„Laura, ich habe dir nun schon hunderte Male erklärt, dass du dein Essen nicht auf den Tisch liegen lassen sollst“, schrie meine Mutter durchs ganze Haus.
Es ist ja nicht so, als würde ich es absichtlich machen, aber ich habe auch andere, wichtigere Dinge zu tun als das Essen wegzuräumen.
Meine Mutter wird das nie verstehen.
Vor etwa 3 Wochen bin ich in der Schule einem Jungen begegnet.
Obwohl ich nun schon seit zwei Jahren diese Schule besuche und eigentlich schon jedem begegnet bin, war ich sehr verwundert, dass genau dieser Mensch mir nie aufgefallen war.
Immer, wenn die Pausenglocke geklingelt hat, lief ich Richtung Schulbuffet, weil ich ihm da zum ersten Mal begegnet bin.
Damit ich nicht so aussehe, als hätte ich keine Freunde, nahm ich immer zwei Schulkolleginnen mit und suchte ständig nach neuen Ausreden, damit sie mit mir zum Buffet gehen.
Und das alles nur, weil ich ihn sehen wollte.
Wir sahen uns öfters an, doch sobald wir gesehen haben, dass einer von uns den anderen beobachtet, warfen wir die Blicke voneinander ab.
Er hatte meist auch den ein oder anderen Schulkollegen bei sich, somit wusste ich, dass er kein Außenseiter ist. Hätte ich ohnehin nie gedacht, denn er sah einfach viel zu gut aus.
Abends, als ich im Bett lag und am Einschlafen war, dachte ich an ihn.
Eigentlich fast immer. Selten war es, dass ich mal nicht mit dem Gedanken an ihm eingeschlafen bin.
Immer wieder sagte ich mir: „Wenn ich ihn beim nächsten Mal sehe, werde ich ihm um seine Handynummer bitten“.
Doch als ich ihm dann begegnete, war ich einfach nur feig. Hatte angst abgelehnt zu werden.
Denn wer gibt einer fremden Person einfach mal so seine Nummer?
Manchmal dachte ich, ob ich mir nur einbilden würde, dass er mich ansieht, mich beobachtet.
Vielleicht war es auch nur Einbildung?
Ich konnte schon immer mit meiner Mutter über alles sprechen. Doch ich nahm an, dass sie dennoch den Haushalt wichtiger fände, als das ich mir Pläne schmiede, wie ich zu seiner Nummer oder zu einem Kontaktaufbau mit ihm käme.
Ich steckte in einer schwierigen Situation, denn irgendwie musste ich jemandem davon erzählen.
Ich mochte zwar einige meiner Schulkameradinnen, dennoch wusste ich, dass keine von ihnen meine Angst verstehen würde. Denn sie fanden mich mutig, humorvoll und freundlich. Immer schon.
Meine Schüchternheit ließ ich selten zeigen. In der Schule eigentlich nie. Ich spielte den anderen einen falschen Charakter vor, aber so hat man mich akzeptiert und das fand ich super.
Als ich im Zimmer am Fenster saß und in den Wald sah, konnte ich den kühlen Wind an meiner Haut fühlen, wie sich meine Haare von meinem Körper abstießen und wieder auf meine Haut gelangten.
Ich konnte das Salz meiner Tränen schmecken. Das machte mich aus welchem Grund auch immer noch trauriger.
Als ich daran dachte, wie sehr ich meinen Charakter verändern muss, um anderen Leuten zu gefallen, konnte ich richtig fühlen, wie meine Tränen die Wangen hinunterliefen.
Warum akzeptiert man mich denn nicht, so wie ich bin?
Vor meinen Eltern muss ich mich nicht verstecken, aber vor allen anderen. Sogar von Verwandten!
Ich wusste, dass der süße Junge Daniel hieß, da er öfters von seinen Kollegen angesprochen wurde. Mehr wusste ich nicht von ihm.
Dennoch waren meine Gedanken ständig bei ihm und diese machten mich immer wieder glücklich.
Als ich Daniel öfters mit drei Mädels neben dem Schulbuffet quatschen sah, war ich etwas verwirrt.
Die eine sah er manchmal so an, als hätte er sie ziemlich gern.
Dennoch blickte er öfters zu mir und gerade das war für mich eigenartig. Woher kennt er die Mädels plötzlich? Kannte er sie immer schon? Ist er mit einer von ihnen zusammen?
In meinem Kopf bildete sich eine Frage nach der anderen und auf keine wusste ich eine Antwort. Das machte mich in dem Moment ziemlich traurig.
Ich bin in einer schwierigen Situation. Denn selbst wenn ich ihn irgendwann einmal kennen lernen würde, welcher Charakter sollte ich dann sein? Der mutige, coole oder der schüchterne, emotionale Typ? Auf welche Art steht er eher?
Manchmal sitze ich im Garten und beobachte die Leute, die beim Gartentor vorbeigehen.
Oft sind es junge, glückliche Leute, manchmal sind es alte, fröhliche Leute.
Immer wieder frage ich mich in diesen Momenten, wie die Menschen das schaffen. Das Glücklichsein vorzutäuschen.
Es ist einfach unmöglich immer glücklich zu sein.
Wie kann denn ein etwa 19-jähriger Mann an Gärten vorbeigehen und strahlen? Einfach mal so?
Ich lag nun auf der frisch gemähten Wiese, natürlich auf einer riesengroßen Decke, die Mama vor einigen Jahren selbst gestickt hatte.
Ich sah zum Gartentor und ein ziemlich junges Mädchen, ich schätze es war etwa 11 Jahre alt gewesen, stand am verschlossenen Tor.
„Hallo meine kleine, suchst du etwas?“, fragte ich sie.
Während sich ihre zarten, kleinen Hände an dem Gartentor festhielten, sagte sie mit ihrer jungen Stimme: „Ich suche meinen Ball!“
„Da drinnen wirst du ihn aber nicht finden, denke ich“, antwortete ich dem Mädchen.
„Das weiß ich doch“, erklärte sie.
„Und warum stehst du hier, wenn du weißt, dass dein Ball in diesem Garten nicht zu finden ist?“, wollte ich wissen.
„Die Katze hinter dir, ich mag sie. Wie heißt sie?“
Ich lächelte ihr zu und antwortete: „Das ist Glöckchen.“
„Du siehst sehr traurig aus. Ist etwas passiert?“, fragte sie.
„Es ist schwierig. Sehr schwierig. Das Leben ist nicht gerecht. Aber das wirst du schon noch herausfinden“, sagte ich.
„Du kannst es mir erzählen, wenn du magst. Ich höre gerne zu. Manchmal fühlen sich die Leute dann besser. Vielleicht fühlst du dich dann auch wieder gut!“
Aus unvorstellbaren Gründen platzte es aus mir heraus: „Ich habe einen Jungen in der Schule getroffen. Er dürfte in meinem Alter sein. Maximal 1-2 Jahre älter. Wir beobachten uns in den Pausen sehr oft, aber niemand traut sich den anderen anzusprechen. Das geht nun schon einige Monate so.“
„Das ist blöd. Sehr blöd. Und warum traust du dich den Jungen nicht anzusprechen? Er wird dir doch antworten und nicht ignorieren, wenn er dich auch, so wie du sagst, interessant findet und beobachtet“, fragte sie mich.
Das Mädchen hatte recht. Warum traute ich mich nie ihn anzusprechen?
Ein „Hallo“ wird nun kein Weltuntergang sein. Selbst wenn er mir nicht antwortet, könnte ich es ja zu jemandem anderen gesagt haben.
„Ich weiß es nicht, aber das ist richtig. Danke. Mir geht’s schon wieder sehr viel besser“, flüsterte ich ihr zu.
„Ist schon in Ordnung. Ich helfe gerne. Muss aber nun wieder los. Wir sehen uns!“, schrie sie und ging weg.
„Viel Glück bei der Ballsuche“, schrie ich dem Mädchen nach.
Blöd, hab nicht einmal nach ihrem Namen gefragt.
Sie schien mir sehr intelligent und hilfreich.
Ich hoffte sehr, ihr bald wieder begegnen zu dürfen.
Meinen letzten Gedanken vor dem Einschlafen widmete ich diesmal dem kleinen Mädchen.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, wollte ich gar nicht erst in die Schule gehen. Ich wollte nicht sehen, wie sich Daniel wieder mal mit den Mädels unterhält.
In der ersten von den zwei Pausen, die wir an unserer Schule hatten, bin ich gar nicht erst zum Schulbuffet gegangen.
In der zweiten Pause dann allerdings doch und diesmal war er ganz alleine gewesen. Weder Klassenkollegen noch diese Mädchen waren zu sehen und es schien mir die perfekte Gelegenheit, ihn endlich anzusprechen.
Ich grübelte, wusste nicht, wie ich ein Gespräch anfangen sollte. Über was sollten wir sprechen?
Da es die Mittagspause war, mussten wir kein kurzes Gespräch halten und dann dachte ich an meinen Charakter. Welchen sollte ich ihm vorstellen?
Es war schrecklich für mich gewesen. Meine zwei Schulkolleginnen waren schon wieder am Weg zu unserem Klassenraum und dann stand er dort und ich da.
Er sah mich kurz an, dann sah ich weg und das ging etwa dreimal so. Doch dann kam er auf mich zu.
Mein Herz flatterte wie verrückt, meine Beine wurden immer schwerer und ich wusste nicht, ob ich gerade zur falschen Zeit am falschen Ort wäre.
Ich ging zwei Schritte zurück, sodass er einen längeren Weg zu mir hatte und ich mir eine schlaue Ausrede aussuchen könnte, warum ich hier stehe und ihn ständig ansehe.
Vielleicht möchte er nicht beobachtet werden? Vielleicht möchte er es aber? Vielleicht ist er vergeben?
Ich wusste nichts davon – genauso wenig wusste ich von seiner Person. Vielleicht ist er ja ein Typ, der sich an jedes Mädchen ranmacht, bis sich dieses in ihn verliebt und dann haut er ab.
Er ging mit seinem ziemlich steifen Gang, den ich mir von ihm abgeschaut hatte, auf mich zu. Meine Mutter sagte immer, ich sollte endlich normal gehen – aber das ging irgendwie nicht. Mir schien dieser Gang dann normal und sie sagte, ich würde zu steif bzw. gestreckt herumschlendern.
Doch das war mir egal gewesen. Hauptsache ich würde ihm auffallen und wir können endlich mal miteinander sprechen, dachte ich mir immer.
Bis zu diesem Moment.
Er war nun schon fast vor mir und guckte mich an. Schritt für Schritt. Er sah keine Sekunde in eine andere Richtung.
Da war er nun. Stand direkt vor mir.
Mit „Hey, wie geht’s?“ sprach er mich an.
In dem Moment wusste ich nicht, ob das ein guter Anfang für ein Gespräch wäre – aber ich war erleichtert, nicht den ersten Schritt machen zu müssen und antwortete ihm: „Hallo. Es geht und dir?“
„Eh ganz gut. Sag mal, in welche Klasse gehst du?“, wollte er von mir wissen.
„Ich geh in die 4b. Und du?“, fragte ich ihn.
„Bin in der 5b. Warum bist du heute ganz alleine hier?“, fragte er mit einer etwas nervösen Stimme.
„Ich wollte gerade wieder nach oben. In meine Klasse meine ich. Meine Schulkolleginnen waren schneller als ich und ich wollte noch ein wenig Ruhe von den nervigen Klassenkammeraden haben, deswegen war ich gerade dabei, mich auf die Heizung hier zu setzen. Sie scheint mir perfekt für eine Ruhepause“, gestand ich.
Wie dumm bin ich denn eigentlich, dachte ich mir in diesem Moment. Denn dann kam schon seine Antwort: „Dann möchte ich dich nicht länger stören. Halt dann mal deine Ruhepause. Bis bald!“
„Wir sehen uns“, sagte ich leise und enttäuscht.
In diesem Moment war ich sehr sauer auf mich. Hatte es falsch ausgesprochen. Wollte das nicht. Wollte nicht, dass er geht. Hab mir so lange gewünscht, mit ihm zu sprechen.
Als er dann etwa acht oder neun Schritte entfernt war, platzte es aus mir heraus: „Daniel!“
Er drehte sich um und ging ein paar Schritte auf mich zu, währenddessen fragte er: „Woher kennst du meinen Namen?“
„Ich, ähm... deine Kollegen erwähnten ihn oft und es kam mir zu Ohren“, gestand ich ihm.
„Soso, dann verrate mir deinen Namen doch auch“, sagte er.
„Ich heiße Laura“, antwortete ich.
„Laura ist ein hübscher Name. Was wolltest denn gerade eben?“, wollte er wissen.
Ich sah ihn an, blickte dann auf den Boden und dann wieder zu ihm. Danach sagte ich: „Möchtest du dich nicht neben mich setzen?“
„Glaub mir. Das würde ich im Moment sehr gerne, aber ich muss nun in die Klasse. Ein Kollege braucht Hilfe bei Mathe, wir haben gleich Prüfung“, antwortete er und ging weg.
Ich dachte mir nur, dass es ziemlich dumm von mir war, ihn zu bitten, sich neben mich zu setzen.
Die restlichen zwei Schulstunden war ich ziemlich abwesend und dachte nur daran, ob ich ihm nicht gefallen würde. Ich hatte ihm mein falsches Ich vorgestellt. Vielleicht würde ihm das richtige Ich doch besser gefallen?
Warum hat er sich nicht neben mich gesetzt? Hat er gelogen, dass er jemandem bei Mathe helfen muss? Wollte er sich wirklich neben mich setzen, so wie er das behauptet hat?
Unzählige Fragen beschäftigten mich und als mich der Lehrer zweimal etwas fragte, konnte ich nichts anderes antworten als: „Wie bitte?“
Enttäuscht wie ich war, ließ ich mich eine ganze wochelang beim Schulbuffet nicht mehr blicken.
Erst danach ging ich wieder die Treppen hinunter und da stand er nun. Mit seinen zwei Kollegen. Also keine Gelegenheit mich für das damalige Gespräch zu entschuldigen.
Ich ging zum Buffet und bestellte ein Wurstbrot. Danach beschloss ich wieder in die Klasse zu gehen, doch noch bevor ich an der Treppe angelangt war, rief er meinen Namen.
Er ging etwas schneller auf mich zu und fragte mich, wie es mir denn heute ginge.
Ich gab nur kurze und bündige Antworten, da ich ein Gespräch, welches ich garantiert wieder vermasseln würde, vermeiden wollte bis ich bessere Laune hätte.
Er fragte: „Wo warst du denn die vorherige Woche, hab dich gar nicht gesehen?“
Wieder gab ich ihm eine ganz einfache Antwort: „Wollte nichts vom Buffet.“
„Ich wollt dir sagen, dass ich damals wirklich einem Schulkollegen helfen musste und nur wenig Zeit hatte. Hätte mich wirklich gerne zu dir gesetzt und etwas geplaudert. Können das gern heute wiederholen, in der Mittagspause natürlich. Da haben wir mehr Zeit als jetzt“, sagte er.
Etwas erschrocken über diese Aussage blickte ich kurz auf den Boden, um mir eine Antwort zu überlegen. Ich war so sehr mit dem Gedanken beschäftigt, dass er offenbar mein verstelltes Ich sehr mochte.
„Ja wie du meinst, bis dann also!“, antwortete ich ihm letztendlich.
Dann läutete es zur nächsten Unterrichtsstunde. Dauernd sah ich auf die Uhr, in der Hoffnung dass es endlich zur Mittagspause klingeln würde.
Endlich war es soweit. Es war 12 Uhr und die Pausenglocke war zu hören. Aus meiner Klasse rannten alle schnell nach draußen, um aus der schlechten Luft, die sich im Klassenzimmer ansammelte, zu kommen.
Ich war diesmal die letzte, die aus dem Raum ging und langsam die Treppe hinunter stieg. Als ich unten angelangt war konnte ich von der Ferne schon Daniel bei den großen Stiegen, die für uns Schüler zum „Bequemmachen“ bereitgestellt wurden, sitzen.
Er schien gerade etwas auf seinem Handy zu machen und so ging ich auf ihn zu, ohne das er es bemerkt hatte. Als ich schließlich vor ihm stand, blickte er auf und sagte: „Ich dachte schon, du kommst nicht.“
Ha - ha - ha, dachte ich mir und war über diese Aussage ziemlich genervt.
Seine dunkelbraunen, hinten leicht aufgestellten Haare waren wohl das süßeste an ihm. Er war sehr dünn, war nur ein wenig größer als ich und war meist dunkel, sehr selten hell gekleidet. Ein Piercing hatte er an der Lippe, doch das hat ihm ganz gut gepasst – im Gegensatz zu anderen Leuten.
Mein Blick kam von ihm gar nicht mehr ab, bis er mich fragte: „Bekommt ihr viel Hausübung?“
Die Frage hat zu diesem Moment wohl am wenigsten gepasst, aber dann dachte ich mir – dass er wenigstens versucht, ein Gespräch aufzubauen und das von letztem Mal wieder gut zu machen.
„Nur im Fach Englisch“, antwortete ich ihm schließlich.
„Hast du einen festen Freund?“, fragte er mich dann.
Meinem wahren Ich würde diese Frage sehr gut gefallen, da es immer gut zu wissen ist. Vor allem weiß man dann, wie man mit der Person umzugehen hat.
Meinem falschen Ich würde diese Frage gar nicht gefallen. Aber da ich sehr interessiert an ihm war, musste ich mein verstelltes Ich mit dem wahren Ich kombinieren und so stellte sich meine Antwort: „Rate! Ach Spaß, im Moment nicht, hast du denn eine Freundin?“
Meinen Charakter zu verstellen ist für mich mittlerweile fast einfacher als meinen wahren herzuzeigen. Ich muss mich seit meinem fünften Lebensjahr verstellen, musste schon sehr früh lernen, nicht Ich selbst zu sein um bei anderen akzeptiert zu werden. Doch eine Kombination aus dem wahren Ich und dem verstellten war sehr selten und es fiel mir richtig schwer, ihm mit einem „Spaß“ zu antworten. Doch das gehörte zu dem verstellten Charakter. Mut und Spaß.
„Nein. Wollte während der vierten Single bleiben, damit ich in der vierten gut abschneide. Das Zeugnis ist ja ziemlich wichtig. Und während der fünften kam mir bisher noch nie so wirklich eine über die Quere“, antwortete er mir.
Er war ein ziemlich netter Kerl und scheint Spaß zu verstehen. Das war gut, da ich mir leicht tat, irgendeinen Mist von mir zu geben. Ich selbst aber stand überhaupt nicht auf so Zeug, was ich dann oft ausspreche. Doch das gehörte dazu und ich kam schon viele Jahre damit klar.
„Ist doch gut. Wenig Ablenkung bedeutet bessere Schulnoten. Du bist doch kein schlechter Schüler, wenn du jemandem bei Mathe helfen musst, oder?“, fragte ich ihn.
Daniel antwortete mir: „Durchschnittsschüler. Mathe ist für mich einfach, aber Biologie oder Chemie liegen mir überhaupt nicht.“
Nachdem wir etwa zwanzig Minuten lang miteinander gesprochen haben, meist über die Schule und Lehrer, selten vom Privaten, verabschiedeten wir uns voneinander und gingen in unsere Klassenräume.
Ein paar Mädels aus meiner Klasse schienen mich mit Daniel gesehen zu haben und wollten unbedingt wissen, wer er ist.
„Seid nicht so neugierig. Man darf wohl Freunde haben, oder nicht?“, gab ich als Antwort und dann kam auch schon unsere Deutschlehrerin in die Klasse.
Ich dachte die ganze Unterrichtsstunde nur an Daniel und wie schön dieses Gespräch mit ihm gewesen war. Es war für mich unglaublich toll. Ich hatte mich ständig gefragt, ob es ihm wohl auch so gut wie mir gefallen hatte.
Den restlichen Tag backte ich mit meiner Mutter Kuchen und ich ging sehr früh schlafen.
Doch ich konnte die ganze Nacht nicht einschlafen, weil ich daran dachte, ob ich nun auch Daniel meinen wahren Charakter verheimlichen sollte und ob er nun anders wäre, wenn ich ihm diesen vorstellen würde....
Nun stand das Wochenende vor der Tür und es war Freitag, 17 Uhr gewesen. Da meine Eltern seit heute Morgen bis Montagfrüh nach Italien gefahren sind, musste ich mir eine Beschäftigung suchen.
Doch das klingt einfacher als es ist. Denn weder stundenlang Fernsehen, noch stundenlang vor dem PC sitzen erweckten Freude in mir.
Ich beschloss, dass ich es mir mit einem Buch auf der Couch bequem mache. Denn beim Lesen verging die Zeit immer wie im Flug.
Meine Konzentration wurde immer schlechter. Schon nach etwa einer Stunde dachte ich an das kleine Mädchen, welches mir geholfen und mich aufgebaut hatte, mein wahres Ich ein wenig kennen lernen konnte und es akzeptierte.
Ich hab sie nun schon wochenlang nicht mehr gesehen und das machte mich traurig. Obwohl das Mädchen so viel jünger als ich gewesen war, war sie alleine von der ersten Begegnung so etwas wie eine gute Freundin für mich geworden.
Ich dachte an ihre zarten Hände, an ihre wunderschönen Haare und an die liebe, junge Stimme. Ich dachte daran, wie sie zu mir gesprochen, ihre Arme bewegt und ihr Talent eingesetzt hatte.
Es war ein Talent, das sie so gut zuhören und so gute Ratschläge machen konnte. Denn wer kann so etwas mit 10, 11 oder 12 Jahren?
Dann dachte ich an Daniel, an das wundervolle Gespräch, welches meine ganze Lebensfreude erweckt hatte.
Wie er mich ansah, wie er nur da saß, sich streckte und sich für mich interessierte. An all das dachte ich.
Ich sagte leise: „Du bist wunderschön“, obwohl er es nicht hören konnte. Er war ja nicht einmal in meiner Nähe, doch wenn ich an ihn dachte, dann war er irgendwie da.
Ich drückte meinen Polster ganz fest zusammen, aus Wut, aus Angst und aus Verwirrung.
Ich hasste es, mich verstellen zu müssen. Selbst für den Menschen, der mir in so kurzer Zeit so viel bedeutet hatte.
Unerträglich war es für mich. Ich wollte nicht mehr an das alles denken, wollte abschalten, mich hinlegen, weg von da.
Genau! Einfach nur weg wollte ich.
Es ist nicht sehr leicht von einem schüchternen, leidenschaftlichen, sturen, emotionalen und egoistischen Charakter zu einem mutigen, freundlichen, arroganten und frechen zu wechseln. Und dennoch hab ich es schon jahrelang gemacht.
Doch erst jetzt wird mir bewusst, in welcher Situation ich mich eigentlich befinde. Ich scheine mich verliebt zu haben und werde akzeptiert, indem ich nicht der Mensch bin, der ich eigentlich bin.
Ich spreche in der Schule, im Autobus und im Park Dialekt, obwohl ich es zu Hause nie tue. Denn da darf ich es gar nicht. Meine Eltern finden es schrecklich, wenn ein Mädchen meines Alters Dialekt spricht.
Und ich finde das auch. Dennoch tu ich es. Um anderen zu gefallen, um akzeptiert zu werden.
Ich sehe selten fern. Denn wenn ich es tue, egal ob es jetzt eine Liebeskomödie, ein Horrorfilm oder eine Sit-com ist, überall gibt es traurige Szenen und da werden meine Emotionen erweckt. Ich weine bei jeder nur harmlosen, genauso wie ich bei schrecklich traurigen Szenen weine.
Ich verstecke mich, oft sogar von mir selbst. Möchte nicht der Mensch sein, der ich bin. Ich musste schon sehr früh lernen, damit umzugehen und es wird mich immer verfolgen.
Ich weiß, dass ich eher eine unbeliebte Person auf der Welt wäre, eine Außenseiterin in der Schulklasse und jemand, der nicht hunderte Freundinnen hat, mit denen man lachen kann, sondern nur eine. Und selbst das wäre unsicher.
Ich sehe ja nun auch nicht so gut aus, bin für meine Größe nicht zu dick und nicht zu dünn, was ja ganz in Ordnung ist.
Ich hasse es mich zu schminken, Stöckelschuhe zu tragen oder etwas zu sagen, was andere lustig finden und ich selber eigentlich nicht.
Am liebsten würde ich laut schreien, mich davon lösen und so leben, wie ich es gerne hätte. Ein einziger lauter Schrei würde mein Leben verändern, - vielleicht.
Doch ich trau mich das nicht, bin zu feig, möchte nicht loslassen, möchte akzeptiert werden.
Ich schlief mit Tränen in den Augen ein, mein Polster war nass. Denn was ich mir zuletzt dachte, als ich eingeschlafen bin war...
„Jeder Mensch sagt, er würde sich nie für jemand anderen ändern. Ich hab das nie sagen können, denn ich war noch jung und musste es tun.“
Tag der Veröffentlichung: 10.02.2012
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