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Früher



Früher war es egal, ob ich mich morgens auf der linken oder auf der rechten Straßenseite zum Bäcker, welcher am Ende der Straße sein Geschäft pünktlich um 6:30 Uhr öffnete, begab. Denn von beiden Straßenseiten wurde mir ein freundliches „Guten Morgen“ zugerufen.
Und dann gab es in meinem Leben eine plötzliche Wendung, mit welcher ich bis heute nur schwer zurecht komme, falls man das überhaupt so nennen kann.

Ich vergleiche nur ungern das Jetzt mit der Vergangenheit. Aber wenn ich ehrlich bin, muss ich mich von meinem früheren Leben trennen. Ich muss lernen, mich damit abzufinden, dass das Schicksal einfach eine wichtige Rolle im Leben spielt und es einfach nicht immer so laufen kann, wie man es sich gewünscht hatte. Vielleicht erlebe ich noch in diesem Jahrhundert etwas, worauf ich stolz sein kann. Möglicherweise werde ich im Lotto gewinnen und eine einsame Insel kaufen, worauf ich gleich ein Haus bauen lasse – und möglicherweise lerne ich die Löwensprache um mich mit den Mitbewohnern auf der Insel verständigen zu können. Oder ich begegne einem richtig süßen Typen, welcher mich über alles liebt und sein letztes Hemd für mich geben würde, aber sich letztendlich herausstellt, dass er ein Vampir ist und sich nachts als Fledermaus aus dem Haus begibt um sich am Blut der Menschen zu sättigen, welche die Nacht darauf dann auch als Fledermäuse rumflattern.

Es ist ja nicht so, dass ich mir unbedingt wünsche die Löwensprache zu lernen oder einen Vampirfreund zu haben, aber mein Leben ist sehr eintönig und langweilig, sodass ich mich unheimlich nach Action sehne. Früher war ich einfach viel schneller zu beeindrucken, als ich es heute bin. Beispielsweise hat mir mein Vater damals erzählt, was er isst um glücklich zu sein – nämlich eine Tüte Gummibärchen. Bei ihm stand jede Farbe für ein bestimmtes Gefühl. Rot stand für Zärtlichkeit, die Farbe Grün stand für Glück und bei den anderen bin ich mir nicht mehr so sicher. Vor jeder Klassenarbeit nahm ich ein grünes Gummibärchen und durch die – Entschuldigung für die Wortwahl – absolut bescheuerte Einbildung, schrieb ich tatsächlich nur gute Noten. Wenn ich jetzt daran denke, finde ich es einfach nur lächerlich. Das einzig gute an der Sache war, dass wir permanent Gummibärchen zu Hause im Naschkästchen hatten. Und heute esse ich ein Stück Pizza um meine Langeweile einigermaßen zu vertreiben und Beschäftigung zu finden.

Und selbst wenn ihr mich jetzt für verrückt erklärt, bin ich kein schlechter Mensch. Schließlich helfe ich älteren Menschen über die Straße und schenke auch gerne mal das Restgeld vom Einkauf dem vorm Geschäftsitzenden Obdachlosen, damit er seinen Hunger stillen und sich ein Brot kaufen kann, obwohl ich irgendwie immer das Gefühl habe, dass er es eher für unwichtigere Dinge ausgibt.

Außerdem hab ich viele Freunde, die so gut wie immer für mich da sind oder besser gesagt, waren. Da gab es Susanna, welche alle immer „Susu“ nannten. Mit ihr wurde ich immer verglichen, weil wir uns sehr ähnlich sahen. Sie hatte fast dieselben braunblonden Haare wie ich, unsere grüngraue Augenfarbe war auch nur mit einer geringen Verschiedenheit abzuhaken. Wir waren beinahe gleich groß und unsere Körper ähnelten sich fast so wie eine Gurke mit einer Zucchini. Das einzige was uns zu zwei unterschiedlichen Menschen machte waren unsere Charaktere. Und dann gab es noch meinen besten Freund Simon, mit dem ich so gut befreundet war, dass uns niemand hätte trennen können. Doch die meiste Zeit verbrachte ich mit Haley. Sie schätzte genauso wie ich actionreiche Erlebnisse und deswegen unternahmen wir viele verrückte Dinge. Am liebsten erinnere ich mich an den Sommer 2008. Da gingen wir in der Stadt spazieren und an diversen Läden vorbei. Als wir dann vor einem Friseurladen anhielten und mithilfe der Fenster feststellten, dass gerade keine Menschenseele da drin zu erkennen war, gingen wir hinein und warteten einen Moment ohne zu wissen, was wir überhaupt vorhatten. Dann kam eine junge Frau mit Löckchen in das Geschäft und bat darum, dass man ihr die Haarfarbe erneuert. Als ich meinen Mund öffnen wollte, um klarzustellen, dass wir hier nicht beschäftigt sind, hielt mir Haley den rechten Zeigefinger vor den Mund und sprach mit der Dame. Danach mischte ich irgendwas zusammen und Haley schmierte der jungen Frau die neue Farbe in die Haare und wir rannten weg. Es war einfach total lustig, wobei mir die Dame so richtig leid getan hat.

Wie ich schon erwähnte, begann sich mein Leben zu wenden. Und das sicher nicht in die positive Richtung, denn wenn ich ehrlich bin war mein Leben eigentlich super gewesen.
Es begann am Abend des achten Oktobers 2008, etwa gegen 21:45 Uhr. Ich lag auf der Couch und starrte in den Fernseher, während ich eine SMS einer mir unbekannten Nummer bekam.


Überwindung



„Hey, alles klar bei dir?“, stand in der Nachricht.

Ich war so verwirrt gewesen, wer mir so spät eine solch schwachsinnige Frage stellen konnte, dass ich vorerst überhaupt nicht auf das Gespräch eingegangen bin. Denn ich bin nicht so eine, die sich darum bemüht, ein „gutes Opfer“ zu sein. Wenn man wirklich mit mir sprechen möchte, dann hat man sich vorzustellen bevor man „gleich zur Sache“ kommt und wenn das jemand ist der mich halbwegs kennt, dann würde dieser das mit Sicherheit wissen.
Wenige Minuten später bekam ich nochmals von diesem Absender eine Nachricht: „Schläfst du etwa schon?“

Allmählich wurde mir die Situation unangenehm, somit beschloss ich mein Handy einfach abzuschalten und schlafen zu gehen.

Am nächsten Morgen klingelte mein Wecker wie immer um halb sieben. Ich machte mich für die Schule fertig und packte meinen Rucksack. Danach nahm ich mein Handy und schaltete es an, während ich über die Nacht zwei weitere Nachrichten von dieser Nummer empfing. Ohne sie zu lesen löschte ich diese und ging aus dem Haus.

Irgendwie war es merkwürdig gewesen, denn wie ich euch erzählt hatte, wurde ich jeden Morgen von den Leuten begrüßt – egal wo sie waren - und diesmal hörte ich von keiner einzigen Person ein freundliches „Guten Morgen“. Ich kaufte mir beim Bäcker zwei Croissants. Von da aus war die Schule gar nicht mehr so weit entfernt gewesen, ungefähr fünf Minuten. Der Spaziergang morgens tat mir immer besonders gut und ich nannte es immer „das Highlight“ des Tages. Doch an diesem Tag war es überhaupt nicht so gewesen, weil sich alle gegen mich wandten und das schlimmste war, dass mich nicht einmal Herr Ottwinger begrüßte. Dieser Mann war der netteste Mensch aus der Gegend und er war eigentlich sehr bekannt in der ganzen Stadt. Wenn man mal weg von zu Hause wollte, hat man es sich für ein paar Stunden in seinem Luxushaus gut gehen lassen können ohne Gegenleistung bringen zu müssen. Die Fußmassagen hatte ich am häufigsten genossen und das Essen dort war einfach nur gigantisch.

Die Schule bestand aus zwei Gebäuden, wovon das eine um ein paar Quadratmeter größer als das andere war.

Als ich dann endlich ankam, ging ich wie immer zuerst zum Schulbuffet um mir einen Eistee zu kaufen und danach in mein Klassenzimmer, welches sich im zweiten Stock befand. Ich war üblicherweise eine der letzten, die morgens das Klassenzimmer betrat. Haley war für diese Woche meine Sitznachbarin. Wir hatten uns so viel zu erzählen, dass ich damit anfing ihr Briefchen zu schreiben, weil die Lehrer es nicht unbedingt mochten, wenn man während des Unterrichts über private Dinge plaudert.

Ich erzählte ihr in meinem ersten Brief von den Nachrichten und dem unbekannten Absender und im zweiten Brief erwähnte ich das merkwürdige Ereignis mit Herrn Ottwinger und den anderen. Haley war sofort hin und weg von diesen Erzählungen, sodass sie mir mit folgenden Worten antwortete:
„Das ist doch super! Endlich mal was anderes! Lass uns nachforschen wer dir da ständig schreibt. Solltest du wieder eine Nachricht von dieser Nummer empfangen, dann lösch sie nicht und gib mir bescheid!“

Wie wenn ich’s nicht gewusst hätte sah Haley an dieser Sache wieder eine Menge actionreiche Tage vor sich und irgendwie brauchte ich auch mal wieder einen richtigen Kick im Leben, somit musste ich nur noch auf eine erneute Nachricht hoffen.

Nun war es schon neunzehn Uhr gewesen und noch immer wartete ich auf eine Nachricht, völlig egal was drin stand. Wichtig war vorerst, dass ich an die Nummer des Unbekannten kam. Ich sah jede zweite Minute auf mein Handy in der Hoffnung eine Nachricht empfangen zu haben, was ziemlich untypisch für mich war, denn ich bin nicht so ein Mensch, der ständig im Internet sein muss oder das Handy in der Hand hält, weil man auf einen Anruf oder auf eine Nachricht wartet.

Gegen zweiundzwanzig Uhr empfing ich endlich eine Nachricht. Obwohl ich überhaupt kein Interesse an diesem Menschen hatte, war ich irgendwie nervös als ich die Nachricht öffnete. Und dann sah ich die Wörter vor mir, die ich mir offenbar zu Herzen nahm weil ich einmal tief ein- und ausatmen musste. Danach warf ich nochmals einen Blick auf die Nachricht:
„Wieso bist du so ein kaltherziger Mensch?“
Kaltherzig. Gute Wortwahl, dachte ich mir. Irgendwie stimmte es schon, was aber jetzt nur wenig mit dieser Person zu tun hatte. In meinem ganzen Leben sah ich zuerst auf mich, bevor ich mich um andere kümmerte. Beispielsweise war Susu mal meine beste Freundin, allerdings hatte ich nur Zeit für sie, wenn mir gerade langweilig war und deswegen wurde unsere Freundschaft immer schwieriger. Und dann versuchte ich halbwegs freundliche Worte zu finden, um dieser Person eine vernünftige Antwort zu geben. Ich brauchte bestimmt sieben Minuten um diesen Text einzutippen:
„Es tut mir leid. Wer bist du?“
So ist das halt, wenn man nur wenig mit Handys zu tun hat. Ich musste erstmal herausfinden wie man zu einem anderen Buchstaben kommt, als immer nur „aaaa“ zu schreiben. Erstaunlich schnell empfing ich eine Antwort von dieser Person und meine Augen wurden ganz groß:
„Ich bin Marco. Du brauchst dich mir nicht vorzustellen, Yvi. Wie war dein Tag?“
Vor Schreck zuckte ich zusammen. Ein Marco war mir nicht bekannt. Was genau ich ihm darauf antworten sollte, wusste ich nicht und wenn ich ehrlich bin, wollte ich keineswegs weiterschreiben. Eine einzige Sache die mich zu den nächsten Worten ermutigte, war ausschlaggebend für meine offene Art – nämlich die actionreichen Tage mit Haley. Ich tippte also...
„Woher kennst du mich denn? Mein Tag war soweit okay, du weißt schon – Schule halt.“
Und dann bekam ich keine Antwort mehr. Ich wartete zwanzig Minuten und ging schlafen. Als ich aufwachte sah ich auf mein Handy. Nichts. Keine Nachricht.
Dann begann ich mir langsam Sorgen zu machen, worüber genau wusste ich selbst nicht. Entweder weil ich dachte etwas falsch gemacht zu haben oder weil Marco etwas passiert ist. Vielleicht aber auch weil ich ahnte, dass mir schon wieder niemand einen guten Morgen wünscht. Und genau so war es auch. Man warf zwar einen kurzen Blick auf mich, aber das war’s auch schon.

Langsam schien mir die Sache immer merkwürdiger vorzukommen und da ging ich morgens vor der Schule zu Herrn Ottwinger und fragte ihn, ob ich irgendetwas falsch gemacht hätte. Dieser meinte „Nein, liebes. Du hast alles richtig gemacht. Hast du schon von deiner Schwester gehört?“, was mich sofort neugierig machte.
Ich hatte meine Schwester bisher neun Mal getroffen. Sie war recht hübsch und drei Jahre älter als ich gewesen.
Ich schüttelte den Kopf und fragte verwundert „Nein. Was ist denn mit Lizzy?“
„Sie ist in der Stadt und du weißt schon, erfreut ist niemand darüber. Viele lassen ihre Kinder nach der Schule nicht außer Haus.“
Obwohl ich Lizzy nur so selten gesehen habe, weiß ich über sie bescheid. Sie ist zwar hübsch und wirkt im ersten Moment freundlich, aber sie ist ziemlich verrückt. Ich dachte immer sie wäre irgendwie geisteskrank oder so was. Dabei ist sie nur selbstverliebt, nutzt sowohl Mädels als auch Jungs aus und erbeutet übermäßig viele und teure Sachen. Soweit ich weiß schließt sie ziemlich schnell Freundschaft und verlangt dann Dinge wie z. B. das neue iPhone oder eine echt-goldene Halskette vom Juwelier. Wenn sie das hat was sie möchte, haut sie ab und ist unauffindbar. Und weshalb die Leute ihre kleinen Kinder vor ihr verstecken, weiß ich nicht. Doch man könnte sich schon denken, dass ihr bestimmt auch noch andere Möglichkeiten einfallen und möglicherweise ist das der Grund weshalb man im Moment keine Kinder im Park Ball spielen sieht. Schließlich bedankte ich mich bei Herrn Ottwinger und lief schnell die Straße hinunter, um noch pünktlich in den Unterricht zu stürmen.


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Tag der Veröffentlichung: 09.02.2012

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