Heute bin ich spät ins Bett gekrochen, weil ich ständig Geräusche, die vermutlich vom Garten kamen, gehört habe. Als ich dann am nächsten Morgen um 6:57 Uhr aufgewacht bin, was für mich ohnehin schon sehr ungewöhnlich war, ging ich mich erstmal duschen. Ich schien die Zeit vergessen zu haben und kam erst nach 40 Minuten aus dem Badezimmer. Andauernd dachte ich an die Geräusche und genauso dachte ich daran, wie ich reagieren würde, wenn jemand in meiner neuen Wohnung einbricht. Dass ich überhaupt an so etwas denke, schien mir irgendwie sehr blöd. Ich beschloss Lena, meine beste Freundin anzurufen. Sie sagte, ihr wäre gerade langweilig und sie würde bei mir vorbeisehen. Ich war erleichtert. Mit Lena konnte ich schon immer über alles reden. Sie ist der einzige Mensch, dem ich bisher all meine Probleme erzählt habe. Als ich meine Wohnung gerade fertig zusammengeräumt habe, klingelte es. Es war Lena. Wie sonst auch zog sie ihre Schuhe aus, machte sich Tee und setzte sich mit mir auf die Terrasse. Ich erzählte ihr von den merkwürdigen Geräuschen. „Hast du denn jemanden entdeckt?“, fragte sie mich. „Ich sah öfters hinaus, doch es war dunkel und ich konnte niemanden sehen“, antwortete ich leise. Als Lena sah, wie viel Angst mir die Situation bereitet, kamen wohl in diesem Moment die perfekten Worte von ihr: „Wenn du möchtest, kannst du bei mir wohnen und musst dir diese riesige Wohnung hier nicht kaufen“. Natürlich nahm ich das Angebot an und wir machten uns aus, wer welche Kosten übernimmt. In der ersten Nacht konnte ich ziemlich schnell einschlafen. Die zweite Nacht war fast genauso schlimm wie in meiner damaligen Wohnung gewesen. Wieder hörte ich Geräusche, die mich beunruhigten. Ich lag 4 Stunden lang mit zugemachten Augen im Bett und versuchte einzuschlafen. Erfolglos. Als es mir dann zuviel wurde, kroch ich zu Lena ins Bett und konnte in wenigen Minuten einschlafen. Gegen 10 Uhr weckte mich meine Freundin auf. Als ich ihr von den Geräuschen erzählte, die mich so sehr beunruhigten, dass ich nicht annähernd einschlafen konnte, bekam sie angst. „Was sind das denn für Geräusche?“, fragte sie mich. „Es sind irgendwie drei verschiedene. Die Geräusche haben auch einen Rhythmus. Eine nachtlang höre ich es schnell, eine andere Nacht wiederum ganz langsam. Die Geräusche aber – bleiben die gleichen!“. „Das eine hört sich so an, als würde man versuchen die Tür mit Drähten zu öffnen. Das zweite hört sich so an, als würde jemand den Wasserhahn ständig abschalten, während sich das letzte anhört, als würde jemand die Treppen hochkommen“. Lena fragte mich, ob ich derzeit an irgendwelche ungewöhnlichen Dinge denke. Und tatsächlich war da etwas, dass mir einfach nicht aus den Kopf ging. Meine Mutter. Sie wurde vor einer Woche von einem Jugendlichen mit einem Messer bedroht. Ich erzählte ihr davon. Als wir dann wussten, an was diese Geräusche wahrscheinlich liegen würden – schaltete ich für diesen Tag ab. Ich dachte nicht an meine Mutter, denn ich musste meine schlaflosen Nächte aus dem Weg schaffen. Lena und ich sind diesmal sehr früh ins Bett gegangen, da wir beide von den Dingen, die uns beschäftigt haben, ziemlich geschafft waren. Ich hörte keine Geräusche und konnte schon nach 10 Minuten einschlafen. Als wir dann am nächsten Tag im Internet geguckt haben, ob es so etwas tatsächlich gibt, fanden wir nichts. Das verwunderte uns wieder. Es gab bisher Situationen, wenn man seine Gedanken einem negativen Ereignis widmete, dass man dann nicht einschlafen konnte. Geräusche, die nächtlich auftreten, hat aber laut Internet noch nie jemand gehört. Wieder waren wir ziemlich geschockt und widmeten den ganzen taglang unsere Gedanken, wie diese blöden Geräusche entstehen können. Denn Lena hörte bisher noch niemanden der eine Tür öffnet, den Wasserhahn abschaltet oder die Treppen hochsteigt. Diese Nacht passierte es wieder. Ich lag die ganze nachtlang, diesmal mit geöffneten Augen im Bett. Irgendwann, es war ungefähr halb 4 gewesen, beschloss ich nach draußen zu gehen. Ich stand nun ganz alleine vor dem Haus. Es war dunkel und ich konnte nichts sehen. Als ich nach 5 Minuten wieder ins Haus gehen wollte, hörte ich etwas. Es kam aus dem Gebüsch, da war ich mir sicher. Um dem Spuk ein Ende zu bereiten, sagte ich mutig „Zeig dich!“, während ich mich ganz nah an die Tür stellte, sodass sich niemand von hinten nähern konnte. Ich sagte ungefähr viermal die Worte, doch es ließ sich niemand blicken. Als ich wieder zur Tür rein wollte, war da doch jemand zu sehen. Die Gestalt war weiblich, ziemlich dünn, um die 17 Jahre alt, etwa 1,70m groß und nackt. Das Mädchen hatte nichts an, nicht einmal Schuhe. „Ha-aall-ooo“, stotterte das Mädchen. „Wer bist du?“, fragte ich. „I-iich weiß e-es ni-icht“, antwortete mir die Unbekannte. Als ich fragte was sie hier macht, antwortete sie mir, sie würde hier wohnen. Als ich sie mit nach oben in die Wohnung brachte, weckte ich meine Freundin um ihr die Unbekannte vorzustellen. Neugierig wie ich bin, fragte ich sie „Wie konntest du mir Geräusche in meine Gedanken prägen?“. „Welche Geräusche?“, antwortete die Fremde.
Nun waren schon 2 Tage vergangen und seitdem die Fremde bei uns wohnt, bekam ich keine nervigen Geräusche zu hören. Lena und ich wollten unbedingt wissen wer diese Person ist. Doch sie erinnerte sich an nichts. Wir fanden es blöd, sie immer „Unbekannte“ und „Fremde“ nennen zu müssen, somit gaben wir ihr den Namen „Mira“. Da für uns Mädels die Situation sehr neu und vor allem sehr selten war, erzählten Lena und ich erstmal über unsere Freundschaft. Am vierten Tag sind wir zu dritt eine Disco besuchen gegangen. Mira war ein hübsches Mädchen und die Jungs starrten sie ständig an. Man merkte, dass es dem Mädchen nicht gut dabei ging. Nach etwa einer Stunde fuhren wir wieder nach Hause. Mira fand es toll mit der U-Bahn zu fahren. Es war für sie wie für uns eine Achterbahn, aufregend. Wir drei verstanden uns gut. Am Abend kochte Lena und wir aßen gemeinsam. Mir platzte eine Frage raus, die ich besser hätte lassen sollen. „Weißt du denn, wie lange du im Gebüsch gelebt hast?“. Geantwortet wurde mir „Es wurde ungefähr 12 Mal dunkel“. Die Antwort hieß also, sie lebte zwölf Tage und zwölf Nächte im Gebüsch. Grausam so etwas. Warum kann sie sich an nichts erinnern? Wie konnte sie da draußen überleben? Was hat sie gegessen? – Ich fragte mich das alles und wollte es wissen. Doch ich wusste, dass es zur Zeit unangebracht war, irgendwelche Fragen zu stellen. Mira war so sehr damit beschäftigt, herauszufinden wer sie überhaupt war und was mit ihr passiert ist, dass man sie besser nicht über irgendwelche dieser Dinge ausfragen sollte. Nachts, wenn alle am Einschlafen sind, wartet Mira immer darauf, bis Lena und ich endlich schlafen – bevor sie sich hinlegt. Ich hab sie gestern beobachtet und bekam mit, dass sie unbedingt möchte, sich an wenigstens irgendetwas zu erinnern. Sie strengt sich an, schwitzt und spricht beim Einschlafen. Sie ist wirklich arm und ich frage mich sehr oft, welcher Mensch ihr das alles angetan hat. Als Lena und ich ein wenig über unsere Familien erzählten, schien sie öfters abwesend zu sein, also mit den Gedanken war sie nicht wirklich da. Plötzlich schreckte sie auf und schloss die Augen. Etwa 3 Minuten Stille brachten uns einen Schritt näher in Miras Leben. Sie öffnete die Augen und sagte „Meine Mutter, sie ist sehr krank“, „Meine Schwester, sie sieht dir verblüffend ähnlich, Alexia“, „Mein Papa, er ist dick, trinkt sehr viel und geht fremd“. Dass ich ihrer Schwester ähnlich bin, hat mich erstmal geschockt. „Was genau konntest du denn sehen?“, fragte Lena. „Ich war ganz klein gewesen, vielleicht ein paar Monate alt. Mama lag im Bett, sah sehr schlecht aus und meine Schwester, sie war vielleicht 3 Jahre alt gewesen, lag neben ihr. Papa sah ich einmal kurz in einer anderen Wohnung, da hatte er eine Bierflasche in der Hand. Keine 10 Sekunden waren vergangen, sah ich eine Frau bei ihm. Danach sah ich ihn aber bei Mama. Ich lag im Kinderbett, in Mamas Zimmer“, sagte Mira. „Mein Name ist Leonie, zumindest erwähnte diesen Namen mein Papa zweimal“, fügte das Mädchen hinzu. „Leonie ist ein sehr hübscher Name“, sagte ich. Lena stimmte zu. „Ich sah, wie mein Papa auf ein Bild zeigte. Ich war da zu sehen, es scheint bei der Geburt gemacht worden zu sein – mit dem Datum 24.12.1994“, sagte unsere Freundin danach. Also war sie wirklich knappe 17 Jahre alt, so wie ich es geschätzt hatte. Stolz wie ich auf mich war, lächelte ich. Am nächsten Tag – es war nicht später als 11 Uhr gewesen, wiederholte sich dieselbe Aktion wie den Abend zuvor. Sie schreckte wieder zusammen, schloss die Augen und war diesmal etwa 5 Minuten „weg“. Als sie die Augen öffnete, sagte sie: „Diesmal war ich schon 3 Jahre alt, doch ich war bei einer anderen Familie“. „Es waren komische Leute, der Mann war alt und die Frau relativ jung. Beide waren sie sehr gemein zu mir und sperrten mich in mein Zimmer“. „Das machten sie auch noch, während ich etwa 15 Jahre alt war“. „Dann sah ich mich bei einem Amt, ich denke es war ein Jugendamt oder so etwas. Ich erzählte den Angestellten von meinen Erziehern und sie nahmen mich ihnen weg. Ich war glücklich darüber“. „Mehr sah ich nicht“. Dass Leo ein schwieriges Leben hinter sich hat, stand fest. Lena war ganz verwirrt und suchte wohl nach dem Sinn der Geschichte, dass sie schon mit einem so jungen Alter von ihrer richtigen Familie entfernt wurde und Menschen übergeben wurde. Dann noch einer Menschenart, die man nicht versteht. Wenn man sich ein Kind zulegt beziehungsweise eines adoptiert, dann sollte man es auch gut behandeln. Ich wusste, dass Lena so denkt und deswegen nahm sie Leo als etwas ganz Besonderes wahr. Was mich selbst interessierte war, wie sieht das arme Mädchen eigentlich diese ganzen Bilder? Ist es so, wie wenn sie real daran teilnimmt oder sieht sie es in Gedanken, in einem Buch, Film oder dergleichen? Ich hatte Leonie sehr lieb gewonnen und war eigentlich seit dem Zeitpunkt wo sie bei uns einzog stets für sie da, doch ich traute mich nie richtig – sie um einen Gefallen zu bitten. Ich behandelte Leonie anders als jeden anderen Menschen. Sie hatte einen ganz besonderen Schutzengel, der wohlmöglich Tag und Nacht, Sekunde für Sekunde auf sie aufpasst. Nicht jeder wird so beschützt und nicht jeder hat so etwas wie einen Schutzengel. Es schien mir beinahe wie eine Pflicht auf sie aufzupassen. Ich habe mir das so sehr in meinen Kopf gesetzt, dass sie der Grund für diese Geräusche war – dass ich sie nicht mehr gehen lassen möchte. Es entwickelte sich zwischen uns eine sehr besondere Freundschaft, davon war ich überzeugt...
Tag der Veröffentlichung: 10.02.2012
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