nahm die Armbrust von ihrer linken Schulter und warf sie auf dem Bode. Der Rucksack folgte gleich darauf und Saren spürte, wie ihr Rücken sich entspannte.

Anschließend half sie ihrer Schwester ihren Rucksack abzusetzen, obwohl Aleitha dagegen protestieren wollte. Doch da ließ sich Saren nicht erweichen.

Schwerfällig ließ sich Saren anschließend auf einer Wurzel nieder und betrachtete ihre Schwester.

Seit der Flucht war nun schon so viel Zeit vergangen, dass Saren sich immer wieder fragte, ob es die richtige Entscheidung gewesen war. Vielleicht hatte Aleitha recht gehabt und es wäre besser gewesen, wenn sie diese Chaidra aufgesucht hätten. Diese Frau hätte ihrer Schwester garantiert helfen können, doch nun war es zu spät. Es wäre zu gefährlich nach Ferren zurückzugehen und außerdem konnte Saren nicht wissen, ob diese Frau noch im Dorf war. Wahrscheinlich war sie schon längst weg und hatte Aleitha vergessen.

Sie, Saren, war die Einzige, die sich um ihre kleine Schwester kümmern konnte und musste. Sie war die Ältere und trug die Verantwortung, doch sie konnte sie Aleitha beschützen, wenn es ihr selber immer schlechter ging und sie keine Ahnung hatte, wohin sie eigentlich flüchteten. Nachdem sie dem Wald betreten hatten, haben sie sich an de Norden gehalten, obwohl Saren überhaupt nicht wusste, ob es im Norden etwas gab. Und selbst wenn sie in ein Dorf oder eine Stadt kommen sollten, Saren besaß nicht viel Geld und wusste nicht, wie sie an mehr rankommen sollte.

Immer mehr wurde ihr bewusst, dass die Flucht übereilt gewesen war. Sie hätte besser einplanen sollen, was sie mitnehmen sollten und nun war es zu spät. Doch hätte sie überhaupt die Zeit dafür gehabt? Der Fürst war mit seinen Männern auf den Weg zu ihren Haus gewesen und hatte keine guten Absichten gehabt. Nein, die schnelle Flucht aus dem Haus war das einzige Richtige, was Saren hätten tun können. Alle andere wäre zu risikovoll gewesen.

Aleitha setzte sich vor Saren und lehnte sich gegen ihren Oberkörper. Saren umarmte ihre Schwester von hinten, während ihre Gedanken rasten.

Wie teuer würde es sein, um eine Nachricht zu dieser Chaidra zu schicken? Doch sie wusste nicht, wo sich diese Frau aufhielt und sie konnte sich auch nicht mehr an den Namen der Stadt erinnern, wo angeblich nur Frauen mit dergleichen Gabe wie Aleitha lebten. Wohin sollte sie also eine Nachricht schicken. Eine andere Möglichkeit wäre einen dieser Tempel aufzusuchen, von denen diese Todwächterin gesprochen hatte und dort mit den Frauen zu reden. Diese würden bestimmt einen Weg wissen, um Aleitha zu diesem besonderen Ort zu bringen.

Wenn dies jedoch geschah, dann würde Saren sich von ihrer Schwester verabschieden müssen. Dieser Gedanke verursachte Saren Schmerzen, denn bisher hatten sie immer zusammen gelebt. Saren hatte immer auf Aleitha aufgepasst und sie waren eine Familie. Wie sollte ihr Leben aussehen, wenn Aleitha nicht mehr da war? Wenn ihre Schwester nicht mehr ihren Schutz brauchte.

Saren war sich sicher, dass es Aleitha in diesen Ort gut gehen würde. Wie würde unter Ihresgleichen bleiben und konnte endlich anfangen richtig zu leben. Chaidra hatte gemeint, dass Aleitha dann lernen könnte, mit ihrer Gabe umzugehen und würde dieser dann nicht hilflos ausgesetzt sein. Mit anderen Worten, wenn Saren ihrer Schwester helfen wollte, dann musste sie dafür sorgen, dass Aleitha zu diesem Ort gelangen würde. Auch wenn es bedeutete, dass sie danach allein sein würde.

Ich könnte dann ja nach Ferren zurückkommen, doch warum sollte ich es?

Mit diesen Gedanken hatte Saren schon gespielt, doch wie gut würde sie sich an einen Ort fühlen, der sie an ihrer Schwester erinnerte. Vielleicht sollte sie sich einen anderen suchen, doch wovon sollte sie dann leben?

„Saren?“

Die fragende Stimme ihrer Schwester riss Saren aus den Gedanken und sie blickte zu ihr runter.

„Ja,`leitha? Was ist?“

Aleitha drückte ihren Kopf gegen Sarens Oberkörper. „Wir bleiben immer zusammen, nicht wahr?“

Abermals stieg in Saren ein schlechtes Gewissen auf, denn sie wusste, dass es nicht so kommen würde. Dennoch nickte sie. Sie wollte nicht, dass ihre Schwester sich zu große Sorgen machte. „Ja, Schwesterchen. Wir werden zusammenbleiben. Du bist meine kleine Schwester und ich werde auf dich aufpassen. Komme, was da wolle.“

Und genau dass würde Saren auch machen. Auch wenn es bedeutete, dass sie den ersten Teil ihres Versprechen nicht halten konnte. Wichtiger war, dass es Aleitha gut ging. Und würde nur geschehen, wenn sie unter Ihresgleichen war. Da konnte Saren sicher sein, dass ihre Schwester in Sicherheit war. Vor allen jetzt, da Saren sich nicht sicher ist, was mit ihr passierte.

Sie schloss die Augen.

Heute Morgen hatte sie wieder so einen Anfall gehabt. Dieses Mal hatte es nicht zu lange gedauert, doch dafür hatte sie etwas gesehen, dass sie verunsichert hatte. Sie hatte sich selber, jedoch älter gesehen und sich mit zwei Personen gestritten. Zwei Personen, die sie nicht kannte und sich dennoch zu ihnen hingezogen fühlte. Wer waren diese beiden? Und stimmte es, worum es in den Streit ging?

Die anderen beiden haben Saren Vorwürfe gemacht und gesagt, dass sie irgendeine andere Person getötet hätte und nun die Konsequenzen spüren würde. Konsequenzen, die nicht nur Saren, sondern auch die beiden anderen Personen betreffen würden.

Saren hatte Angst. Sie wusste nicht, ob sie wirklich nur träumte. Doch wenn nicht, was würde es dann bedeuten? „Saren?“

Abermals ertönte die Stimme ihrer Schwester und riss Saren aus ihren Überlegungen. Sie öffnete die Augen.

„Ja?“

„Was meinst du? Ist Aram schon Vater?“

Diese Frage überraschte Saren und sie riss die Augen auf. Dann dachte sie nach und sah vor ihren inneren Augen den Jäger und seine Frau. Sie musste unwillkürlich lächeln und nickte.

„Ich bin da sicher. Nana hatte ja gemeint, dass Marien kurz vor der Geburt stand und seit unserem Weggang ist ja schon Zeit vergangen. Ja, ich denke, dass Aram und Marien mittlerweile Eltern geworden sind.“

Ein Lächeln erschien auf Aleithas Gesicht, doch ihre Augen waren traurig. „Was meinst du? Ob es ein Junge oder eher ein Mädchen ist?“

Sarens Lächeln wurde noch intensiver. „Weis ich nicht, aber ich weis, dass Aram sich einen Jungen gewünscht hatte. Also würde ich sagen, dass sie einen bekommen haben.“

Wie erhofft, lachte Aleitha leise auf. „Nur weil er es wollte, heißt es doch nicht, dass er auch einen bekommen hat. Ich meine … unser Papa hatte sich auch beide Male einen Sohn gewünscht und du siehst ja, was daraus geworden ist.“

Ein Stich durchfuhr Saren, als Aleitha von ihrem Vater sprach, doch ignorierte es. Sie behielt ihr Lächeln. „Stimmt, aber Mutter wollte Töchter haben … und da ihr Wunsch wohl stärker war, hat sich ihrer erfüllt.“

„Was hast du dir gewünscht, als sie dir gesagt haben, dass du ein Geschwisterchen bekommst. Einen Bruder oder eine Schwester?“

Die Frage ist nicht fair!

Saren strich ihrer Schwester über das Haar. „Keine Ahnung. Weis ich nicht mehr. Ich weis nur, dass ich aufgeregt war und alles andere war glaube unwichtig.“

Ihre Schwester kicherte leise.

Saren schloss abermals die Augen und dachte an die Zeit zurück, wo es hieß, sie würde eine Schwester bekommen. Sie war damals erst vier gewesen, doch hatte schnell verstanden, was ihre Eltern gemeint hatten. Von da an konnte sie es nicht abwarten, denn sie kannte im Dorf von anderer Familie, was es hieß ein Geschwisterchen zu haben. Also hatte sie jeden Tag ihre Mutter gefragt, wann es soweit sein würde und ihre Mutter hatte lachend gemeint, dass es nicht so schnell. Doch warum nicht? Saren hatte es damals nicht verstehen können und je länger sie warten musste, desto mürrischer wurde sie. Dann jedoch war es soweit gewesen! Die Dorfheilerin Nanareia war früh im Haus erschien und hatte sowohl Saren als auch ihren Vater aus dem Haus geschickt. Noch bevor ihr Vater sie raustragen konnte, hatte Saren die Schreie ihrer Mutter gehört und sich große Sorgen gemacht. Ihr Vater hatte sie in dem Wald getragen und gemeint, dass sie Beeren sammeln sollten, damit sie ihrer Mutter eine Freude machen konnten, wenn es überstanden war. Saren war davon nicht begeistert gewesen. Sie wollte bei ihrer Mutter sein und endlich ihr neues Geschwisterchen haben. Später waren sie dann zurückgegangen, nachdem ein Mann aus dem Dorf sie im Wald gefunden hatte und Saren hatte zum ersten Mal ihre kleine Schwester gesehen. Noch am selben Tag hatte sie ihrer Mutter ernst versprochen, dass sie auf Aleitha aufpassen würde. Egal, was passieren würde.

Und daran hatte sie sich ihr ganzes Leben gehalten. Saren öffnete ihre Augen und spürte, dass Tränen über ihre Wangen liefen. Sie vermisste ihre Eltern. Ihre Mutter, die immer fröhlich war und ihr etwas zu naschen gegeben hatte, wenn gebacken hatte. Ihr Vater, der zwar manchmal streng schaute, doch dann immer wieder leise auflachte und nie lange böse auf seine älteste Tochter sein konnte. Damals hatte Saren nie daran gedacht, was passieren könnte. Und als es passiert war, waren Aleitha und sie alleine gewesen und Saren erinnerte sich an das Versprechen, dass sie ihrer Mutter gegeben hatte.

Sie würde auf Aleitha aufpassen und für sie da sein.

Einfach war es die letzten vier Jahre nie gewesen, doch die Dorfbewohner haben geholfen und in Saren war Verantwortungsbewusstsein entstanden. Sie kümmerte sich um alles. Um das Haus, um den Garten, darum, dass immer genügend Essen und im Winter ausreichend Holz da war. Und sie hatte es mit Freuden getan.

Ein leichtes Lächeln erschien wieder auf ihrem Gesicht.

Sie hatte sich gefreut, wenn Aleitha über jede Kleinigkeit erfreut war. Und wenn Aleitha glücklich war, dann war es auch Saren. Doch dann passierte dies mit Aleithas Gabe und alles wurde schwieriger. Saren musste sich plötzlich nicht mehr darum kümmern, dass ihre Schwester alles Materielle besaß, sondern nicht unter den Druck ihrer Gabe zusammenbrach. Es war schwierig gewesen und manchmal hatte Saren nicht gewusst, was sie unternehmen sollte.

Und nun ist es alles noch schlimmer geworden. Jemand will sie töten. Wir sind auf der Flucht und ich verändere mich.

Plötzlich fühlte sich Saren einsam und nicht der Verantwortung gewachsen. Sie hätte sie denken können, dass sie damit fertig werden würde? Sie konnte es nicht alleine schaffen und deswegen musste sie ihre kleine Schwester zu dem besagten Ort bringen. Auch wenn es ihr innerlich schmerzte, doch dies war einfach das Beste. Das Beste für Aleitha.

Saren öffnete ihre Augen wieder und sah zu ihrer Schwester runter. Konnte die Spuren erkennen, die diese Flucht mit sich brachte und ihr Entschluss wurde fester. Sie würde nicht alleine ihre Schwester beschützen können. Nein, sie musste sie dorthin bringen, wo es auch diese Chaidra wollte.

Sie strich ihrer Schwester durch das Haar, welche daraufhin zu ihr blickte. In ihren Augen standen Fragen, Sorge und Hoffnung.

Saren lächelte sie an.

„Weist du was, Aleitha? Wir werden herausfinden, was Aram bekommen hat: einen Jungen oder ein Mädchen. Und ich sage dir, dass es ein Junge ist!“

Aleitha lächelte wieder. „Woher willst du das wissen? Siehst du neuerdings in die Zukunft? Aber wenn du sagt, dass es ein Junge ist, dann sage ich, dass es ein Mädchen ist.“

Saren schnaubte. „Ach ja … gut, wenn du recht hast, werde ich dir zwei Kupfer geben.“

Das Lächeln in Aleitha wurde größer und sie kuschelte sich an ihre Schwester. „Ich würde es gerne sehen. Arams und Mariens Kind. Es ist bestimmt hübsch … genauso sie Marien.“

„Wär ich mir nicht so sicher“, sagte Saren leise. „Mutter sah auch schön aus, doch du warst hässlich!“

„Saren!“

Aleitha drehte sich halb um und schlug sie leicht gegen die Brust. Empörung stand in ihren Blick, doch Saren lachte laut auf. Ihr kam die jetzige Situation unwirklich vor. Wie konnten sie beide sich über so etwas unterhalten, während sie wussten, dass sie verfolgt wurden.

Vielleicht ist es gut, dass Aleitha auf diese Pause bestanden und dieses Gespräch um Arams Kind begonnen hat. So denkt sie nicht über andere Dinge nach.

„Ich war nicht hässlich“, sagte Aleitha und funkelte ihre Schwester wütend an. Diese nahm mit Freude wahr, dass die Sorge und Angst in Aleithas Augen verschwunden war. „Doch“, behauptete Saren und grinste breit. „Du sahst aus wie ein Schwein, das man in eine Decke gewickelt hatte.“

Ihr Lachen wurde lauter und Aleitha schlug sie abermals leicht. Doch auch sie begann zu lachen. Saren strich ihrer Schwester wieder über dem Kopf und reizte sie dann noch mehr, indem sie noch andere Vergleiche aufstellte. Für einen Moment war der Schmerz vergessen, die Angst und die Ungewissheit. Etwas, dass sehr erleichtern war und beide dringend gebraucht hatten.

 

Kapitel Siebenundvierzig

 Thanai`s Vorwürfe

 

Was geschehen ist, ist geschehen. Dies kann man nicht ändern und man muss damit leben. Doch, was geschehen wird, dass ist in unseren Möglichkeiten, dies zu beeinflussen!

 

Rae Zhajà Sharren El`Sent,

Hohe Mutter,

Sommer im Jahre 107 vor dem Nebel

 

In dem Dorf drei ordentliche Pferde zu bekommen hatte sich als schwieriger herausgestellt, als Zhanaile sich vorgestellt hatte. Sie musste sich insgesamt siebzehn Tiere ansehen, ehe sie welche gefunden hat, die ihr zugesagt haben. Die meisten der Pferde waren Zugtiere gewesen, doch dieses Mal hatten sie sich darauf geeinigt, keinen neuen Wagen zu kaufen, da sie ohne schneller vorankommen würden.

Nachdem die Wasserwächterin zwei Stuten und ein Wallach gekauft hatte, war sie wieder ins Gasthaus gekommen und war innerlich froh, als sie bemerkte, dass ihre beiden Freundinnen in ihrer Abwesentheit mal nicht gestritten hatten. Doch diese Freude währte nur kurz, denn Zhanaile spürte deutlich, dass Thanai in düsteren Gedanken versunken war. Die Luftwächterin hatte seit ihrem Weggang von dem Dreibogen kein einziges Wort mehr gesagt und darüber machte sich Zhanaile sorgen.

Sie setzte sich zu dem Tisch, der neben dem Kamin stand und bestellte sich einen heißen Früchtetee, während sie ihre Freundin genau betrachtete.

Thanai machte sich Vorwürfe und Zhanaile konnte sich auch vorstellen, worüber. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Reisender in einem Dreibogen verschwunden wäre und die Luftwächterin fühlte sich für das beinahige Verschwinden des Mädchens verantwortlich. Was verständlich und auch gleichzeitig irrsinnig war. Akara hatte Recht gehabt, als sie meinte, dass dies eine Gefahr war, mit der man rechnen musste. Es war also nicht in Ordnung, dass sich ihre Freundin nun selbst verdammte.

„Thanai?“

Die Luftwächterin sah bei ihren Namen auf und Zhanaile zuckte bei den innerlichen Vorwürfen der Frau zusammen. Sie seufzte.

„Hör auf damit, Thanai“, sagte sie leise und bemerkte, dass Akara sie mit hochgezogenem Augen ansah, doch sie beachtete die Feuerwächterin nicht. „Es ist nichts Weiteres passiert und du hättest es auch nicht ändern können. Sich jetzt Vorwürfe zu machen, würde doch niemanden etwas nützen. Dem Kind geht es gut und es werden keine bleibenden Schäden zurückbleiben. Sieh dir Akara an, ihr ist es auch schon einmal passiert und es geht ihr gut.“

Thanai warf einen langen Blick zu der Feuerwächterin, diese grinste leicht.

„Naja … vielleicht war ja diese Situation daran schuld, dass ich so eine Nervensäge geworden bin“, sagte Akara in den Versuch ihre Freundin aufzuheitern und es gelang ihr tatsächlich, ein Lächeln von Thanai zu entlocken. „Doch ich bin zu fein, dies als Ausrede zu nutzen.“

Zhanaile schüttelte den Kopf. Dies half ja nun wirklich nicht dabei zu sorgen, dass Thanai aufhören würde, sich vor Selbstmitleid zu zerfleischen. Sie wandte sich von Akara ab und sah stattdessen genau zu der Luftwächterin.

„Wir alle haben zugestimmt, dass Nolwine mitkommt und deswegen wäre es auch unser aller Schuld gewesen. Ich weis, dass du dich für das Kind verantwortlich fühlst, doch du darfst dich deswegen nicht selber verdammen. Denk doch auch an das Mädchen. Es war so verängstigt und verwirrt, dass es den ganzen Tag schon in ihr Zimmer ist. Du solltest du ihr gehen und mit ihr reden. Mach ihr verständlich, dass es immer Risiken gibt, doch dass sie sich jetzt keine Sorgen mehr machen muss.“

Thanai seufzte und sah zu der Tür, wo dahinter sich der Flur mit den Gästezimmern befand. „Ich weis nicht, ob ich das kann, Zhanaile. Für Nolwine ist das alles noch sehr neu und ich habe ihr versprochen, dass ich auf sie aufpassen würde. Dass sie sicherer bei mir wäre und nun hätte ich sie durch meine Entscheidung fast getötet.“

„Dass kann ich immer passieren und darauf hast du keinen Einfluss, Thanai“, meinte Akara und spielte mit ihrem leeren Becher. Es war ihr anzusehen, dass sie mit dem Gedanken spielte, dieses Mal etwas Alkoholisches zu bestellen, doch irgendetwas hielt sie davon ab. „Doch in einem hat Fischlein recht. Das Kind ist so durcheinander, dass es gerade jetzt jemanden braucht, an dem sie sich wenden kann. Während der Reise hierhe, hat sie immer wieder zu dir gesehen und gehofft, dass du etwas sagen würdest, doch du bist stur geradeaus gegangen und hast dich mit selbstverdammenden Gedanken beschäftigt.“

Die Luftwächterin sah abermals zu der Tür. „Vielleicht hast du recht, Akara, doch was soll ich denn ihr sagen. Dass es mir leidtut, dass ich sie fast getötet hätte oder …“

Ein Schlag auf dem Tisch ließ Thanai verstummen und das Holz wackeln. „Es war nicht deine Schuld! Du hast es ja nicht mit Absicht getan. Und wenn, dann wäre es wie Fischlein schon gesagt hat, auch unsere Schuld mit gewesen, da wir zugestimmt haben. Doch ich muss zugeben, dass selbst ich nicht mehr daran gedacht hatte, dass so etwas passieren könnte. Wir nutzen die Dreibögen so oft, dass wir nicht immer die Gefahr sehen, die dabei existiert. Und dennoch haben wir manchmal keine andere Wahl. Wir hätten natürlich auch den ganze Weg reisen können, doch für hätten wir die Wüste überqueren müssen, doch Ardask wird jetzt heimgesucht!“ Akara kniff die Augen zusammen. „Was mich wieder zu der Frage bringt, warum unsere Schwestern in dem Land sich nicht darum kümmern. Hat da eigentlich etwas in dem Brief dazu gestanden?“

Thanai schüttelte den Kopf. „Nein … nur, dass wir uns dort umschauen sollten. Ich glaube, dass auch unseren Schwestern dort etwas passiert ist, doch dies ist nur so ein Gefühl.“

„Nur so ein Gefühl. Soso“, sagte Akara und lehnte sich in ihren Stuhl zurück. „Wenn ich all die Jahre etwas gelernt habe, dann, dass es nicht nur so ein Gefühl gibt, wenn eine Luftwächterin dies sagt. Dass man es ernst nehmen muss und dies wiederum ist ein weiterer Grund, warum wir den Bogen nutzen mussten. Wenn unsere Schwestern in Gefahr sind, dann müssen wir es schnell erfahren.“ Sie begann, auf dem Tisch zu klopfen. „Und außerdem ist es so, dass auch die anderen mit den Bögen hierherreisen müssen und auch sie tragen dabei das Risiko. Selbst wenn es kein Verlust wäre, wenn Granit einfach verschwinden würde“, fügte sie leise hinzu.

Bei diesen Worten hob Zhanaile die Augenbrauen und fragte sich, was nun wieder das Problem war. Sie wusste, dass Akara die Erdwächterin Ordaine Horren nicht leiden konnte, doch dies war selbst für die junge Frau etwas zu übertrieben.

Das kann ja noch heiter werden.

Während Zhanaile fragend aussah, warf Thanai abermals einen Blick zu der Tür und seufzte dann. Sie erhob sich.

„Ich fürchte, ihr habt recht. Ich sollte wirklich mit dem Kind reden und darauf hoffe, dass es nicht allzu verängstigt ist. Und mir keine Vorwürfe macht.“

„Das glaube ich auch nicht, Lüftchen. Sie hat Angst, ist aber bestimmt nicht soweit, dass sie irgendjemand direkte Vorwürfe macht. Rede mit ihr und dann wird alles besser werden.“

Manchmal kann Akara sogar richtig mitfühlend sein, fuhr es Zhanaile durch den Kopf und sie lächelte leicht. Sie wandte sich ihrem Tee zu und schloss die Augen. Sie hielt die Tasse vor ihrer Nase und sog den Duft ein, während sie über ihre weitere Reise nachdachte. Wenn sie ehrlich zu sich selber war, dann gefiel es ihr auch nicht, dass sie nun diesen neuen Auftrag bekommen hatte. Sie sehnte sich nach Vraishain und wusste, dass es noch lange dauern würde, ehe sie zum Wasserhort zurückreisen konnte. Dies verursachte ein trauriges Gefühl in ihr. Sie sehnte sich nach Wasser, und zwar einem Gewässer. Sie wollte in der Nähe eines Sees oder auch Flusses sein, um wieder richtig zur Ruhe kommen zu können, doch dies war ihr leider nicht erlaubt. Sie öffnete ihre Augen wieder und wollte einen Schluck nehmen, als plötzlich Thanai wieder an ihrem Tisch stand. Sie sah besorgt aus.

„Habt ihr Nolwine gesehen? Sie ist nicht in ihr Zimmer.“

Dies überraschte Zhanaile, und sie schüttelte den Kopf. Sie hatte fest damit gerechnet, dass das Kind sich in ihrem Zimmer aufhielt. Wo sollte sie denn sonst sein?

„Das war ja nur eine Frage der Zeit, ehe dies passieren würde“, murmelte Akara und erhob sich.

„Was soll das heißen“, fuhr Thanai die Feuerwächterin an und sah immer besorgter aus. „Weist du, wo sie sich aufhält?“

Akara schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich habe mir schon gedacht, dass sie früher oder später wegrennen würde.“ Sie sah zu Thanai. „Sie ist eine angehende Erleuchtete gewesen. Glaubst du wirklich, dass sie ihre Zweifel weggeräumt hatte, nur weil ihr ein paar Gespräche miteinander gehabt hattet? Ich nehme an, dass ihre Zweifel wieder sehr stark geworden sind und sie hat sich von ihnen wegreißen lassen.“

Die Luftwächterin starrte ihre Freundin mit weit aufgerissenen Augen an und versuchte das zu verstehen, was Akara gerade gesagt hatte. Dann trat Verstehen in ihren Blick.

„Du meinst sie …“

Akara nickte. „Ja, sie hat wohl das Dorf verlassen und ist irgendwohin auf der Flucht. Auf der Flucht vor uns.“

Nun begann auch Zhanaile zu begreifen, was Akara damit sagen wollte. Sie stellte ihre Tasse wieder ab und erhob sich. Müdigkeit machte sich in ihr breit, doch sie ignorierte diese. „Dann sollten wir versuchen, sie so schnell wie möglich zu finden.“

Thanai nickte. „Unbedingt! Wir haben keine Ahnung, ob sich in der Nähe Schatten aufhalten. Wer weis, ob …“

„Wir werden sie schon finden, Lüftchen! Und in der Umgebung sind keine, da kann ich dich beruhigen“, unterbrach Akara und nahm ihren Umhang, der auf ihrer Stuhllehne gelegt hatte. Sie warf ihn sich um die Schulter. „Ich sehe mir mal ihr Zimmer an.“

Zhanaile und Thanai folgten der Feuerwächterin, die sich im leeren Zimmer des Mädchens umschaut. Dabei fiel ihr Blick immer wieder auf das offene Fenster. Sie nickte zu sich selber. „Ja … damit war zu rechnen gewesen. Sie hat das Fenster genommen“, sagte sie und kletterte dann selber hinaus, wo sie draußen den Boden intensiv betrachtete. „Sie ist in Richtung Westen gegangen.“

Kurz darauf die drei Wächterinnen zusammen mit vier Pferden unterwegs.

Hoffentlich wird die Suche nicht allzu lange dauern. Zhanaile warf einen Blick zu der Luftwächterin, die immer noch blass aussah. Und hoffentlich geht es dem Kind gut.

 

Kapitel Achtundvierzig

Schattenärger

 

Schatten sind hinterhältige Wesen. Sie denken nur die Zerstörung und dafür ist ihnen jedes Mittel recht.

 

Rae Vashà Seranin Xaor,

Lohe,

Sommer im Jahre 2591

 

Drei Tage waren vergangen, seitdem Saren eingesehen hatte, dass sie in ihrer Flucht regelmäßig Pausen einlegen musste und sie nur so verhindern konnte, dass ihre Schwester sich allzu große Sorgen machte. Es war keine einschneidende Änderung, denn so konnte sie sich selber ausruhen. Ihre Schwester hatte recht, das es ihr immer schlechter ging und dass diese Anfälle ihr nicht gerade halfen. Zwar gefiel es Saren nicht, dass sie es zugeben musste, doch es war immer noch besser, als wenn irgendwann vollkommen zusammenbrechen und ihre Schwester hilflos zurücklassen würde.

Manchmal, wenn sie Aleitha beim Laufen beobachtete, kam in ihr der Gedanke auf, dass sie ihrer Schwester vielleicht von den Dingen erzählen sollte, die sie sah, doch dann wurde sie wieder unsicher. Sie konnte nicht erklären, was passiert und würde nur erreichen, dass sich ihre Schwester viel zu große Sorgen machte. Noch Größere, als sie es jetzt schon tat. Dennoch war Saren klar, dass Unwissen auch schädlich sein konnte. Schädlich dahingegen, dass Aleitha falsche Entschlüsse fällen konnte.

Hin und hergerissen betrachtete dann Saren ihre Schwester und versuchte die richtige Lösung zu finden. Bisher jedoch ist sie ihr noch nicht eingefallen.

Sie gingen immer noch in Richtung Norden, obwohl sich die Umgebung nicht geändert hatte. Sie waren immer noch in einem Wald und es gab keine Anzeichen, dass es sich ändern würde. Noch ein-zwei Tage, dann wären auch die Vorräte, die sie den Verfolgern abgenommen hatte, aufgebraucht und dann wusste Saren nicht, was dann passieren würde. Immer wieder sah sie sich um, doch in den Wald konnte sie keine Beeren, keine Pilze oder etwas anderes essbares finden. Einmal hatte sie versucht mit der Armbrust einen Vogel zu erledigen, doch sie viel zu lange gebraucht, um diese Waffe zu spannen und als sie endlich gespannt war, war ihre Beute schon weg gewesen. Dennoch übte Saren jeden Abend, ehe sie schlafen ging, die Armbrust zu spannen und auch abzuschießen. Doch ob es je schaffen würde, etwas zu erlegen, war ungewiss. Es gab einen Unterschied, ob sie einen bewegungslosen Baum traf, oder ein bewegendes Tier treffen musste.

Saren spürte das Gewicht der Armbrust auf ihrer linken Schulter, doch sie konnte diese nicht auf die rechte wechseln, denn diese schmerzte immer mehr. Es war so, als würde sie brennen … als würde sie glühend heiß sein und Saren konnte nichts dagegen unternehmen. Zwar half Aleitha ihr dabei, die Verbände zu wechseln und die Wunde immer wieder auszuwaschen, doch dies schien nicht wirklich zu helfen.

Sie biss die Zähne zusammen, als der Schmerz größer wurde, und fluchte innerlich. Mittlerweile hatte sie ein Teil des Gepäcks Aleithe geben müssen, doch noch mehr wollte sie ihre Schwester nicht aufbürden. Diese trug zwar das zusätzliche Gewicht ohne sich zu beschweren, doch Saren erkannte, dass es ihr schwer fiel.

Noch vor drei Tagen ging es ihr so gut und nun dies. Dabei wird unser Gepäck doch weniger, weil uns das Essen ausgeht … dennoch sollte ich vielleicht doch andere Dinge raussuchen, die hier einfach hierlassen. Dinge, die uns sowieso kaum nutzten.

Eine gute Idee und Saren hatte sich schon gestern das Gepäck angeschaut, doch immer einen Grund gefunden, warum sie etwas behalten mussten.

Ich muss konsequenter sein!

Saren sah nach vorne und erkannte, dass Aleitha einen Baum betrachtete. Dass ihre jüngere Schwester nun meisten vorging, gefiel Saren nicht, doch das war ein irrsinniges Gefühl. Wenn die Verfolger aufholen würden, dann würden sie von hinten kommen. Also war es für Aleitha sicherer, wenn sie vorging und Saren den Schluss bildete. Doch sie waren in einem unbekannten Gebiet. Niemand konnte sagen, wann eine Gefahr auftauchte. Wie etwa wilde Tiere, fremde Personen oder diese seltsamen Wesen, diese Schatten. Dennoch konnte Saren nicht überall gleichzeitig sein und das wusste sie. Demzufolge war es egal, ob Aleitha vorne oder hinten ging, denn Gefahr lauerte überall.

Als für einen Moment der Schmerz in Sarens Schulter unerträglich wurde, blieb sie stehen und atmete tief durch. Sie war versucht, ihren Rucksack auf dem Boden gleiten zu lassen und sich für einen Herzschlag aufzuruhen, doch sie tat es nicht. Sie wusste, dass wenn sie jetzt eine Pause machte, dann würde es für sie noch schwerer werden, wieder loszulaufen.

Saren atmete noch einmal tief ein und aus, ehe sie ihre Zähne zusammenbiss und weiterging.

Ein Schritt nach dem anderen. Ein Schritt nach dem anderen.

Es tat gut, nur daran zu denken und den eigenen Gedanken auch Folge leisten zu müssen. Keine anderen Sinnesaufnahmen beachten und nur auf dem Boden zu blicken, um nicht zu stolpern.

Ein Schritt nach dem anderen. Ein Schr…

Plötzlich merkte Saren, dass ihre Schwester immer noch vor dem Baum stand und diesen betrachtete. Sie runzelte die Stirn und trat an Aleithas Seite. Ihr Blick fiel auf dem Stamm des Baumes und ihr Gesicht wurde weiß.

Inmitten des Stammes gab es vier große Rillen, die wie Kratzspuren aussahen. Doch was für ein Tier, konnte solche verursachen? Saren hatte noch nie von so eines gehört. Vorsichtig berührte sie die Spur und die Kälte in ihr wurde größer. Sie sah sich um, während ihre Gedanken rasten.

Irgendetwas hatte diese Spur hier hinterlassen. Was das Tier noch in der Nähe? War es überhaupt ein Tier? Es konnte immerhin auch so ein Schatten sein.

An einen Baum, der etwas entfernt stand, konnte Saren ebenfalls so eine Spur erkennen und sie wurde noch bleicher. Angst stieg in ihr auf. Angst um ihre Schwester. Vergessen waren die Schmerzen, das Gewicht und die zerrütteten Gedanken. Zurück blieb nur die Angst.

„Saren? Was könnte so etwas verursacht haben?“

Aleitha sah sie fragend an und ein ängstlicher Ausdruck stieg in ihrem Gesicht. Sie schien zu merken, dass egal, was für die Spur verantwortlich war, sehr gefährlich war.

Saren sah ihre Schwester an und wollte schon mit den Schultern zucken, doch der Schmerz in ihrer rechten verhinderte dies, sodass sie es unterließ. Stattdessen sah ihr Gesicht ratlos aus. „Ich weis es nicht … vielleicht ein Bär oder …“ Sie brach ab. Ein Bär? Beinahe hätte sie laut aufgelacht. Sie glaubte nicht daran, dass es sich um einen Bären handelte und auch nicht daran, dass es ein anderen normales Tier gewesen war. Sollte es also heißen, dass es sich um Schatten handelte. Um diese Wesen, die so gefährlich waren und von denen sie eigentlich nichts wissen konnte. Und dennoch das Wissen über sie besaß, wie man gegen sie kämpfte?

Ein Schaudern befiel Saren und sie sah, dass in der Nähe noch ein dritter Baum stand, der solche Spuren zeigte. Sie schluckte und vergessen war ihre Müdigkeit.

„`leitha. Wir sollten so schnell wie möglich diese Gegend verlassen. Mir gefällt es hier überhaupt nicht.“

Ihre Schwester stimmte nickend zu und sah sich dabei ängstlich um. Der Gedanke, dass sich das Wesen immer noch in der Nähe aufhielt, schien also nicht nur Saren zu beunruhigen.

Saren packte den Arm ihrer Schwester und zog sie mit sich.

„Komm… wir gehen. Jetzt!“

Mit schnellen Schritten lief Saren los und zerrte ihre Schwester hinter sich her. Dabei achtete sie darauf, dass sie sich von dem Bäumen entfernte und sie in der Nähe keine anderen Spuren entdecken konnte. Sie wurde schneller und war froh, dass auch endlich Aleitha den Ernst der Lage erkannt hatte. Auch sie wurde schneller und Saren konnte ihre Schwester loslassen.

Gemeinsam verließen sie diesen Ort.

 

„Chaidra … hinter dir“, ertönte Kadalins Stimme und die Todwächterin sah über ihre Schulter. Daraufhin ließ sie sich auf dem Boden fallen und konnte über sich den Lufthauch einer Kralle spüren. Ihr Herz klopfte heftig und sie wollte schon ihren Stab hochreißen, als ihr Bruder über ihr erschien und den Schatten mit seinem Schwert aufspießte. Dieser schrie auf und verschwand.

„Mir gefällt das hier überhaupt nicht“, ertönte eine Stimme neben Chaidra und sie wandte ihren Kopf.

Thanjata hielt einen Dolch in den Händen, und ihre Augen schienen zu leuchten. Sie sprang einen Schatten an und rammte ihn ihre Waffen in den Kopf, ehe sie vor einem zweiten Schatten zurückwich und diesen eine ihrer beiden Zeitschwestern überließ.

Chaidra musste der Frau zustimmen. In den vier Tagen sind immer wieder Schatten aufgetaucht und verhinderten so, dass sie schneller vorankommen. Sie verloren immer mehr Zeit, da sie gegen diese Wesen kämpfen musste und dies verärgerte die Todwächterin sehr. Etwas in ihr sagte, dass sie sich beeilen und die Kinder endlich finden sollten, doch wie sollte dies ihr gelingen, wenn sie immer wieder angegriffen wurden?

„Chaidra … rechts neben dir“, rief Kadalin und Chaidra unterbrach ihre Gedanken. Jetzt war keine Zeit, darüber nachzudenken. Jetzt musste sie sich verteidigen. Chaidra riss den Stab hoch und rammte ihn nach rechts. Sie hörte das Keuchen eines Schattens, als ihre Waffe auf etwas traf, und verstärkte ihren Druck. Dann wirbelte sie herum, holte mit dem Stab auf und schmetterte ihn auf dem Kopf ihres Gegners. Dieser brach mit einem knacksenden Geräusch.

Währenddessen stürzte sich ihr Bruder auf einem anderen Schatten und schwang dabei sein Schwert.

Das dauert hier viel zu lange!

Chaidra rammte den Stab vor sich in den Boden und atmete tief durch. Es war etwas Gefährliches, was sie vorhatte und dennoch sagte eine Stimme in ihr, dass sie nicht noch mehr Zeit verlieren durften. Sie holte tief Luft und konzentrierte sich auf die Stränge des Gleichgewichtes in ihrer Umgebung.

Als hätte jemand die Stränge des Todes angemalt, wurden sie für Chaidra sichtbar und sie erkannte, dass im jeden Lebewesen der Umgebung solche vorhanden waren. In jungen Pflanzen waren sie kaum zu sehen, doch je älter ein Lebewesen war, desto mehr und deutlicher waren die Stränge zu erkennen. Auch in ihren Begleiterinnen konnte Chaidra die Stränge des Todes vernehmen, doch sie waren nur schwach vorhanden. Was bedeutete, dass weder ihr Bruder, noch eine der Zeitwächterinnen heute sterben würde. Ein sehr beruhigender Gedanke für Chaidra.

Sie sah alle Stränge an und konzentrierte sich auf die, die sich in der Nähe der Schatten befand. Sie ergriff diese geistlich, fühlte sich so, als würde sie an allen Orten gleichzeitig sein und riss an diese Stränge. Gleichzeitig jedoch schob sie die Kraft ihres inneren Gleichgewichtes in die der anderen Stränge und fühlte sich noch mehr mit diesen verbunden. Sie richtete ihren Blick auf eine Gruppe von Schatten, die aus einem Dickicht hervorgesprungen kamen, und riss abermals an den Todsträngen, die dort in der Nähe waren. Sofort lösten sich die Schatten ohne einen laut auf. Schmerz erschien in Chaidra, denn jedes Eingreifen in den Strängen, hatte einen Preis. Doch sie biss die Zähne zusammen und vernichtete einen anderen Schatten, der auf dem Rücken ihres Bruders springen wollte. Auch er löste sich auf.

Nach und nach aktivierte Chaidra die Todesstränge in den Schatten und riss sie in die Vernichtung. Schatten lösten sich auf, wenn sie starben, denn sie gehörten nicht in diese Welt und waren kein Teil des Gleichgewichtes. Aus diesem Grund befanden sich einige Herzschläge später keine Schatten mehr in ihrer Umgebung. Sie alle waren vernichtet worden und das viel schneller, als bei einem normalen Kampf.

Chaidra stöhnte auf, als der Schmerz in ihr heftiger wurde und sofort war Kadalin an ihrer Seite. Er sah sie besorgt an und stützte sie. Doch neben Sorge stand auch Vorwurf in seinen Augen.

Sie lächelte.

Mein lieber Kadalin. Immer darauf bedacht, dass es mir gut geht.

Während die Zeitwächterinnen sich immer noch umschauten, ob Chaidra nicht doch irgendwo einen Schatten übersehen hatte, begleitete Kadalin seine Schwester zu ihrem Pferd. Dann holte er einen Trinkschlauch hervor und reichte ihn Chaidra.

Chaidra murmelte einen Dank und trank einen großen Schluck. Der Schmerz in ihr wurde dumpfer, doch er würde noch lange andauern. Sie sah sich um und vergewisserte sich, dass die Todstränge wieder normal waren und das Gleichgewicht nicht gestört war.

„Ich danke ihnen, Rae Zhajà Chaidra“, sprach Thanjata, die plötzlich an Chaidras Seite war und sie betrachtete. Ohr Blick war wissend und mitfühlend. Jede Wächterin wusste, dass das Eingreifen in das Gleichgewicht einen Preis hatte. Chaidra gehörte zwar nicht zu den schwächsten Todeswächterinnen, leider jedoch auch nicht zu den stärksten. Dennoch sagte ihr Gefühl immer noch, dass sie keine weitere Zeit verlieren durften.

Dass sie nicht noch mehr Zeit verlieren durften, schien auch Thanjata bewusst zu sein, denn sie scheute ihre Zeitschwestern auf die Pferde und wollte auch Chaidra bei dem Aufsteigen helfen, doch da kam ihr Kadalin hervor.

Ihr Bruder ergriff Chaidra um die Taille und hob sie mühelos auf das Pferd. Chaidra warf Kadalin daraufhin einen wütenden Blick zu, doch dieser grinste sie nur an, ehe er sich selbst auf den Sattel schwang.

Dann ritten sie alle fünf los und ließen den Ort des Angriffes hinter sich.

 

Je weiter sie sich von dem Ort mit der seltsamen Spur entfernten, desto ruhiger wurde Aleitha und sie wollte schon aufatmen, als ein heftiger Schmerz sie durchfuhr. Sie riss die Augen überrascht auf und taumelte einige Schritte zurück. Übersah dabei eine Wurzel, stolperte und fiel mit dem Arme rudernd nach hinten. Sie kam hart auf dem Boden auf.

„Aleitha!“ Sofort war ihre Schwester an ihrer Seite und sah Aleitha besorgt an. „Ist alles in Ordnung, `leitha?“

Bei dieser Frage funkelte Aleitha ihre Schwester wütend an, ehe sie ihr Gesicht vor Schmerz verzog. Abermals durchfuhr er sie und sie wusste nicht wieso. Es kam ihr vor, als würde etwas entfernt reißen. Sie blickte in die Richtung, wo es passieren musste und runzelte die Stirn.

„`leitha?“

Bei der fragenden und langsam panischen Stimme sah Aleitha wieder zu ihrer Schwester.

„Mir geht es gut. Ich …“ Sie brach ab, als eine erneute Schmerzwelle sie durchfuhr. Dieses Mal war es heftiger und sie schrie leise auf. Dann war es vorbei. So als wäre nichts gewesen.

„Dir geht es nicht gut, Aleitha. Dass höre ich doch heraus“, sagte Saren und sah sie genau an. So genau, als wollte si die Ursache der Schmerzen finden, die ihre Schwester haben musste.

Aleitha sah unsicher zu der Richtung, woher die Schmerzen gekommen sein musste und fragte sich abermals, was passiert war. Egal was es war, es schien jetzt jedoch vorbei zu sein. Sie sah wieder zu Saren.

„Mir geht es gut, wirklich. Es war nur … mir war nur kurz schwindlig. Deswegen bin ich gestolpert und kann auf einen Stein gelandet. Deswegen der Schrei.“

Saren Blick verriet ihr, dass sie ihr nicht glaubte.

„Wirklich! Mir geht es gut. Ich brauch nur eine kleine Pause. Dann können wir weitergehen.“

Zögerlich nickte Saren und richtete sich dann auf. Sie sah sich aufmerksam um, als wollte sie sich vergewissern, dass sich niemand fremdes hier in der Gegend aufhielt. Etwas fremdes, wie zum Beispiel, diese seltsamen Wesen, die dies Spur verursacht haben mussten. Obwohl Saren es nicht ausgesprochen hatte, so war sich Aleitha sicher, dass diese Kratzer von ein einem Wesen kommen musste, dass sie in dem Tal angegriffen hatten. Sie schüttelte sich sichtbar, als sie an diese Kreaturen dachte und fehlte die Geweihten an, dass diese sich hier nicht in der Nähe befinden würden.

Wenn so ein Wesen auftaucht, was sollen wir machen? Aleitha sah zu ihrer Schwester, die die Umgebung immer noch im Auge behielt. Saren ist immer noch verletzt und die Wunde wird immer schlimmer. Wir haben niemanden, der wirklich kämpfen konnte, da Larren tot war. Was ist, wenn Saren wieder bewusstlos wird … wenn ich dann alleine bin, wenn so eine Kreatur auftauchte?

Die Angst in Aleitha wurde stärker und sie begann zu zittern. Sie hörte ihr Herz rasen.

Wenn wirklich so eine Situation entstehen würde, würde ihr noch einmal das gelingen, was sie mit diesen Männern angestellt hatte? Aleitha hatte Angst, wenn sie nur daran dachte, doch wenn es die einzige Möglichkeit war, um sich und ihre Schwester zu schützen, dann würde sie so etwas noch einmal machen. Doch wie? Sie hatte keine Ahnung, was sie damals getan hatte und wusste nicht, wie es wiederholen sollte.

Das Zittern in ihr wurde stärker und sie zuckte zusammen, als Saren eine Hand auf ihre Schulter legte. Ihre Schwester sah sie ernst an.

„`leitha … ich werde mich hier in der Gegend umschauen. Du bleibst hier und rührst dich nicht vom Fleck.“ Sie nahm die Armbrust von ihrer Schulter und spannte einen Bolzen ein. Dann reichte Saren die Waffe ihrer Schwester. „Sollte dich jemand angreifen, dann versucht ihn zu erschießen und schrei anschließend. Schrei ganz laut, damit ich dich hören kann und ich bin sofort wieder bei dir!“

Aleitha starrte ihre Schwester fassungslos an und konnte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. Ihre Schwester wollte sich umschauen und sie hier alleine zurücklassen.

Die Angst in Aleitha wurde stärker und wandelte sich.

Was ist, wenn Saren sie hier alleine zurückließ? „Nein… du … Saren…“ Sie brach ab, als ihre Schwester sie plötzlich umarmte und Angst füllte nur noch Aleithas Gedanken aus.

„Keine Angst, `leitha. Ich werde mich beeilen“, flüsterte Saren.

Aleitha schüttelte heftig den Kopf und Panik vertrieb die Angst. „Nein … was … was ist, wenn du wieder bewusstlos wirst? Was ist, wenn das passiert und so ein Wesen ist in der Nähe. Dann wird es dich töten.“ Sie klammerte sich an ihre Schwester. Tränen liefen ihr über das Gesicht. „Ich will nicht, dass du gehst … ich … ich…“

„Das wird nicht passieren, `leitha. Ich merke es, wenn … dies … passiert. Sobald ich etwas spüre, werde ich sofort zurückkommen. Ich werde auch nicht weit gehen … ich will mich nur in der Umgebung umschauen. Es ist ein Gefühl, das mir sagt, dass ich dies machen sollte.“ Sie wandte sich aus der Umarmung und richtete sich auf. Ein beruhigender Blick stand in ihre Augen. „Du brauchst keine Angst haben. Aleitha. Ich werde mich beeilen und du wirst gar nicht merken, dass ich überhaupt weg war.“ Sie beugte sich vor und wischte die Tränen auf Aleithas rechte Wange weg. „Ich bin gleich zurück.“

Mit diesen Worten drehte sich Saren um und lief los.

Aleitha starrte mit panischem Blick zu der Stelle, wo Saren verschwunden war. Ihr Herz raste und jede Minute schien sich in die Länge zu ziehen.

 

Als erneut Schatten vor ihnen auftauchten und sie angriffen, fragte sich Chaidra, wieso das Schicksal gegen sie war. Ihr ganzer Körper schmerzte immer noch von den Nachwirkungen ihres Eingreifens und sie wusste, dass sie es nicht noch einmal wiederholen konnte. „Bleib auf dem Pferd, Chaidra“, rief Kadalin und sprang von seinem. Er zog dabei sein Schwert und stürzte sich auf die Schatten. Dieses Mal waren es nur drei und ihr Bruder hatte genug Erfahrungen, um mit ihnen alleine zurechtzukommen. Als Kadalin den ersten Schatten köpfte, war plötzlich Thanjata an seiner Seite und schwang ihren Dolch. Zwischen den beiden Kämpfenden fielen keine Worte und dennoch hatte Chaidra das Gefühl, dass beide sich verstanden. Thanjata wandte sich den linken Schatten zu und sprang ihn an. Genauso wie dem vorherigen Angriff, gelang es ihr den Dolch in seinen Kopf zu ramme und der Schatten löste sich auf. Kadalin selber stellte sich den rechten Schatten und sein Gesicht war grimmig verzogen. Er rannte auf das Wesen zu und duckte sich, als dieses ihre krallenbesetzte Klaue nach vorne stieß. Der Schatten verfehlte ihm und Kadalin schwang sein Schwert. Mit einem lauten Kreischen verschwand der Schatten.

„Das gefällt mir ganz und gar nicht“, sagte er und sah seine Schwester an. „So viele Schatten auf einmal … da kann etwas nicht stimmen.“

Chaidra stimmte ihren Bruder zu, doch in der Nähe befand sich kein Riss. Dies hatte Chaidra schon vor Tagen festgestellt und seitdem immer wieder überprüft. Sie sah die Zeitwächterinnen.

Thanjata sah grimmig aus und wechselte mit ihren Zeitschwestern den Blick. Es schien so, als würden sie etwas ahnen, doch sie sagten nichts. Dies wiederum verwunderte Chaidra nicht, denn sie wusste, dass Zeitwächterinnen Wissen besaßen, wie die Zukunft aussah. Sie sprachen sie mit außenstehenden darüber, es sei denn, diese mussten es unbedingt wissen. Wenn niemand Chaidra etwas sagte, dass hatte es einen Grund und Chaidra akzeptierte dies. Es gefiel ihr nicht, aber sie sagte nichts dazu.

Kadalin war da anders. Er sah nachdenklich aus und runzelte die Stirn. Er würde nie offen fragen, doch dazu schweigen wollte er anscheinend auch nicht.

„Warum ausgerechnet hier“, fragte er zu niemand besonderem und trat mit dem rechten Fuß gegen einen Stein. „Oder ist es in anderen Gegenden genauso schlimm?“

Eine gute Frage. Sollte sich die letzte Frage verneinen, dann musste etwas besonderes hier sein und Chaidra vermutete, dass die beiden Schwestern etwas damit zu tun hatten. Sollte diese Frage jedoch mit ja beantworten, dann bedeutete dies, dass überall Schatten auftauchten. Etwas, was dass Gleichgewicht der Welt zerstören konnte und dies würde bedeuten, dass finstere Zeiten auf sie alle zukommen würden.

„Es bringt nichts, darüber nachzudenken“, sagte Chaidra und sah ihren Bruder fest in die Augen. Dieser erwiderte ihren Blick, doch zuckte dann mit den Schultern. Er schwang sich wieder in den Sattel und alle ritten abermals los. Dieses Mal hoffte Chaidra, dass es zu keinen neuen Angriff kommen würde.

 

Saren fühlte sich überhaupt nicht gut. Zum einen hatte sie ihre Schwester allein zurückgelassen und zum anderen hatte sie Angst. Ihr kam diese Gegend hier bekannt vor und dies ängstige sie. Sie hatte diesen Teil des Waldes schon einmal gesehen und zwar in einen ihrer Träume. Sie lachte hart auf. Träume? Saren wurde sich immer sicherer, dass es sich hierbei um keine Träume handeln würde, doch was es genau war … ja, das war die große Frage.

Mit schnellen Schritten lief Saren den Weg entlang, den sie in ihren Traum gesehen hatte, und hoffte innig, dass sie sich irrte. In ihren Traum war sie zu einer großen Kuhle gekommen und in dieser …

Ein Brechreiz kam in ihr hoch, doch sie presste die Lippen zusammen. Jetzt war kein guter Zeitpunkt, um sich übergeben zu müssen.

Sie lief immer schneller, schaute ab und zu über ihre Schulter und hoffte, dass es Aleitha gut gehen würde. Dann wurde sie langsamer. Gleich war sie am ihren Ziel und ihr Herz schlug heftig gegen ihre Brust. Gleich würde es sich zeigen, ob sie nur träumte, oder ob es etwas anderes war.

Ehe sie ihr Ziel erreicht hatte, drang ein fürchterlicher Gestank in ihre Nase und Saren verzog ihr Gesicht. Sie blieb stehen. Unsicher, ob sie weitergehen sollte, doch dann gab sie sich einen innerlichen Ruck. Sie ging langsam weiter. Setzte zögerlich einen Fuß nach dem anderen, als würde sie sich dazu zwingen müssen.

Dann trat sie zwischen zwei Büschen hervor und blieb stehen.

Ihr Gesicht wurde weiß und sie konnte ihr Essen nicht mehr bei sich behalten. Sie erbrach sie.

Vor ihr befand sich die Kuhle und in dieser konnte Saren unzählige Leichen erkennen. Menschen, die zerrissen waren. Teile von Körper die zerstreut umherlagen. Es war ein einziges Massaker.

Doch dies war es nicht, was Saren so sehr schockierte. Es war eher die Tatsache, dass sie in ihren Traum gesehen hatte, wie diese Menschen hier getötet worden sind. Sie hatte gesehen, wie die Menschen hier ein Nachtlager aufgebaut und wie die Schatten sich auf sie gestürzt hatten.

Langsam kletterte Saren in die Kuhle und erkannte das Gesicht eines Mädchens, das vielleicht so alt wie Aleitha war. Es war schmerzerfüllt und Saren erinnerte sich daran, wie sie gestorben war. Dann sah sie eine Frau, deren Tod sie ebenfalls gesehen hatte und die Reste eines Wolfshundes, der einige Kinder beschützen wollte. Sie erkannte immer mehr, je weiter sie ging und brach irgendwann weinend zusammen.

Was passierte hier? Wieso hatte sie davon geträumt?

Saren hockte lange weinend auf dem Boden der Kuhle, zwischen all die Toten und nur langsam wurde ihr bewusst, dass sie zurück musste. Aleitha würde sich Sorgen machen, wenn sie so lange wegblieb.

Das Mädchen erhob sich wieder und sah sich abermals um. Es brach ihr das Herz, die Menschen hier liegen zu lassen, doch sie konnte nichts anderes unternehmen. Gräber zu schaufeln, würde zu lange dauern und sie wollte nicht, dass Aleitha diesen Ort hier sah. Ein Feuer, um die armen Menschen zu verbrennen, konnte sie auch nicht machen. Nicht inmitten eines Waldes. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als diesen Ort wieder zu verlassen.

Mit weinendem Gesicht und schlechten Gewissen suchte Saren den Weg zurück zu ihrer Schwester. Dabei sah sie, wie es immer dunkler wurde und als sie endlich ihre Schwester erreichte, war die Nacht schon hereingebrochen.

Aleitha sprang auf, als sie ihre Schwester sah, und umarmte sie. Ihr Gesicht war tränenverschmiert und sie sah Saren fragend an. Wollte wissen, wo Saren gewesen war und wieso es so lange gedauert hatte. Doch Saren sprach nicht. Sie schwieg, während sie finsteren Blick im Rucksack nach den Resten des Proviants suchte.   Aus irgendeinem Grund schien Aleitha zu merken, dass ihre Schwester nicht reden wollte, denn sie schwieg und drängte nicht. Doch in ihren Augen stand ein besorgter Ausdruck.

Kapitel Neunundvierzig

Zum Tanzenden Wolf

 

Manchmal braucht es Zeit, um die Wahrheit zu erkennen. Vor allen, wenn man innerlich zerrissen ist und man nicht weis, wem oder was man glauben darf.

 

Rae Sothà Kraylen Greisor,

Hohe Mutter,

Winter im Jahre 87 vor dem Nebel

 

Auf einer einsamen Straße, nahe den Hügeln Mothos und auf dem Weg nach Jahalat fuhr ein wackliges Gespann über den glitschigen Weg. Der Wagen, er wurde von zwei Schimmel gezogen, holperte über kleine Steine oder Äste und war mit Unmengen von Holz geladen. Auf dem Fahrersitz befanden sich zwei Personen. Ein älterer Mann mit grauem Haar und ein junges Mädchen. „Können sie sich dies vorstellen, Fräulein Nolwine?“ Der Alte beugte sich etwas vor und ließ seine Peitsche leicht schwingen, damit die beiden Schimmel schneller laufen würden. „Es ist doch kaum möglich oder? Niemand kann in der Nacht die Sonne aufgehen lassen. Selbst nicht die Priesterinnen!“

Nolwine, die neben den anderen saß, sah sich kurz um, ehe sie zustimmend nickte. Sie vermutete zwar, dass es möglich war, aber es einen Holzhändler zu erklären, wäre viel zu kompliziert gewesen. Sie dachte an die drei Wächterinnen, die sie vor vier Tagen verlassen hatte und ein Schaudern befiel sie. Irgendwie konnte sie sich vorstellen, dass diese Frauen in der Lage war, so etwas zu vollbringen. Sie verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust und schloss die Augen, während sie Majakok, dem Händler zuhörte.

„…Und dann noch diese Erleuchteten! Die glauben, die können alles tun oder machen. Verlangen doch tatsächlich von uns, ihren einzigen Gott anzubeten … als ob es nur einen Gott gibt!“ Majakok stampfte wütend auf. „Was ist mit den alten Geweihten? Zählen die denn gar nicht mehr?“

Die Sonne neigte sich langsam dem Ende zu, wobei sie einen schwachen rötlichen Schleier am Horizont hinterließ. Ein einzelner Hirsch kreuzte den Weg bei seiner Futtersuche und spitzte die Ohren, ehe er leicht zusammenzuckte und wieder im Dickicht verschwand. Wolken, die am Himmel vorbeizogen, brachten neuen Schnee mit und in wenigen Minuten schneite es heftig, wobei ein dichter Nebel aufging. Vögel verstummten und eine natürliche Ruhe legte sich über die Gegend von Mothos.

Nolwine presste ihre Lippen zusammen und erwiderte nichts. Was hätte sie auch sagen sollen? Dass sie selber an den EINEN glaubte und der Mann unrecht hatte? Du sollst deinen Glauben unter den Nichtgläubigen bringen und ihnen den rechten Weg weisen. Dies war die achte Regel des Kodexes. Nach dieser müsste sie nun etwas sagen und den Mann überzeugen, dass die Erleuchteten recht hatten, doch sie wusste nicht, wie sie dies anstellen sollte.

Ich bin keine richtige Erleuchtete mehr … man hat mich ausgestoßen … wegen dieser Luftsache ….

Sie blinzelte, um die aufkommenden Tränen zu unterdrücken und mit einem erneuten ängstlichen Gedankenn dachte sie an die Wächterinnen. Folgte diese ihr, oder waren sie froh gewesen, dass sie Nolwine los waren? Immerhin war es deutlich gewesen, dass Thanai nicht besonders erfreut über den Gedanken gewesen war, dass sie Nolwine mitnehmen musste und dann diese Sache mit dem Dreibogen. Ein Schauder befiel das Mädchen als sie an diesen dachte und abermals nahm sie sich fest vor, nie wieder mit so einem zu reisen. „Ja und dann gibt es noch die ganzen Angriffe von den Schatten. Wenn es nicht die Wächterschaft ist, die uns vor ihnen schützt, wer sollte es dann sonst machen? Die Erleuchteten? Diese reden nur, aber wirklich etwas gegen die Schatten unternehmen sie nichts …“

Nolwine hörte den Mann schon lange nicht mehr zu sondern war nun ganz in Gedankten versunken. Sie hatte die Augen geschlossen, um so besser nachdenken zu können. Sie wusste immer noch nicht, was sie von den Wächterinnen halten sollte. War alles von ihnen eine Lüge gewesen, oder bildete sie sich dies ein.

Oh großer Herr, weise mir den richtigen Weg. Mach, dass ich die Wahrheit erkenne!

Nolwine seufzte und öffnete die Augen wieder. Sie fühlte, wie langsam neuer Schmerz in ihr aufkam und biss die Zähne zusammen. Sie durfte es sich nicht erlauben hier und jetzt einen Krampf zu bekommen. Ihre Gedanken wanderten abermals zu Thanai und daran, dass sie sich bei dieser Frau wohl gefühlt hatte. Diese Frau hatte ihr geholfen. Was ist nun wahr und was nicht? Sie sah auf die Straße vor sich und abermals kam in ihr die Frage auf, ob ihre Flucht die richtige Entscheidung gewesen war.

 

Akara kniff die Augen zusammen und sah den Boden vor sich genau an. Sie berührte eine Rille und sah dann zu dem Wald, der sich an der Straße anschloss. Eine Vorstellung kam in ihren Gedanken und sie versuchte zu überprüfen, ob diese stimmen konnte.

„Hier ist vor kurzem ein Wagen entlanggefahren. Er hat gehalten und war anschließend etwas schwerer“, sagte sie und erhob sich wieder. Sie sah nochmals zu dem Wald und dem Gras, das zwischen ihm und der Straße wuchs. „Ich vermute Nolwine hat den Wald verlassen und ist dann auf einen Wagen weitergefahren, welcher in Richtung Jahalat fährt … und zufälligerweise auch die Richtung ist, wo sich das Gasthaus für unser Treffen befindet.“

Zhanaile hob eine Augenbraue und sah die Straße entlang. „Bist du dir sicher? Wenn ja, dann führt uns die Suche nach Nolwine auch zu unserem Ziel.“

Dies war für die Wasserwächterin ein beruhigender Gedanke, denn sie hatte schon befürchtet, dass sie durch die Suche viel Zeit verlieren würden. In drei Tagen war das Treffen im Tanzenden Wolf und sie hatte nicht vor, zu spät zu diesen erscheinen. Dass nun Nolwine in die Richtung floh, wo sich das Gasthaus befand, war ein glücklicher Zufall. Sie sah zu den Spuren auf der Straße.

„Und du bist dir sicher, dass Nolwine in diese Richtung mit dem Wagen gefahren ist und nicht entgegengesetzt?“

Die Feuerwächterin setzte einen abschätzenden Blick auf. „Die Frage ist nicht ernst gemeint, oder Fischlein? Das ist doch logisch. Der Wagen war bisher leichter“, sagte sie und zeigte auf eine betroffene Stelle, „und ab hier wird er schwerer, worauf geschlussfolgert wird, dass sie in die Richtung fahren, wo die tieferen Spuren sind. Es sei denn, ein Wagen wird leichter, wenn eine zusätzliche Person sich auf diesen befindet. Natürlich könnten gewissen Wächterinnen dies auch verfälschen, doch ich glaube nicht, dass …“

„Schon gut, Akara. Ich habe es verstanden. Ist diese Spur sehr alt?“

Akara legte den Kopf schräg und schüttelte dann den Kopf. „Nicht wirklich. Ich vermute, dass wir sie in Laufe der Nacht einholen können.“ Sie sah wieder die Straße hinunter. „Wenn wir Glück haben, macht Nolwine im kommenden Dorf eine Pause und dieses Dorf besitz den Wolf … also werden wir heute Nacht dort eintreffen.“

Zhanaile riss die Augen auf. „Du meinst, dass kommende Dorf ist Uranth, wo sich Hendrick`s Gasthaus befindet?“

„Richtig“, sagte Akara nickend. „Nolwine hat uns zu unseren Ziel geführt, obwohl ich bezweifle, dass sie dies beabsichtig hat.“ Sie sah nach hinten, wo Thanai mit den Pferden stand und leer in die Luft schaute. „Sag Lüftchen bescheid, dass wir heute Abend noch Uranth erreichen und die Chancen sehr hoch sind, dass sich dort auch Nolwine aufhält.“

Die Wasserwächterin nickte und wandte sich zu der Luftwächterin, während Akara noch einmal genauestens den Boden betrachtete.

 

Nolwine seufzte leise und fragte sich, wie der Ort hieß, zu dem der Mann fuhr. Sie wusste es nicht und war einfach aufgestiegen, als er es ihr angeboten hatte sie mitzunehmen. Da sie selber kein eigenes Ziel hatte, hatte sie das Angebot dankbar angenommen. Sie war sehr froh darüber, als darüber nachdachte und erst jetzt fiel ihr auf, dass Majakok geendet hatte, sodass es nun vollkommen ruhig war. Nolwine warf einen Blick zur Seite, um ihren Begleiter besser beobachten zu können, mit sie schon seit fünf Kerzenstrichen unterwegs war.

Majakok war schon einundsechzig, 61, doch für sein Alter dennoch ganz schön gerüstet. Denn wenn man den Worten des Mannes Glauben schenken durfte, dann war dieser schon seit mehr als vierzig Jahren mit seinen Holzwagen unterwegs. Im Sommer lebte er in einem kleinen Dorf namens Dreia und im Herbst, sowie Winter reiste er mit seinem Holz durch ganz Ardask, um dieses zu verkaufen. Er hatte dies all die letzten Jahrzehnte gemacht und würde es auch die nächsten, solange das Schicksal und die Götter es wollen, wie er es zu sagen pflegte. Majakok Hensarf war zwar kein streng gläubiger Mann, aber er wusste es besser, als die Alten Geweihten zu provozieren. Er war der Ehemann von einer wunderbaren Frau, Aikà und der Vater von zwei Söhnen, wo der eine in der Armee des Großkönigs diente und der andere das Geschäft seines Vaters nachging. Eines Tages würde sein jüngster Sohn den Beruf seines Vaters fortführen, sowie es schon seit einigen Generationen der Fall gewesen war, berichtete Majakok immer wieder stolz.

Holpernd erreichten sie eine Gablung, deren Wegweiser vom Flechten unlesbar geworden war. Während Majakok vom Wagen stieg, um diese Flechten zu entfernen, reckte sich Nolwine. Sie sprang selber vom Holzgespann und lockerte ihre Beine. Sie war froh, dass sie Majakok begegnet war, denn so musste sie nicht den ganzen Weg laufen du konnte sich eine Pause gönnen, wobei gleichzeitig vorwärts kam. Außerdem konnte man merken, dass der Alte sich über Gesellschaft freute, sodass Nolwine auch nicht das Gefühl hatte, sie würde diesen Mann ausnutzen. Die meiste Zeit über sprach der Holzhändler sowieso alleine, sodass es an Nolwine lag, zuzuhören und lernte somit mehr über Ardask und die Sitten der Bewohner. Majakok war selber ein Farskaner, aber er sah Ardask als sein zweites Heimatland an und berichtete immer wieder stolz, dass er in beiden Ländern viele Verwandte hatte, sodass man nicht genau bestimmen konnte, ob er nun ein Ardasker oder ein Farskaner war.

„Wenn wir Glück haben, erreichen wir Uranth noch heute. Allerdings sehr spät…da wird der Wirt sich freuen, wenn wir ihn mitten in der Nacht wecken. Aber dem stört dies nicht, denn er ist mein Schwager!“ Der Holzhändler wartete, bis Nolwine auf dem Wagen gestiegen war und schnalzte die Zunge. Sofort trabten die Schimmel wieder los.

Der scheint überall einen Verwanden zu haben! Fuhr es Nolwine durch den Kopf und sie schloss wieder die Augen. Sie dachte wieder an ihre eigene Familie. An ihrer Eltern, die beide hoch angesehene Erleuchtete waren und an ihre Geschwister, die auch einen guten Ruf besaßen. Sie vermisste diese und auch ihren Freund Balestrano vermisste sie sehr. Noch immer schmerzten seine Worte ihr und zu wissen, dass diese der Wahrheit entsprachen, machte es alles nur noch schlimmer.

Ob ich je meine Familie wieder sehen werde? Und was würden sie dann sagen?

Nolwine seufzte tief und reckte sich. Sie fühlte sich leer und fragte sich, ob sich ihr Leben wieder normalisieren würde. Doch wie sollte dies geschehen? Sie konnte alles wieder normal werden, wenn sie von Krämpfen heimgesucht wurde und nichts dagegen etwas unternehmen konnte. Zwar hieß es laut Thanai, dass dies sich irgendwann geben würde, doch hatte diese Frau da die Wahrheit gesagt? Vielleicht hatte sie ja abermals gelogen und … „So“, ertönte Majakok und ließ den Wagen anhalten. „Da sind wir! Uranth!“ Nolwine, wachte wie aus einem Traum auf und sah sich neugierig um. Was sie sah, bestätigte ihre Erwartungen. Ein kleines Dorf mit einem Brunnen in der Mitte des Dorfplatzes. Vier Wege, die in die jeweilige Himmelsrichtung führten kreuzten sich hier. Ein Wirtshaus befand sich auf der Nordseite des Platzes, sowie das Haus des Dorfältesten und andere wichtige Einrichtungen.

Das Mädchen schüttelte traurig den Kopf. Sie wusste einfach nicht mehr, ob ihre Entscheidung einfach ohne irgendwelchen Plan zu fliehen, die richtige war. Eigentlich hatte sie sich ja bei den Wächterinnen wohl gefühlt. Dies verunsicherte sie sehr und was war mit den Worten, die diese Geweihten gesprochen hatte. Die gemeint haben, dass etwas Gewaltiges auf die Welt zukommen würde. Doch hatte dieses Gespräch überhaupt stattgefunden, oder war es nur eine Einbildung gewesen? Ein Trugbild, das sie ereilt hatte, als sie dem Tode sehr nahe war?

Sie folgte Majakok, der das Wirtshaus ansteuerte. Sie konnte an einem Schild draußen einen Wolf erkennen, der aufrecht auf zwei Beinen stand und lass den Namen des Gebäudes: Zum tanzenden Wolf.

Nolwine runzelte die Stirn. Seltsam, irgendwie kam ihr der Name bekannt vor. Sie zuckte mit den Schultern und betrat das Gasthaus.

Drinnen war es stickig und man konnte kaum frische Luft atmen. Alles war voller Rauch, der in den Augen brannte. Wenige Kerzen erhellten den Raum und somit auch die Gestalten, die sich in ihm aufhielten. Der Wirt begrüßte den Holzhändler freudig, beäugte allerdings dessen Gefährten. Nachdem Majakok sie jedoch untereinander vorgestellt hatte, legte sich der misstrauische Blick. Er verbeugte sich und hieß sie willkommen. Mit einem innerlichen Seufzen setzte sich die junge Frau und fragte sich, was sie hier eigentlich machte. Sie hatte doch überhaupt kein Geld bei sich und konnte demzufolge nicht für ein Essen, geschweige denn Unterkunft bezahlen.

 

Thanai ließ ihren Wallach anhalten und blickte auf das Schild des Gasthauses, auf dem mit großen Buchstaben Zum tanzenden Wolf stand. Gemischte Gefühle wirkten in ihr, denn sie konnte die Zuversicht von Akara nicht teilen, welche meinte, dass sie hier Nolwine finden würden. Dies wäre viel zu schön, um wahr zu sein.

Sie stieg langsam vom Pferd und hielt dann inne. Große Vorwürfe kämpften in ihr. Zum einen fühlte sie sich für das beinahe Verschwinden von Nolwine in de Dreibogen verantwortlich und zum anderen hatte sie sich nie wirklich Zeit genommen, um sich mit dem Mädchen zu unterhalten. Immer wieder war etwas dazwischengekommen: der Angriff in Greisarg, die Umwandlung von Nolwine, der Angriff in AlHarten und dann der neue Auftrag.

Kein Wunder, dass sie geflohen ist. Sie muss immer noch völlig verwirrt sein. Immerhin hat sich ihr Leben in wenigen Augenblicken vollkommen geändert. Da war es verständlich, dass sie Angst hatte … und sie wäre beinahe gestorben … Meinetwegen …

„Lüftchen?“

Thanai zuckte zusammen und sah zu Akara, welche sie besorgt betrachtete. Für einen Moment fragte sie, warum sie zuließ, dass die Feuerwächterin sie so nannte. Der Gedanke war so unangebracht in dieser Situation, dass Thanai leise lachen musste. Dies wieder sorgte dafür, dass in Akaras Augen Verwirrung trat.

„Habe ich was Lustiges gesagt“, fragte die Feuerwächterin und hob eine Augenbraue. „Wenn ja, dann muss es mir entgangen sein.“

Thanai schüttelte den Kopf und verstummte. „Nein … es ist nichts.“ Sie sah zum Gasthaus. „Und du bist dir sicher, dass sie sich hier aufhält?“

Akara zuckte mit den Schultern. „Es wäre die einzige logische Erklärung, es sei denn, sie will draußen im Freien übernachten. Doch selbst wenn sie nicht hier ist, dann könnest du immer noch die Luftstränge fragen. Ich bin mir sicher, dass sie sich dann in der nahen Umgebung aufhält und dann müsstest du es spüren.“

Weil die Feuerwächterin sie fragend ansah, nickte Thanai langsam. Die letzten drei Tage hatte sie immer wieder die Stränge befragt, um Akara in ihrer Spurensuche zu unterstützen oder es zu bestätigen. Doch da bei einer Angehenden die Luftstränge sehr verschoben waren, war es schwierig eine genaue Aussage von ihnen zu bekommen.

„Dann wollen wir mal reingehen … nicht, dass wir hier noch anwachsen“, sagte Akara und winkte einen Burschen herbei, um diesen die Zügel ihrer Stute zu überreichen. „Ich habe großen Hunger.“

„Wie überraschend“, sagte eine lachende Stimme und Zhanaile übergab einen anderen Mann die Zügel ihrer Stute. Dann sah sie zu Thanai. „Alles in Ordnung?“

Warum fragen mich die anderen dies immer wieder?

Thanai nickte und richtete ihre Gedanken an ihrem Geweihten, um ihn zu bitten, dass sie das Mädchen hier im Gasthaus finden würden. Dann sorgte sie dafür, dass auch ihr Pferd versorgt werden würde, und folgte die anderen beiden Wächterinnen, die zum Eingang gingen. Thanai musste blinzelnd, als sie das Gasthaus betrat, und sah sich sofort um. Ihr Blick schweifte im Schankraum umher, und als sie eine einzelne Person in einer dunklen Ecke erkannte, durchflutete sie große Erleichterung. Akara hatte Recht. Sie ist wirklich hier!

Als der Wirt zu ihnen trat, bestellte Akara das Tagesmenü und Wein und begab sich auf direkten Weg zu dem Tisch, an dem Nolwine saß.

 

Panik kam in Nolwine auf, als sie erkannte, wer vor wenigen Herzschlägen das Gasthaus betreten hatte und erinnerte sich daran, wo sie den Namen Tanzender Wolf schon einmal gehört hatte. Es war der Name des Gasthauses, wo die Wächterinnen andere Personen treffen sollten. Ich bin nicht von ihnen geflohen, sondern direkt zu ihnen. Sie riss die Augen auf, während sie sah, dass die Feuerwächterin gefolgt von den anderen in ihrer Richtung kam. Nolwine sah sich im Raum um und suchte nach einem Ausweg, doch je näher die Frauen kamen, desto sicherer wurde sie, dass es für sie keine Fluchtmöglichkeit gab.

„Ah, Nol“, sagte Akara und lächelte breit. „Prima, dass du schon vorgegangen bist und uns einen Tisch freigehalten hast.“

Stirnrunzelnd starrte Nolwine an. Wovon sprach diese Frau, sie war nicht vorgegangen sie … Das Mädchen wandte ihren Blick zu den anderen beiden Wächterinnen. Die Wasserwächterin sah sie mit einem neutralen Ausdruck an, doch in Thanai konnte sie Sorge und Erleichterung erkennen. Wieso das? Mussten sie nicht wütend sein, weil sie geflohen war? „Und jetzt ein gutes Essen“, meinte Akara, während sie sich auf einem Stuhl niederließ. Dann sah sie Nolwine an. „Das nächste Mal wartest du bitte, wenn du vorausgehen willst. Wir haben uns Sorgen gemacht, als du auf einmal weg warst. Lüftchen war völlig neben sich.“

Nolwines Unsicherheit wurde größer. Sie wusste nicht, was sie von der Feuerwächterin halten sollte. Niemand schien wütend zu sein, und ihr Vorwürfe zu machen.

„Nolwine?“ Thanai ließ sich auf dem Stuhl neben den Mädchen nieder und sah sie Sorge an. „Wie geht es dir?“

Diese kam so unerwartet, dass Nolwine plötzlich die Beherrschung verlor und zu weinen begann. Sie verstand dies alles nicht. Warum schrie sie niemand an? Warum waren die anderen besorgt und nicht wütend. Dies widersprach sich mit allen, was sie gedacht hatte. Waren die Wächterinnen doch nicht böse? Aber wenn nicht, dann habe ich ihnen Unrecht angetan und … Sie weinte immer mehr und bekam nur am Rande mit, dass der Holzhändler Majakok zu ihren Tisch trat und Akara aufstand, um mit diesen Mann zu reden. Zur gleichen Zeit beugte sich die Luftwächterin vor und umarmte das Mädchen.

„Alles wird gut, Nolwine. Das verspreche ich dir“, sagte Thanai leise und drückte sie an sich. Nolwine spürte wieder diese Geborgenheit und versuchte nicht einmal die Tränen zurückzuhalten. Ihr wurde bewusst, dass sie diese Frau wirklich vertrauen konnte und dieses Wissen löste eine große Wärme in ihr aus.

Ich bin nicht alleine. Es gibt Personen, denen es egal ist, ob ich eine Erleuchtete oder eine Wächterin bin. Denen ich wichtig bin.

Die Erleuchteten hatten sie verstoßen, als sie erfahren hatten, was sie mit der Luft gemacht hatte. Doch diese Frau hatte ihr beigestanden und wandte sich nicht einmal von ihr ab, als sie diese hintergangen hatte. Und diese Erkenntnis war für Nolwine sehr wichtig.

 

Kapitel Fünfzig

 Die Macht der Zeit

 

Es sind die starken Emotionen, die dafür sorgen, dass die Gabe in einen erwacht. Meisten ist es Hass, Angst oder Liebe. Doch von allen Dreien ist es vor allen die Angst, die das größte Potential besitzt.

 

Rae Sir Joline Oipen,

Sommer im Jahre 1678

 

Aleitha hatte gedacht, dass es nicht noch schlimmer werden konnte und nun musste sie einsehen, dass sie sich geirrt hatte. Seitdem ihre Schwester von der Erkundung vor zwei Tagen zurückgekommen war, hatte sie sich sehr geändert. Sie sprach noch weniger, war die ganze Zeit blass und zuckte bei jedem Geräusch zusammen. Außerdem bestand sie darauf, wieder schneller zu laufen und nur sehr wenige Pausen zu machen.

Aleitha machte sich Sorgen und konnte sich nicht vorstellen, was passiert war? Was hatte Saren gesehen, dass sie so geschockt gewesen war. Aleitha wollte es wissen, doch sie wollte nicht ihre Schwester drängen, aus Angst, dass Saren sich dann vollkommen sperrte. Doch sie konnte auch nicht einfach zusehen, wie ihre geliebte Schwester sich nach und nach veränderte.

Was soll ich machen? Saren hört kaum noch zu, läuft so lange stur, bis sie beinahe zusammenbricht, und isst kaum noch etwas. Geweihte! Hilft mir!

Immer mehr wurde sich Aleitha bewusst, dass sie handeln musste. Doch so sehr sie auch nachdachte, wie wusste nicht, was sie unternehmen sollte. Sie fühlte sich hilflos und würde am liebsten weinen.

Reiß dich zusammen. Es kommt jetzt auch dich an. Saren ist immer für dich da gewesen und nun musst du für sie da sein.

Das junge Mädchen seufzte und sah auf Sarens Rücken. Wieder war sie immer die erste, schien sich zu vergewissern wollen, dass nichts Gefährliches vorne lauerte und dabei waren die Verfolger doch hinten. Dennoch schien es so, als würde Saren von vorne eine Gefahr erwarten.

Aleitha fürchtete sich davor, dass sie auf so ein Wesen treffen konnten, dass sie im Tal gesehen hatten und wovon wahrscheinlich diese Krallenspuren stammten. Sie selber zuckte bei jedem Geräusch zusammen, doch bei Saren war es wesentlich schlimmer. Sie zuckte nicht nur zusammen, sie riss jedes Mal auch ihren Dolch aus dem Gürtel. Später war sie dann dazu übergegangen, dass sie ihren Dolch immer trug.

Plötzlich ertönte ein Kreischen und Aleitha zuckte zusammen. Sie sah, wie ihre Schwester ebenfalls zusammenzuckte und sich dann voller Panik umschaute. Saren wurde ganz bleich und blieb stehen.

Aleitha erreichte sie und sah sich ebenfalls unbehaglich um. Wer hatte da gerade gekreischt?

Aleitha konnte sich an kein Tier erinnern, dass solche Geräusche von sich gab und vermutete, dass es sich deswegen um so eine Kreatur handeln musste. Kälte stieg in ihr hoch und sie fröstelte.

„`Leitha … wenn etwas erscheint, dann rennst du“, sagte Saren leise, aber bestimmt. Sie blickte Aleitha ernst an. „Hörst du. Du wirst rennen, egal was passiert und erst anhalten, wenn du wirklich nicht mehr kannst. Hast du verstanden!?“

Obwohl es Aleitha nicht gefiel, nickte sie. Sie wusste, was Saren mit diesen Worten meinte. Wenn eine Kreatur sie angriff, dann würde Saren sie aufhalten, damit ihre kleine Schwester entkommen konnte. Doch Aleitha wollte nicht ihre Schwester alleine zurücklassen, wenn wirklich Gefahr drohte.

Ich könnte ihr helfen … ich könnte da wieder machen, was auch die Männer aufgehalten hat.

Aber du weißt nicht, was du machen sollst. Du hast keine Ahnung, wie du es zustande gebracht hast … also wirst du nur eine Belastung sein, wenn es zu einem Angriff kommt.

Die zweite Stimme in Aleithas Kopf hatte Recht. Das einzige Gute, was sie machen konnte, war zu rennen, wenn Gefahr auftauchte. Alles andere würde Saren ablenken und dies konnte ihren Tod bedeuten. So jedoch brauchte sich Saren nicht um Aleitha kümmern und konnte deswegen auf sich aufpassen. Und dann konnte sie dafür sorgen, dass es ihr gut ging und später wieder auf Aleitha treffen.

An diesen Gedanken klammerte sich Aleitha, während sie sich immer noch in der Gegend umschaute. Dann dachte sie, dass vielleicht doch nichts passieren würde, denn der Schrei wiederholte sich nicht. Sie wollte schon erleichtert aufatmen, als ein erneutes Kreischen durch die Luft halte.

Abermals zuckte Aleitha zusammen und ihr Herz begann, wieder laut zu klopfen.

Saren setzte einen grimmigen Blick auf und versucht ein alle Richtungen gleichzeitig zu schauen. Sie schien nachzudenken und sah immer wieder zu gewissen Stellen. Dann fällte sie eine Entscheidung und nahm die Armbrust in ihre Hände. Sie holte mit zitternden Händen einen Bolzen hervor und wollte ihn spannen. Doch ihre Hand zitterte so sehr, dass sie ihn fallen ließ und sie einen Neuen holte. Dies ging wesentlich schneller, als wenn sie den verlorenen auf dem Boden suchen würde. Dann hatte sie die Armbrust gespannt und sah sich wieder aufmerksam um.

Auch Aleitha sah sich um und fragte sich, woher dieses Gekreische gekommen war. Sie konnte einfach nicht die Richtung bestimmen und dies machte ihr Angst. Sie trat näher an ihre Schwester heran.

„Sollen wir rennen“, fragte sie leise, doch Saren schüttelte den Kopf.

„Erst, wenn es erscheint. Sonst kann es sein, dass wir mitten in dessen Arme laufen“, sagte Saren und versuchte abermals alles im Auge zu behalten. Sie fluchte leise und in ihren Augen trat ein gehetzter Blick.

Das Kreischen ertönte zum dritten Mal und dieses Mal war es ganz nah. Dann hörte Aleitha das Rascheln von Blättern und Schritte, die immer näher kamen. Ganz schnell und ganz laut.

Ihr Herz schien aus ihrer Brust springen zu wollen und sie atmete keuchend die Luft ein. Mit angstvollem Blick starrte sie auf die Stelle, wo sie vermutete, dass das Wesen von dort kommen würde.

Das Rascheln wurde lauter. Die Schritte kamen immer näher.

Holz schien zu splitternd und dann hallte zum vierten Mal ein Kreischen durch das Holz und Aleitha riss die Augen auf. Dieses Mal hatte das Kreischen anders geklungen und mit wachsenden Schrecken nahm sie wahr, wie andere Schreie ertönten. Mehrere, die unterschiedlich klangen.

Es war nicht nur eine Kreatur, die auf sie zukam, sondern viele!

Aleitha merkte, wie Saren sich neben ihr anspannte, und trat noch näher an ihre Schwester heran.

Sollte ihre Flucht nun hier ein Ende haben?

Dann erschien auch schon die erste Kreatur. Sie sprang über einen Strauch und sah hässlich aus. Sie hatte einen übergroßen Kopf, riesige Augen und überhaupt keine Haare. Die Arme reichten ihr bis auf dem Boden und waren spindeldürr, während die Beine kurz und dicklich waren. Die Haut des Wesens war so blass, dass Aleitha glaubte, sie könnte durch es hindurchsehen. Deutlich vernahm sie die Blutgefäße, welche sich unter der Haut der Kreatur befanden.

Aleitha öffnete den Mund und schrie. Dann spürte sie, wie Saren sie am Arm ergriff und in die entgegengesetzte Richtung der Kreatur, stieß.

„Renn, Aleitha! Renn so schnell du kannst!“

Sie öffnete abermals den Mund, doch um zu widersprechen, denn sie wollte doch nicht ihre Schwester zurücklassen, doch Saren ließ sie nicht zu Wort kommen. Sie schrie laut an.

„Du sollst rennen, verdammt! Mach doch das mal, was man dir sagt!“

Schockiert über diese Heftigkeit, schluckte Aleitha, drehte sich um und rannte los. Sie rannte, so schnell sie konnte, während sie hörte, wie Saren die Aufmerksamkeit des Wesens auf sich zog.

Aleitha rannte und Tränen flossen über ihr Gesicht.

 

Chaidra sah zu, wie ihr Bruder den Boden vor sich untersuchte und dabei immer wieder die Stirn runzelte. Ihm schien etwas nicht zu gefallen.

„Also sie sind auf jeden Fall hier gewesen“, sagte er langsam und sah nachdenklich drein. Dann zeigte er in eine Richtung. „Allerdings ist eine von ihnen in diese Richtung gegangen und dann wieder zurück. Alle beide haben diesen Ort in dieser Richtung verlassen.“ Er zeigte zu einer anderen Stelle, die fast entgegengesetzt von der lag, wo die eine Person gewesen war.

Dies verwirrte die Todwächter und sie konnte das Stirnrunzeln ihres Bruders verstehen. Dann erinnerte sie sich an die Spuren, die sie an einigen Bäumen gesehen hatte und ihr wurde es kalt. In dieser Gegend waren Schatten gewesen und die Kinder befinden sich hier! Doch diese waren nicht dumm, denn die Kratzspuren der Schatten gingen in eine andere Richtung als die Schwestern, was daraus schließen lässt, dass diese wussten, wie gefährlich das Tier sein konnte, was solche Spuren hinterließ.

„Und wie alt schätzt ihr diese Spur, Meister Kadalin“, fragte Thanjata, wobei sie jedoch in die Richtung blickte, wo eines der Mädchen verschwunden und dann wiedergekommen war. Sie runzelte ebenfalls die Stirn.

Kadalin betrachtete alle Spuren und zuckte dann mit den Schultern.

„Länger als einen Tag … ich vermute sogar zwei Tage.“

Chaidras Herz sank. Sie waren also immer noch zwei Tage von den Kindern entfernt? Wie konnte dies geschehen?

Daran sind die verdammten Schatten dran schuld! Immer wieder müssen diese auftauchen und uns angreifen. Und dann dieser Wald … hier kann mich nicht schnell reiten.

Ihr Blick wurde finster, doch dann ermahnte sie sich selber. Sie sollte sich nicht darüber ärgern, denn sie konnte es eh nicht ändern. Außerdem, wenn die Schatten sie angriffen, dann würden vielleicht die Kinder in Sicherheit sein und je mehr Kadalin Schatten tötete, desto weniger gab es, die den Schwestern gefährlich sein konnte.

„Wir sollten nachschauen, warum eine der Schwestern, diesen Weg gegangen ist“, sagte plötzlich Thanjata und Chaidra sah sie überrascht an. Wieso sollten sie dies machen? Dadurch würden sie noch mehr Zeit verlieren.

Doch die Zeitwächterin sah sehr ernst aus und schien ihren Vorschlag ernst zu meinen. Chaidra seufzte und nickte dann, als Kadalin sie fragen anschaute. Wenn eine Zeitwächterin vorschlug, etwas zu unternehmen, dann sollte man dies auch machen. Diese hatten immer einen Grund.

Also folgen sie der Spur und je mehr Zeit verging, desto mehr bereute Chaidra, dass sie zugestimmt hatte. Dann jedoch wurde es ihr schlecht. So schlecht, dass sie die Zügel ihres Pferdes zog und ihr Gesicht verzog. Sie beugte sich zur Seite und erbrach sich.

Sofort war Kadalin an ihrer Seite und sah sie besorgt an.

Chaidra atmete tief durch und brauchte sich nicht einmal zu konzentrieren, um zu merken, dass in der Nähe Personen einen qualvollen Tod gestorben sind. Dennoch richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Stränge in ihrer Umgebung und sah, wie diese in voller Bewegung waren. Hier hatte vor einigen Tagen der Tod zugeschlagen. Viel länger her, als wie die Spur des Kindes alt war, sodass dieses nicht dafür verantwortlich sein konnte. Sie schloss die Augen und versuchte die Todstränge in ihrer unmittelbaren Umgebung zu beruhigen. Dann sah sie ihren Bruder und die drei Zeitwächterinnen an. Sie schluckte.

„In der Nähe herrscht der Tod. Dort sind zahlreiche Personen ums Leben gekommen und die Stränge deswegen sehr gestört.“ Sie hielt inne und verzog ihr Gesicht. „Es wäre besser, wenn ich vorausgehen würde.“

Alle vier nickten und Chaidra stieg von ihrem Pferd. Wenn es wirklich so grauenhaft war, sie wie dachte, dann wollte sie es nicht ihrem Tier antun.

Langsam ging sie vor und blieb immer wieder stehen, um die Todstränge zu beruhigen. Dann, als sie fast die Quelle der Störung erreicht hatte, drang ein scheußlicher Gestank in ihre Nase und ihr Magen rebellierte. Doch sie überbrach sich nicht, denn in ihren Magen wäre sowieso nichts mehr gewesen. Sie lief weiter, trat zwischen zwei Sträucher und blieb dann schockiert stehen.

Auch wenn sie geahnt hatte, was sie erwartete, so war sie doch schockiert von dem, was sie sah. Sie presste die Lippen zusammen und starrte finster auf die Szene vor sich.

In einer Kuhle lagen Tote. Unzählige Tote und sie waren alle von Schatten getötet worden. Sie alle waren qualvoll gestorben, sodass es kein Wunder war, dass die Todstränge hier völlig aus dem Gleichgewicht waren. Sie schloss die Augen und versuchte sie zu beruhigen. Es war ein harter Kampf und immer wieder durchfuhr sie ein scharfer Schmerz. Doch zum Schluss gewann sie und nach einiger Zeit waren alle Stränge beruhigt, sodass keine Gefahr mehr bestand.

Sie rief leise nach ihren Bruder, welcher dann auch sofort an ihrer Seite war und zischend die Luft ausstieß. Abscheu stand in seinen Augen und seine rechte Hand ging zu seinem Schwert. Doch Gefahr lauerte hier nicht mehr. Die Gefahr war schon lange weg. Zurück war nur das Ergebnis geblieben.

Dann kamen auch die Zeitwächterinnen und sie blieben am Rand der Kuhle stehen. Ihre Gesichter waren verschlossen und ernst. „Was … was sollen wir machen“, fragte Kadalin und Chaidra verstand, was er damit fragen wollte. Sie mussten schnell ihre Suche fortsetzen, doch sie konnten nicht einfach die Toten hier so liegen lassen.

 

Saren fühlte sich nicht wohl dabei, ihre eigene Schwester so anzuschreien, doch sie hatte einfach keine andere Möglichkeit gesehen, sie endlich zum fortrennen zu bewegen. Kaum war dann Aleitha doch noch endlich losgerannt, schrie sie den Schatten an, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

„Hey du verdammtes Mistvieh“, schrie sie und als der Schatten zu ihr Blicke, schoss sie den Bolzen ab. Doch es wäre zu schön gewesen, wenn sie auch wirklich getroffen hätte. Doch anstatt zu treffen, flog der Bolzen knapp an dessen Kopf vorbei und der Schatte schrie auf. Für das Mädchen kam es vor, als wäre es ein erfreutes Lachen.

Saren fluchte leise, warf die Armbrust weg und zog ihren Dolch. Sie hatte schon einmal Schatten getötet, obwohl sie nicht wusste, wie und sie würde nicht zulassen, dass irgendetwas ihre Schwester verletzten würde. Mit einem lauten Schrei sprang sie den Schatten an und stieß den Dolch vor.

Der Schatten sah sie zuerst verdutzt an, doch dann lachte er abermals auf. Er wich zur Seite aus und stieß einen seiner überlangen Arme vor.

Saren spürte einen Lufthauch und riss die Augen auf, doch die Klaue verfehlte sie und der Schatten schrie wütend auf. Dann bewegte er sich, und zwar so schnell, dass Saren ihn nicht sehen konnte. Plötzlich verspürte sie einen scharfen Schmerz an ihrer Wange und schrie auf.

Sie taumelte einige Schritte zurück, hörte ein anderes Kreischen und sah dann, wie ein zweiter Schatten aus dem Gebüsch kam. Schwer atmend wischte sie sich mit dem Ärmel über ihr Gesicht, sah, dass ihr Hemd rötlich war, und konnte das Brennen der Wunden spüren. Zu diesem Brennen gesellte sich noch ein zweites hinzu. Ihre Schulter schrie wieder gepeinigt auf und Saren verzog ihr Gesicht. Sie fühlte sich nicht gut, alles schmerzte. Wie konnte sie darauf hoffen, dass sie ihre Schwester beschützen konnte?

Der zweite Schatten kreischte abermals und duckte sich. Doch er griff nicht Saren an, sondern hob seine Nase schnüffelnd in die Luft. Sein Kopf ging in die Richtung, wo Aleitha verschwunden war.

„Das wirst du nicht machen“, schrie Saren auf und sprang auf dem Schatten zu. Dabei sah sie aus den Augenwinkeln, wie der erste Schatten auf sie zukam und seine Klaue abermals zum Schlag ausholte.

Saren stach ihren Dolch in den Kopf des Schattens, der sie erst zu spät bemerkt hatte und er löste sich auf. In den Moment, wo der Dolche sein Ziel gefunden hatte, verspürte Saren einen Stoß in ihren Rücken und sie wurde gegen einen Baumstamm geschleudert. Ihre Knochen schrien schmerzgepeinigt auf und ein Schrei entfuhr ihr. Sie fiel auf dem Boden und blieb benommen liegen. Doch in ihren Kopf schrie eine Stimme, dass sie nicht liegen bleiben durfte und sie wuchtete nach oben, nur um zu sehen, dass der erste Schatten erneut auf sie zukam. Sein Maul war weit aufgerissen und seine riesigen Augen funkelten.

Saren warf sich zur Seite und der Schatten zerfetzte die Rinde des Baumstammes.

Mit schnellen Schritten hechtete Saren zu dem Dolch, der auf dem Boden lag, und drehte sich zu den Schatten um, der abermals auf sie zukam. Entschlossen drehte sich Saren und riss ihre Hand mit der Waffe nach vorn. Sie spürte, wie die Klinge in den Schatten eindrang, und kurz darauf löste er sich auf.

Keuchend starrte Saren auf die Stelle, wo er sich vorher befunden hatte und dann dorthin, wo der Zweite gestorben war. Sie wischte abermals über ihr Gesicht, um das Blut wegzubekommen und erstarrte, als sie erneutes Kreischen vernahm. Es klang so als wurden mehrere Wesen gleichzeitig schreien.

Mit pochendem Gesicht, glühender Schulter und schmerzenden Knochen drehte sich Saren um und starrte auf die Bäume, die hinter ihr waren. Sie konnte das näherkommen mehrere Wesen hören und sie hielt ihren Dolch immer höher. Ihre Gesichtszüge entglitten ihr, als sie sah, dass mehr als zehn Schatten durch das Gehölz brachen.

Verdammt!

Saren wusste, dass sie nicht alle töten konnte und dass die überlebenden Schatten ihre kleine Schwester jagen würden. Sie würden Aleitha finden, einholen und sie so zerreißen wie die Kinder, die nun tot in der einen Kuhle lagen.

Tränen stiegen Saren in die Augen und deren Salz brannte in ihrer Wunde im Gesicht.

Was soll ich nur machen?

Panik kam in Saren hoch und sie hatte das Gefühl zu versagen. Sie konnte nicht das Versprechen erfüllen, dass sie ihrer Mutter gegeben hatte. Der einzige Trost in Saren war, dass sie wenigsten alles zusammen sein würden. Sie würde ihre Eltern endlich wiedersehen und wenig später dann wohl auch ihre kleine Schwester.

Nein! Du darfst nicht aufgeben. Du hast Aleitha versprochen, du würdest auf sie aufpassen. Dass ihr nichts geschehen würde!

Saren biss die Zähne zusammen, drehte sich um und rannte. Sie rannte so schnell sie konnte, denn sie wusste, dass sie tot sein würde, sobald sie langsamer werden würde.

Lass Aleitha weit weg sein … lass sie weg sein … lass sie auf Personen treffen, die uns helfen können …

Obwohl Saren wusste, dass sie die Schatten in die Richtung ihrer Schwester führte, rannte sie dennoch weiter. Vielleicht würden sie alle heute doch sterben, doch dann wollte sie an der Seite ihrer Schwester sein.

Wie lange Saren rannte, konnte sie nicht sagen. Sie wusste nur, dass ihre Gegner immer näher kamen und dass sie Blut sehen wollten. Sie hörte das Kreischen der Schatten, ihre Schritte und immer wieder Holz splittern.

Plötzlich strauchelte Saren und sie fiel hin. Sie kam hart auf dem Boden auf, drehte sich um und sah, wie ein Schatten mit ausgefahrenen Krallen auf sie zusprang.

„NEIN!“

Sie riss ihre Augen auf, hob ihre Arme schützend von sich und war wütend. Sie war wütend darüber, dass sie versagt hatte. Doch sie durfte nicht versagen. Sie musste auf Aleitha aufpassen. Musste dafür sorgen, dass ihre kleine Schwester zu diesem Ort kam, von dem diese Frau erzählt hatte. Doch dies konnte Aleitha nicht alleine. Aleitha brauchte sie.

Es war so, als würde etwas in Saren zerbrechen. Sie spürte einen heftigen Schmerz durch ihren Körper rasen. So als würde etwas von ihr herauswollen und sie dabei zerfetzen. Sie fühlte, wie eine Macht sie verließ und eine Welle ging von ihr aus.

Als die unsichtbare Welle den springenden Schatten berührte, hing er in der Luft. Sein Maul war geöffnet, doch es kam kein Ton heraus. Nichts an ihn bewegte sich. Und dies galt auch für alles, was die Welle durchstieß. Alles erstarrte.

Saren schrie, während der Schmerz in ihr tobte und sie zerrte an ihrem Hemd. Sie hatte das Gefühl innerlich zerreißen zu müssen. Als würde sie in Flammen stehen und konnte sich nicht dagegen wehren. Sie schrie aus vollem Halse und als dann die Finsternis kam, die sie umhüllte, nahm sie diese erleichtert auf.

 

Chaidra beugte sich über den zerfetzten Körper eines jungen Mannes, als sie plötzlich das Gefühl hatte, dass etwas nicht stimmte. Sie richtete sich auf und hörte dann, wie eine Frau aufschrie. Die Todwächterin wirbelte herum und starrte auf eine Zeitwächterin, deren Gesicht schmerzverzogen war. Ihr Blick wanderte zu den anderen beiden Zeitwächterinnen.

Thanjata starrte mit bleichem Gesicht in Richtung Norden und zitterte am ganzen Körper. Die dritte Zeitschwester verdrehte die Augen und fiel auf dem Boden. Sofort war Kadalin an ihrer Seite und beugte sich besorgt über ihr.

Die erste Zeitwächterin hörte auf zu schreien und sank mit einem schmerzenden Blick auf dem Boden. Sie zitterte nun auch am ganzen Körper.

„Was … was ist passiert“, fragte Chaidra leise, doch sie fürchtete sich vor der Antwort. Egal was passiert war. Es musste schrecklich gewesen sein, wenn es ihnen nicht so gut ging.

„Jemand … jemand hat in den Zeitsträngen gewirkt“, sagte Thanjata heißer und starrte immer noch nach Norden. „Und zwar auch eine sehr brutale Art und Weise! … Etwas Schlimmes muss passiert sein.“ Die Zeitwächterin sah zu Chaidra und Furcht stand in ihren Augen. „Wir müssen sofort los und die Kinder finden!“

Bei diesen Worten spürte Chaidra, wie das Blut aus ihrem Gesicht floh. Eine eiskalte Hand griff nach ihrem Herzen und sie fragte sich, was gerade passiert war. Sie hoffte innig, dass es den Schwestern gut gehen würde.

 

Aleitha war gerannt. So schnell und lange, wie sie konnte, doch dann wollten ihre Beine ihr nicht mehr gehorchen und sie brach auf dem Boden zusammen. Ihre Beine schmerzten, sie hatte heftiges Seitenstechen und bekam so einen Brechreiz, dass sie sich übergeben musste. Als ihr Magen sich wieder beruhigt hatte, drehte sie sich in die Richtung, aus der sie gekommen war, und starrte bange dorthin. Angst war in ihr. Sie war so heftig, dass sie nicht ruhig atmen konnte. Die Stille um ihr herum war bedrohlich und wirkte unnatürlich.

„Saren“, flüsterte sie und Tränen stiegen in ihre Augen. Sie wollte zu ihrer Schwester. Wollte sie umarmen und ganz fest halten.

Sie hatte keine Ahnung, was mit ihrer Schwester passiert war. Hatte sie den Schatten töten können und war ihr dann gefolgt? Doch wie sollte Saren sie finden?

Je mehr Zeit verging, desto größer wurde die Angst in Aleitha. Dann begann es zu regnen. Dicke Regentropfen prasselten auf sie nieder.

„Saren“, wiederholte sie abermals.

Dann fällte sie eine Entscheidung.

Wenn ihre Schwester schon tot war, dann war es nur eine Frage der Zeit, bis die Schatten sie finden und auch töten würde. Doch, was ist, wenn ihre Schwester noch lebte? Was ist, wenn sie verletzt war und darauf wartete, dass ihr jemand half?

Aleitha wuchtete sich auf die Beine und lief in die Richtung zurück aus der sie gekommen war. Sie musste zu ihrer Schwester!

 

Wie lange Aleitha zurückgelaufen war, konnte sie nicht sagen, doch die Angst um ihre Schwester sorgte dafür, dass sie immer weiter lief. Immer weiter voran und ständig steigender Angst. Plötzlich merkte sie, dass etwas nicht stimmte und sie brauchte eine Weile um zu erkennen, was es war.

Es herrschte ein gespenstige Stille und die Umgebung sah unnatürlich aus. Saren sah vor sich eine Fliege, die in der Luft schwebte. Doch sie schlug nicht mit dem Flügeln und bei solch einem Regen war es seltsam, dass sich eine Fliege schutzlos flog. Als Aleitha dem Tier näher kam, verschwand es auch nicht. Sie sah sich weiter um.

Es schien ihr so, als würde alles um ihr herum erstarrt sein. Kein Ast bewegte sich, obwohl Aleitha einen heftigen Wind spürte. Selbst die Gräser waren reglos.

Was ist hier los?

Die Angst in Aleitha wurde größer, als ihr mit voller Wucht bewusst wurde, dass es wirklich so aussah, als wäre alles erstarrt. Sie konnte eine Staubwolke in der Nähe erkennen und ein Wildschwein, dass diese verursacht hatte. Sie konnte sich vor dem Wildschwein niederknien und es bewegte sich nicht. Rein gar nichts bewegte sich in der Umgebung.

„Saren!“

Mit klopfenden Herzen rannte Aleitha los. Dann blieb sie panisch stehen. Zwischen den Bäumen konnte sie Schatten sehen. Doch bewegte sich nicht. Sie schienen auch erstarrt zu sein. Langsam kam das Mädchen immer näher.

Sie konnte elf Schatten zählen und einer sah so aus, als würde er etwas anspringen wollen.

Aleitha riss ihre Augen auf.

„Saren!“

Mit wenigen Schritten war sie bei ihrer Schwester und mit klopfenden Herzen beugte sie sich über sie. Sie griff nach ihrer Gabe und sah … nichts. Im ersten Moment war sie erleichtert, dass sie keine Düsternis bei ihrer Schwester sah, doch dann wurde sie panisch. Sie sah zu den Schatten und erkannte auch bei diesen … nichts. Alles, was reglos war, hatte weder einen Schein noch eine Düsternis.

„Nein … nein … Saren …“

Sie ergriff ihre Schwester an der unverletzten Schulter und rüttelte diese. Erleichtert stellte sie fest, dass sich der Körper ihrer Schwester bewegte. Also war sie nicht so erstarrt wie alles andere um ihr herum. Dann sah sie mit Schrecken all das Blut. Das Blut, das aus einer Wunde im Gesicht floss und aus der alten Schulterwunde. Aleitha wollte frische Verbände holen, doch sie fand keine in ihren Rucksack. Hektisch sah sie sich um. Fand den Dolch ihrer Schwester und zerschnitt ein sauberes Hemd. Dann versorgte sie sorgfältig und behutsam die Wunden ihrer Schwester.

Als sie fertig war, setzte sich Aleitha neben ihr und wartete. Sie wartete darauf, dass ihre Schwester wieder aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachen würde.

Kapitel Einundfünfzig

 Die Warnung

 

Geheimnisse sind gefährlich. Vor allen, wenn man sich nicht sicher ist, wem man vertrauen kann und wen nicht.

 

Rae Sir Sereille Fizan,

Hohe Mutter,

Sommer im Jahre1656

 

Die Sonne war gerade erst untergegangen, als Sivian or`Majat durch ein Geräusch am Fenster gestört wurde und sie widerwillig ihre Schreibfeder zur Seite legte. Sie blickte kurz auf den Brief, den sie gerade schrieb, ehe sie aufstand und zum besagten Fenster trat. Hinter der Glasscheibe konnte sie einen Falken erkennen, der mit seinen Schnabel gegen die Scheibe pochte, um somit Aufmerksamkeit zu bekommen. Vorsichtig öffnete die Frau das Fenster und der Vogel flog hinein, drehte ein-zwei Runden, ehe er dann auf dem Tisch landete. Die Erste Seherin schloss das Fenster wieder, ehe sie einen Moment lang verharrte und zu dem jungen Sternenhimmel blickte. Sie suchte ihn ab und fragte sich, was die Vorhersage mit „Und ein brennender Stern wird vom Himmel fallen…“ bedeuten würde. Konnte wirklich ein Stern auf die Erde fallen? Geschichten über die leuchtenden Körper kamen ihr in den Sinn und blendete für eine Weile alles um sich herum aus. Früher war sie immer mit ihren Geschwistern auf einen Hügel nahe Eisken gegangen und dann hatten sie sich im Gras liegend gegenseitig erzählt, was für Figuren sie im Himmel sehen konnten. Sie selber hatte kaum etwas erkannt und selbst dann auch nicht, wenn ihre Brüder und Schwester ihr alles haargenau beschrieben hatten. Sehnsucht kam in ihr auf, doch dies verschwand schnell, als es an der Tür klopfte und der Vogel leise aufschrie. Mit einem finsteren Blick zu Tür, sprach sie: „Herein!“ Sie hoffte, dass der Ankömmling einen guten Grund haben musste, sie zu stören.

Die Tür öffnete sich und eine Wächterin mit schwarzen langen Haaren trat hinein. „Dieser Brief ist soeben für sie angekommen, Rae Zhajà Sivian „, begann die Frau, doch sie brach ab, als sie einen Blick auf den Falken warf. Sie runzelte ihre Stirn. „Nachrichten von Vria Wallane, Rae Zhajà?“

Sivian trat vom Fenster weg und betrachtete die andere Wächterin. Es war Uleine, die einer der wenigen war, die von der Geheimen Bruderschaft wusste, sodass sie nichts vor ihr geheim halten musste. Sie setzte ein Lächeln auf, während sie zum Tisch ging, wo der Falke immer unruhiger wurde. „Ja, Vria Uleine, aber ehe du weiterfragst, ich habe sie noch nicht gelesen … du sagt, dass ein Brief angekommen ist?“

Uleine warf einen kurzen Blick auf dem Vogel, wobei sie nickte und einen Brief aus einer Tasche zog. Er trug das königliche Siegel von Kronewar, sodass Sivian sofort ahnte, was drin stand, ohne ihn auch nur gelesen haben zu müssen. Ihr Gesicht wurde dunkler.

Der Falke schrie wieder laut auf und hüpfte auf dem Tisch herum. Er wollte endlich seine Nachricht losbekommen, um dann in den Falkenturm etwas fressen zu suchen. Die Erste Seherin band mit schnellen sicheren Handgriffen die Nachricht von dessen Fuß und er stieg wieder in die Lüfte. Dort fing er an einige Kreise zu fliegen, da das Fenster wieder zu war und er stieß wieder einen grellen Schrei aus. Erst als das Fenster erneut geöffnet wurde, verließ er das Zimmer und flog in die Dunkelheit hinaus. Sivian schloss das Fenster wieder. „Nimm dir einen Platz, Uleine…dann können wir beide lesen, was Vria Wallane geschrieben hat.“

Die Wächterin nickte und nahm Platz, wobei sie immer noch den Brief in den Händen hielt. „Ihr solltet vielleicht erstmal den Brief des Königs lesen, Rae Zhajà.“

„Ged kann warten!“ Fauchte Sivian plötzlich, und als sie dies merkte, seufzte sie. Sie musste wirklich lernen, sich zu beherrschen, wenn es um die Herrscher der anderen Länder ging, vor allen um die, die immer mehr gegen die Priesterschaft sind, oder sogar verlangen, dass die Priesterschaft sich ihnen unterstellte. Sie atmete mehrfach tief durch, ehe sie ihre Freundin anlächelte. „Da ich mir denken kann, was er geschrieben hat, sollten wir uns lieber die Nachricht widmen, wo ich mir nicht denken kann, was drinnen steht.“ Dies war teilweise gelogen, denn sie hatte vor einiger Zeit Wallane einige Anweisungen gegeben, etwas Bestimmtes für sie herauszusuchen und nun hoffte Sivian, dass diese Wächterin einige Antworten gefunden hatte.

Die Nachricht war sehr kurz und gleichzeitig verwirrend, denn sie hatte nichts mit der Aufgabe zu tun und bestand auch nur aus einem Satz, der jedoch nicht zu Ende geschrieben schien.

Eine seltsame Kraft ist in Hanor aufgetaucht und sie wird immer stärker, sodass ich glaube…

 

Mehr gab es nicht.

Sivian blickte Uleine fragend an, doch auch sie wusste keine Antwort, sondern sah nur besorgt zurück. Wenn irgendwo eine seltsame Kraft auftauchte, dann war dies beunruhigend. Würde es sich um eine Wächterin handeln, oder um ein Kind, welche die Gabe besaß, dann würde Wallane nicht die Beschreibung seltsam gebrauchen, sondern überhaupt keine Nachricht geschickt. Sie hätte das Mädchen zu der Stadt des betroffenen Elements gebracht und damit wäre die Sache erledigt gewesen.

„Ich denke, es wäre das Beste, wenn wir jemanden nach Hanor schicken … mit der Begründung, um herauszufinden, woher diese Kraft kommt …“ Dann nahm Sivian den Brief von dem König von Kronewar und öffnete ihn. Sie musste diesen nicht mal bis zu Ende lesen, um zu wissen, was dieser von ihr verlangte…verlangte! Er fragte nicht, oder bat sie darum, nein, er befahl ihr, dass man den Verantwortlichen ausliefern sollte, der den Wald in seinem Land geschadet hatte. Wut kam in ihr auf und sie sprang vom Stuhl auf, welcher mit einem lauten Knall zurückprallte. Sie war hochrot. „Wie kann er es wagen!! Wie kann er es einfach wagen, mir etwas zu befehlen!“ Sie schmiss den Brief auf dem Tisch und atmete mehrfach tief ein und aus, um sich zu beruhigen. Dann sah sie Uleine an. „Kannst du dir diese Frechheit vorstellen?“

Uleine, die wusste, dass Sivian überhaupt nicht mit den ganzen Königen zurechtkam, nickte leicht. Dies war auch verständlich, denn Sivian war gerade mal knapp siebenundzwanzig Jahre alt und erst seit vier Jahren die Erste Seherin. Hinzukam, dass sie selber nie dies gewollt hatte und man mehr oder weniger sie stark überzeugen musste, dass sie dieses Amt übernehmen sollte. Die einundzwanzig Hüterinnen der Zeit hatten dies beschlossen und so konnte Sivian schlecht etwas dagegen machen, es sei denn, sie hätte gegen die ganzen Regeln der Zeitwächterinnen verstoßen, was sie ja auch fast gemacht hätte … Die Zeit-Wächterin seufzte, als sie daran zurückdachte, und erhob sich.

„König Ged hatte schon immer geglaubt, dass er uns vorschreiben könnte, was wir machen sollen und was nicht. Ich denke, dass er schnell lernen wird, dass ihr nicht nach seiner Pfeife tanzen werdet, erste Seherin … wenn ihr mich entschuldigt … die Hüterinnen, wollen sich heute noch treffen. Wenn ihr wollt, dann solltet…“

„Nein“, unterbrach Sivian die andere Frau sofort und hart. Ein Treffen mit den Hüterinnen war das Letzte, was sie heute noch wollte. „Geh ruhig, Uleine…dann kannst du ihnen auch gleich von der Anmaßung Geds erzählen!“

„Wie ihr wünscht, Erste Seherin“, sprach Uleine und man konnte hören, dass sie enttäuscht war. Schon lange versuchte sie Sivian zu überzeugen, zu den Hüterinnen-Treffen zu kommen, denn es war Tradition, dass die Erste Seherin bei den Treffen anwesend war, doch Sivian hatte gleich an Anfang ihres Amtsantritts deutlich gemacht, dass sie sich nicht zu den langatmigen Versammlungen gehen würde…wenn etwas wichtiges beschlossen würde, dann könnte man es ihr auch danach sagen. Uleine seufzte. Sivian hatte zwar das Amt der Ersten Seherin angenommen, aber machte immer wieder klar, dass es gegen ihren Willen geschah. Und wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann war es sehr schwierig, sie umzustimmen. „Ich wünsche ihnen noch einen schönen Abend, Erste Sehende!“ Als Uleine gegangen war, stahl sich ein Lächeln auf dem Gesicht von Sivian, denn sie konnte sehr gut ahnen, was diese Frau gerade gedacht hatte. Nun, die Hüterinnen hatten sie gewählt, nun mussten sie mit dieser Entscheidung leben, auch wenn es ihm nicht passte. Sie würde ihnen zeigen, dass es Konsequenzen haben wird, weil man sie dazu gezwungen hatte und wenn es darum geht, jemanden lange Zeit nicht zu verzeihen, da war sehr gut darin. Obwohl schon vier Jahre vergangen waren und sie sich mittlerweile an ihr Amt gewöhnt hatte, wollte sie immer noch nicht alle Pflichten übernehmen, vor allen, wenn diese etwas mit den Hüterinnen zu tun hatte. Ihr war zwar bewusst, dass die Hüterinnen früher oder später etwas dagegen unternehmen würden, doch was könnte schon Schlimmes passieren? Dass man ihr das Amt wieder entzog? Darüber würde sie sich sehr freuen und bestimmt keine Träne nachweinen. Wenn sie an der Bruderschaft dachte, dann war es sogar besser, wenn die Hüterinnen sie endlich entfernen würde. Leider waren jedoch diese Zeit-Wächterinnen genauso stur wie sie selber und es war nur eine Frage, wer zuerst nachgeben würde. Die Hüterinnen wussten, dass es ihr gefallen würde, wenn man sie ersetzte und aus diesem Grund taten sie es auch nicht, ebenso weil es in der Geschichte der Priesterschaft noch nie eine Erste Seherin entfernt worden war. Die Hüterinnen hatten zwar die Macht dazu, doch nie hatte sie diese eingesetzt. Sivian schüttelte leicht den Kopf. Wenn die Frauen dachten, sie würde zuerst nachgeben, dann musste sie diese leider ziemlich stark enttäuschen. Und wenn ihm etwas nicht gefiel, dann sollten die Mitglieder die Schuld bei sich selber suchen. Sie haben sie gewählt und nun müssen sie mit den Konsequenzen leben!

Sie seufzte und musste kurzzeitig an das Ratstreffen denken, welches vor fünfzehn Tagen in Sardenthal stattgefunden hatte. Wieder hatte sie verdeckt darum kämpfen müssen, dass man nichts gegen der »Grauen Bruderschaft« vorgehen würde. Da zum Glück, oder eher Unglück, in dem Moment eine Nachricht von Schattenangriffe in Ardask eingetroffen ist, ging das Thema »Graue Bruderschaft« schnell unter. Man hatte beschlossen die acht Ersten Generäle der Elemente dorthin zu schicken, um den Inhalt der Nachricht zu überprüfen und danach konnte Sivian endlich mit ihren Zeit-Schwestern wieder zurück nach Zhajien, den Hort der Zeit, reisen. Damit sie nicht Monate lang reisen mussten, hatten sie drei Reisebögen durchquert, sodass die Reise nur knapp zehn Tage gedauert hatte. Zehn anstrengende Tage. Es wurde wirklich Zeit, dass die Hüterinnen endlich eine neue zweite Rätin wählten, damit sie selber nicht zu überarbeitet war! Erste Seherin und vorübergehende Rätin gleichzeitig zu sein, war mehr als anstrengend.

Während die erste Seherin die beiden Nachrichten auf dem Tisch betrachtete, spürte sie nicht, wie sich langsam ein schläfriges Gefühl in ihr breitmachte und erst als es zu spät war, fiel ihr Kopf auf dem Tisch und sie schlief sofort ein. Der Körper holte sich den Schlaf, um den er seit Tagen betrogen wurde.

 

Es bewegte sich immer schneller auf die festen Mauern zu, die die Stadt der Winde umgab und sein formloser Körper schlängelte sich zwischen den spitzen Steinen umher. Die grandiosen riesigen Steinmauern kamen immer näher und ein unterdrücktes Verlangen nach Rache kam in dem Wesen auf. Hass brodelte in den unsichtbaren Adern, eiskalt klopfte das Herz und ein grausamer leiser Schrei entfuhr der dunklen Masse. Wut und Verlangen beherrschten die ganzen Gedanken.

Der Weg, den es schon zurückgelegt hatte, war lang gewesen. Fast zwanzigtausend Meilen und diese wurden meistens nachts bewältigt, um vorbeugen zu können, dass man es nicht sah. Städte hatte es gemieden, ebenso große befahrene Straßen. Die Dörfer jedoch, die es traf, waren, nachdem das Wesen diese wieder verlassen hatte, verflucht und es starben aus unerklärlichen Gründen immer wieder Personen. Egal ob es Frauen, Männer oder Kinder waren; auch war es egal, ob sie alt oder jung waren! Die Seuche, die es brachte, tötete alle nach einer oder zwei Nächten voller Qualen.

Rache! Es wollte Rache und es wollte den Tod riechen! Tod! Rache!

Es war Leighd, der Zerstörer oder Liagia, die Vernichterin! Es war ein Schatten, mit zwei Seelen, die nur eins wollten: Rache! Tod!

Die Mauern von Lurthen wurden immer größer und es wurde immer unruhiger. Bald war es da. Bald bekam es, was es wollte. Bald würde die Rache ihm sein. Ein kleines Lachen, das weder weiblich noch männlich war, ertönte und der Wind trug es fort. Die Brise trug es in die Stadt durch die Ritzen der Mauern und die Personen in der Stadt fingen an zu schreien. Sie schrieen aus Todesangst, vor Qualen und vor der Angst des Unbekannten. Das Lachen kroch in den kleinsten Winkeln, wo sich Kinder versteckten und die Tiere wimmernd dalagen, und die Verstecke wurden zur Falle der Qualen und die Schreie immer panischer.

Es gefiel das Geräusch, was die Personen in ihrer Qual von sich gaben und weidete sich daran. Leighd, der Zerstörer lachte immer lauter und immer schneller. Liagia, die Vernichterin stieß schwarzen Nebel aus der formlosen Masse und blies diesen in die Stadt der Priesterinnen.

Der Nebel versperrte die Sicht der Fliehenden, an manchen Stellen wurde er kurz rot, dann wieder rabenschwarz. Rauch, der von den brennenden Häusern kam, vermischte sich mit dem Nebel und wurde zu einer undurchdringlichen Mauer. Der Boden wurde immer röter und war von schlaffen toten Körpern überfüllt. Als der Nebel langsam verging und das Lachen immer leiser wurde und zum Schluss erstarb, war aus der einst wunderschöne Stadt eine Lagerhalle von unzähligen Leichen geworden.

Leighd war glücklich, Liagia kicherte leise…

 

Sivian warf ihren Kopf hin und her. Ein lautes Stöhnen entfuhr ihr. Sie richtete sich mit einen schnellen Ruck auf, ehe sich ihre Auge verdrehten und sie wieder auf dem Tisch aufschlug. Ein feines hauchdünnes Rinnsal von Blut trat unter ihren Haaransatz vor und floss über ihr Gesicht, das nun schmerzverzogen war.

 

Unglaublich großer Hass strömte aus ihnen heraus. Sie wollten Rache, wollten Zerstörung und denjenigen, der ihnen das angetan hatte, leiden sehen. Je näher sie einer bewohnten Gegend kamen, desto mehr brodelte der Hass in ihnen und Leighd stieß wieder einen unheimlichen Nebel aus, der von Liagia in zu den Lebewesen geblasen wurde. Kurze Zeit später erfüllten Schreie die Gegend! Diese Geräusche waren eine Wohltat für sie und Freude erfüllt sie. Leighd würde am liebsten Tanzen und Liagia laut aufschreien. Die Schreie wurden immer höher, panischer und qualvoller.

 

Der Mond hatte gerade seine höchste Stelle erreicht, als Sivian aufwachte und sich verwirrt aussah. Schweiß lag auf ihrem Gesicht und sog die Luft um ihr herum heftig ein. Was hatte sie geweckt? Obwohl sie hoffte, dass es der Traum gewesen war, kam in ihr ein Gefühl hoch, dass schwer zu deuten war. Sie wusste nicht, wieso, aber irgendetwas stimmt einfach nicht. Langsam erhob sie sich, wobei sie versuchte zu vergessen, was sie gesehen hatte. Furchtbare Bilder von Sterbenden kamen in ihr hoch und sie ging zitternd zum Fenster, um frische Luft rein zulassen. Was war das für ein Traum gewesen? Sowas hatte sie noch nie geträumt und tief in Inneren hoffte sie, dass sie dies auch nie wieder machen müsste. Oder war es eher eine Vision gewesen? Von der Zukunft? Sie war eine Zeitwächterin, die mit der Zukunft verbunden war. Als das Fenster offen war, kam ihr eine erfrischende kühle Brise entgegen und sie schloss die Augen. Doch diese öffnete sie schnell wieder, da sie nur den Traum vor sich sah. Wer oder was war der Schatten, der so einen Hass in sich trug? Einen grausamen Hass auf die Luft-Wächterinnen? Ein Schaudern befiel sie.

Während sie in die Dunkelheit hinausblickte, nahm sie plötzlich am Rande eine Bewegung wahr, und ehe sie reagieren konnte, spürte sie, wie jemand ein Tuch auf ihren Mund und Nase presste, welches einen scharfen Geruch verströmte. Sie wurde dabei hart festgehalten. Sie bäumte sich gegen den Griff auf, wollte aufschreien und sich wehren, doch sie konnte sich keinen Meter rühren und ihre Bewegungen wurden immer langsamer. Panik erfüllte sie, während sie immer schwächer wurde, doch dabei nicht aufgab. Sie strampelte mit ihren Beinen und wollte mit ihren Händen, die Hand mit dem getränkten Tuch wegschieben. Doch diese bewegte sich keinen Zentimeter und war hart wie aus Stahl.

„Ganz ruhig…ganz ruhig…wenn du dich wehrst, dann wird es schlimmer“, ertönte eine tiefe Stimme und diese war das letzte, was Sivian vernahm, ehe sie in Dunkelheit fiel.

 

Der Mann legte die bewusstlose Frau auf dem Boden, riss ihr das Kleid auf der Brusthöhe auf und zog ein kleines Messer, welches so scharf war, dass es sogar ein Haar spalten konnte. Dann begann er Schriftzeichen in die entblößte Brust zu ritzen, wobei er nicht gerade sanft umging. Er hatte Befehle erhalten, dass die Nachricht deutlich und vor allen bleibend sein sollte und so wie er seinen Vorgesetzten kannte, würde dieser sich später überzeugen, ob auch alles nach Plan gegangen war. Zeichen für Zeichen ritzte er in die Haut, welches sein Messer leicht nachgab. Das erste Zeichen verewigte er langsam, so als würde er es genießen und dabei lag ein sanfter Blick in seinen Augen. Blut quoll hervor und floss auf der Haut entlang, während er sich erhob und den ersten Teil seines Meisterwerkes betrachtete. Dann hockte er sich wieder hin und begann das zweite Symbol, welches er dieses Mal fast zärtlich einritzte. Jeden Strich und jeden Punkt überlegte er genau, ehe er fortfuhr, denn die Nachricht sollte deutlich sein!

Die Zeit verging und als er sich erhob, sah er sein Werk an. Es bestand aus drei Wörtern in der Alten Sprache: De`Louva vio Lithisil!

Ob die Frau diese Sprache oder diese Symbole kannte, das wusste der Schatten nicht, doch dies war nicht sein Problem. Er hatte die Nachricht seines Herrn überbracht, wie die Frau sie deuten würde, war nicht seine Sache. Er säuberte sein Messer an der Kleidung der Frau, und als er merkte, dass diese langsam wieder zu sich kommen wollte, schlug er sie brutal ins Gesicht, sodass sie wieder zusammensackte. Dann begann er, sich im Zimmer umzuschauen. Er sollte seine Nachricht deutlich rüberbringen? Ein finsteres Lächeln tauchte auf. Darin war er Meister.

Ohne darauf zu achten, was er ergriff, fing er an, sämtliche Einrichtungsgegenstände zu zerkleinern, wobei er leise war, denn das Letzte, was er wollte, war, dass man aufmerksam auf ihm wurde. Er riss Bücher aus dem Regal, warf Zettel in den Kamin, wo die Asche sofort wieder Feuer schlug und zerkleinerte den Tisch. Warf Gefäße um und als er fertig war, zog er einen schwarzen Pfeil aus einer Kiste, die hinter mehreren Büchern versteckt war und holte aus seiner Tasche einen kleinen Beutel. Oh ja, seine Nachricht würde für immer bleiben! Er beugte sich über die Frau, griff in seinen Beutel und holte eine Handvoll Salz hervor. Den Pfeil legte er beiseite, sodass er mit der anderen Hand den Mund der Frau zuhalten konnte. Dann streute er das Salz in die offenen Wunden. Enttäuscht, dass die Frau nicht davon aufgewacht war, wuchtete er sie hoch, nahm dem Pfeil und schleifte sie zur Tür. Dort drückte er sie aufrecht auf das Holz und rammte den Pfeil so in die rechte Schulter rein, dass er knapp unter dem Schlüsselbein entlang ging und keine lebenswichtigen Organe verletzt wurden. Dann trat er einige Schritte zurück. Die Frau wurde durch den Pfeil aufrecht an der Wand gehalten und wenn sie aufwachen sollte, dann würde sie merken, dass sie sich nicht in Dinge einmischen sollte, die sie nichts angingen. Mit einem letzten, fast fanatischen Blick, verließ er den Ort.

 

Kurz nachdem die Hüterinnen die Sitzung beendet hatten, verließ Uleine das Ratsgebäude und wollte in ihre eigene Wohnung gehen, als sie plötzlich ein seltsames Gefühl hatte und ihr Blick auf dem Fenster der Ersten Seherin fiel. Sie runzelte die Stirn als ihr bewusst wurde, dass etwas nicht stimmte. Das Fenster zum Arbeitszimmer von Sivian stand weit offen und es schien, dass die Vorhänge in seltsame Streifen geschnitten waren. Mit einen unguten Gefühl änderte sie ihre Wegrichtung zum Turm.

Sie brauchte nicht lange bis zum Eingang, der zu diesen Teil des Turm führte und als sie die Treppenstufen hochstieg, wurde ihr immer mehr bewusst, dass etwas nicht stimmen konnte. Die letzten Stufen rannte sie hoch.

Vria Sivian“, rief sie und wollte die Tür öffnen. Diese allerdings füllte sich schwer an, sodass sie nur mit großer Mühe die Tür öffnen konnte. Vorsichtig betrat sie das Zimmer. „Erste Seherin?“

Als sie den Raum blicken konnte, blieb sie schockiert stehen. Das schwache Licht, was das Feuer im Kamin verursachte, erhellte einen Teil des Zimmers, welches sehr verwüst aussah. Überall lagen Scheiben, Bücher und Holzsplitter. Kissen waren aufgeschlitzt, sowie auf die Vorhänge. Auf dem Boden konnte man auch eine Blutspur erkennen. Ein eiskalter Schauer griff nach ihrem Herz. „Sivian?“ Sie nahm vom Flur eine Fackel und trat ganz ein. Dann folgten ihre Augen die Blutspur.

Mit einem Mal wusste sie, wieso die Tür so schwer zu öffnen war. „Erste Seherin“, schrie sie auf und trat auf Sivian zu, deren Kleidung von Blut getränkt war und sie leise stöhnte. Vorsichtig hielt sie die Frau und dann zog sie langsam den Pfeil raus. Sivian riss die Augen auf und wollte schreien, doch ihr entfuhr nur ein Wimmern, dann sackte sie in sich zusammen. Uleine legte sie vorsichtig auf dem Boden und überlegte, wen sie am besten holen sollte, als sie leise etwas hörte. Sivian versuchte, zu sprechen. Uleine beugte sich unter.

„Sag niemanden bescheid … nichts sagen …“ Sivian stöhnte leise.

Uleine stand unschlüssig da. Ihr wurde bewusst, dass dieser Angriff wahrscheinlich etwas mit den Aktivitäten der Grauen Bruderschaft zu tun hatte und das niemand davon erfahren durfte, doch dies ging zu weit. Sie legte ihre Hand auf die Stirn Sivians und spürte, dass die Frau heiß war. Uleine zögerte kurz. Was sollte sie machen? Sie brauchte dringend eine Heilerin, doch dann würden Fragen kommen. Fragen, die gefährlich sein konnten. Sie nahm ein Stück des Vorhangs, presste ihn auf die Wunde der Schulter und verband diese. Dann nahm sie einen anderen Fetzen der Vorhänge und wischte das Blut ab. Als sie jedoch das Blut auf der Brust abwischen wollt, bäumte Sivian sich auf. Die Wunden dort waren nicht tief, dafür aber mit Salz bestreut, und als Uleine genauer hinsah, konnte sie erkennen, dass die Wunden kleine Zeichen waren. Sie runzelte die Stirn und ging zu einem kleinen Schrank, der noch heil war, und holte ein Laken hervor, welches sie in Streifen schnitt und dann vorsichtig die Brust verband. Danach stand sie auf.

„Ich werde Vria Olve holen, damit sie sich die Wunden genauer ansehen kann und…“

„Nein…nein“, presste Sivian hervor und richtete ihren Oberkörper auf. Schwindel befiel ihr Kopf und sie stöhnte sie auf. „Niemand darf es erfahren, Uleine! Schwör es! Niemand wird davon erfahren! Schwöre es! Bei den Strängen der Zeit!“

Uleine war gar nicht wohl bei dieser Sache. Auf der einen Seite wusste sie, dass es Fragen geben würde, Fragen, welche nicht gestellt werden dürfen, doch auf der anderen Seite hat es einen Angriff auf die Erste Seherin gegeben. Irgendjemand war hier unbemerkt eingedrungen! Ein Schaudern befiel sie. Dies war noch nie jemanden vorher gelungen. Zhaj war die sicherste Stadt von dem Zeitwächterinnen. In den Turm der Zeit war noch nie jemand eingedrungen. Obwohl alles in ihr dagegen sprach, nickte sie. „Ich schwöre es, Este Seherin!“

Ein schwaches Lächeln tauchte in dem Gesicht von Sivian auf. „Gut…gut…“

„Ich werde euch ins Bett bringen, Rae Zhajà Sivian“, sprach Uleine und stützte Sivian. „Ich werde danach alles hier in Ordnung bringen, ehe die anderen etwas davon merken werden…“

Zum Glück befand sich das Schlafgemach der Zeitwächterinnen nur einige Stufen in der Etage unter diesem Arbeitszimmer und nach einigen Minuten lag Sivian im Bett. Ihr Gesicht war bleich und ihr Haar schweißnass, doch sie lächelte. „Danke, Uleine…Danke…“ Ihre Augen schlossen sich und sie fiel in einen tiefen Schlaf.

Uleine überzeugte sich, dass die Erste Seherin auch wirklich nur schlief, ehe sie mit einen Seufzer ins Arbeitszimmer zurückging. Sie betrachtete das Chaos lange. Irgendjemand wollte wohl eine deutliche Nachricht zurücklassen und tief in inneren wusste sie, dass diese Nachricht nicht von einem König, der beleidigt war oder von einer Widersacherin kam. Nein! Es war eine von den Anhängern des Hexers, welche immer häufiger werden in letzter Zeit und diese waren nicht begeistert von den Aktivitäten der Bruderschaft. Jemand musste also herausgefunden haben, dass Sivian etwas mit dieser Vereinigung zu tun hatte und dieser jemand hatte ihnen die Nachricht geschickt. Die Frau warf einen ängstlichen Blick in den Raum. Sie wusste nicht, was schlimmer war. Die Tatsache, dass es jemanden geschafft hatte, unbemerkt bis hierher vorzudringen oder diejenige, dass Sivian sich in Dinge verstrickt, die immer gefährlicher wurden. Die Erste Seherin sollte so etwas überhaupt nicht machen!

 

Kapitel Zweiundfünfzig

 In den freien Landen

 

Der Norden von Morharet ist gefährlich. Dort gibt es die sogenannten Freien Landen. Diese sind kein richtiges Reich, denn es wird von Stämmen bewohnt. Dabei sind diese besonders. Es gibt Stämme, wo nur Frauen leben und Stämme, wo nur Männer leben. Diese stehen seit Jahrhunderten in einen ewigen Krieg gegenüber. Deswegen ist es gefährlich, durch die Wälder der Freien Landen zu reisen.

 

Fahlor Jensin,

Abenteurer,

Sommer im Jahre 2347

 

Aleitha hätte nie gedacht, dass alles noch viel schlimmer werden konnte, doch sie hatte sich getäuscht. Sie zerrte an ein einem provisorischen Seil, das aus zusammengebundenen Kleiderstücken bestand, und versuchte die Schmerzen in ihrem Beinen zu ignorieren. Ihr tat alles weh. Die Muskeln in den Beinen. In ihren Schultern. In ihren Armen. Sie spürte sogar Muskeln, wo sie nie gedachte hätte, dass sich dort welche befanden.

Tränen liefen über ihr Gesicht und sie blieb stehen. Lockerte das Gewicht, das sich an dem provisorischen Seil befand, und holte tief Luft, ehe sie sich umdrehte und zu ihrer Schwester blickte.

Etwas hinter ihr befand sich eine kleine provisorische Trage, die aus zwei Ästen und dazwischen gebundenen Decken bestand. Auf dieser lag ihre Schwester sowie auf ihr ganzes Gepäck, obwohl kaum noch etwas vorahnden war. Gestern Mittag hatte Aleitha das letzte Stück Brot gegessen und heute vor zwei Kerzenstrichen den letzten Schluck Wasser. Die meisten Kleidungsstücke waren zerrissen und zu einem Seil zusammengebunden, sodass die zwei Rucksäcke fast leer waren.

Mit zitternden Schritten ging Aleitha zu der Trage und kniete sich neben ihrer Schwester. Sie betrachtete bange das reglose Gesicht von Saren und spürte immer mehr Verzweiflung aufkommen. Zwei Tage waren seit dem Angriff der Wesen vergangen und ihre Schwester war immer noch nicht erwacht. Aleitha spürte, dass sie noch leben musste, denn Saren atmete flach, doch ansonsten war sie reglos und es gab keine Anzeichen dafür, dass sie in naher Zukunft wieder erwachsen müsste. Aleitha beugte sich vor und fuhr mit zitternder Hand über das Gesicht ihrer Schwester, welches glühte. Sie hatte die Wunden neu verbunden, doch da sie kein Wasser mehr besaß, konnte sie diese nicht mehr regelmäßig reinigen. Die Wunde an Sarens Schulter sah sehr ungesund aus … sie war leicht grünlich und sonderte eine helle Flüssigkeit aus. Aleitha war keine Heilerin, doch sie wusste, dass dies kein gutes Zeichen war.

„Wach auf, Saren … wach bitte endlich wieder auf“, flüsterte sie kaum hörbar

Sie richtete sich wieder auf und sah sich um.

Immer noch befand sie sich im Wald, doch er war lichter geworden, sodass es einfacherer für sie, mit der Trage durch die Bäume zu kommen. Etwas vor ihr konnte sie erkennen, dass dort überhaupt keine Bäume mehr standen und sie fragte sich, ob es sich dabei um den Waldrand oder nur um eine Lichtung handelte. Aleitha hoffte sehr, dass sie dort auf eine Siedlung und Menschen treffen würde, denn sie wusste, dass sie sonst Probleme bekommen würde. Sie hatte nichts mehr zu essen, nichts mehr zutrinken und wusste nicht, was sie Saren geben sollte, wenn diese aufwachte.

Wenn sie aufwachte.

Je mehr Zeit verstrich, desto unsicherer war sich Aleitha. Am Anfang hatte sie gehofft, dass es nur so lange dauern würde, wie sonst immer, doch dann war die Nacht eingebrochen und auch vorübergegangen, ohne dass sich der Zustand ihrer Schwester geändert hatte. Am Morgen hatte sie diese Trage gebaut, denn sie wusste, dass es ihr nicht half, wenn sie hier wartete. Sie musste Saren zu jemand bringen und am besten wäre dieser Jemand eine Heilerin. Doch sie waren inmitten eines Waldes und sie wusste nicht, wo sie hingehen sollte. Also hatte sie einfach begonnen, in Richtung Norden zu laufen. Unterwegs war es ruhig. Zu ruhig für Aleithas Geschmack. Zwar erreichte sie das Ende der erstarrten Szene sehr bald, doch sie traf auf kein Tier unterwegs. Glücklicherweise auch auf keine Verfolger oder diese Kreaturen.

Aleitha atmete noch einmal tief durch, ehe sie wieder zu dem Ende des Seiles ging, es über ihre Schultern zog und wieder zu laufen begann. Sie musste laufen. Sie musste ihre Schwester in Sicherheit bringen!

 

Mit einem fassungslosen Blick starrte Chaidra auf die Stelle vor sich und ihr Kopf weigerte sich das zu erkennen, was eigentlich zu sehen war. Sie sah einen Ast, der mitten in der Luft hing. Nein, der hing nicht, er schien wie erstarrt. Genauso wie der Baumkater, der an diesen Ast gekrallt war und ihn höchstwahrscheinlich von dem Baum gerissen hatte. Auf in der Umgebung schien alles wie erstarrt zu sein.

Nein, nicht wirklich erstarrt, sondern erfroren. Erfroren in der Zeit.

Die Todwächterin blickte zur Seite und sah die bleichen Gesichter der drei Zeitwächterinnen, die ebenfalls auf die Stelle blickten. Zwei von ihnen hatten ihr Gesicht immer noch schmerzverzogen und Thanjata hatte die Augen so weit aufgerissen, dass man glauben konnte, diese würden ihr gleich aus dem Kopf fallen. Jede der drei Frauen schien erschüttert.

Auch Kadalin sah mit deutlichem Unbehagen auf diese Stelle und runzelte die Stirn. Er war vom Pferd gesprungen und näherte sich dem schwebenden Ast. Dabei sah er immer wieder zu den Zweitwächterinnen, als wollte er sich vergewissern, dass ihm keine Gefahr drohte, wenn er in den Bereich des Erstarrten ging. Da keine etwas gegen sein Vorhaben sagte, ging er immer weiter. Als er den Ast erreichte, berührte er ihn zögerlich und er traf auf eine feste Stelle. Er versuchte den Ast zu bewegen. In von der Luft zu heben und als der Ast sich nicht rührte, fasste er den Baumkater an.

Der Baumkater hatte ein gräulich getigertes Fell, welches gesträubt war und sein Maul war weit aufgerissen. So als wäre er dabei gewesen zu fauchen, als es ihm erwischt hatte.

Erwischt hatte … was hat ihn denn erwischt? Fragte sich Chaidra und sich unbehaglich um. Wer konnte dafür verantwortlich sein?

Als Kadalin merkte, dass er auch nicht den Kater bewegt und er ebenfalls keinen Stein auf dem Boden wegtreten konnte, gab er auf und trat wieder zu seinem Pferd. Sein Gesicht war nun düster, als würde es ihm nicht gefallen, was er hier sah. Dann sah er auf eine Stelle des Bodens an.

Deutlich führten die Spuren der Kinder in diese Region … direkt in der Gegend, wo die Zeit stillzustehen zu schien.

Chaidra befiel ein frösteln, als sie daran dachte und fragte sich, ob die Schwestern etwas damit zu tun hatten. Sie versuchte die Todstränge zu betrachten, doch dies gelang er nicht. Nein, sie konnte die Stränge sehen, doch sie konnte diese nicht berühren … als wären sie nicht wirklich da.

Eingefroren in der Zeit. Selbst die Stränge des Gleichgewichtes.

Kälte durchfuhr sie und sie blinzelte. Sie konzentrierte sich auf die Stelle, wo die Todstränge auf das Gebiet übergingen und erkannte eine leichte Verzerrung. So, als würde das Gleichgewicht versuchen, alles wieder in Ordnung zu bringen und das Ungleichgewicht des Gebietes zu kompensieren.

Das würde die Kopfschmerzen erklären, die ich seit einigen Kerzenstrichen habe.

Die Todwächterin sah zu den drei Zeitwächterinnen und wollte schon nachfragen, was hier genau passiert war, doch etwas hielt sie davon ab. Alle drei Frauen waren sichtlich erschüttert darüber und es ging ihnen nicht gut. Sie schienen sich sogar fast davor zu fürchten.

Chaidra schloss die Augen und dachte an die Kinder. Sie das noch kindliche Gesicht von Aleitha vor ihren innerem Auge und fragte sich, wie es ihr ging. Ging es ihr gut? War sie verletzt? War sie womöglich auch erstarrt? Daran wollte die Frau nicht einmal denken und sie atmete tief durch. Seit mehr al einen Mond verfolgte sie nun die Kinder und verfluchte ihre eigene Langsamkeit. Sie hätte im Dorf darauf bestehen sollen, dass Aleitha immer in ihre Nähe gewesen wäre. Dann hätten sie und ihre Schwester nicht einfach so fliehen können. Chaidra verstand, warum die Kinder vor den Fürsten geflohen sind, doch ihr wäre es lieber gewesen, denn die Kinder zu ihr gekommen wären. Sie hatte sie beschützen können.

Sie öffnete die Augen und sah auf die Gegend vor sich.

Plötzlich bewegte sich Thanjata. Sie stieg langsam von ihrem Pferd runter und ging mit kleinen Schritten auf die betroffene Gegend zu. Kurz bevor sie die Grenze erreichte, hob sie beide Hände und schloss die Augen.

Chaidra hatte noch nie gesehen, wie eine Zeitwächterin in ihren Strängen wob, sodass sie den Atem anhielt, und versuchte keinen Laut von sich zu geben. Sie wollte die Frau nicht stören.

Ein Keuchen entfuhr Thanjata und sofort waren ihre beiden Zeitschwestern neben ihr. Sie traten an Thanjata heran, legten ihr die rechte Hand jeweils auf einer Schulter und schlossen die Augen. Ihre Gesichter sahen höchst konzentriert aus.

Zeit verging, indem gar nichts passierte. Die Zweitwächterinnen standen reglos da und schienen etwas zu machen.

Die Todwächterin verkrampfte ihre Hände um die Zügel ihres Pferdes und wartete darauf, dass endlich jemand ihr sagte, was nun wirklich passiert war.

Je mehr Zeit verging, desto unruhiger wurde sie. Sie wollte unbedingt weiterreiten, denn sie wollte so schnell wie möglich doch auf die Kinder treffen. Sie musste herausfinden, ob es ihnen gut ging, oder ob sie auch in der Zeit gefroren sind.

Ein erneutes Keuchen erklang und Thanjata öffnete ihre Augen. Sie starrte mit erschrecktem Blick auf die betroffene Stelle und wich dann einige Schritte zurück. Nun sah sie nicht mehr bleich, sondern vollkommen weiß aus. Sie wandte sich an Chaidra.

„Es ist schlimmer, als wir gedacht hatten … es …“ Sie brach ab und sah zu dem schwebenden Ast. „Wir … wir können es nicht ändern. Es nicht zurückgängig machen. Dies hier übersteigt unsere Kraft und ich bin mir nicht sicher, ob selbst ein riesiger Kreis helfen würde.“

Chaidra runzelte fragend die Stirn. Ein riesiger Kreis? Was war dies? Sie wusste, dass man drei Zeitwächterinnen, die in einem Bund standen, als einen kleinen Kreis bezeichnete. Der Fachausdruck dafür war Zeyren, doch was war ein riesiger Kreis? War dies ein Bund, wo wesentlich mehr Zeitwächterinnen miteinander verbunden waren?

Thanjata starrte den Ast immer noch an. „Ich weis nicht, was hier passiert ist, aber es muss etwas Schreckliches gewesen sein, wenn dies die Folge ist. Wir müssen dringend die ältere Schwester finden … wenn sie noch lebt, dann geht es ihr überhaupt nicht gut.“

Unglauben entstand in Chaidra. Sie konnte nicht fassen, was sie da gerade gehört hatte. Die Zeitwächterin glaubte, dass Saren etwas damit zu tun hatte. Dann erinnerte sich Chaidra daran, dass Thanjata gesagt hatte, dass Saren sehr mächtig sein.

Unsicher sah sich Chaidra abermals um.

Konnte wirklich Saren hinter diese Tat stecken? Und wenn ja, was ist passiert, dass sie dies getan haben musste?

 

Aleitha stolperte über eine Wurzel und ruderte wild mit dem Armen. Doch dies half ihr nicht. Sie schwankte, verlor ihr Gleichgewicht und fiel auf dem Boden. Kleine Steinchen stachen in ihrem Gesicht, als sie auf dem Boden prallte und Schmerz durchfuhr ihren Kopf. Sie stöhnte leise und drehte sich schwach um.

Sie starrte in den Himmel und fragte sich, ob dies das Ende ihrer Flucht wäre. Alles tat ihr weh. Sie wusste nicht, inwieweit sie weiter durchhalten konnte. Am liebsten würde sie sich neben ihre Schwester legen, sie fest umarmen und schlafen, doch der Tag war noch nicht um und sie musste Wasser finden. Ihr Hals war schon trocken und ihr Magen knurrte.

Abermals traten Tränen in ihre Augen. Sie wollte den Arm heben, um sie wegzuwischen, doch selbst dazu reichte nicht mehr ihre Kraft aus, sodass sie einfach liegen blieb und nach oben starrte.

Sie wusste nicht, was mit ihrer Schwester passiert war, doch sie hatte Angst, dass Saren sterben könnte ohne vorher zu erwachen. Sei sehnte sich nach der Stimme ihrer Schwester. Nach ihrer Umarmung und das Gefühl der Geborgenheit, dass sie immer bei Saren hatte.

Ein Schluchzen entfuhr ihr und versuchte auf die Beine zu kommen. Doch ihre Beine brüllten protestierend auf und ihre Arme knickten weg, sodass sie es sein ließ und kraftlos zurücksank.

Dies war das Ende! Als sie zwischen den Bäume hervorgetreten war, hatte sie erkannte, dass sie nicht am Waldrand war, sondern eine Lichtung erreich hatte. Eine Lichtung, wo nur gras zu sehen war. Kein Haus, keine Menschen und auch keine Tiere. Nicht einmal ein kleiner Bach, der ihr helfen könnte. Nun hatte sie die Hälfte der Lichtung überquert, doch ihre Kraft reichte nicht mehr. Selbst wenn sie die anderen Bäume erreichte, so würde es ihr nicht helfen. Sie wusste nicht, was sie noch machen sollte. Ein knackendes Geräusch trat an ihre Ohren und sie zuckte zusammen. Sie versuchte sich abermals aufzurichten und kam zitternd auf die Beine. Sie schwankte, doch biss die Zähne zusammen als sie sich umsah.

Sie konnte nichts auf der Lichtung erkennen, sodass sie vermutete, dass sie sich das Geräusch nur eingebildet hatte, doch dann wiederholte sich das knacken und Angst stieg in ihr auf. Angst und auch Hoffnung. Vielleicht waren es ja Menschen, die dieses Geräusch versuchten. Aber vielleicht handelte es sich auch um ihre Verfolger, oder um eines dieser Wesen, die sie angegriffen hatte.

Innerlich zwischen Angst und Hoffnung schwankend, zog sie den Dolch ihrer Schwester und stellte sich neben der Trage. Sie sah sich aufmerksam um.

Das Geräusch kam immer näher und kurz darauf gesellten sich auch noch andere Geräusche dazu. Es waren Schritte, und zwar von mehreren Personen. Dann vernahm sie Stimmen.

Ihr Herz wurde schwerer, denn waren männliche Stimme, die sie hörte und sie verzog ihr Gesicht.

Hatten ihre Verfolger sie nun doch noch eingeholt?

Letztendlich spielte es keine Rolle mehr, denn Aleitha war zu müde, um weiter wegrennen zu können und da sie keine Verpflegung mehr besaß, würde sie sowieso nicht mehr lange aushalten. Vielleicht war es gut, dass jetzt das Ende kommen würde.

Ungefähr zweihundert Meter vor ihr, trat eine Gruppe Männer aus dem Wald, und als der Erste Aleitha erblickte, blieb er stehen und hob eine Hand. Die anderen Männer hielten an und starrten auf das Mädchen.

Erleichterung durchfuhr Aleitha, denn die Kleidung der Männer war nicht die des Fürsten. Also waren es nicht ihre Verfolger. Konnte es sein, dass sie nun auf Hilfe gestoßen war? Dann sah sie die Mordlust in den Augen der Männer und zwei zogen ihre Schwerter.

Aleitha wollte zurückweichen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Sie begann am ganzen Körper zu zittern und hatte Angst. Riesige Angst. Es war also keine Hilfe gekommen.

Sie warf einen Blick auf ihre Schwester. Sah das schweißnasse Gesicht von Saren und Verzweiflung wurde in ihr groß. Sie wollte nicht sterben und sie wollte auch nicht, dass ihre Schwester sterben würde. Sie sah wieder zu den Männern, die leise lachend näher kamen.

„Wen haben wir denn da“, fragte der Mann, der sie zuerst erblickt hatte, und wechselte sein Schwert von der einen Hand in die andere. In seinem Gesicht stand ein spöttiges Lächeln. „Wo sind denn deine Eltern, Kleines?“

Neben den Sprecher trat ein anderer hochgewachsener Mann und er grinste ebenfalls. Dabei war zu erkennen, dass seine Zähne nicht mehr vollständig und gelb waren. „Oder sollten wir besser Fragen, wo sind deine Mütter, du verdammte Frauenbrut?“

Verwirrung kam in Aleitha auf. Sie hatte keine Ahnung, was die Männer von ihr wollten und wich noch näher an ihre Schwester heran. Dies merkte der erste Mann und sein Blick ging auf die Trage. Sein grinsen triefte nun vor Spott.

„Und wen haben wir da? Ist das deine Schwester? Mach dir keine Sorgen … ich werde dafür sorgen, dass sie nicht mehr leiden muss.“

Bei diesen Worten wurde es Aleitha kalt ums Herz und sie schüttelte den Kopf. Ihre rechte Hand verkrallte sich um den Griff des Dolches und sie versuchte, die Männer furchtlos anzufunkeln. Doch sie wusste, dass es ihr nicht gelingen sollte. Sie war gerade mal zwölf Jahre alt und sah überhaupt nicht gefährlich aus.

Alle Männer fingen an zu lachen, als hätte jemand ihnen ein Zeichen gegeben. Dann brach das Lachen ab und Hass trat in ihre Augen. Der erste Mann hob sein Schwert und kam näher.

Aleitha stellte sich vor der Trage und hob ihren Dolch. Sie hatte noch nie damit gekämpft, denn es war die Waffe ihrer Schwester, doch sie würde nicht einfach Saren diesen Mann ausliefern.

Der Mann sah ihre Reaktion und hob eine Augenbraue. Belustigung trat wieder in seine Augen, doch er kam näher.

„Mach deinen Unsinn, Mädchen“, sagte er. „Ich erlöse nur deine Schwester, und wenn du brav bist, dann können wir vielleicht noch Spaß haben. Es liegt alles an dir.“

Er wollte um Aleitha herumgehen, um sein Schwert in Saren Brust zu rammen, doch Aleitha schrie auf und sprang den Mann an. Woher sie plötzlich diese Kraft hatte, wusste sie nicht, doch es war ihr egal.

Der Mann grunzte überrascht aus, doch ergriff sie am Arm und zerrte Aleitha von ihm runter. Er schleuderte sie auf dem Boden. Nun war sein Blick wieder voller Hass.

„Das war ein Fehler, Frauenbrut!“

Er wandte sich zu Aleitha, die benommen auf dem Boden lag, und hob sein Schwert.

Aleitha starrte zu der Klinge, doch in ihren Gedanken herrschte Leere. Sie sah das Schwert immer näher kommen und wusste, dass dies nun das Ende war. Dann riss sie ihre Augen auf.

Deutlich erkannte sie, wie der Mann vor ihr sein Leuchten verlor und immer Düsterer wurde. Dann erklang ein Sirren und der Mann ächzte. Er taumelte einige Schritte zurück.

In seiner Brust ragte ein Pfeil hervor und nach einem zweiten Sirren, waren es zwei.

Aleitha sah, wie der Mann zu Boden ging und während ihr Verstand noch versuchte zu verstehen, was gerade passiert war, hörte sie plötzlich ein Geschrei. Sie drehte sich zum Waldrand, wo die restlichen Männer waren. Hinter ihnen tauchten plötzlich andere Personen auf und stürzten sich auf die Männer.

Fassungslos sah Aleitha, wie das Leuchten von jeden Mann erlosch und durch Düsternis ersetzt wurde. Erst dann wurde ihr bewusst, dass es Frauen waren, die die Männer angriffen. Sie trugen Lederrüstungen und ihre Gesichter waren bemalt. Sie sahen unheimlich aus und Aleitha verstand nun überhaupt nicht mehr, was passierte.

 

Als Kadalin vorsichtig zu den starren Schatten ging, versuchte Chaidra ihren Schrecken noch zu verarbeiten. Sie konnte elf Schatten zählen und fragte sich abermals, was passiert war. Nun konnte sie es sich langsam vorstellen. Die Schwestern mussten angegriffen worden sein und erinnerte sich an die Worte, die sie vor einiger Zeit mal gelesen hatte.

Es sind die starken Emotionen, die dafür sorgen, dass die Gabe in einen erwacht. Meisten ist es Hass, Angst oder Liebe. Doch von allen Dreien ist es vor allen die Angst, die das größte Potential besitzt.

Hier mussten große Emotionen anwesend gewesen sein. Immerhin waren hier Schatten, die versucht hatten die Schwestern zu töten. Kein Wunder, dass die Macht von Saren so durchgebrochen ist und Chaidra beobachte aus den Augenwinkeln, wie sich die drei Zeitwächterinnen wieder auf das Gleichgewicht konzertierten. Dann nickte Thanjata.

„Ja … von hier aus kommt die Störung“, dabei zeigte sie auf die Stelle unter den springenden Schatten.

Kadalin ging dorthin und runzelte die Stirn. Er kniete sich nieder und betrachtete den Boden. Dann nickte er zustimmend.

„Ich kann bestätigen, dass sich dort eine Person befunden hat. Sie hat dort einige Zeit gelegen.“ Er zeigte auf eine Stelle daneben und an andere. „Hier hat eine Person gesessen. Diese musste von dort kommen.“ Er deutete nach vorne. Dann runzelte er abermals die Stirn und sah auf eine andere Stelle. „Hier ist auch jemand entlanggegangen, aber später wieder zurückgekommen. Sie musste etwas tragen.“ Er sprang auf und ging einige Schritte, ehe er sich wieder niederließ. „Und hier hat jemand etwas gebaut … ich vermute eine Trage. Die Person, die unter den Schatten gelegen hatte, wurde auf dieser Trage gelegt. Diese wurde dann in die Richtung gezogen.“ Sein Finger zeigte nach Norden. Dann hob er etwas vom Boden auf. Es war ein Stofffetzen.

Chaidra sah nach Norden und fragte sich, wer auf der Trage gelegen hatte und wer diese zog. Dann sah sie zu den Zeitwächterinnen, die noch schlimmer als sonst aussahen. Sie schienen sich große Sorgen zu machen.

Es muss Saren sein, die auf der Trage liegt. Und nach dem Ausmaß der Veränderung im Gleichgewicht muss es ihr sehr schlecht gehen.

Sie sah zu Thanjata, welche nun ebenfalls nach Norden blickte.

„Wir sollten weitergehen. Mit einer Trage werden sie nicht allzu schnell vorankommen … wir können sie also schneller einholen“, sagte Chaidra langsam und Thanjata nickte, ohne sie anzuschauen.

Kurz darauf ging Kadalin voran. Er hielt die Zügel seines Pferdes und blickte immer wieder auf dem Boden, um nicht die Spur zu verlieren.

 

Immer noch starrte Aleitha auf die Kämpfenden und die Angst in ihr wurde größer, als sie merkte, dass eine Frau sich von der Menge löste und auf sie zukam. Aleitha rappelte sich wieder auf die Beine und wich zu ihrer Schwester zurück. Sie hob den Dolch, während ihre Augen von dem Salz ihrer Tränen brannten.

Die Frau blieb stehen und hob plötzlich beide Hände. Diese waren leer. Ihr Gesicht sah beruhigend aus.

„Keine Angst … ich möchte dir helfen“, sagte die Frau langsam und deutlich. Sie rührte sich nicht weiter und blickte auf Aleitha.

Aleitha begann zu zittern. Schwache Hoffnung kam in ihr wieder auf, doch sie wollte sich nicht lassen. Sie hatte Angst, dass sie wieder einen Fehler begehen würde. Sie wusste nicht mehr, wem sie trauen konnte und wer ihr Feind war. Die Frau vor ihr musste ungefähr im selben Alter wie Saren sein und hatte lange blonde Haare. Sie trug eine Lederrüstung, welche ihre weibliche Figur betonte und in ihrem Gesicht waren vier farbliche Striche. Für Aleitha sah die Frau unheimlich aus, doch das junge Mädchen wollte endlich jemanden treffen, den sie vertrauen konnte. Sie wollte sich endlich wieder sicher fühlen.

Das Zittern in Aleitha wurde größter. Dann schluchzte sie auf und ließ die Hand mit dem Dolch sinken. Sie sank auf dem Boden.

Sofort war die Frau neben ihr und sah sie besorgt an. Dann ging ihr Blick zu der Trage und die Sorge in ihren Augen wurde größer. Sie wandte sich zu der Stelle, wo immer noch gekämpft wurde.

„Kina!“

Eine andere Frau löste sich und kam mit schnellen Schritten auf sie zu, während die erste Frau sich wieder zu Aleitha wandte. Sie berührte sie vorsichtig am Arm.

„Es wird alles wieder gut werden“, sagte sie leise. „Du brauchst keine Angst mehr haben. Die Krataren werden euch nicht mehr schaden.“

Aleitha weinte, während sie immer noch zitterte. Sie nahm nicht wirklich auf, dass sie nun in Sicherheit war und konnte es einfach nicht verstehen. Sollten sie und Saren endlich einmal Glück haben.

„Wie heißt du“, fragte die Frau und sah Aleitha beruhigend an.

Aleitha blinzelte und betrachtete die Person vor ihr. Sie sah immer noch unheimlich aus, doch der Blick der jungen Frau war gang sanft und freundlich. Aleitha schluckte.

„A-Aleitha“, presste sie hervor.

„Aleitha“, wiederholte die junge Frau lächelnd. „Das ist ein schöner Name. Mein Name ist Kandra.“ Sie zeigte auf die Trage. „Und wer ist dieses Mädchen? Deine Schwester?“

Aleitha nickte abgehackt und sah dann zu Saren. Die Angst in ihr wurde größer. Saren sah überhaupt nicht gut aus.

„J-ja. Das i-ist S-Saren“, sagte sie leise und schluchzte wieder auf. Kandra beugte sich vor und umarmte Aleitha. Obwohl Aleitha diese junge Frau nicht kannte, spürte sie, wie Geborgenheit in ihr aufkam. Sie klammerte sich an die Fremde und weinte.

„Alles wird gut. Ihr seid jetzt in Sicherheit“, murmelte Kandra und sah dann zu der Frau, die endlich bei ihr angekommen war. Sie deutete auf Saren. „Dem Mädchen geht es nicht gut. Schau mal, was ihr genaues fehlt, Kina.“

Kina, die angesprochene, nickte und ging neben der Trage in die Knie.

Währenddessen war der Kampf beendet. Zwei Männer waren geflohen und die anderen waren tot. Die Kriegerinnen hatten einige Wunden, doch niemand war ernsthaft verletzt. Sie kamen einen nach den anderen zu der Stelle mit der Trage und sahen die beiden Schwestern an. Mitleid stand in ihren Augen.

Kandra sah nach oben, während sie immer noch Aleitha in den Arm hielt und ihr Blick fixierte zwei Frauen. „Rena! Niri! Ihr geht sofort nach Rantayien und sagt, was hier passiert ist. Kündigt der Königin an, dann wir zwei Mädchen mitbringen. Eine davon ist schwer verletzt. Areina soll sich bereitmachen.“

Beide Angesprochene nickten, ehe sie sich umdrehten und in den Wald rannten.

Kandra wandte sich an die anderen. „Schaut nach, ob die Kartaren nützlichen bei sich tragen. Waffen, Geld und andere brauchbare Dinge werden mitgenommen.“

Die anderen machten sich an die Aufgabe und Kandra sah wieder zu Aleitha, welche sie langsam beruhigte.

„Aleitha, du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ihr beide steht jetzt unter unseren Schutz. Wir werden euch nach Rantayien bringen … dort wird sich unsere Heilerin um deine Schwester kümmern. Dort bekommst du dann auch etwas zu Trinken und Essen. Hältst du es solange aus?“

Aleitha nickte. In Inneren wusste sie, dass diese Kandra die Wahrheit sagte. Nun würde alles gut werden.

Ihr Blick ging zu Saren, die immer noch von Kina untersucht wurde. Jetzt würde endlich alles wieder gut werden.

Impressum

Texte: Nadine Stroscher
Tag der Veröffentlichung: 01.01.2016

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