Die aus pulsierendem Licht bestehende Kuppel war extra für das Zusammentreffen der hundertneunundvierzig Erzengel errichtet worden. Dabei diente die leuchtende Barriere weniger der räumlichen Abgrenzung, als vielmehr dem Zweck das Gesagte von unbefugten Ohren fernzuhalten. Denn was am heutigen Tag besprochen wurde, sollte endlich den Wendepunkt in dem seit Jahrtausenden währenden Krieg gegen Luzifer und seine Anhänger herbeiführen.
Als Anführer der himmlischen Heerscharen hatte Michael das Treffen einberufen, um seine neuesten Erkenntnisse mit den anderen Erzengeln zu teilen.
Für die Engel war Zeit nur ein abstrakter Begriff, den sie wenn überhaupt in Zusammenhang mit der physischen Welt der Menschen verwendeten. Dennoch verspürte Michael ein drängendes Gefühl, das leuchtende Lichtimpulse aus seinem Körper schickte. Im Takt zu deren An- und Abschwellen wechselte seine Gestalt die Form, wurde mal lang und mal breit, während tanzende Lichtfäden aus seinem Körper wuchsen.
Michael schwebte in der Mitte der Kuppel und strahlte nach Außen die Gelassenheit eines erfahrenen Kriegers aus, während er innerlich unruhig auf die Ankunft seiner Gefährten wartete. Der erste, der sich zu ihm gesellte, war Gabriel. Seine Gestalt glühte in einem gleichbleibenden warmen Schein, während er an Michaels Seite glitt.
„Und, was haben deine Nachforschungen ergeben?“
In knappen Sätzen fasste Michael das Erfahrene zusammen.
Ein nachdenkliches Summen strömte aus Gabriels Körper. „Das kann vieles bedeuten.“
„Ich weiß.“ Michael seufzte und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Rand der Kuppel zu, an dem soeben Raphael und Uriel erschienen waren. „Aber ich hoffe, dass es uns als Einheit gelingt das Rätsel zu lösen.“
Die beiden Neuankömmlinge schwebten durch die Lichtbarriere, auf deren Oberfläche sich ausbreitende Kreise erschienen, die langsam verblassten. Nun war die Führungsriege der Erzengel vollständig.
„Welches Rätsel?“, fragte Uriel, der Michaels letzte Worte nach dem Betreten der Kuppel vernommen hatte. Während sie auf die Ankunft der übrigen Erzengel warteten, ließen sich Raphael und Uriel von Michael erzählen, was Gabriel bereits erfahren hatte.
Als sich alle einhundertneunundvierzig Erzengel in der Lichtkuppel versammelt hatten, erhoben sich ihre vier Anführer in die Höhe. Gespannt auf das, was sie am heutigen Tag beschließen würden, ließ Michael seinen Blick über die versammelten Lichtgestalten schweifen, bevor er seine Stimme erhob.
„Brüder und Schwestern“, begrüßte er die anwesenden Erzengel und lenkte somit ihre Aufmerksamkeit auf sich, „seit tausenden und abertausenden von Jahren plagen wir uns mit der Aufgabe ab, das Unheil von der physischen Welt fernzuhalten, das unser gefallene Bruder Luzifer und seine Anhänger tagtäglich über sie bringen. Luzifers liebstes Ziel sind dabei die Menschen, die für seine manipulativen Spielchen am anfälligsten sind. Seit hunderten von Jahren versucht er sie von der Wahrheit der Einheit fernzuhalten, sie in seinen Einflussbereich zu ziehen und somit Alles was ist weiter zu verderben. Doch dank unseres Bruders Gabriel gibt es endlich Grund zur Hoffnung.“
Ein leises Flüstern setzte unter den versammelten Erzengeln ein, das sofort verstummte, nachdem Gabriel einige Zentimeter weiter in die Höhe gestiegen war.
„Meine letzte Vision handelte von unserem Kampf gegen Luzifer“, verkündete Gabriel mit sanfter Stimme. Seine Visionen, die aus einzelnen Bildern, Tönen oder ganzen Sequenzen bestehen konnten, waren unter den Engel wohl bekannt und hatten ihm seinen Platz an der Spitze der Erzengel eingebracht. „Ihre ganze Tragweite zu erfassen, war mir zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht möglich. Aber vielleicht können wir das Rätsel gemeinsam lösen.
Die Vision umfasst drei Bilder. Das erste zeigt Luzifer unter den Menschen, bevor er sich ins Innere der Erde zurückgezogen hat. Das zweite zeigt einen von einem Lichtkranz umrahmten Mann, der vor einem großen, sechssäuligen Tor steht, das von einem Streitwagen gekrönt ist. Das dritte und letzte Bild zeigt eine trockene, aus rotem Sand bestehende Landschaft, die von drei ineinander verschlungenen Lichtstrahlen erhellt wird.“ Gabriel öffnete seinen Geist und sandte die drei Bilder an die versammelte Engelschar. Einen Moment herrschte stille, während die Erzengel die Bilder studierten.
Dann durchbrach eine helle Stimme das Schweigen. „Die Bedeutung des zweiten Bildes scheint mir eindeutig.“ Der Engel hielt kurz inne, bis sie sich der Aufmerksamkeit aller sicher war. „Einer der Unsrigen muss eine physische Gestalt annehmen und zur Erde hinabsteigen. Das Tor scheint den Ort zu markieren, an den er gehen soll.“
Zustimmendes Gemurmel erhob sich und auch Gabriel nickte. „Das habe ich auch gedacht. Aber hat noch jemand das Bild anders interpretiert, als Nehinah und ich?“
Als keiner antwortete, fragte Gabriel nach der Bedeutung der anderen zwei Bilder. Nach einigem Zögern meldete sich ein männlicher Engel zu Wort: „Ich bin mir nicht ganz sicher, aber das erste Bild könnte lediglich darauf verweisen, dass Luzifers nächste Tat unter den Menschen stattfinden wird.“
„Was keine große Überraschung wäre“, fügte ein weiterer Erzengel hinzu.
Wieder erhob sich zustimmendes Murmeln.
„Denkbar wäre es“, pflichtete Gabriel auch diesmal bei. „Allerdings ist diese Tatsache so offensichtlich, dass es dafür keine Vision bedürft. Also muss das Bild etwas anderes bedeuten. Und um das zu erfahren, haben Michael und seine Krieger Luzifer aufgespürt, um ihn zur Rede zu stellen.“
Jetzt erhob sich aufgeregtes Getuschel unter den Erzengeln. Zu Beginn des Aufenthalts von Luzifer und seinen Anhängern auf der Erde, hatten einige der Engel ihren gefallenen Bruder noch öfters besucht, um ihn auf den rechten Weg zurückzuführen. Doch seit Luzifer seinen Feldzug gegen das Himmelsreich begonnen hatte, indem er die Menschen und alles Leben auf der Erde ins Verderben zu stürzen gedachte, war kein Engel mehr zur Erde hinabgestiegen, weder in wahrer noch in physischer Gestalt.
Gabriel tauschte seine höchste Position in der Kuppel wieder mit Michael. Der himmlische Heerführer schicke ein helles Pulsieren aus, um die Engelschar zur Ordnung zu rufen. Augenblicklich kehrte Stille ein.
„Noch immer lässt Luzifer es sich nicht nehmen, seine Schandtaten aus nächster Nähe zu betrachten. Während einer seiner Stippvisiten konnten wir ihn auf der Erde festsetzen. Auch wenn uns das nicht lange gelang, hat die Zeit doch ausgereicht, um ihn einige Worte zu entlocken.“ Michael hielt kurz inne, wobei ein verärgertes Gefühl von ihm ausströmte und den umstehenden Engeln suggerierte, dass seine Unterredung mit Luzifer alles andere als erfreulich verlaufen war. „Dabei hat Luzifer, ohne es zu merken, mehr verraten, als wir bis dahin wussten. Er muss der Annahme gewesen sein, dass wir die Bilder bereits gedeutet hatten, ansonsten hätte er folgendes niemals gesagt: Ihr wollt also mein Erbe finden. Da könnt ihr lange suchen. Ich habe mein Erbe sicher versteckt. Ihr werden sie niemals finden.“
Michal legte eine erneute Pause ein, um allen Erzengeln die Gelegenheit zu geben, sich die Worte Luzifers einzuprägen. Dann fragte er: „Hat einer von euch eine Idee, was damit gemeint ist?“
Wieder war es Nehinah, die antwortete. „Was Luzifers Erbe sein soll, kann ich mir nicht vorstellen, aber es scheint ungemein wichtig zu sein.“
„Vielleicht hat er etwas erschaffen, was ihm mehr Macht gibt, ihn aber auch zugleich vernichten kann“, warf ein anderer Erzengel ein.
„Was soll das denn bitteschön sein?“, erklang eine weibliche Stimme von der anderen Seite der Kuppel.
„Womöglich eine Waffe. Das passt zu der Aussage ‚Ihr werdet sie niemals finden‘.“
„So subtil geht Luzifer nicht vor. Er liebt es Seuchen und Naturkatastrophen auf die Erde loszulassen oder den Geist der Menschen so zu verdrehen, dass sie als Terroristen ihre Mitmenschen umbringen. Für Waffen hat er sich noch nie sonderlich interessiert.“
Die Diskussion unter den Engel wurde immer heftiger, bis Uriel sie mit einem kraftvollen Lichtimpuls zum Schweigen brachte, wobei seine Aura eine autoritäre Strenge ausstrahlte. „So kommen wir nicht weiter. Wir sollten uns an die Fakten halten, die wir kennen. Und die wären, dass Luzifer irgendetwas vor uns versteckt, was er selbst sein Erbe nennt und was uns helfen kann, diesen Krieg zu beenden. Wenn wir zum aktuellen Zeitpunkt nicht wissen, was es ist, sollten wir uns, statt weiter zu spekulieren, Gedanken darüber machen, wo wir das Erbe finden könnten.“
„Das scheint mir eindeutig zu sein“, meldete sich einmal mehr Nehinah zu Wort. „Das Tor auf dem zweiten Bild markiert den Ort, an dem wir suchen müssen.“
Ein eintöniges Summen erfüllte die Kuppel, als die anderen Erzengel ihr zustimmten.
„Wenn alle dieser Meinung sind, sollten wir keine Zeit mehr verschwenden und unseren Abgesandten bestimmen, der sich laut meiner Vision auf die Suche nach Luzifers Erbe macht.“ Gabriel wechselte einen Blick mit den anderen drei Anführern der Erzengel, bevor er sich wieder seinen Brüdern und Schwestern zuwandte. „Gibt es einen Freiwilligen?“
Plötzlich wurde es totenstill in der Kuppel. Selbst das Pulsieren und Wabern der Lichtgestalten hatte aufgehört. Für einen Außenstehenden musste es so aussehen, als wäre die Zeit in der Kuppel stehengeblieben. Keiner der Erzengel machte Anstalten, Gabriels Aufforderung nachzukommen. Auf die Erde hinabzusteigen und seine freie Form ohne jegliche räumliche Grenzen und Zwänge aufzugeben, war nichts, worum sich die Erzengel rissen. Ihr Dasein im Himmel brachte sie der ersehnten Wahrheit der Einheit so nah wie möglich, während das Leben auf der Erde so weit davon entfernt war, wie es nur ging.
Wenn sich kein Freiwilliger finden würde, war es die Aufgabe der Spitze der Erzengel einen Bruder oder eine Schwestern mit der Aufgabe zu betrauen. Doch in Michael, Gabriel, Raphael und Uriel sträubte sich alles gegen die Vorstellung, einen der ihren seine Entscheidungsfreiheit zu nehmen.
Da erhob sich einer der Erzengel in den hinteren Reihen und schwebte so hoch in die Luft, wie die Wölbung der Kuppel es am Rand zuließ. Das aus ihm herausströmende Licht wand sich in dünnen Fäden um seine Gestalt, die von der der anderen Erzengel für das menschliche Auge kaum zu unterscheiden war.
„Ich werde mich zur Erde begeben, um nach Luzifers Erbe zu suchen.“ Die tiefe Stimme des Engels hallte durch die Lichtkuppel und veranlasste die übrigen Erzengel sich zu ihm umzudrehen.
„Vielen Dank für dein Angebot, Jesajah.“ Uriel schickte einen warmen Lichtstrahl in die Richtung des Engels, bevor er sich wieder an die anderen wandte. „Gibt es noch einen freiwilligen?“ Doch die restlichen Anwesenden schwiegen.
Als sich auch nach mehreren Minuten der Stille keiner zu Wort meldete, übernahm Michale wieder die Rolle des Gesprächsführers. Zwar hätte er sich gewünscht, dass einer der höherrangigen Erzengel, mit mehr Erfahrung im Umgang mit den Menschen, die Aufgabe übernommen hätte, doch wenn Jesajah der einzige Freiwillige war, konnte er die Aufgabe nur schwer einem anderen aufbürden. Ein Blick zu Gabriel, Raphael und Uriel zeigte ihm, dass auch die anderen drei Anführer der Erzengel seine Empfindungen teilten. Für die übrigen Engel blieben die Auren der vier Höhergestellten jedoch unlesbar.
„Also gut, Jesajah, damit wird dir die Aufgabe zu Teil, in physischer Gestalt zur Erde hinabzusteigen und dort nach Luzifers Erbe zu suchen. Wir erwarten, von dir regelmäßige Berichte über deine Fortschritte oder etwaige Misserfolge zu erhalten. Solltest du Rat benötigen, vergiss nie, wo du ihn findest und verliere dich nicht in der Individualität des Lebens auf der Erde.“
Michael forderte Jesajah auf zu ihm in die Mitte der Kuppel zu kommen. Als der ihm unterstellte Erzengel Michael erreicht hatte, schickte der himmlische Heerführer mehrere Lichtfäden aus, die in Jesajahs Gestalt eindrangen und ihm Michaels Erfahrungen und Erinnerungen an die Erde, die Menschen und die kürzlich zurückliegenden Unterredung mit Luzifer übermittelten.
Dann erklärte Michael die Versammlung für beendet und forderte Jesajah auf, sich auf direktem Weg zur Erde zu begeben.
Es regnete. Nicht diese kleinen, gelegentlichen Tröpfchen, bei denen es genügte die Scheibenwischer alle dreißig Sekunden einmal per Hand zu betätigen, sondern dicke, fette Tropfe, die in so kurzer Abfolge auf die Windschutzscheibe meines bromberfarbenen Ford Fiestas prasselten, dass die Scheibenwischer auch auf der höchsten Stufe nicht mehr hinterher kamen. Grimmig starrte ich durch den grauen Schleier auf die Rücklichter des Autos vor mir, das sich schon seit fünf Minuten keinen Millimeter vorwärts bewegt hatte.
Würde ich zu den Menschen gehören, die an übernatürliche, geflügelte Wesen glaubten, die zwischen den Wolken verstecken spielten, würde ich jetzt davon ausgehen, dass eines dieser Engelchen gestürzt war und seine Pein in die Welt hinaus schrie, oder ehr hinaus weinte. Bei dem Gedanken an so ein kleines, nacktes Pummelchen, wie die Engel auf den Gemälden von Michelangelo, das höchstwahrscheinlich noch von seinen Spielgefährten umringt wurde, stahl sich doch ein kleines Lächeln auf meine Lippen.
Um die schlechte Laune, durch den Stau in dem ich steckte und das trostlose Wetter hervorgerufen, endgültig zu vertreiben, schaltete ich das Autoradio an und wechselte so lange zwischen den einzelnen Sendern, bis die fröhlichen Klänge von Walking on Sunshine durch den Innenraum meines Fords schalten.
Eine geschlagene dreiviertel Stunde später hatte ich endlich meinen Wohnblock im Friedrichshain erreicht und fand gegen alle Erwartungen sogar einen Parkplatz vor der Haustür. Ich schnappte mir meine Tasche vom Beifahrersitz und hielt sie mir über den Kopf, während ich das Auto abschloss und zur Eingangstür hastete. Im Flur des vierstöckigen Altbaus wischte ich mir die Wassertropfen von der Kleidung und stieg die Treppe bis zu meiner Wohnung im dritten Stock hinauf.
Ich liebte mein Zweizimmerapartment mit dem Stuck an der Decke und dem großen Südbalkon, auch wenn ich in dieser Gegend Berlins so gut wie immer eine viertel Stunde brauchte, um einen Parkplatz zu finden. Doch das musste man eben in Kauf nehmen, wenn man das quirlige Stadtleben direkt vor der Haustür haben wollte.
In meiner Wohnung angekommen, entledigte ich mich meiner Stiefel und des Anoraks. Nach einem Abstecher in die Küche, wo ich mir einen Joghurtdrink aus dem Kühlschrank schnappte, ließ ich mich im Wohnzimmer auf meinen breite, rostroten Zweisitzer sinken und legte die Füße auf den niedrigen Couchtisch.
In dem Moment klingelte das Telefon auf dem gläsernen Beistelltischchen und beschallte die Wohnung mit den standardmäßigen Polyphonklängen. Ein Blick auf das Display zeigte mir, dass Alyssia es einmal mehr geschafft hatte, den Zeitpunkt abzupassen, wenn ich mich nach einem anstrengenden Arbeitstag auf die Couch hatte fallen lassen und eigentlich nichts anderen tun wollte, als mich von irgendeiner belanglosen Fernsehsendung berieseln zu lassen.
Als das Telefon nach dem achten Klingeln immer noch nicht verstummt war, griff ich mit einem ergebenen Seufzen nach dem Apparat und hielt ihn mir ans Ohr. „Hey Lys, was gibt´s?“, begrüßte ich meine beste Freundin.
„Na endlich gehst du ran“, eröffnete Alyssia das Gespräch auf ihre typische direkte Art. „Hast du schon von der Halloween Party nächstes Wochenende gehört?“
„Welche von den dutzenden meinst du?“ Ich konnte mir nicht verkneifen einen leicht belustigten Ton in meiner Stimme mitschwingen zu lassen. Zu Halloween fand in Berlin gefühlt an jeder Ecke eine Party statt, für die sich feierwütige Partyleute in mal mehr mal weniger schaurige Kostüme hüllten und mit Lebensmittelfarbe oder knalligen Fruchtsäften getunte Drinks tranken.
„Nicht so sarkastisch, meine Liebe“, wies Alyssia mich zurecht, bevor es aus ihr heraussprudelte: „Aber hast du wirklich nicht von der Party im Maxxim gehört? Die soll dieses Jahr der Hammer sein. Man kommt dieses Jahr nur mit Kostüm rein und um 01:00 Uhr gibt´s dann sogar einen Liveauftritt der Hermes House Band. Wir können also davon ausgehen, dass viele in Kostümen kommen werden. Nicht so wie auf der Party wo wir letztes Jahr waren. Da hatte man ja echt das Gefühl eine Kuriosität zu sein, wenn man verkleidet erschienen ist.“
Ich erinnerte mich nur zu gut an unsere letzte Halloween Party. Alyssia ist ein regelrechter Gruselfan und hat mich die letzten Jahre zu zisch verschiedenen Partys geschleift, wobei sie immer die absonderlichsten Kostüme trug. Letztes Jahr ging sie als totgefahrenes Kaninchen.
„Und, kommst du mit?“, riss mich Alyssia aus meinen Erinnerungen.
„Ist Caro denn auch mit dabei?“, fragte ich nach unserer gemeinsamen Freundin, die im zehnten Schuljahr mit ihren Eltern nach Berlin gezogen und in unsere Klasse gekommen war. Seitdem bildeten Alyssia, Carolin und ich ein Dreiergespann, woran sich auch nach unserer Schulzeit nichts geändert hatte.
„Ne, leider nicht. Sie ist mir ihrem Freund bereits auf einer Homeparty eingeladen und will da jetzt nicht mehr absagen. Kommst du trotzdem mit?“
„Habe ich denn eine Wahl?“
„Nicht wirklich.“ Das Grinsen in der Stimme meiner besten Freundin war nicht zu überhören.
Ergeben seufzte ich und legte den Kopf in den Nacken. Während ich das verschlungene Stuckmuster an der Zimmerdecke betrachtete, sagte ich: „Von mir aus. Aber wenn es mir zu viel wird, lässt du mich dieses Jahr ohne Gemecker gehen. Du findest ja eh immer irgendjemanden, mit dem du weiterfeiern kannst.“
Ich konnte förmlich spüren, wie Alyssia am anderen Ende der Leitung mit sich rang. Nach einigen Minuten des Schweigens Stimmte sie schließlich zu. „Aber nur weil du es bist, Leila.“
Ein Grinsen stahl sich auf meine Lippen. „Zu großzügig von dir.“
Die nächste halbe Stunde verbrachten wir damit den kommenden Samstag zu planen und verabredeten uns schließlich für halb Elf am U-Bahnhof Kurfürstendamm.
Am nächsten Morgen war das Wetter immer noch so trostlos wie am Abend zuvor. Gähnend schlürfte ich ins Bad und band meine schwarzen Locken zu einem hohen Dutt zusammen, bevor ich unter die Dusche stieg. Zehn Minuten später schlüpfte ich in einen meiner grauen Hosenanzüge, legte etwas Makeup auf und verließ mit einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel die Wohnung.
Pünktlich um 08:00 Uhr betrat ich das große Bürogebäude nahe dem Nordbahnhof. Seit zwei Jahren arbeitete ich jetzt schon als Projektmanagerin in dem Coachingunternehmen All for One und endlich hatte ich mein eigenes Projekt. Ein großer Industriebetrieb wollte das Konfliktpotenzial unter seinen Mitarbeitern senken und hatte zu dem Zweck ein Konfliktmanagementseminar für vierzig seiner höherrangigen Führungskräfte gebucht. Abschluss des dreitägigen Seminars sollte eine Outdooraktivität zur Teambildung darstellen.
Seit Tagen feilte ich nun schon an dem Konzept und war auf der Suche nach einer passenden Teambildungsaktivität. Laut meinem Ansprechpartner bei dem Industriebetrieb sollte es mal etwas ganz anderes sein, statt der abgedroschenen Kletter- oder Raftingpartien. Auch mein Vorschlag ein Seifenkistenrennen mit vorherigem Bau der Fahrzeuge konnte nicht begeistern.
Mit dem Bauchgefühl heute endlich die zündende Idee zu haben, eilte ich durch die Reihen des Großraumbüros und grüßte meine bereits eingetroffenen Kollegen. In meiner durch schallschluckende Trennwände geschützten Nische am hinteren Ende des Raums ließ ich mich auf den schwarzen Schreibtischstuhl sinken und schaltete meinen Computer ein. Noch bevor das Gerät die Eingabe des Windowspassworts verlangte, ertönte ein unverkennbares Räuspern von der anderen Seite des schmalen Flurs.
Es kostete mich alle Mühe nicht genervt mit den Augen zu rollen, sondern ein freundliches Guten-Morgen-Lächeln aufzusetzen. Im Geist bereits auf der Suche nach einem Grund das Gespräch schnellstmöglich beenden zu können, drehte ich mich zu Paul Siebert um. „Hi Paul, heute auch schon da.“
Pauls Lippen teilten sich zu einem Grinsen und gaben den Blick auf leicht gelbstichige, schiefe Zähne frei. „Klar. Ich weiß ja, dass du jeden Moment meine Hilfe benötigen könntest.“ Dabei strich er sich seine blonden Fransen aus der Stirn.
„Wie… lieb von dir“, stieß ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Ich wusste, dass Paul es nicht böse meinte. Es war einfach seine Art überheblich zu klingen, auch wenn er es vielleicht gar nicht vorhatte. Dennoch hatte ich mich in dem halben Jahr, das wir nun schon gemeinsam an Projekten arbeiteten, nicht daran gewöhnen können. Hinzu kam, dass Paul mich mehr als einmal auf ein Gläschen zum Feierabend eingeladen hatte und es bei Gelegenheit immer noch tat, obwohl ich jedes Mal dankend ablehnte.
Nicht, dass Paul hässlich wäre. Abgesehen von seinen Zähnen und einem kleinen Bauchansatz, der aber nicht der Rede wert war, machte er sogar eine ganz gute Figur. Breite Schulter, eine windschiefe Surferfrisur gepaart mit hellblauen Augen taten es bestimmt so einigen Frauen an. Allerdings bezweifelte ich, dass es bei den meisten nach acht Stunden täglicher Zusammenarbeit so bleiben würde.
„Hattest du denn mittlerweile auch endlich eine Idee für deinen Kunden?“, riss Paul mich aus meinen Grübeleien zu seiner Wirkung auf Frauen. Dabei stand sein ehrlich interessierter Hundeblick im starken Kontrast zum ruppigen Klang seiner Worte.
Die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück. „Nein. Und deswegen muss ich jetzt auch schnell loslegen.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte ich meine Sitzfläche Richtung Schreibtisch und beugte mich demonstrativ über die Tastatur.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Paul mich noch einige Sekunden musterte, bevor auch er mit dem Schreibtischstuhl in seinen Verschlag zurückrollte.
Leider hatte sich am Abend mein Bauchgefühl vom morgen nicht wirklich bewahrheitet. Zwar war ich auf zwei interessante Teambildungsmaßnahmen gestoßen, doch so wirklich begeistern konnten sie mich nicht. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass Manager eines Industriekonzerns den Tag als erfolgreich beschreiben würden, wenn sie Stunden damit zugebracht hätten eine Gruppenkollage zu erstellen oder in der Erde zu wühlen und einen eigenen Garten anzulegen. Zumal letzteres nur auf lange Sicht den gewünschten Erfolg erzielen würde. Nämlich dann, wenn im Herbst im wahrsten Sinne des Wortes die harte Arbeit Früchte trug.
Resigniert gab ich meinem Computer gegen 17:00 Uhr den Befehl herunterzufahren und stopfte Handy, Organizer und Büroschlüssel in meine schwarze Lederhandtasche. Morgen würde also das Spielchen von vorne losgehen und wenn ich dann immer noch nicht die passende Aktivität gefunden hatte, musste ich wohl oder übel Pauls Angebot annehmen und ihn um Rat fragen.
Als hätte der Gedanke ausgereicht, um Paul auf mich aufmerksam zu machen, erschienen sein Kopf und seine Schultern über dem Rand der Trennwände. „Machst du Schluss für heute?“
Mit einem einsilbigen ‚Hmm‘ verließ ich meine Nische und lief an Paul vorbei.
„Dann bis morgen, Leila.“
„Bis morgen“, verabschiedete ich mich und hob zum Gruß die Hand.
Ich stieg in den Aufzug, wickelte mir meinen Schal zweimal um den Hals und wartete, bis der Aufzug mit einem leisen ‚Pling‘ im Erdgeschoss angekommen war. Noch während ich die Knöpfe meines Anoraks schloss, verließ ich das Bürogebäude.
Der bereits beißende Oktoberwind schlug mir entgegen und zerrte an meinen schwarzen Locken, die sich im Laufe des Tages aus dem Dutt gelöst hatte. Die ersten buntgefärbten Blätter wehten vor mir über den Bürgersteig und verkündeten, dass der Herbst jetzt endgültig Einzug hielt. Fröstelt zog ich mir den Schal über Kinn und Mund und lief mit hochgezogenen Schultern zu meinem Ford. In der Chausseestraße war es so gut wie unmöglich einen Parkplatz zu finden, doch heute Morgen hatte ich unverschämtes Glück und eine freie Lücke schräg gegenüber von All for One ergattert.
Ich kramte in meiner Handtasche bereits nach den Autoschlüsseln, als mein Blick auf die linke Vorderseite meines Wagens fiel. Fassungslos starrte ich auf die Stelle, wo eine gewaltige Delle im bromberfarbenen Metall prangte. Die Glasscheibe des linken Vorderlichts lag in zahllose Splitter auf der Straße, begleitet von abgeplatzten Farbpartikeln. Im ersten Moment war ich mir nicht sicher, ob ich weinen oder hysterisch lachen sollte. Um Beherrschung bemüht, überwand ich die letzten Meter zu meinem Auto und suchte unter den Scheibenwischern nach einem Zetteln, den der für diesen Mist Verantwortliche hoffentlich hinterlassen hatte. Doch Fehlanzeige.
„So eine Scheiße!“ Den derber Fluch ausstoßend, trat ich gegen die vordere linke Radkappe, obwohl mein Ford gewiss der letzte war, der etwas für seinen derzeitigen Zustand konnte. Frustriert starrte ich auf den angerichteten Schaden. Wieso hat mein Bauchgefühl mir noch einmal gesagt, dass ich heute etwas erreichen würde?
Einen resignierten Seufzer ausstoßend, fischte ich in meiner Handtasche nach dem Handy. So wie mein bromberfarbener Liebling jetzt aussah, war er alles andere als verkehrstüchtig.
Gerade, als ich das Telefonat mit dem Abschleppservice beendet hatte, ertönte hinter mir eine mir wohlbekannte Stimme. „Ach du dickes Ei. Da ist dir aber jemand ordentlich reingefahren.“
Ich schloss kurz die Augen und atmete tief durch, um meine brodelnde Wut nicht auf Paul zu richten. Nachdem ich mich soweit beruhigt hatte, dem Nächstbesten nicht an die Kehle zu springen, drehte ich mich zu ihm um. „Jap. Ein wirklich toller Tag heute.“
Paul blinzelte irritiert, bis er meine Worte als Sarkasmus erkannte. „Soll ich dich mitnehmen? Deine Wohnung liegt ja fast auf meinem Weg.“
Mit einem dankbaren Lächeln auf den Lippen schüttelte ich den Kopf. „Lass mal gut sein. Ich muss eh noch auf den Abschleppwagen warten, damit ich weiß, zu welcher Werkstatt sie mein Auto bringen.“
„Ich kann mit dir warten“, bot Paul sich an.
Um etwas Zeit zu gewinnen, verstaute ich mein Handy wieder in der Tasche und besah mir erneut den angerichteten Schaden. Pauls Angebot war verlockend. In einem warmen Auto nachhause chauffiert zu werden war um einiges angenehmen, als mich in die überfüllte S-Bahn zu quetschen. Aber würde er nicht wieder irgendetwas erwarten, wenn er mit mir extra auf den Abschleppdienst wartete?
„Ah, schau mal. Da ist der Abschlepper schon“, rief Paul in diesem Moment aus und nahm mir somit die Entscheidung ab.
Die Fahrt verlief zu meiner Überraschung sogar recht angenehm. Paul zeigte sich von seiner mitfühlenden Seite und unterstützte mich bei meinen Hasstiraden auf den Mistkerl, der mein Auto erst angefahren und dann Fahrerflucht begangen hatte. Als wir in meine Straße einbogen, hatte ich meinen größten Frust abgebaut und war bereit dazu alles Notwendige für die Reparatur und den Schadensersatz durch die Versicherung in die Wege zu leiten.
Paul hielt in zweiter Spur, da heute einmal wieder alle Parkmöglichkeiten vor meinem Hauseingang besetzt waren, und stellte den Motor ab. Er drehte sich zu mir herum und lächelte. „Da wären wir.“
„Vielen Dank, dass du mich nachhause gefahren hast.“ Ich wollte gerade nach dem Türgriff greifen, als Paul mir eine Hand auf den linken Arm legte.
„Ich habe mir gedacht, ich könnte dich heute Abend zum Essen einladen. Ohne Auto bist du ja jetzt nicht mehr so mobile und das ist bestimmt unterhaltsamer, als an die Wohnung gekettet zu sein.“
Ich spürte, wie ich mich innerlich verkrampfte und mich gleichzeitig selbst einen Narren scholl. Dabei hatte ich doch von Anfang an befürchtet, dass Paul die Gelegenheit für eine erneute Einladung ergreifen würde. Mit einem flauen Gefühl im Magen, drehte ich meinen Kopf in seine Richtung, öffnete jedoch gleichzeitig die Autotür.
„Es tut mir leid Paul, aber ich habe dir schon zigmal gesagt, dass ich nichts mit meinen Arbeitskollegen anfange.“ Ich schwang meine Beine aus dem Auto und richtete mich auf, bevor Paul erneut nach meinem Arm greifen konnte. Dennoch gab er nicht so schnell auf.
Sich zum Beifahrersitz hinüberlehnend, sagte er: „Ach komm schon, Leila. Du kannst mich nicht jedes Mal abblitzen lassen.“
Mein Unbehagen schlug in Ungehaltenheit um. Die Augenbrauen tief zusammengezogen, starrte ich wütend zu Paul hinab. „Du kannst es nicht bleiben lassen, was?! Ich sage es dir jetzt noch einmal, Paul, ich will und ich werde nie etwas mit dir anfangen. Schreib dir das endlich hinter die Ohren! Und wenn du jeden Gefallen, den du mir erweist, dafür ausnutzt, um mich bedrängen zu können, dann kannst du dir deine Freundlichkeit in Zukunft sonst wo hinstecken.“
Mit Schwung schlug ich dem verblüfft dreiblickenden Paul die Autotür vor der Nase zu und machte auf dem Absatz kehrt. Auf dem Gehweg kam mir eine ältere Dame entgegen, die zwischen mir und dem Auto mit gerunzelter Stirn hin und her sah und mich dann vorwurfsvoll anblickte. Mit einem entschuldigenden Lächeln auf den Lippen ging ich an ihr vorbei, schloss meine Haustür auf und schlüpfte in den Flur.
Für Außenstehende musste es gewiss so ausgesehen haben, als ob ich vollkommen überreagierte und den armen Kerl im Auto eine unnötig harte Abfuhr erteilt hatte. Doch was Fremde dazu sagten, war mir relativ egal. Würden sie Paul auch nur im Ansatz kennen und hätten die Hälfte der aufdringlichen Einladungen erhalten, die ich trotz wiederholten freundlichen Absagen bekommen hatte, würden sie bestimmt mich mitleidig angucken und nicht ihn.
Vom gesamten Tag vollkommen frustriert, ging ich in meine Wohnung hinauf und erledigte die anstehenden Telefonate mit meiner KFZ-Versicherung und der Autowerkstatt, bevor ich mich mit einem Glas Rotwein ins Schlafzimmer zurückzog. Ich schlüpfte in meinen gemütlichsten Pyjama und machte es mit auf der Matratze bequem, um bei einem der laufenden Spielfilme den Stress des Tages zu vergessen.
Jesajah
Den Kragen seiner schwarzen Wolljacke hochgeschlagen, die Hände in den Taschen vergraben, schritt Jesajah mit gesenktem Kopf die Straße entlang. Das Hupen der vorbeifahrenden Autos nahm er ebenso wenig wahr wie die Menschenmassen, die an ihm vorbeiströmten. Zu Beginn seines Aufenthalts auf der Erde hatten die vielen Sinneseindrücke ihn noch vollkommen überfordert und ihn bei jeder Kleinigkeit zusammenzucken lassen. Doch nach über eineinhalb Jahren war er den irdischen Reizen gegenüber sichtlich abgestumpft.
Zwei Straßen weiter betrat Jesajah ein abgelegenes Straßencafé und bestellte nach einem kurzen Blick auf die Tafel über dem Tresen einen doppelten Espresso. Mit der kleinen Porzellantasse in den Händen schritt er zu einem der runden Tischchen vor der Fensterfront und ließ sich in einen gemütlichen, alten Ohrensessel fallen. Den Blick auf die Straße und die vorbeieilenden Passanten gerichtet, genoss er das heiße Getränk, das die Kälte aus seinem Körper trieb.
Jesajah liebte dieses kleine Café, das von der Hektik des irdischen Lebens unberührt geblieben zu sein schien. Das gemütliche Ambiente und die leise Musik im Hintergrund ließen ihn den Frust vergessen, der sich in den letzten Monaten in ihm aufgebaut hatte. Hätte Jesajah von Anfang an gewusst, was er sich mit der Aufgabe, nach Luzifers Erbe zu suchen, aufhalsen würde, hätte er sich niemals freiwillig gemeldet. Obwohl er zugeben musste, dass ihn die Erfahrung der Individualität gereizt hatte, auch wenn sie ihn weiter von der Einheit entfernte, statt sich ihr zu nähern.
Dennoch hatte Jesajah es als überaus interessant empfunden, sich als einzigartiges, von den anderen losgelöstes Wesen zu empfinden. Die Illusion des Getrenntseins war auf der Erde so perfektioniert worden, dass es ihn nicht wunderte, dass die Menschen die Wahrheit von Allem was ist vergessen hatten. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, waren es größtenteils die Besuche im Himmel, bei denen er den vier Anführern der Erzengel Bericht erstattete, die verhinderten, dass er selbst Zweifel an der Einheit entwickelte, obwohl das Wissen an deren Existenz tief in seinem Inneren verankert war.
Ein wenig konnte Jesajah Luzifer und dessen Anhänger verstehen, die den Glauben an Alles was ist verloren hatten. Trotzdem rechtfertigte die Erfahrung der Individualität nicht die Gräueltaten, mit denen Luzifer die Macht über alles Leben an sich zu reizen versuchte. Die aktuelle Jahreszeit konnte einen schon gewaltig frustrieren, besonders wenn man vor einer schier unlösbaren Aufgabe stand, dennoch hatte das Leben auf der Erde auch wahrlich seine Sonnenseiten.
Jesajah nahm einen Schluck von dem Espresso und ließ seinen Blick zum trüben Himmel hinaufgleiten. Die Tage im Sommer, wo die Sonne ungehindert vom klaren Himmel geschienen und die Luft mit ihren Strahlen erwärmt hatte, waren Jesajah deutlich lieber gewesen. Auch wenn ihm einige von ihnen sogar zu heiß gewesen waren.
Mit einem tiefen Seufzen dachte Jesajah an das Himmelsreich, wo es nie zu warm oder zu kalt war. Solche Zustände kannte man dort gar nicht. Auch wenn das Fehlen von physischen Eigenschaften das Leben weniger abwechslungsreich gestaltete, so war es doch deutlich entspannter. Jeder Engel kannte seine Aufgabe und wusste was zu tun war. Rivalität und Konkurrenzdruck, wie es ihn auf der Erde gab, existierte zwischen den Engel schlicht nicht. Trotz der verschiedenen Hierarchiestufen und den sieben unterschiedlichen Himmelsebenen, die alle durch leuchtende Lichtbögen miteinander verbunden waren, wussten sie doch, dass keiner wichtiger war als der andere. Sie waren alle Teil des großen Ganzen und somit eins.
Das Schreien eines Babys, dass gerade von seiner Mutter im Kinderwagen in das Café geschoben wurde, riss Jesajah aus seinen Grübeleien. Er sah zu der jungen Mutter hinüber, die den übrigen Gästen entschuldigende Blicke zuwarf. Während sie auf ihre Bestellung wartete, beugte sie sich über den Kinderwagen und flüsterte dem kleinen beruhigende Worte zu. Dabei wedelte sie mit einem Plüschtier vor dem Gesicht des Kindes herum. Tatsächlich wurde das Schreien leiser, bis es in ein unverständliches Brabbeln überging. Erleichtert richtete sich die Mutter wieder auf und schob den Kinderwagen zum nächsten freien Tisch bevor sie zum Tresen zurückkehrte, um ihre dampfende Tasse entgegen zu nehmen.
Wie immer, wenn er Kinder erblickte, spürte Jesajah eine eigenartige Faszination in sich aufsteigen, die wohl daher rührte, dass es im Himmel keine Kinder gab. Er erinnerte sich an die Bilder und Deckengemälden von kleinen Engeln, die in den vielen Kirchen, die er während seiner Ankunft auf der Erde besucht hatte, zu sehen waren, und schüttelte ob des großen Irrglaubens der Menschen den Kopf. In der von den physischen Grenzen losgelösten Welt des Himmelsreichs gab es kein Ende. Demzufolge währten auch Engel ewig als Teil des großen Ganzen und bedurften keiner Nachfahren. Anders als das Leben auf der Erde, schloss man Luzifer und seine Anhänger aus. Womit Jesajah wieder beim Kern seines Problems angelangt war.
Seufzend strich er sich eine Strähne seines braunen Haars aus der Stirn und starrte erneut auf die Straße hinaus. Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont entgegen und die Dämmerung setzte langsam ein. Auf der anderen Straßenseite sah Jesajah die Laternen anspringen, die ihr orangefarbenes Licht auf den Bürgersteig warfen, und spürte seine Frustration steigen. Wieder war ein Tag vergangen, ohne dass er etwas erreicht oder erfahren hatte.
Während seiner ersten Tage auf der Erde hatte Jesajah noch voller Faszination die wahre Bedeutung von Zeit analysiert und das erste Mal bewusst wahrgenommen, was es bedeutet, wenn sie vergeht. Doch mittlerweile war er das drängende Gefühl, das von dem Voranschreiten der Zeiger auf den irdischen Uhren hervorgerufen wurde, mehr als leid. Hinzu kam, dass von ihm endlich Ergebnisse erwartet wurden.
Die vier Anführer der Erzengel hatten bei seiner letzten Berichterstattung nichts dergleichen gesagt, dennoch meinte Jesajah gespürt zu haben, wie sie langsam ungeduldig wurden. Besonders Uriel schien das erfolglose Suchen satt zu haben, währenddessen Luzifer weiterhin seinen Plänen folgte.
Jesajah griff in die Innenseite seiner Jacke und holte die Tageszeitung hervor. Es war zu seinem abendlichen Ritual geworden, sich über die Geschehnisse in der Welt zu informieren und nach Luzifers Handschrift Ausschau zu halten.
Aufmerksam blätterte er die Seiten um und lass die einzelnen Überschriften. Es gab einige Artikel über Politik, andere über kleinere Ereignisse in der Umgebung Berlins sowie zum Sport und dem Wetter in den kommenden Tagen. Jesajah wollte die Zeitung schon wieder zuschlagen, als sein Blick auf einen Artikel am unteren Rand der dritten Seite fiel, den er zunächst übersehen hatte. Mit gerunzelter Stirn lass er den kurzen Abschnitt.
„Petersdom, Rom, Italien,
Gestern, am 25.10.2016, hat sich einer der Teilnehmer eines Rundgangs durch den Petersdom unbefugt von der Gruppe entfernt und sich in die innenliegenden Räumlichkeiten der katholischen Kirche im Vatikan begeben. Das Fehlen des Mannes fiel erst auf, als die Gruppenleiterin am Ende der Tour beim Verlassen des Doms die Anzahl der Besucher mit der Zählung zum Beginn der Führung verglich. Gefunden wurde der Mann nach einer zweistündigen Suchaktion schließlich am Eingang zu den Heiligen Grotten, einer unterirdischen Grabanlage in den Fundamenten des Petersdoms, wo bereits die Gebeine des heiligen Petrus gefunden wurden. Was der Mann dort zu tun gedachte, ist bis jetzt noch unklar. Die italienischen Behörden haben den unbefugten Eindringling in Gewahrsam genommen und erhoffen sich durch eine eingehende Befragung mehr zu erfahren.“
Jesajah starrte auf das Bild neben dem Artikel, das einen Mann mit gesenktem Haupt darstellte, der von zwei Carabinieri aus der Basilika geführt wurde. „Was hattest du da zu suchen?“, murmelte er vor sich hin und faltete nachdenklich die Zeitung zusammen.
Die Heiligen Grotten waren vor tausenden von Jahren für Luzifer und seine Anhänger der Verbindungsort zwischen der Erde und dem Himmelsreich gewesen, bis Luzifer sich von Alle was ist abwandte und sich letztendlich mit seinen Gefolgsleuten unter die Erdoberfläche zurückzog. Doch der Funke des Überirdischen hatte diesen Ort nie verlassen und die Menschen dazu veranlasst, eines ihrer prunkvollsten Gebetshäuser darüber zu errichten.
Einen Moment überlegte Jesajah, ob er nach Rom reisen sollte, um der Sache näher auf den Grund zu gehen und so vielleicht den entscheidenden Hinweis auf Luzifers Erbe zu bekommen. Auch wenn er zu Beginn das Losgelöstsein von seinen Brüdern und Schwestern als aufregend empfunden hatte, sehnte er sich nun doch nach der Vertrautheit ihrer Gemeinschaft und seiner Rückkehr ins Himmelsreich.
Dennoch verwarf Jesajah den Gedanken wieder. Nach seinem ersten halben Jahr auf der Erde, in dem er nichts nennenswertes über Luzifers Erbe herausgefunden hatte, war er durch die Welt gereist, in der Vermutung, dass sie Gabriels Vision möglicherweise falsch interpretiert hatten und Berlin nicht der richtige Ort war. Doch weder in Asien, noch in Arabien, den USA und Lateinamerika war er fündig geworden.
Sich der Tatsache bewusst, dass er noch lange nicht alle Länder der Erde abgeklappert hatte, war Jesajah letztendlich doch wieder zum Ausgangspunkt seiner Reise zurückgekehrt. Zumal er das Tor aus Gabriels Vision als das Brandenburger Tor in Berlin identifiziert hatte. Trotz dieser Tatsache und dem unbestimmten Gefühl, dass er sich am rechten Ort befand, war seine Suche bis jetzt erfolglos verlaufen.
Jesajah hatte bereits die gesamte Stadt abgeklappert. Er war sogar so weit gegangen, die Menschen auf der Straße nach Luzifer und was sie über ihn wussten zu fragen. Das hatte ihm einige schiefe Blicke und teils amüsiertes Gelächter eingebracht, wenn er zu forsch vorgegangen war. Doch vergebens.
Mit einem resignierten Seufzen steckte Jesajah die Zeitung zurück in die Innenseite seiner Jacke und zog den Reisverschluss zu. Es war Zeit in die kleine Wohnung zurückzukehren, die sein irdisches Zuhause darstellte, und seinem physischen Körper die Ruhe zu gönnen, die er benötigte.
Nach einer schlaflosen Nacht, die trotz der halben Flasche Rotwein vom Vorabend nicht ruhiger verlaufen war, quälte ich mich am Donnerstagmorgen aus dem Bett. Ein Blick aus dem Fenster zeigte mir, dass sich der trostlose Schleier über Berlin endlich gelichtet hatte, sodass die ersten Lichtstrahlen des Tages auf den beigen Langflorteppich vor meinem Bett fielen. Dennoch hob sich meine Laune nur unwesentlich. Alleine der Gedanke an mein demoliertes Auto und den damit verbundenen Aufwand reichte aus, um meine Mundwinkel die Schwerkraft spüren zu lassen. Und dann hatte ich noch nicht einmal an eine erneute Konfrontation mit Paul und das noch offene Problem mit der fehlenden Idee für die Teambildungsaktivität meines aktuellen Kunden gedacht.
Schluss mit dem Trübsal Blasen, rief ich mich selbst zur Räson, bevor meine düstere Laune endgültig die Oberhand gewinnen konnte. Für jedes Problem gab es eine Lösung, man musste sie nur finden.
Mit dem festen Entschluss das Beste aus dem Tag zu machen, der die ersten Sonnenstunden seit langem versprach, schwang ich die Beine aus dem Bett und eilte ins Bad. Eine halbe Stunde später verließ ich in legerem Businesslook meine Wohnung und machte mich auf zum U-Bahnhof Weberwiese, um mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu Arbeit zu fahren.
Die Sonne kroch gerade über die Häuserdächer Berlins, als ich mich mit der Überzeugung das Büro nicht zu verlassen, ehe ich die zündende Idee gefunden hatte, an meinen Schreibtisch setzte. Ein kurzer Blick über den schmalen Flur zeigte mir, dass Pauls Nische noch unbesetzt war.
Ich stieß erleichtert die Luft aus und drehte mich zu meinem Bildschirm um. Wenigsten habe ich noch ein paar Minuten Ruhe, in denen ich mich auf meine Arbeit konzentrieren kann. Dass es damit vorbei sein würde, sobald Paul eintraf, stand außer Frage. Nach jeder Ablehnung einer seiner Einladungen suchte er das Gespräch mit mir, um den Grund für die Abfuhr zu erfahren. Dabei war es immer der Gleiche. Wir passten meiner Meinung nach einfach nicht zusammen und das sagte ich ihm auch jedes Mal. Doch wie ich gestern wieder merken musste, ohne Erfolg.
„Ich hoffe, Sie haben die Anforderungen Ihres Kunden bereits umgesetzt, Frau Ahrens. Ansonsten sollten Sie aufhören Löcher in die Luft zu starren und sich ihrer Arbeit widmen.“
Erschrocken zuckte ich zusammen und sah zu Herrn Loscheld auf. Dass mein Chef ausgerechnet in dem Moment an meinem Platz vorbeikommen musste, in dem ich mich über Paul ärgerte, war mal wieder typisch. Hastig stand ich auf, um mit meinem Chef auf annähernd gleicher Augenhöhe zu sein. Er hatte die Statur eines großen, plüschigen Bären, seit Gemüt war jedoch alles andere als gelassen. Bis jetzt hatte ich braune Augen immer für gutmütig und freundlich gehalten, doch die von Herr Loscheld schienen mich im Moment regelrecht aufzuspießen.
„Noch nicht ganz, aber ich bin dabei.“
„So sah es aber nicht aus.“ In einer unmissverständlichen Geste verschränkte er die Arme vor der Brust und schüttelte bedauernd den Kopf.
Ich musste nicht einmal Gedanken lesen können, um zu wissen, was mich jetzt erwartete. Ein harter Ball krampfte sich in meinem Magen zusammen und ich spürte, wie mein Mund zunehmend trockener wurde.
„Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, Frau Ahrens, aber bis jetzt haben Sie sich in Ihrem Projekt nicht wirklich behauptet. Ich bezweifle nicht, dass Sie durchaus kompetent sind, um komplexe Aufgaben zu lösen, aber wenn Sie nicht bald entsprechende Ergebnisse liefern können, sollten Sie über eine Beschäftigung in einem anderen Sektor nachdenken, der nicht so viel Kreativität erfordert wie der unsere.“
Mühsam schluckte ich den Klos in meinem Hals hinunter und ließ die Hände locker an den Seiten hängen, statt sie in den Saum meiner dunkelblauen Bluse zu krallen. „Ich versichere Ihnen, Herr Loscheld, dass ich Sie nicht enttäuschen werde. Geben Sie mir noch einen weiteren Tag, um zu beweisen, was ich in den letzten zwei Jahren bei All for One gelernt habe. Die Schiller GmbH ist ein schwieriger Kunde, da werden mir gewiss auch meine Kollegen zustimmen, aber dennoch versichere ich Ihnen, dass letztendlich sowohl der Kunde als auch Sie mit meinen Leistungen zufrieden sein werden.“
Die rechte Augenbraue meines Chefs wanderte einen Zentimeter nach oben, bevor sie sich zusammen mit den Armen vor seiner Brust wieder senkte. „Nun gut, Frau Ahrens. Es ist ja nicht so, dass Sie in den letzten zwei Jahren schlechte Arbeit geliefert haben. Und das erste eigene Projekt stellt immer eine gewisse Hürde da. Aber dennoch muss am Ende das Ergebnis stimmen. Ich brauch in Ihrer Position kompetente Mitarbeiter, die über sich hinaus wachsen. Sollten Sie das nicht schaffen, ist die Stelle der Projektleiterin vielleicht eine Stufe zu hoch für sie.“
Ich spürte regelrecht, wie mir meine Gesichtszüge entgleisten, bevor ich mich wieder im Griff hatte. Auch Herrn Loscheld war meine Reaktion nicht entgangen. In seine Augen trat ein freundlicherer Glanz und seine gesamte Körperhaltung wurde eine Spur weicher.
„Das ist nichts, weshalb Sie sich schämen müssten. Sie in die Position einer Projektmanagerin zu erheben, war ein Versuch um Ihre Grenzen auszuloten. Wenn Ihnen ihr alter Job besser lag, können Sie ihn jeder Zeit zurück haben. Die Kollegen in den anderen Projekten können jede Unterstützung gut gebrauchen. Also überlegen Sie es sich.“ Mein Chef nickte mir noch einmal aufmunternd zu, dann drehte er sich um und schritt auf sein Büro am anderen Ende des Gangs zu.
Plötzlich schrecklich müde ließ ich mich auf meinen Stuhl fallen und strich mir mit den Händen über das Gesicht. Was war das nur für eine verfluchte Woche. Und zu allem Überfluss suchte sich Paul gerade diesen Moment aus, um ins Büro zu treten. Ich bemerkte seine Ankunft erst, als mir sein viel zu süßes Aftershave in die Nase stieg.
„Du siehst aber nicht gut aus, Leila.“
Zwischen meinen Fingern spähte ich zu Paul hinauf und blickte in ein überraschend mitfühlendes Gesicht. Eins musste man ihm lassen, so nervig Paul auch sein konnte, er hatte eindeutig die positive Eigenschaft, so gut wie nie nachtragend zu sein.
„Es ist auch schön, dich zu sehen“, brachte ich trotz allem, was gestern zwischen uns vorgefallen war, mit schiefem Grinsen hervor.
Paul überraschte mich erneut, indem er mich lediglich kurz anlächelte und dann mit den Worten ‚Wenn du heute Hilfe brauchst, dann weißt du, wo du mich findest‘ in seiner Nische verschwand. Völlig perplex starrte ich auf die Stelle, wo er eben noch gestanden hatte. Sollte er sich meine Worte diesmal tatsächlich zu Herzen genommen haben?
Ich schüttelte meine Verwunderung ab und drehte mich wieder zu meinem Bildschirm um. Über Paul konnte ich mir später Gedanken machen. Jetzt ging es darum meinem Chef zu beweisen, dass ich die Beförderung zu Recht erhalten hatte.
Drei Stunden und etliche Kaffeetassen später, sprang ich mit einem erfreuten Aufschrei von meinem Stuhl auf. Meine Kollegen hoben neugierig die Köpfe über die Trennwände zischen unseren Arbeitsplätzen und sahen gespannt zu mir hinüber.
„Hattest du endlich Erfolg, Leila?“
Grinsend sah ich zu Berenice hinüber, die einen Platz vor mir saß und das ganze Drama, seit ich den Auftrag zugeteilt bekommen hatte, miterleben durfte. „Ich denke schon. Und wenn Herrn Mayer auch diese Idee nicht gefällt, dann fresse ich einen Besen.“
„Gib lieber eine Runde Donuts aus. Die schmecken besser und wir haben alles was davon“, rief mir Dennis vom anderen Ende des Großraumbüros aus zu. Kollektives Gelächter ertönte, bevor sich meine Kollegen wieder ihrer eigenen Arbeit widmeten. Nur Paul und Berenice verließen ihre Plätze und kamen zu mir hinüber, um sich anzusehen, was meiner Meinung nach die hohen Ansprüche meines Kunden erfüllen würde.
Zufrieden lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und gab die Sicht auf die Website frei, auf der ich fündig geworden war. Mit gerunzelter Stirn, als seien sie emotionale Zwillinge, lasen Paul und Berenice den kurzen Artikel durch.
Nach einigen Sekunden stieß Paul einen anerkennenden Pfiff zwischen den Lippen hervor. „Das ist genial.“
Berenice rümpfte hingegen auf ihre ganz eigene Art die Nase. „Pan-&-Paper Rollenspiel“, las sie die Überschrift auf der von mir geöffneten Internetseite vor. „Also ich weiß ja nicht, ob ein auf Papier gespieltes Rollenspiel mit fiktiven Charakteren das ist, was sich Herr Mayer von der Schiller GmbH vorgestellt hat.“
„Genau das ist ja der Clou“, hielt ich dagegen. „Alles Altbewehrte, was ich vorgeschlagen habe, wurde abgelehnt. Ich habe jedoch noch nie davon gehört, dass als Teambildungsmaßnahme Pan-&-Paper gespielt wurde. Dabei ist das ideal dafür. Ich würde behaupten, dass noch keiner der Teilnehmer an meinem Workshop das Spiel gespielt hat, wodurch keine Vorteile entstehen. Außerdem kann sich jeder seinen Charakter selbst zusammenstellen und erhält somit die Möglichkeit, so viel von sich preiszugeben, wie er möchte und es im Nachhinein als reine Fantasy abzutun, wenn ihm die Reaktionen seiner Kollegen nicht gefallen. Und die Handlung des Spiels kann frei nach den Wünschen der Teilnehmer gestaltet werden. Wenn mir also Herr Mayer die Konfliktpotenziale nennt, die beseitigt werden sollen, können diese in die Story mit eingebaut werden.“
„Und wie soll dadurch die Zusammenarbeit gefördert werden?“, hakte Berenice nach.
„Ganz einfach. Jeder Charakter hat seine eigenen Fähigkeiten, genauso wie im echten Leben. Im Spiel kann jedoch deutlich gemacht werden, dass die Fähigkeiten jedes einzelnen nötig sind, um ans Ziel zu gelangen. Ich muss mir dazu nur im Vorfeld die Charakterbeschreibung der Figuren der Teilnehmer geben lassen und kann die Handlung dann so aufbauen, dass wirklich jeder einzelne von ihnen benötigt wird, um das Spiel erfolgreich zu beenden. Natürlich müsste ich die große Gruppe in mehrere kleine aufsplittern, aber das ist bei so vielen Teilnehmern ja öfter der Fall.“
„Also ich finde die Idee riesig.“ Paul gab mir einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, bevor er in Richtung des Büros von Herr Loscheld deutete. „Na dann ab in den Kampf und berichte dem großen Manitu von deiner Vision.“
Als ich am Abend das Bürogebäude verließ, pfiff ich fröhlich vor mich hin. Nicht nur mein Chef war von meiner Idee begeistert, nachdem ich sie ihm erst einmal in allen Einzelheiten erläutert hatte, sondern auch Herr Mayer. Natürlich hatte er über die Tatsache, dass jede einzelne Gruppe auch einen eigenen Spielleiter benötigte, wodurch zusätzliche Kosten anfielen, etwas gemurrt, sich jedoch schnell dazu bereiterklärt diese zu tragen. Wer Außergewöhnliches wollte und sich nicht mit Althergebrachtem zufrieden gab, musste halt mit zusätzlichen Aufwänden rechnen.
Mir im Kopf bereits meine nächsten Schritte zurechtlegend, lief ich zur S-Bahnstation und ließ mich nachhause kutschieren. Ich hatte so gute Laune wie lange nicht mehr, der selbst die überfüllten Wagons und die lange Wartezeit beim Umsteigen auf Grund einer Weichenstörung nichts anhaben konnten. Im Schein der letzten Sonnenstrahlen des Tages verließ ich die U-Bahnstation Weberwiese und machte mich auf den Weg zu meiner Wohnung.
Ich war gerade erst in meine Straße abgebogen, als ich plötzlich einen Stoß von hinter erhielt und einige Schritte nach vorne taumelte, bevor ich mein Gleichgewicht wiederfand. Doch noch eh es soweit war, wurde mir mit einem Ruck die Tasche von der Schulter gerissen.
Mit einem empörten ‚Hey‘, starrte ich die dunkle Gestalt an, die an mir vorbeischoss, meine Tasche in den Händen. Ohne noch länger zu zögern, setzte ich mich in Bewegung und rannte dem Dieb hinterher.
„HALT! Stopp! Haltet den Kerl. Er hat meine Tasche gestohlen“, schrie ich aus Leibeskräften, doch die einzigen, die mich hörten, waren eine Frau mit einem kleinen Kind und ein Mann, der allerdings auf der falschen Straßenseite lief.
Bereits nach wenigen Metern begann meine Lunge zu schmerzen. Hochhakige Schuhe eigneten sich eindeutig nicht zum Sprinten. Den Blick stur auf den Dieb gerichtet, zwang ich mich zum Weiterrennen. Ich würde mir den erfolgreichen Tag nicht durch so einen kleinen Taschendieb versauen lassen. Doch ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte, baute der Mistkerl seinen Vorsprung immer weiter aus. Im Stillen, um meine Puste für das Rennen zu sparen, verfluchte ich die Natur der Dinge, dass Frauen nun einmal das schwächere Geschlecht waren.
Ich glaubte meine Tasche schon auf nimmer Wiedersehen verloren, als der Dieb plötzlich mit einem anderen Mann zusammenstieß, der aus der nächsten Seitenstraße kam. Der unverhoffte Aufprall ließ beide Männer straucheln. Während der Fremde sich schnell wieder fing, verlor mein Dieb das Gleichgewicht und stürzte. Er schlug der Länge nach auf das Kopfsteinpflaster des Bürgersteigs, hielt meine Tasche dabei jedoch eisern umklammert.
Die Absätze meiner Stiefeletten erzeugte helle klackernde Geräusche, als ich auf die beiden Männer zueilte. Das Geräusch schien den Dieb aufzuschrecken, denn er sprang plötzlich wieder auf die Füße und wollte erneut davonrennen. Doch der andere Mann war schneller. Mit einer flinken Armbewegung hielt er den Taschendieb an der Kapuze seines Pullovers fest und hinderte ihn somit an der Flucht.
Mich trennten nur noch wenige Meter von den beiden, als ich plötzlich etwas Silbernes in den letzten Strahlen der Abendsonne aufblitzen sah. Erschrocken hielt ich in der Bewegung inne und starrte den Dieb mit weit aufgerissenen Augen an. Nur wenige Millisekunden später gab mein geschocktes Gehirn endlich den Befehl zu schreien. „Achtung, er hat ein Messer!“, rief ich dem Fremden panisch zu, doch da war es bereits zu spät.
Wie in Zeitlupe nahm ich war, wie der Taschendieb das Messer auf den Arm des anderen Mannes niedersausen ließ. In dem darauffolgenden Handgemenge ließ der Dieb meine Tasche fallen, konnte sich losreißen und stürmte laut fluchend davon.
Perplex stand ich einige Sekunden einfach nur da, bis mein Verstand endlich wieder die Führung übernahm. Im Laufschritt überbrückte ich die letzten Meter, die mich von meinem Retter trennten, bückte mich nach meiner Tasche und hob sie vom Bürgersteig auf. Dann drehte ich mich mit einem dankbaren Lächeln zu dem Fremden um. „Ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie eingegriffen haben. Die meisten hätten sich einfach rausgehalten, vor allem, als er das Messer gezückt hat.“ Bei der Erwähnung der Waffe glitt mein Blick zu dem Arm des Mannes. Erst jetzt fiel mir der dunkelrote Fleck auf, der sich auf dem Stoff der dünnen Übergangsjacke ausbreitete. „Oh mein Gott, Sie wurden verletzt.“ Entsetzt sah ich vom Arm des Fremden zu dessen Gesicht empor.
Trotz der prekären Situation, in der wir uns befanden, fiel mir auf, dass er mich um mehr als einen Kopf überragte. Verblüfft starrte er auf den Fleck. Dann hob er den unversehrten Arm, berührte mit den Fingern die Eintrittsstelle des Messers und hielt sich den blutverschmierten Mittel- und Zeigefinger vor das Gesicht. Fast so, als hätte er noch nie Blut gesehen, bestaunte er die roten Schlieren.
Ohne so recht zu wissen, was ich von der Situation halten sollte, musterte ich meinen Retter. Er hatte die Statur eines Athleten. Etwas breitere Schulter und schmale Hüften, gepaart mit einem angemessenen Anteil Muskelmasse. Nicht zu viel und nicht zu wenig.
Um das Schweigen, das sich zwischen uns ausbreitete und ein nervöses Kribbeln in meinem Nacken erzeugte, zu durchbrechen, sagte ich: „Ich wohne zwei Häuser weiter. Wenn Sie hier warten, laufe ich schnell in meine Wohnung und hole Verbandsmaterial.“ So dankbar ich dem Mann für seine Hilfe auch war, ich würde keinen Fremden in meine Wohnung lassen. Schon gar nicht, wenn ich dann mit ihm alleine war.
Mein Retter schien immer noch leicht neben sich zu stehen, denn er brachte lediglich ein schwaches Nicken zustande. Vielleicht steht er unter Schock?, überlegte ich, während ich drei Häusereingänge weiter lief und im Flur meines Wohnhauses verschwand. Eilig rannte ich zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe zu meiner Wohnung hinauf und suchte in Windeseile Taschentücher, Desinfektionsmittel, Wundsalbe, Mullbinden, Heftpflaster und eine Schere zusammen.
Kurz überlegte ich, ob ich nicht doch einen Rettungsdienst rufen sollte, verwarf den Gedanken jedoch gleich wieder. Die Verletzung hatte auf den ersten Blick nicht so schwerwiegend ausgesehen, dass gleich ein Krankenwagen angebraust kommen musste. Dafür war zu wenig Blut ausgetreten. Für den Fall, dass ich mich jedoch irrte, steckte ich mein Handy in die Tasche meines Anoraks. Sicher war sicher.
Mit einer kleinen Tüte bewaffnet, in der sich das Verbandsmaterial befand, verließ ich meine Wohnung nur eine knappe Minute später, schloss hinter mir die Tür ab und rannte die Treppe wieder hinunter.
Der Fremde stand immer noch an derselben Stelle, an der ich ihn zurückgelassen hatte. Er hatte mittlerweile den Ärmel seiner Jacke hochgeschoben und musterte interessiert die Stichverletzung, aus der nach wie vor rotes Blut sickerte. Dennoch schien sie nicht allzu tief zu sein.
Vorsichtig näherte ich mich dem Mann wieder, wobei ich ihn keine Sekunde aus den Augen ließ. Sein ganzes Verhalten kam mir eigenartig weggetreten vor. Als lebte er nicht wirklich in der Gegenwart, sondern in seiner eigenen kleinen Welt, die er nur selten für Stippvisiten in die Wirklichkeit verließ.
Als ich nur noch zwei Meter von ihm entfernt war, ruckte sein Kopf plötzlich in die Höhe und unsere Blicke trafen sich. Abrupt blieb ich stehen und starrte in die beeindruckensten blauen Augen, die ich bis dahin gesehen hatte. Wie zwei klare Ozeane schimmerten sie im Licht der bereits angesprungenen Straßenlaternen, umrandet von dichten, dunklen Wimpern. In ihnen funkelten Intelligenz und Wachsamkeit, sodass ich mich fragte, wie ich auch nur eine Sekunde den Anschein haben konnte, dass er leicht weggetreten sei.
Erst nach einigen Sekunden realisierte ich, dass ich den Mann offen anstarrte. Um meine Verlegenheit zu überspielen, räusperte ich mich kurz und hielt die Tüte in die Höhe. „Ich habe das Verbandsmaterial geholt. Wenn du mich lässt, verarzte ich dich.“
Ohne ein Wort zu sagen, musterte mein Retter mich kurz, bevor er mir seinen verletzten Arm entgegenstreckte. Etwas beklommen machte ich mich daran die Wunde zunächst mit einem mit Desinfektionsmittel getränkten Taschentuch zu reinigen, bevor ich etwas Wundsalbe auf die Eintrittsstelle des Messers strich, ein breites Pflaster als Polsterung darüber klebte und alles mit der Mullbinde verband.
Das Schweigen zwischen mir und dem Fremden wurde während ich arbeitete immer drückende, bis ich einfach um irgendetwas zu sagen, meinte: „Sie hatten großes Glück. Hätte der Mistkerl gezielter zugestochen, hätte er vielleicht Ihre Brust erwischt.“
„Aber das hat er nicht.“
Überrascht hob ich den Blick. Ich hatte nicht damit gerechnet eine Antwort zu erhalten, sodass der tiefe Bariton des Mannes mich völlig unvorbereitet traf. Der Klang seiner Stimme brachte die Luft zum Schwingen, beinahe so wie bei dem einer großen Glocke.
„Gott sei Dank.“
„Mag sein. Oder einfach nur Zufall.“
Irritiert zog ich die Augenbrauen in die Höhe und schielte zu dem Mann auf, während ich das lose Ende des Verbands mit der Schere einschnitt und die beiden langen Streifen um dessen Unterarm zusammenband. „Ich glaube nicht, dass Gott wirklich etwas damit zu tun hatte. Das war nur ein Sprichwort.“
Jetzt war es an meinem Retter eine Augenbraue fragend nach oben zu ziehen. Er sah mich eine Weile prüfend an, ohne jedoch etwas auf meine Aussage zu erwidern.
Nach einigen Sekunden des Blickkontakts verlagerte ich mein Gewicht und blinzelte. Der musternde Blick des Fremden war mir unangenehm, obwohl er nicht wirklich aufdringlich wirkte. Eher so, als studiere er ein seltenes Lebewesen.
Damit das drückende Schweigen zwischen uns nicht zurückkehrte, streckte ich kurz entschlossen meine Hand aus. „Ich bin übrigens Leila“, stellte ich mich verspätet vor.
Zögernd ergriff der Mann mit der Hand seines unversehrten Arms die meine und schüttelte sie fest. „Jesajah.“
Der Name ließ mich stutzen. „Jesajah? Ein ungewöhnlicher Name. Das ist Hebräisch, oder?“
Ein verschmitztes Grinsen erschien auf Jesajahs Gesicht. „Auch. Aber in erster Linie ist er himmlisch.“
Ich wusste nicht, was mich mehr aus der Fassung brachte. Jesajahs komische Äußerung, oder die zwei vorwitzige Grübchen, die sich beim Lächeln oberhalb seiner Mundwinkel in seine Wangen gruben. Hinzu kam ein amüsiertes Glitzern in den Augen, das die meerblauen Iriden noch mehr zur Geltung brachte.
„Aha“, stieß ich furchtbar unkreativ hervor und hätte mich im nächsten Moment für die dämliche Aussage am liebsten selbst geohrfeigt. Schnell schob ich hinterher: „Hauptsache du wurdest nicht ernsthaft verletzt“ und wechselte damit unbewusst zum du.
In dem Moment klingelte mein Handy und schnitt Jesajah das Wort ab. Innerlich fluchend, zog ich den kleinen Störenfried aus meiner Jackentasche und warf einen Blick auf das Display. Alyssia. Das war ja mal wieder typisch, dass sie sich den unpassendsten Moment von allen für ihren Anruf aussuchte.
Ich wollte meine Freundin gerade wegdrücken, als Jesajah mir aufmunternd zunickte. „Geh ruhig ran. Ich muss eh weiter.“
„O…kay.“ Leicht überrumpelt sah ich Jesajah an, während er sich bereits zum Gehen umwandte. Er lief die wenigen Meter zur Straßenecke und winkte mir noch einmal zu.
„Und nochmals vielen Dank für deine Hilfe“, rief ich ihm hinter her. Dann war er verschwunden.
Das Handy klingelte immer noch in meiner Hand und lenkte meine Aufmerksamkeit zurück auf den eingehenden Anruf. Mit gemischten Gefühlen drückte ich die grüne Hörertaste und hielt mir das Gerät ans Ohr. „Hi Lys, was gibt´s?“
Ich lag abends im Bett und starte das Lichtspiel an, dass die Straßenlaterne unterhalb meiner Wohnung an die Zimmerdecke warf. Seit einer geschlagenen Stunde versuchte ich einzuschlafen, doch sobald ich die Lider senkte, erschienen vor meinem geistigen Auge zwei meerblaue Iriden, in denen es amüsiert funkelte. Immer wieder überlegte ich, ob das Gespräch mit Jesajah anders geendet wäre, wenn Alyssia nicht angerufen hätte. Ich ärgerte mich, Jesajah nicht nach seiner Handynummer gefragt zu haben. Normalerweise sprach ich Männer nicht an sondern ließ mich lieber von ihnen ansprechen, aber wer wusste schon, wann ich das nächste Mal einen so gut aussehenden Typen wie Jesajah treffen würde, der zudem so selbstlos war, sich für wildfremde Frauen in eine Rauferei zu schmeißen. Besonders, wenn eine Waffe im Spiel war.
Du musst morgen früh raus, also höre mit diesen Grübeleien auf und schlaf endlich, rief ich mich selbst zur Ordnung. Zudem hatte es ja den Anschein, dass Jesajah mich nicht einmal halb so attraktiv gefunden hatte, wie ich ihn. Schließich hatte er die erstbeste Gelegenheit ergriffen, um abzuhauen.
Die Erkenntnis traf mich mit der Ernüchterung eines kalten Wasserstrahls. Ich sollte meine Gedanken lieber auf wirklich wichtige Dinge lenken, wie zum Beispiel meinen Job oder die Frage, was ich bei der Halloween Party anziehen sollte. Bei letzterem stahl sich ein schwaches Grinsen auf meine Lippen. Als ob die Halloween Party so ungemein wichtig sei. Für Alyssia vielleicht, die alles was mit Grusel, Spuck und Horror zu tun hatte absolut faszinierend fand, aber bestimmt nicht für mich.
Dennoch wollte ich meiner besten Freundin den Gefallen tun und am Samstag in einem beeindruckenden Kostüm erscheinen. Alyssia hatte von einem Wettbewerb gehört, der während der Halloween Party im Maxxim stattfinden sollte. Das beste Kostüm gewann die komplette Horror-Serie Penny Dreadful. Als Alyssia das erfahren hatte, war sie vollkommen aus dem Häuschen gewesen und hatte mich sofort anrufen müssen, um sich eine doppelte Gewinnchance zu sicher. Geschlagene zwei Stunden hatte sie mit mir über mögliche Kostüme gesprochen, damit ich bei dem Wettbewerb auch ja eine Aussicht auf den Hauptpreis hatte.
Bei der Erinnerung an die vor kindlicher Aufregung ganz quietschige Stimme meiner Freundin, musste ich unweigerlich grinsen. So ärgerlich ich im ersten Moment auch über die unerwünschte Unterbrechung meines Gesprächs mit Jesajah gewesen war, so sehr amüsierte mich die unbefangene Begeisterung Alyssias. In dem Punkt glichen wir uns fast wie Schwestern. Auch ich konnte bei Kleinigkeiten, die mich dennoch faszinierten, vollkommen aus dem Häuschen geraten, während andere nur den Kopf schüttelten und nicht verstanden, warum ich mich so sehr freute. Zwischen meiner besten Freundin und mir bestand nur der Unterschied, dass mich alles niedliche, funkelnde und freundliche begeisterte, egal ob glitzernde Tautropfen im Sonnenschein oder ein Strauß herrlich duftender Lilien, während Alyssia mehr auf die düsteren und schaurigen Sachen im Leben stand.
Ich verdrängte also Jesajah aus meinen Gedanken, höchstwahrscheinlich würde ich ihn eh nie wieder sehen, und konzentrierte mich stattdessen lieber auf mein Halloween Kostüm, bis ich über die ganzen Bilder von Hexen, Vampiren und Zombies in meinem Kopf irgendwann einschlief.
Eh ich mich versah, war der Rest der Woche vergangen und der Samstagabend stand vor der Tür.
Skeptisch betrachtete ich mein Spiegelbild in dem großen Ganzkörperspiegel in meinem Schlafzimmer und drehte mich immer wieder von links nach rechts. Wirklich spektakulär war meine Kostümidee für die heutige Halloween Party nicht ausgefallen, dennoch gefiel mir meine Verkleidung recht gut. Nachdem ich meinen freitägigen Feierabend für eine Shoppingtour durch die Kostümgeschäfte Berlins geopfert hatte, hatte ich mich nach ewigem Suchen für ein raffiniertes Hexenmeisterin Kostüm entschieden.
In Gedanken bei Alyssias Meinung zu meiner Verkleidung, zupfte ich an dem kreisrunden Ausschnitt des schwarzen, trägerlosen Minikleides. Über Armen und Schultern trug ich einen Spitzenbolero aus schwarzem, durchbrochenem Stoff, der am Hals von einer Brosche zusammengehalten wurde, das Dekolleté jedoch frei ließ. Tailliert wurde das Kleid von einer dunkelgrünen, mit Bändern verzierten Korsage, an der eine knöchellange, ebenfalls dunkelgrüne Schleppe befestigt war. Wie ein Umhang, der hinter einem her weht, bedeckte die Schleppe die Rückseite meiner Beine, ließ sie vorne jedoch frei. Passend zu dem Minikleid, das über und unter der Korsage hervorlugte, hatte ich als Schuhe ein Paar einfacher schwarzer Pumps gewählt. Auf meinen dunklen Locken thronte ein durchbrochener schwarz-grüner Spitzhut, der von drei Drahtstreben in Form gehalten wurde.
Es ist zwar nicht wirklich schaurig, aber eindeutig besser, als das, was ich letztes Jahr getragen habe, entschied ich und ging noch einmal ins Bad, um mir mit schwarzem Kajal den Lidstrich nachzuziehen. Dann schlüpfte ich in meinen längsten Mantel und verließ die Wohnung.
Zwei volle U-Bahnwagons und eine dreiviertel Stunde später stand ich am Bahnhof Kurfürstendamm etwas abseits der befahrenen Hauptstraße und wartete auf Alyssia. Das gute Wetter, das sich auch heute Vormittag noch gehalten hatte, war zum Abend umgeschlagen, sodass nun ein leichter Nieselregen vom Himmel hinabfiel. Mich fester in meinen beigen Wollmantel kuschelnd, betrachtete ich die vorbeieilenden Passanten und verfluchte mich einmal mehr für meine Pünktlichkeit, wenn es um Treffen mit Alyssia ging. Eigentlich müsste ich langsam verinnerlicht haben, dass sie prinzipiell eine viertel Stunde zu spät kommt. Gerade, als ich in meiner Tasche nach dem Handy kramen wollte, um meiner Freundin Feuer unterm Hintern zu machen, sah ich ihren unverkennbaren roten Schopf die Treppe zum U-Bahneingang hinaufkommen.
Alyssia hatte ihre langen, glatten Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden, der im Schein der Straßenbeleuchtung feuerrot glänzte. Die einzelnen Strähnen ihres Zopfes hatte sie toupiert und mit kleinen Spinnenklammern verziert. Ihr weiteres Kostüm konnte ich noch nicht erkennen, da sie ebenso wie ich einen langen Mantel trug. Beim Näherkommen viel mir dann jedoch die roten Blutspuren auf, die sie sich aus den Mundwinkeln laufen ließ. Das Kunstblut war schon lägst getrocknet, schimmerte im Licht der Laternen dennoch als wäre es flüssig. Grinsend stellte ich fest, dass die Leute, die in den U-Bahnhof hinein liefen, instinktiv zur Seite auswichen, als sie Alyssia erblickten. Zu gerne hätte ich ihre Gesichter gesehen, doch überraschenderweise tat mir keiner den Gefallen sich noch einmal nach Alyssia umzudrehen.
„Da bist du ja endlich“, begrüßte ich meine Freundin und nahm sie in die Arme. „Nettes Styling.“
„Danke.“ Alyssia grinste von einem Ohr zum anderen. Dann glitt ihr Blick über meine Statur und das Grinsen verblasste. „Was soll das denn für ein Kostüm sein?“
„Hör auf dich zu beschweren, du hast doch noch gar nichts gesehen“, wehrte ich gleich zu Beginn Alyssias Kritik ab. Ich hielt den Stoffbeutel hoch, in dem ich meinen Spitzhut transportiert hatte, und hielt ihn meiner Freundin vor die Nase. „Ein Teil meines Kostüms ist hier drin. Den Rest bekommst du erst im Club zu sehen.“
Alyssia nahm den Beutel entgegen und sah mit gerunzelter Stirn hinein. „Ein Hexenhut aus schwarzgrüner Spitze?“, fragte sie mit leicht vorwurfsvollem Tonfall. „Ich dachte, du überlegst dir dieses Jahr was Ausgefalleneres.“
„Hör gefälligst auf zu meckern. Das kannst du immer noch machen, wenn du das ganze Outfit gesehen hast.“ Kurzentschlossen hackte ich meine Freundin unter und bugsierte sie Richtung Maxxim.
Vor dem Club stand eine beachtliche Menge an Zombies, Werwölfen, Skeletten und Geistern, aber auch ausgefallene Schauergestallten, wie Operationspatienten mit aufgemalten, offenen Wunden, halb verweste Meerjungfrauen, bei denen ihre Darstellerinnen allem Anschein nach viel Wert auf Sexappeal gelegt hatten, und blutbesudelte, aggressive Wildtiere.
„Oh man, die haben wohl auch alle von dem Wettbewerb gehört“, raunte Alyssia an meiner Seite und sah dabei alles andere als begeistert aus.
„Und wenn schon. Wir sind doch in erster Linie hier um uns zu amüsieren.“
„Schon, aber die komplette Serie Penny Dreadfull auf Blu-ray wär auch nicht schlecht.“
„Noch ist ja nichts verloren“, versuchte ich Alyssia aufzumuntern, während wir uns quälend langsam in der Schlange vorwärts schoben.
Endlich am Eingang des Clubs angekommen, wurden wir zu meiner Überraschung nach den Ausweisen gefragt. Amüsiert reichte ich dem Türstehen mit dem Kommentar, dass wir beide schon seit neun Jahren volljährig sein, meinen Perso. Mit dem für Türsteher so typischen humorlosen Gesichtsausdruck, warf er einen Blick auf meinen Ausweis. „Das kann heute jeder behaupten. Wer kann schon erkennen, ob unter den ganzen Kostümen eine Zwölfjährige oder eine Siebenundzwanzigjährige steckt.“
Ich wollte erwidern, dass unsere Kostüme nun wirklich nicht schwer zu durchschauen sein, als Alyssia und ich von den Nächsten in der Reihe bereist weiter vorwärts geschoben wurden. Während wir das Eingangstor passierten, sah sich Alyssia schon ganz nervös nach einer Möglichkeit um, unsere Teilnahme am Wettbewerb bekannt zu geben. Mit jedem Meter, den wir in den von wummernden Bässen erfüllten Club vordrangen, wurde sie zusehends hibbeliger.
Nachdem wir unseren Eintritt bezahlt hatten und uns Richtung Garderobe vorkämpften, stieß sie plötzlich einen erfreuten Aufschrei aus, der vor der lauten Hintergrundmusik kaum mehr als ein leises Fipsen war. Hektisch gestikulierte sie in Richtung eines Tresens neben der Garderobe. Auf hohen Barhockern saßen dort zwei Clubmitarbeiterinnen und notierten laut der Aufschrift auf dem Plakat, das hinter der Theke an der Wand hing, Name und Anschrift der Wettbewerbsteilnehmer.
Kaum, dass wir unsere Mäntel abgegeben hatten, flitzte Alyssia auch sogleich zu dem Tresen. Ich beeilte mich ihr zu folgen, während ich ihre Erscheinung betrachtete. Sie trug ein rückenfreies schwarz-rotes Kleid, an dessen Saum aus Tüll geformte Flammen befestigt waren. Ihre Füße steckten in schwarzen Overknee Stiefeln und auf ihren Armen waren Flammenmerkmale aufgemalt. Das Bemerkenswerteste an ihrem Kostüm war der authentisch wirkende Dämonenschwanz, der über ihrem Steißbein am Kleid befestigt war und bei jedem ihrer Schritte auf und ab wippte.
Schmunzelnd stellte ich mich neben Alyssia an der kurzen Schlange der Wettbewerbsteilnehmer an. Erst jetzt schien sie sich daran zu erinnern, dass sie mein Kostüm auch noch nicht vollkommen gesehen hatte. Ihr Blick wanderte neugierig an meiner Gestalt auf und ab und blieb an dem raffinierten Dekolletéausschnitt hängen. Mit einem breiten Lächeln reckte sie mir ihren hochgestreckten Daumen entgegen.
Alyssias Kompliment und die rhythmischen Klänge der Housemusik versetzten mich in Feierlaune und plötzlich fand ich ihre Idee, an dem Kostümwettbewerb teilzunehmen, gar nicht mehr so schlecht. Wenn man sich mit seinem Kostüm Mühe gab, konnte man ruhig versuchen die Lorbeeren dafür zu ernten. Also trugen Alyssia und ich uns in die Liste ein, nachdem die beiden Clubmitarbeiterinnen unsere Kostüme nach einer ersten Vorauswahl für würdig erachtet hatten.
Auf der Tanzfläche war bereits ordentlich was los. Rote, orangene und gelbe Scheinwerfer erleuchteten den Dancefloor, auf dem sich die zuckenden Leiber der Partygäste zum Takt der Musik bewegten. Ohne lange zu zögern, schmissen Alyssia und ich uns ins Getümmel und tanzten die nächsten anderthalb Stunden durch, bevor unsere brennenden Kehlen uns zu einer der Bars trieben. Passend zum Abend bestellten wir zwei Zombies und zogen uns mit unseren Getränken auf eines der Sitzpolster am Rand der Tanzfläche zurück.
„Hammer Stimmung heute“, schrie Alyssia mir über die Musik hinweg zu. Ganz ihrer Meinung hob ich mein Glas und prostete ihr zu. Schulter an Schulter saugten wir an den Strohhalmen und ließen unsere Blicke über die Menge streifen.
Plötzlich erspähten meine Augen eine Gestalt, von der ich nie im Leben erwartet hätte, sie so schnell wieder zu sehen. Wenn überhaupt.
Prompt verschluckte ich mich an meinem Cocktail und bekam einen heftigen Hustkrampf, den Alyssia mit kräftigen Schlägen auf meinen Rücken zu lösen versuchte. „Nicht so hastig.“
Nach Atem ringend, schüttelte ich den Kopf und beugte mich zu ihr hinüber, damit sie mich bei der herrschenden Lautstärke auch verstand.
„Siehst du den Typ ganz in schwarz drei Tische weiter?“ Ich deutete auf unserer Seite der Tanzfläche nach rechts, wobei ich mich so gut es ging hinter Alyssias Rücken versteckte. Neugierig wandte meine Freundin den Kopf in besagte Richtung. Unter den ganzen Kostümen stach seine schlichte Kleidung ebenso hervor, wie es ein schimmerndes Juwel unter einfachen Kieselsteinen getan hätte.
Mit einem Nicken signalisierte mir Alyssia, dass sie ihn ebenfalls entdeckt hatte. „Das ist der, von dem ich dir erzählt habe. Jesajah.“
Überrascht riss Alyssia die Augen auf und ihr Mund formte ein ‚Echt?‘, ohne dass ich es über die dröhnenden Bässe hinweg verstehen konnte. Dann drehte sie sich wieder zu Jesajah um und inspizierte ihn genauer. Natürlich hatte ich meiner besten Freundin von dem Überfalls und seiner Heldentat erzählt. Auch hatte ich nicht ausgelassen, dass ihr Anruf an diesem Abend ein näheres Kennenlernen verhindert hatte.
Bei Jesajahs Anblick breitete sich ein aufgeregtes Flattern in meinem Bauch aus, das ich für ein erstes Wiedersehen völlig unangebracht fand. Dennoch konnte ich nichts gegen die wachsende Spannung tun, die sich in mir ausbreitete. Unablässig kreiste ein einzelner Gedanke durch meinen Kopf. Soll ich zu ihm gehen und ihn ansprechen?
Alyssia hatte mittlerweile ihre Musterung beendet und sich wieder zu mir herüber gebeugt. „Der sieht echt heiß aus. Geh und sprich ihn an.“
„Ich kann dich doch nicht alleine lassen.“ Unsicher spähte ich an Alyssias Schulter vorbei zu Jesajah hinüber. Er saß ohne Begleitung an seinem Tisch und ließ seinen Blick über die tanzende Meute schweifen. „Vielleicht ist er mit seiner Freundin hier und nimmt sich nur eine Pause.“ Dass er in einer Beziehung war, würde auch erklären, warum er sich Donnerstagabend so schnell verabschiedet hatte. Nicht, dass ich eingebildet war und davon ausging, dass jeder Typ etwas mit mir anfangen wollte, aber ein bisschen mehr Smalltalk hätte ich in so einer Situation von einem Singlemann schon erwartet.
„Alles nur Ausreden“, schrie mir Alyssia zu laut ins Ohr, sodass ich mit verzerrtem Gesicht zurückzuckte. Sie warf mir einen entschuldigenden Blick zu und fügte etwas leiser hinzu: „Wenn du ihn nicht ansprichst, liegst du nachher wieder im Bett und ärgerst dich, dass du die Chance ungenutzt hast verstreichen lassen.“
Widerwillig gestand ich mir ein, dass Alyssia wahrscheinlich Recht hatte. Dennoch zögerte ich, meine Freundin alleine sitzen zu lassen, auch wenn ich wusste, dass sie ein Talent dafür hatte überall Anschluss zu finden.
Alyssia spürte meine Unsicherheit, stand ohne Vorwarnung auf und zog mich auf die Füße. „In spätestens einer Stunde wieder hier.“ In unmissverständlicher Geste schubste sie mich Richtung Jesajah und verschwand mit einem Zwinkern zwischen einer Vampirin und einem Frankensteinmonster auf der Tanzfläche.
Nervös schob ich den Spitzhut auf meinen dunklen Locken zurecht, während ich mir im Kopf eine witzige Begrüßung überlegte. Doch so recht wollte mir keine einfallen. Auf den letzten Metern wurde ich immer langsamer, bis ich kurz vor Jesajahs Tisch stehen blieb. Aus sicherer Entfernung beobachtete ich ihn, wie er lässig in der Sofaecke saß, eine Bierflasche in der Hand. Erst jetzt fielen mir die Flügel aus weißen Federn auf, die auf seinem Rücken aus dem schwarzen T-Shirt zu sprießen schienen. Ein eigenartiges Kostüm für eine Halloween Party.
Noch hatte er mich nicht entdeckt. Wenn ich also einen Rückzieher machen wollte, war jetzt die letzte Gelegenheit dazu. Während ich noch mit mir rang, drehte Jesajah plötzlich seinen Kopf in meine Richtung und blickte mir direkt ins Gesicht. Überrascht wanderten seine Augenbrauen ein Stück nach oben. Dann trat ein Lächeln auf seine Lippen, das mir den Mut gab, endlich an ihn heranzutreten.
Mit einem möglichst selbstbewussten Grinsen hob ich die Hand und raunte ihm ein stummes ‚Hi‘ zu, das er auch laut ausgesprochen kaum gehört hätte. Seine Bierflasche anhebend, erwiderte er meinen Gruß und bedeutete mir, mich neben ihn auf der Sitzbank niederzulassen. Erfreut kam ich seiner Aufforderung nach, wobei ich einen angemessenen Abstand zwischen uns frei ließ. Doch als ich ihm die eigentlich völlig überflüssige Frage stellen wollte, was er den hier tat, musste ich feststellen, dass der Abstand zwischen unseren Körpern alles andere als kommunikationsfördernd war.
Jesajah schien das genauso zu sehen. Kurzentschlossen rückte er näher an mich heran und drehte mir sein Ohr zu, um zu verstehen, was ich gesagt hatte. Schmunzelnd wiederholte ich: „Was machst du denn hier?“
„Na was wohl, auf etwas Spaß hoffen“, kaum auch prompt die geschriene Antwort.
Die Doppeldeutigkeit in seinen Worten ließ mich wie ein pubertierender Teenager kichern, was mir lediglich ein Stirnrunzeln Jesajahs einbrachte. Sein ahnungsloser Gesichtsausdruck deutete darauf hin, dass er seine Worte tatsächlich so gemeint, wie er sie auch gesagt hatte, ohne irgendeinen Hintergedanken.
Peinlich berührt schluckte ich und setzte schnell zu einer zweiten Frage an, um mein Verlegenheit zu überspielen. „Warst du schon öfter im Maxxim?“
Fragend zog Jesajah eine Augenbraue in die Höhe und hielt mir sein Ohr noch näher vors Gesicht. „Warst du schon öfter im Maxxim?“, wiederholte ich lauter und begann damit denselben Fehler, wie Alyssia zuvor. Gepeinigt zuckte Jesajah zurück und hielt sich das schmerzende Ohr.
Beschämt biss ich mir auf die Unterlippe. Den Fehler lauter zu spreche, obwohl der Gesprächspartner sein Ohr bereits näher an den eigenen Mund geführt hatte, machten nun wirklich nur Trottel. Stell dich nicht so dumm an, Leila, schrie ich mir innerlich zu.
Jesajah schien mir meinen kleinen Fehltritt jedoch nicht übel zu nehmen. Er drehte sich um und deutet auf die Tür zum Außenbereich, bevor er aufstand und mir auffordernd die Hand entgegenstreckte. Mit einem Lächeln ließ ich mich von ihm in die Höhe ziehe und folgte ihm zur Außenarea.
Dabei zog ich mein Handy aus der kleinen schwarzen Umhängetasche über meiner Schulter. 23:45 Uhr. Länger als zehn Minuten war es noch nicht her, dass ich mich von Alyssia getrennt hatte. Also sollte ich spätestens um 00:30 Uhr wieder an unserem Treffpunkt sein. Das wäre dann auch pünktlich zur Abstimmung des Kostümwettbewerbs, der eine halbe Stunde vor dem Liveauftritt der Hermes House Band stattfinden sollte, die Alyssia mir so begeistert angekündigt hatte.
Die kühle Nachtluft schlug mir entgegen, sobald ich hinter Jesajah den kleinen Innenhof des Clubs betrat. Eigentlich hätte mich der frische Wind frösteln lassen müssen, doch mein Körper war vom Tanzen und der stickigen Luft im Club so aufgeheizt, dass er die kalte Brise als willkommene Erfrischung empfand.
Ich folgte Jesajah durch die Rauchergrüppchen, die sich überall gebildet hatten, zu einer der noch freien Biertischgarnituren an der hinteren Wand des ummauerten Innenhofs. Die klare Luft abseits der Rauchschwaden in meine Lungen ziehend, setzte ich mich ihm gegenüber und sah kurz zum Himmel empor. Die Sterne wurden immer noch von einem Wolkenschleier verdeckt, doch zum Glück regnete es nicht mehr. Die Biertischgarnitur war auch überraschend trocken.
Doch statt mir weiter Gedanken darüber zu machen, ob der Club sein Mobiliar im Außenbereich mittels einer Plane trockengehalten oder erst nach dem Nieselregen rausgestellt hatte, richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Jesajah.
Das Licht der an der Mauer befestigten Laternen warf einen goldenen Schein auf seine kastanienbraunen Haare, die er sich in dem Moment mit einer lässigen Bewegung aus der Stirn strich. „Was wolltest du mir drinnen sagen?“, fragte er und nahm mir somit die Überlegung ab, wie ich das Gespräch beginnen sollte.
„Ich hab nur gefragt, ob du schon öfter im Maxxim warst.“
Verneinend schüttelte er den Kopf. „Das war mein erster Clubbesuch.“
„Echt?“
„Also hier im Maxxim“, fügte er schnell hinzu. Irgendetwas an seiner Stimmlage brachte mich jedoch dazu, ihn skeptisch zu betrachten. Eigentlich sah er wie ein typischer Clubgänger aus, mit seiner Sturmfrisur, der scharfgeschnittenen Kinnpartie und dem Ansatz eines Bartschattens, dennoch schien er eigenartig fehl am Platz.
Während ich Jesajah betrachtete, bemerkte ich, dass er mich ebenso neugierig musterte, wie ich ihn. Als sähe er mich heute zum ersten Mal, wanderte sein Blick über meine Gestalt, blieb nur kurz an meinem Dekolleté hängen und kehre dann zu meinen Augen zurück. Ich weiß nicht, was genau ich in seinem Blick zu sehen erwartet hatte, doch der schlichte Ausdruck von Freundlichkeit, den zwei x-beliebige Menschen ohne besondere Bindung einander entgegen bringen würden, irritierte mich. Es wirkte beinahe so, als besäße Jesajah keine tiefergehenden Emotionen. Oder verbarg er sie einfach geschickt hinter einem Schleier aus Gleichgültigkeit?
Fest entschlossen, mich von seinem Auftreten nicht aus dem Konzept bringen zu lassen, lächelte ich Jesajah aufmunternd an. Seine geheimnisvolle Art reizte mich und ich wollte wissen, was hinter der Fassade steckte. Doch im Moment sah es ehr danach aus, dass wir wieder in das Schweigen zurückfallen würden, das schon unsere erste Begegnung überschattet hatte. Um das zu verhindern, sagte ich kokett: „Du hast aber schon mitbekommen, dass das heute eine Halloween Part ist, oder? Ein Engelskostüm ist nämlich nicht wirklich gruselig.“
Erfreut beobachtete ich, wie sich Jesajahs Lippen zu einem Grinsen verzogen. „Ich würde sagen, dass kommt auf den Engel drauf an.“
„Auf den Engel?“
„Ja. Stell dir einfach vor, ich bin Luzifer.“
Ohne mein Zutun hoben sich meine Augenbrauen. Ich stellte meine Ellenbogen auf dem Tisch ab und spähte mit fragendem Blick über meine gefalteten Hände zu Jesajah hinüber. „Okay, also ich habe schon von Luzifer gehört, aber hilf mir auf die Sprünge: was an ihm soll jetzt nochmal so gruselig sein?“
Zum ersten Mal zeichneten sich echte Emotionen auf Jesajahs Gesicht ab. Seine Augen weiteten sich vor Unglauben und seine Stirn legte sich in Falten. „Du kennst Luzifer nicht?“
„Doch. Ich glaube es gibt fast keinen, der nicht von Luzifer gehört hab. Er ist bei Gott in Ungnade gefallen und wurde auf die Erde verbannt. Aber deswegen würde ich nie auf die Idee kommen, ihn als Halloween Kostüm zu wählen.“ Ich löste meine ineinander verschränkten Hände und wickelte mir eine meiner schwarzen Locken um den rechten Zeigefinger, während ich den linken Arm vor meine Brust presste. Langsam wurde es doch etwas frisch hier draußen in dem knappen Hexenoutfit, aber ich wollte das Gespräch mit Jesajah jetzt auf keinen Fall beenden.
„Von wegen in Ungnade gefallen“, stieß Jesajah heftiger als erwartet aus. Er verschränkte die Arme vor der muskulösen Brust und sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. „Das will er euch nur glauben lassen.“
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass das Gespräch eine unerwartete Wendung nahm. Ein unbestimmtes Kribbeln breitete sich in meinem Nacken aus. Jesajahs Wortwahl irritierte mich. Er klang fast so, als ob er echt an diese ganze Luzifer Geschichte glauben würde. Mehr als ein schlappes ‚Aha‘ brachte ich nicht heraus.
Jesajah schien die Abwegigkeit seiner Worte aufgegangen zu sein, denn er lächelte mich entschuldigend an. „Ich interessiere mich sehr für Luzifer“, versuchte er sich zu erkläre. „Wenn du willst, kann ich dir ein bisschen was über ihn erzählen.“
Zustimmend nickte ich und rutsche auf der harten Holzbank hin und her, um eine bequemere Position zu finden. Das war zwar ein recht ausgefallenes Hobby, das Jesajah da hatte, aber warum nicht. Luzifer zu kennen war ja fast schon so etwas wie Allgemeinbildung, da schadete es nicht, etwas mehr über ihn zu erfahren. Und wenn ich dadurch die Gelegenheit erhielt, Jesajah näher kennenzulernen, hatte ich nichts dagegen.
Jesajah streckte seine langen Beine unter der Biertischgarnitur aus und legte die Unterarme auf den Tisch. Mein Blick glitt kurz zu den Muskelsträngen, die sich unter der gebräunten Haut abzeichneten, bevor Jesajahs Stimme meine Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch lenkte. Schnell hob ich den Kopf und sah ihm in seine so beeindruckenden meerblauen Augen, die einen entrückten Ausdruck angenommen hatten.
„Luzifer war einer von…“, er zögerte kurz, „Gottes Erzengeln.“ Einen Moment schien es so, als müsste er erst überlegen, wie er fortfahren sollte. Dann fokussierte sich sein Blick plötzlich auf mich und er fuhr mit seiner tiefen Stimme fort, die ein eigenartiges aber angenehmen Summen auf meiner Haut hinterließ.
„Unter den Erzengel galt er als besonders Wissbegierig. Besonders die Frage nach der Einheit der Existenz ließ ihm keine Ruhe. Er wollte sich selbst erforschen und herausfinden, wie diese Einheit eigentlich funktionierte und was geschehen würde, wenn wir nicht alle eins wären.“
Obwohl Jesajah mit seiner Erzählung noch nicht weit gekommen war, sah ich mich genötigt ihn zu unterbrechen. In der Hoffnung nicht ungebildet zu erscheinen, fragte ich: „Ist diese Einheit der Existenz auch eine Legende der Theologie?“
Meine Frage schien Jesajah sichtlich aus dem Konzept zu bringen. Doch er versteckte seine Verblüffung über meine Unwissenheit hinter einem sanften Lächeln. Dennoch hatte ich plötzlich das Gefühl, schrecklich unwissend zu sein. Ich hätte in der Schule am Religionsunterricht teilnehmen sollen, und wenn es nur dazu diente, sich eine gewisse religiöse Allgemeinbildung anzueignen. Aber als Atheisten hatten meine Eltern das nicht als nötig empfunden.
„Ich würde nicht sage, dass es eine Legende ist“, ging Jesajah auf meine Frage ein. „Aber um das ganze Thema an dieser Stelle abzukürzen, stell dir einfach vor, dass wir alle Teil eines großen Ganzen sind, ohne uns dessen bewusst zu sein. Luzifer wusste um diese Tatsache, konnte sie sich aber nicht recht erklären, ebenso wie alle anderen Erzengel. In seinem Forschungsdrang sich selbst und das Konzept der Einheit zu begreifen, kreierte er in seinem Geist alle möglichen Szenarien und Experimente. Nach zahlreichen Fehlschlägen schuf Luzifer letztendlich sein Meisterwerk. Eine ausgeklügelte Spiegelbarriere, die jedem Engel ermöglichte ein Teil seines Bewusstseins auf die andere Seite des Spiegels zu schicken. Dieses Bewusstseinsfragment hatte keine Möglichkeit auf die Seite des Siegels, von der es gekommen war, zurückzublicken, und vergas somit mit dem Passieren der Barriere alles, was es zuvor gewusst hatte.“
Jesajah machte eine kurze Pause und sah mich prüfend an, als wolle er ergründen, ob ich ihm folgen konnte. „Du musst dir das ganze so vorstellen, als ob das Bewusstseinsfragment als Neugeborenes auf die Welt kommt, ohne jede Erinnerung an alles, was es zuvor erlebt und verstanden hatte. Der Sinn des Ganzen war, dass ein Engel, der etwas Grundlegendes über sich erfahren wollte, ein Teil seiner selbst durch den Schleier des Vergessens schicken konnte, um sich aus der Position des Nicht-Wissens zu erforschen.
Mit der Zeit interessierten sich immer mehr Engel für Luzifers Experiment und schickten eines ihrer Bewusstseinsfragmente durch den Spiegel. In dieser Welt des Nicht-Wissens existierten sie im Einklang Seite an Seite und brachten Liebe, Hoffnung und Glaube zum Ausdruck. Dadurch erkannten sie ihre essenzielle Einheit und wurden zurück auf die Bewusstseinsebene des Wissens geschickt. Doch sie entdeckten die Wahrheit der Einheit zu schnell, noch bevor sie die wahre Natur ihres Wesens erkannten. Dadurch war Luzifers versuch sich selbst zu erforschen erneut fehlgeschlagen. Also experimentierte er weiter und überlegte, wie es möglich war, die Bewusstseinefragmente dazu zu bringen, so lange hinter dem Schleier zu bleiben, bis sie sich völlig in der Illusion verloren und die wahre Natur ihres Wesens erkannt hatten.“
Erst in der Stille, als Jesajah Luft holte, um weiter zu reden, wurde mir deutlich, wie sehr mich seine Erzählung faszinierte. Ich hatte die Legende um Luzifer noch nie so gehört und spürte, dass ich förmlich an Jesajahs Lippen hing. Vergessen war die zunehmende Kälte des Abends. Stattdessen musste ich mir eingestehen, dass ich es trotz jeglicher Ablehnung des Glaubens an irgendetwas Übernatürliches kaum erwarten konnte, dass er weitersprach. Sich eine gelöste Haarsträhne aus der Stirn streichend, tat mir Jesajah den Gefallen nach wenigen Sekunden. Dabei trat ein harter Glanz in seine Augen, der mich gespannt die Luft anhalten ließ.
„Luzifer kam schließlich zu dem Ergebnis, dass das Problem, das die Bewusstseinsfragmente die Wahrheit ihrer Einheit zu schnell fanden, dadurch gelöst werden konnte, ihnen ihre Getrenntheit aufzuzeigen. Und das ging am besten dadurch, dass er die Emotionen, die alle miteinander verband, nämlich Liebe, Hoffnung und Glaube, um ihr Gegenteil ergänzte. Zum damaligen Zeitpunkt existierten jedoch noch keine negativen Emotionen. Also nutzte Luzifer seine schöpferische Kraft und erschuf das Konzept der Gegensätze. Liebe und Hass, Hoffnung und Verzweiflung, Glaube und Boshaftigkeit. Zu allem Guten, das existierte, erfand er das wahrhaft Böse.“
Schockiert stieß ich die angehaltene Luft wieder aus, wagte es jedoch nicht Jesajah zu unterbrechen.
„Luzifer wollte damit keinesfalls erreichen Alles was ist zu verderben, vielmehr wollte er die Bewusstseinsfragmente miteinander konfrontieren und ihnen so ihre Getrenntheit demonstrieren. Das gelang ihm auch. Die Teile der Bewusstseine der Engel auf der Seite des Nicht-Wissens der Barriere verstrickten sich immer tiefer in die Illusion und empfanden sich zusehends als voneinander getrennte Individuen, allen voran Luzifer. Er konzentrierte sich immer mehr auf sein Sein, wodurch er aber das Verständnis für die wahre Natur des Seins verlor. Er triftete von der Einheit immer weiter weg Richtung des Getrenntseins vom großen Ganzen, bis er sich vollkommen als individuelles Wesen empfand, statt als Teil der Einheit. Mehr und mehr entwickelte er die Tendenz, andere als Gegner zu betrachten, und nicht als Verbündete. In seinem Wesen stand nicht mehr das Gemeinsame an erster Stelle. Stattdessen trat das Trennende immer weiter in den Vordergrund, bis Luzifers gesamtes Bewusstsein Misstrauen, Hass und all die anderen negativen Emotionen empfinden konnte.“
Jesajah fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, als betreffe ihn das Erzählte persönlich. Tatsächlich glaubte ich, einen müden und traurigen Ausdruck in seinen Augen zu erkennen. Doch als sich unsere Blicke trafen, verschwand er wieder und machte einem neutralen Lächeln Platz.
Noch eh ich mich fragen konnte, was das zu bedeuten hatte, fuhr Jesajah fort: „Die Veränderung, die in Luzifer vorging, war zum damaligen Zeitpunkt etwas vollkommen Neues, was es so noch nie gegeben hatte. Und als Gott bemerkte, was in seinem obersten Erzengel vorging, war es bereits zu spät. Er konnte nicht mehr verhindern, dass Luzifer sich immer weiter von der Einheit abkuppelte und somit der Kontrolle Gottes zu entwischen drohte. An sich stellte das jedoch noch kein Problem dar. Sich als Individuum zu empfinden und auch negative Emotionen erleben zu können, war nichts grundlegend Schlechtes. Es war einfach eine neu gewonnene Eigenschaft des Existierens. Dennoch trennte sich die Gemeinschaft der Engel in zwei Lager. Das eine, das Luzifers Experiment mit der Barriere für gut erachtete und daran teilnahm, und das andere, das das Experiment strikt ablehnte. Doch mit der Zeit veränderte sich auch die Wahrnehmung aller Engel, die wie Luzifer Bewusstseinsfragmente auf die Seite des Nicht-Wissens des Spiegels geschickt hatten. Ihre Bewusstseine glitten ebenso auf die individuelle Ebene wie Luzifers, statt auf der des großen Ganzen zu bleiben, wodurch sie ebenfalls die Fähigkeit erhielten, die negativen Emotionen in ihrem vollen Ausmaß zu empfinden.
Gott beschloss, die neuen Eigenschaften seiner Engel zu nutzen, um sie als Entdecker auf die Erde zu schicken und die unterste Bewusstseinsebene seiner Schöpfung zu betrachten und zu leiten. Also nahmen Luzifer und seine Anhänger eine physische Gestalt an und stiegen zu Erde hinab, wo Luzifer schnell die Rolle des Anführers einnahm. Doch nach hunderten von Jahren begann er das physische Sein auf der Erde zu verabscheuen. Luzifer wollte mit seinen Anhängern wieder ins Himmelsreich zurück, wo sie die Zwänge ihrer physischen Gestalt ablegen und wieder frei sein konnten, doch Gott ließ sie nicht, aus Sorge, Luzifer könne die restlichen Engel ebenso von der Einheit des großen Ganzen wegführen, wie es mit seinen Anhängern geschehen war, die ihm zur Erde begleitet hatten.
Zu dem Zeitpunkt war Luzifer jedoch bereits so tief in die Empfindung seines Seins als Individuum versunken, dass er Gottes Beweggründe nicht nahvollziehen konnte, geschweigenden verstand. Er entwickelte einen brodelnden Zorn und tiefen Hass auf Gott, der ihn seiner Meinung nach verstoßen hatte. Daraufhin zog er sich mit seinen Anhängern ins Innere der Erde zurück, um Gottes allwissenden Blick zu entgehen und in Ruhe Rachefeldzüge gegen ihn planen zu können. Dabei sind die Menschen, Tiere und Pflanzen auf der Erde eines seiner bevorzugten Werkzeuge. Indem er ihnen Schaden zufügt, will er Gott leiden lassen. Und seitdem ist Luzifer Gottes Gegenspieler und bei den Menschen auch bekannt als Satan oder Teufel.“
Nachdem Jesajah geendet hatte, brauchte ich einige Sekunden, um meine Gedanken zu ordnen. Seine Erzählung hatte so viele neue Aspekte aufgeworfen, nicht nur der Luzifer-Legende, sondern auch des Gedanken, dass alles eins ist, und der Entstehung von allem Bösen, dass ich nur erstaunt den Kopf schütteln konnte. „Das war echt faszinierend. Und es ist das erste Mal, dass ich gehört habe, dass Luzifer nicht verband wurde, sondern freiwillig zur Erde gekommen ist.“
„Das kann ich mir gut vorstellen.“ Jesajah streckte sich, bevor er die Beine unter dem Tisch anwinkelte. „Luzifer erzählt seine Geschichte den Menschen auch in abgewandelter Form, damit Gott als der Böse dasteht, der ihn und seine Engel aus dem Paradies vertrieben hat. Er will die Menschen so von Gott entfernen.“
Verständnislos runzelte ich die Stirn. Jesajahs letzte Aussage schaffte es einmal wieder, mich zu verwirren. Er glaubt doch nicht wirklich, dass Luzifer existiert, oder?
Um Zeit zu schinden und mir meine Verunsicherung nicht anmerken zu lassen, zog ich mein Handy aus der Tasche. 00:28 Uhr. Erschrocken, wie schnell die Zeit vergangen war, stieß ich ein ‚Verdammt, ich muss los‘ aus, rutschte von der Bank und stand auf. Mit einem entschuldigenden Lächeln wandte ich mich zu Jesajah um. „Meine Freundin wartet auf mich. Wir haben an dem Kostümwettbewerb teilgenommen und die Endrunde startet gleich.“
„Schon okay. Es wird eh langsam kalt hier draußen“, erwiderte Jesajah und erhob sich ebenfalls, wobei mir wieder bewusst wurde, wie groß er eigentlich war. Unschlüssig stand ich neben der Biertischgarnitur und sah zwischen ihm und dem Eingang zum Club hin und her.
„Möchtest du vielleicht mitkommen?“ Der Gedanken, unser Gespräch erneut so abrupt zu beenden, hinterließ einen bitteren Beigeschmack auf meiner Zunge. Ich fand Jesajah faszinierend, auch wenn der eine oder andere seiner Kommentare mir wahre Rätsel aufgab. Gespannt wartete ich auf seine Antwort.
Ich rechnete halb damit, dass Jesajah ablehnen würde oder nur mit wenig Begeisterung zustimmte, doch zu meiner Erleichterung sagte er mit einem verschmitzten Grinsen: „Gerne. Mit deinem Kostüm hast du bestimmt auch gute Chancen auf den Sieg.“ Dabei glitt sein Blick zum ersten Mal provozierend zu meinem Ausschnitt hinab, bevor er mit einem dunklen Lachen Richtung Eingang ging. Perplex starrte ich ihm hinterher. Diese Seite hatte er mir bis jetzt vollkommen vorenthalten. Allerdings kannten wir uns alles in allem ja auch gerade einmal eineinhalb Stunde.
Mit einem leichten Gefühl in der Brustgegend folgte ich Jesajah und schlüpfte durch die Tür, die er mir ganz der Gentleman offen hielt, ins Warme.
Jesajah
Das Gefühl, die Zwänge des irdischen Daseins hinter sich gelassen zu haben, erfüllte Jesajah mit purer Glückseligkeit. Erst nachdem er die Grenzen seiner physischen Gestalt kennengelernt hatte, wusste er die Freiheit des Himmelsreichs wirklich zu schätzen. Für einen Erzengel vollkommen unangebracht, flog er in halsbrecherischen Manövern durch die Wolken, ein helles, übermütiges Pulsieren ausstrahlend. Dabei folgte er den gekrümmten Lichtbögen immer weiter in den Himmel empor.
Auf seinem Weg begegnete er sowohl anderen Erzengeln als auch einfachen Engeln, die sein ausgelassenes Gebaren irritiert verfolgten. Doch davon ließ er sich nicht die gute Laune verderben. Zum einen freute er sich, endlich einmal wieder in seiner wahren Gestalt zu stecken, andererseits hatte er der Führungsriege der Erzengel zum ersten Mal etwas Vielversprechendes zu berichten. Es war zwar nur ein Gefühl, damit aber um Längen mehr, als er bei den letzten Treffen mit Michael, Gabriel, Raphael und Uriel zu erzählen hatte.
In Gedanken bei dem Abend, der in Jesajah zum ersten Mal den Verdacht geweckt hatte, seinem Ziel näher zu kommen, überquerte er den letzten Lichtbogen, der die sechste mit der siebenten Himmelebene verband. Über und unter ihm türmten sich Berge weißer Wattewolken auf, zwischen denen die glühenden und pulsierenden Lichtgestalten der anderen Engel umherschwirrten und ihren Tätigkeiten nachgingen.
Als Jesajah die siebente Ebene, die einzig den Erzengeln vorbehalten war, erreicht hatte, wurde er sogleich von Nemamiah in Empfang genommen. Der Erzengel gehörte zu jenen, die unter sich eine Gruppe Schutzengel aus der vierten Himmelebene vereinten. In seinem Fall schützten die unter Nemamiahs Leitung stehenden Engel die Wahrung der Gerechtigkeit, die Luzifer und seine Anhänger mal mehr mal weniger erfolgreich zu untergraben versuchten. Aus diesem Grund war Nemamiah stets einer der ersten, die Jesajah im Himmel begrüßten und nach seiner Unterredung mit den vier Anführern der Erzengel die Fortschritte seiner Nachforschungen aus erster Hand erfahren wollten.
„Schön dich zu sehen, Jesajah. Gibt es Neuigkeiten?“ Obwohl Nemamiah wusste, dass der erste Bericht einzig der Führungsriege der Erzengel vorbehalten war, es sei denn sie beschlossen, alle Erzengel von Anfang an mit einzubeziehen, konnte er seine Neugierde diesmal nicht zügeln. Jesajah stieß ein amüsiertes Summen aus, während er und Nemamiah in Gestalt zweier leuchtender Lichtkugeln auf die Kuppel zu schwebten, die seit der Versammlung aller Erzengel im Zentrum der siebenten Himmelebene stand. Er vermutete, dass Nemamiah sein verfrühtes Erscheinen richtig gedeutet hatte und davon ausging, dass er endlich Fortschritte zu verzeichnen hatte.
Mit einem verschwörerischen, kurzen Aufflackern erwiderte Jesajah: „Wir werden sehen was Michael, Gabriel, Rapahel und Uriel dazu zu sagen haben, aber ich denke ja.“
Ein gespanntes Summen erfüllte die Luft um Nemamiah und zuckende Lichtfäden strömten aus dessen Körper, bevor er seine Emotionen wieder hinter einem gleichmäßigen Glühen verbarg.
Nemamiah war nicht so vermessen zu glauben, dass Jesajah ihm zu diesem Zeitpunkt mehr verraten würde, also lenkte er das Gespräch auf seichteres Terrain. „Und wie sieht es ansonsten auf der Erde aus?“
Jesajah musste nicht erst lange überlegen, um zu wissen, worauf Nemamiah aus war. Seit Luzifer sich gegen Alles was ist gewandt hatte, hatten der Erzengel und die Engelschar unter seiner Führung es nicht leicht, die Wage zwischen Gerechtigkeit und Unrecht im Gleichgewicht zu halten. Fast alle Schandtaten Luzifers zielten darauf ab, die Gerechtigkeit auf Erden zu zerstören und die Menschen somit in Verzweiflung, Angst und Hoffnungslosigkeit zu stürzen, um sie weiter von der Einheit zu entfernen.
„Es scheint alles beim Alten zu sein, seit Luzifer seinen Rachefeldzug begonnen hat. In einigen Regionen sind die Menschen glücklicher und das Leben läuft gerechter ab, als in anderen. Aber ich denke, dass wir in naher Zukunft keinen weiteren Zwischenfall, wie den letzten von 1933 bis 1945 zu befürchten haben.“
Nemamiah stieß einen zufriedenen, warmen Lichtschein aus. „Das ist gut. Dennoch sollten wir auf der Hut sein. Luzifers Handlanger sind immer schwerer zu erkennen. Keiner hätte vermutet, dass er diesen kleinen, unscheinbaren Menschen als solch machtvolles Werkzeug einsetzten kann. Wir waren zu selbstsicher und haben die Anzeichen verleugnet, die den Menschen viel Leid hätten ersparen können.“
„Wohl wahr“, stimmte Jesajah dem zu. „Dann solltet ihr eure Aufmerksamkeit zusätzlich zu den bekannten Krisenherden im Irak, in Syrien und in Jemen auf die Türkei und die Ukraine ausweiten. Bereits jetzt sind auf der Erde deutliche Anzeichen sichtbar, dass Luzifer dort als nächstes seine Figuren ins Spiel bringen wird.“
„Ja, das haben wir schon vermutet. Ich bin bereits dabei mich mit Calliel abzustimmen, damit seine Engel die Menschen an den richtigen Stellen im Hintergrund lenken. Aber auch der fünfte Himmel hat allerhand damit zu tun den Menschen beizustehen, sodass Calliel und die anderen Erzengel, die die wegweisenden Engelgruppen leiten, kaum genügend Zeit finden, sich mit uns Schutzengeln zu beraten. Ich wüsste nicht, was wir machen sollten, wenn wir auch noch die verwalterischen Tätigkeiten des ersten Himmels übernehmen müssten.“
Ein drückendes Schweigen breitet sich zwischen den beiden Erzengeln aus. Vor Luzifers Sturz in die Bewusstseinsebene des Individuum war ihre Aufgabe so einfach und erfüllend gewesen, dass jeder Engel genügend Zeit gefunden hatte, sich neben dem Wachen über die Erde auch den vergnüglichen Zeitvertreiben zu widmen. Wehmütig dachte Jesajah daran, wie lange es her war, dass sie alle ausgelassen durch die Wolken getollt waren und mit einem zufriedenem Summen auf die Erde und die unterste Ebene der Schöpfung hatten hinabblicken können. Jetzt war es lediglich den Engel der zweiten Ebene vorbehalten, den Himmel mit ihren zarten Stimmen und den Klängen von Harfen, Trompeten und Geigen zu erfüllen. Und das auch nur, um die harmonischen Schwingungen des Himmelreich aufrechtzuerhalten und keinem Engel oder Erzengel vergessen zu lassen, weshalb sie all die Mühen auf sich nahmen.
Vor Jesajah und Nemamiah ragte die leuchtende Lichtkuppe auf, die ihren goldenen Schein auf die umliegenden Wolkenberge warf. Im Inneren waren bereits die vier Anführer der Erzengel zu erkennen. Ihre hellen Gestalten pulsierten im Einklang und verkörperten somit den eigentlichen Sinn ihres Seins, das Existieren als Einheit.
Kurz vor ihrem Ziel raunte Nemamiah: „Wir sehen uns später“, und ließ sich zurückfallen.
Als Antwort stieß Jesajah ein einmaliges, kräftiges Leuchten aus. Dann fokussierte er seine Gedanken auf das vor ihm liegende Gespräch und passierte den äußeren Rand der Kuppel.
Michael, Gabriel, Raphael und Uriel hatten wie auch bei ihren letzten Unterredungen mit Jesajah einen erhöhten Punkt unterhalb der Kuppeldecke eingenommen. Wie ein einziges kollektives Individuum, was sie im Prinzip auch darstellten, sahen sie Jesajah entgegen, ihre innere Spannung verbergend.
Im Zentrum der Kuppel angekommen, schwebte Jesajah zu den anderen vier Erzengeln empor, wobei er einige Zentimeter unter ihnen zum Stillstand kam. Die Anführer des Himmelsreichs begrüßten ihn mit einem einstimmigen, warmen Lichtstrom, der Jesajah einhüllte und in der Mitte seiner Brüder und Schwestern willkommen hieß.
„Sei gegrüßt, Jesajah“, eröffnete diesmal Uriel das Gespräch. „Wir waren überrascht, heute schon deine Anfrage zur Rückkehr erhalten zu haben. Wir hoffen, der Grund hierfür ist von erfreulicher Natur.“
Die salbungsvolle Sprachweise Uriel umschmeichelte Jesajah wie weicher Samt. Man konnte sich leicht in dieser scheinbaren Gutmütigkeit verlieren, solange man die strenge Seite des Erzengels noch nicht kennengelernt hatte. So aber blieb Jesajah auf der Hut.
„Das hoffe ich auch. Aber ob dies wirklich der Fall ist, wollte ich mit euch gemeinsam bestimmen. Alleine befürchte ich, mich von meinem Wunsch nach baldigem Erfolg und der endgültigen Rücker in den Himmel fehlleiten zu lassen“, bemühte sich Jesajah Uriel Ausdrucksweise gerecht zu werden.
„Weise gesprochen. Nun dann, erzähle uns von deinen Erlebnissen, die dir den Eindruck vermittelt haben, unserem Ziel näher zu kommen.“
Wäre Jesajah in seiner physischen Gestalt, hätte er an dieser Stelle nervös geschluckt. Auch wenn er sich sicher war, dass sie es letztendlich seinem Entschluss, einmal den menschlichen Vergnügungen in Form eines Clubbesuchs nachzugehen, zu verdanken hatte, dass er eine erste Spur aufnehmen konnte, so befürchtete er doch, dass die Führungsriege der Erzengel die Tatsache, dass der eigentliche Gedanke hinter dem Besuch im Maxxim der war, seine Aufgabe für einen Abend links liegen zu lassen und sich zu amüsieren, nicht gutheißen würde. Er konnte nur hoffen, dass sein erster Erfolg wirklich ein solcher war und seine Gegenüber milde stimmte.
„Nachdem ich auch die letzten Wochen nichts über Luzifers Erbe in Erfahrung bringen konnte, bin ich auf der Erde gestern Abend auf etwas Interessantes gestoßen. Ich weiß noch nicht ganz, wie das alles zusammenhängt, aber ich habe himmlische Schwingungen bei einer Frau wahrgenommen, die mir zufällig über den Weg lief. Erst konnte ich die Schwingungen keinem von uns zuordnen, wodurch ich ihre Entstehung bei unserer ersten Begegnung fälschlicher Weise auf die elektrischen Gerätschaften der Menschen zurückgeführt habe, doch bei unserer zweiten Begegnung konnte ich sie Dank den Erinnerungen, die Michael auf mich übertragen hat, als die Schwingungen Luzifers identifizieren. Bei einem Gespräch mit dieser Frau, sie nennt sich Leila, habe ich das Thema Luzifer vorsichtig zur Sprache gebracht, doch sie schien nicht mehr über ihn zu wissen, als alle Menschen auf der Erde. Die wahre Geschichte seines Sturzes war ihr ebenso wenig bekannt, wie die Existenz der Einheit. Dennoch muss Leila irgendwie mit Luzifers Erbe in Kontakt gekommen sein, andernfalls kann ich mir nicht erklären, dass sie seine Schwingungen aufgenommen hat.“
An der Stelle beendete Jesajah vorläufig seinen Bericht. Er hoffte, dass die anderen vier Erzengel sich primär auf seine Wahrnehmungen bezüglich Luzifers Schwingungen konzentrieren würden, statt auf das Thema zu sprechen zu kommen, wie er Leila kennengelernt hatte. Doch zu seiner Bestürzung war genau das Teil der ersten Frage, die Gabriel ihm stellte.
„Du sagtest, bei deiner ersten Begegnung mit dieser Menschenfrau hast du die Schwingungen nicht bemerkt. Also hast du sie bereits mehrmals getroffen. Erzähle uns davon und auch alles, was du über diese Leila weißt. Und lass kein Detail aus. Noch die kleinste Kleinigkeit könnte Ausschlaggebend dafür sein, zu verstehen, weshalb Luzifers Schwingungen an einem Menschen haften.“
Ihre erste Begegnung in allen Einzelheiten zu schildern, fiel Jesajah nicht schwer. An diesem Abend hatte er sich verhalten, wie es von ihm erwartet wurde. Das Wohl Leilas über das eigene zu stellen und den Taschendieb aufzuhalten, wäre für jeden Engel selbstverständlich gewesen. Während seiner Erzählung blieben die Lichtimpulse der vier Anführer ein gleichmäßiges, sanftes Pulsieren. Erst als Jesajah zu seinem Entschluss kam, einen Abend im Maxxim zu verbringen, spürte er einen plötzlichen Umschwung in Uriels und Michaels Stimmung. Das von den beiden Erzengeln ausströmende Licht wurde kälter und ihre Gestalten wurden von einer schnellen Abfolge von wachsenden und sich zurückziehenden Auswüchsen dominiert. Gabriels und Raphaels Gestalten hingegen glühten weiterhin sichtbar in einem sanften Schein, der auf einen gelassenen Gemütszustand hindeutete. Als Visionär und als heilkräftiger Ratgeber wussten Gabriel und Raphael nur zu gut um die Zerbrechlichkeit der physischen Seelen und die Notwendigkeit gelegentliche Entspannungsphasen einzulegen, damit der durch den physischen Körper und die damit einhergehende Empfindlichkeit strapazierte Verstand in seinem vollen Umfang eingesetzt werden konnte. Und auch wenn Jesajah seinen Ursprung in den höheren Dimensionen des Himmelsreichs hatte, so wirkten sich die Beschränkungen der physischen Welt dennoch auch auf ihn aus.
Bevor Uriel oder Michael ihrem Missmut über Jesajahs Clubbesuch Luft machen konnten, ergriff Gabriel erneut das Wort. „Wahrlich ein eigenartiger Ort, um nach Luzifers Erbe zu suchen, aber warum nicht. Wenn du alle anderen in Frage kommenden Bereiche Berlins bereits durchsucht hast, ist es durchaus logisch, zu den unwahrscheinlichen überzugehen.“
Erleichtert nahm Jesajah das versteckte Aufflackern wahr, das in einer physischen Gestalt einem Augenzwinkern gleichgekommen wäre. Wenigsten einen seiner Gegenüber auf seiner Seite zu wissen, ließ ihn nach einer Aufforderung Michaels mit neuem Selbstbewusstsein den Abend im Maxxim zusammenfassen.
Dabei ließ er jedoch aus, wie sehr ihn Leila fasziniert hatte. Nicht nur hinsichtlich den Schwingungen, sie sie ausstieß, sondern auch auf einer ganz persönlichen Ebene. Selbst jetzt noch sah Jesajah das Funkeln ihrer Grünen Augen vor sich, wann immer er an sie dachte. Im Maxxim hatte es ihn Buchstäblich in den Fingern gejuckt, durch ihre schwarzen Locken zu fahren und sie sich um den Finger zu wickeln, so wie sie es während ihres Gesprächs unbewusst die ganze Zeit getan hatte.
Einer von Jesajahs Lichtfäden peitschte durch die Luft, als ihm bewusst wurde, dass er sich in den Erinnerungen an Leila verhedderte. Es erschreckte ihn, wie tief er sich seit seiner Ankunft auf Erden bereits in die Bewusstseinsebene des Individuums begeben hatte. Eigentlich hätte er Leila nicht mehr Aufmerksamkeit entgegenbringen dürfen, als allen anderen Menschen. Und wenn schon doch, dann sollte sich sein Interesse an ihr auf die vor ihm liegende Aufgabe beziehen. Keinesfalls war es angedacht, dass er Leila begehrenswert fand. Solche Gefühle waren den Engeln fremd. Auch wenn Liebe ein essentieller Bestandteil ihres Seins war, so beschränkter sie sich auf den Beschützerinstinkt, den eine gutmütige Seelen allem Lebendigen gegenüber empfinden würde. Keinesfalls war damit eine Anziehung auf sexueller Ebene gemeint.
„… mit deinem Auftrag zu tun haben könnte?“, führte Michaels Stimme Jesajah zurück aus dem Irrgarten seiner Gedanken. Ein irritiertes Flackern huschte durch seine Gestalt und signalisierte der Führungsriege der Erzengel, dass Jesajah nicht ganz bei der Sache gewesen war. Diesmal stießen alle vier Anführer ein missbilligendes Summen aus.
Das Licht seiner Gestalt in einer entschuldigenden Geste abdimmend, fragte Jesajah nach: „Könntest du bitte deine Frage wiederholen?“
Michaels Stimme hatte an Härte gewonnen, als er Jesajahs Bitte nachkam. „Ich habe dich gefragt, wann genau du zum ersten Mal das Gefühl hattest, dass diese Leila etwas mit deinem Auftrag zu tun haben könnte?“
Schnell kehrte Jesajah in Gedanken zu seinem Gespräch mit Leila zurück. Erneut sah er ihre Gestalt vor Augen, konzentrierte sich diesmal jedoch auf die für seine Aufgabe relevanten Einzelheiten. „Das war, während ich ihr die Wahrheit über Luzifer erzählt habe. Je mehr sich Leila für seine Geschichte interessierte, desto stärker wurden die Schwingungen. Fast so als würden sie durch ihre Gedanken an ihn hervorgerufen.“
Ein nachdenkliches Summen erfüllte die Lichtkuppel, drang jedoch nicht nach außen. Gespannt wartete Jesajah auf die Meinungen der anderen vier Erzengel.
Es war Uriel, der schließlich die Stille brach. „Wenn Leila wirklich mit Luzifers Erbe Kontakt gehabt hat, dann muss es ein sehr mächtiges Artefakt sein. Ich habe noch nie davon gehört, dass die Schwingungen unsereins auf einen Menschen überspringen, ganz zu schweigen davon, dass sie an ihm haften bleiben, egal wie oft dieser Mensch in seinem Leben von uns geleitet wurde oder unseres Schutzes bedurfte.“
„Zudem muss Luzifers Erbe aus unserer Dimension stammen. Ansonsten würde es seine Schwingungen nicht ausstoßen.“
„Oder er hat einen Teil seines Selbst an das Artefakt gebunden“, fügte Michael den Überlegungen von Uriel und Gabriel hinzu. „Ganz ähnlich wie bei seinem Experiment mit der Spiegelbarriere, könnte er einen Seelensplitter oder ein Bewusstseinsfragment mit seinem Erbe verbunden haben.“
„Allerdings würde das noch immer nicht erkläre, weshalb Jesajah bei Leila Luzifers Schwingungen wahrnehmen konnte“, gab Raphael zu bedenken. Er schwebte die paar Zentimeter hinunter, die Jesajah von den anderen vier Erzengeln trennten. „Darf ich?“
Mit gemischten Gefühlen stimme Jesajah Raphaels Bitte zu. Am liebsten hätte er ihm den Zugang zu seinem Geist verweigert, um seine neu erwachten Gefühle geheim zu halten, doch dadurch hätte er Raphael und den anderen drei Anführern der Erzengel erst Recht seinen Bewusstseinszustand preisgegeben. In der kollektiven Gemeinschaft der Erzengel gehörten die Gedanken niemals nur einem einzelnen. Sie waren alle Teil des großen Ganzen, wodurch es für sie selbstverständlich war, ihren Geist mit dem der anderen zu verbinden und somit ein gemeinsames Bewusstsein zu schaffen. Hätte Jesajah sich gegen Raphaels Bitte gesträubt, hätte er den anderen damit nur gezeigt, wie weit er bereits auf dem Weg der Individualität gegangen war.
Innerlich auf eine Standpauke gefasst, öffnete Jesajah seinen Geist und ließ Raphaels tastende Fühler aus gleißendem Licht in seine Gestalt eintauchen. Die Berührungen der leuchtenden Fäden waren sanft, als streichle jemand mit einer weichen Feder durch Jesajahs Inneres. Wie bereits bei Michaels Übertragung seiner Erinnerungen auf Jesajah fingen die Lichtfäden an zu pulsieren, wobei sich der Lichtfluss von Jesajah weg und auf Raphael zu bewegte. Einige Sekunden wurde die Verbindung aufrechterhalte, in denen Jesajah hoffte, das Raphael ihn entsprechend seiner Vermutung von den vier Anführern am ehesten verstehen konnte und die Auswirkungen seines Aufenthalts auf der Erde auf sein Bewusstsein erst später mit Michael, Gabriel und Uriel besprechen würde.
Nachdem die Gedankenübertragung abgeschlossen war, schwieg Raphael einen Moment. Kurz bevor der Verdacht entstehen konnte, dass er etwas erfahren hatte, was ihm nicht gefiel, drehte er sich zum Rest der Führungsriege um und nahm wieder seinen Platz zwischen Gabriel und Uriel ein.
„Das sind sehr… interessante Eindrücke, die du auf der Erde gesammelt hast“, kommentierte er Jesajahs Erinnerungen bedächtig, bevor er gefaster fortfuhr: „Tatsächlich teile ich deine Ansicht, dass von Leila Luzifers Schwingungen ausgehen. Diese lebendige Wissbegierde, der starke Wille und die kraftvolle Ausstrahlung von Autorität, die sich wie eine zweite Aura um sie gelegt haben, sind unverkennbar Ausprägungen von Luzifer. Insofern scheinst du wirklich auf eine erste Spur gestoßen zu sein. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wo sie dich hinführt.“
Wenn es Michael, Gabriel und Uriel irritierte, dass Raphael Jesajahs gesammelte Gedanken nicht sofort auf sie übertrug, so ließen sie es sich nicht anmerken. Jesajah hingegen konnte ein kurzes, erleichtertes Aufleuchte seiner Gestalt nicht verhindern. Schnell erwiderte er an Raphael gewandt: „Das freut mich“, um den Eindruck zu erwecken, dass seine Erleichterung daher rührte, seinem Ziel tatsächlich endlich näher zu kommen.
„Nun gut, dann solltest du deine Bemühungen auf diese Leila fokussieren. Begib dich in ihre Nähe, versuche herauszufinden, ob die von ihr ausgehenden Schwingungen Luzifers stärker oder schwächer werden und worauf das gegebenenfalls zurückzuführen ist. Sollten sie gleichbleiben, muss Luzifers Erbe ein Gegenstad sein, denn sie stets bei sich trägt. Eventuell ist dieser Gegenstand auch so stark auf Luzifer geprägt, dass er dessen Schwingungen erst freisetzt, wenn sein Träger an ihn denkt. Das würde erklären, warum du die Schwingungen erst während eures Gesprächs über Luzifers Fall identifizieren konntest.“ Gabriel legte eine kurze Pause ein, in der er abwartete, ob seine Begleiter dem etwas hinzuzufügen hatten. Dann sagte er: „Ich kann dir noch den Rat geben, Leila nicht zu forsch entgegenzutreten. Menschen sind ein argwöhnischer Haufen. Solltest du zu großes Interesse an ihrer Gesellschaft oder beispielsweise an bestimmten Themengebieten zeigen, macht sie das womöglich nur misstrauisch. Auch wenn du deinen Auftrag zum Wohl von Allem was ist schnellstmöglich beenden möchtest, fasse dich in Geduld. Im Endeffekt wirst du dein Ziel so am ehesten erreichen.“
Nachdem das Gespräch beendet war, machte sich Jesajah auf den Weg zur vierten Himmelebene, um nun auch Nemamiah über seine Fortschritte zu informieren. Er war gerade einmal bis zur sechsten Ebene gekommen und wich einem Trupp der himmlischen Streitmacht aus, der gerade Formationen und Kampftaktiken für einen hoffentlich nie notwendig werdenden Einsatz auf der Erde trainierte, als er hinter sich Raphaels Stimme vernahm.
„Jesajah. Kann ich dich kurz sprechen?“
Mit der Vorahnung bereits zu wissen, worum sich das Gespräch drehen würde, wandte sich Jesajah zu Raphael um. Die Gestalt des anderen Erzengels strömte wie stets einen beruhigenden, warmen Schein aus, dennoch glaubte Jesajah einen seltenen Blick auf dessen Aura zu erhaschen, die die wahre Beunruhig hinter der gelassenen Fassade widerspiegelte. Im nächsten Augenblick war der Moment jedoch vergangen und Raphael verschloss seine Empfindungen vor den ihm unterstellten Engeln.
Da haben wir es. Du und die anderen seht uns auch nicht alle als Eins, dachte Jesajah verstimmt, der keine Lust hatte über seine neuen Empfindungen der Individualität zu diskutieren. Doch Raphael ließ ihm keine Wahl. Schweigend führte er Jesajah zu einer abgelegenen Wolkeninsel, die als Ort der Entspannung für die Krieger des Himmelreichs diente, im Moment jedoch verlassen war.
„Ich vermute, du weißt bereits, weshalb ich mit dir sprechen möchte?“, eröffnete Raphael das Gespräch. Um ein möglichst gelassenes Auftreten bemüht, bejahte Jesajah die Frage mit einem Lichtimpuls. „Gut, dann will ich auch gleich zur Sache komme. Mir ist natürlich aufgefallen, dass sich deine Empfindungen seit deiner Ankunft auf der Erde verändert haben. Besonders seit unserem letzten Treffen scheinst du die Individualität der physischen Welt mehr und mehr verinnerlicht zu haben.“
Eine Welle der Verärgerung strömte durch Jesajah. Die Lichtfäden, die seine leuchtende Gestalt umgaben, peitschten durch die Luft und verrieten seinen Gemütszustand, eh er seine Gefühle wieder unter Kontrolle hatte.
Beschwichtigend sandte Raphael einen sanften Lichtschein in Jesajahs Richtung. „Ich will dich nicht kritisieren, Jesajah, versteh mich da nicht falsch. Aber ich erachte es für sinnvoll, dass wir über die Wandlung in deiner Wahrnehmung reden. Michael, Gabriel, Uriel und ich waren uns der Tatsache bewusst, dass sich mit dem Aufenthalt auf der Erde gewisse individuelle Erfahrungen nicht vermeiden lassen, die unausweichlich auch Auswirkungen auf die Einstellung zur Einheit mit sich bringen. Aus diesem Grund wollten wir ursprünglich, dass ein Erzengel mit mehr Erfahrung bezüglich der physischen Welt den Auftrag annimmt. Nun hast du dich freiwillig gemeldet und wir sind mittlerweile der Meinung, dass das eine gute Entscheidung war. Durch deine Unvoreingenommenheit gehst du anders an die Sache heran, als es ein Engel tun würde, der bereits zur Erde hinabgestiegen ist. Das beste Beispiel dafür ist deine Entscheidung in das Maxxim zu gehen. Ein Engel, der schon einmal die Erfahrung der Individualität und deren Auswirkung auf die Wahrnehmung der Einheit gemacht hat, hätte einen Nachtclub wahrscheinlich eher gemieden, statt sich unter feierwütige Menschen zu mischen. “
An der Stelle glaubte Jesajah, einen belustigten Unterton in Raphaels Stimme wahrzunehmen. Augenblicklich entspannte er sich und ärgerte sich zugleich über seine heftige Reaktion zum Beginn ihres Gesprächs. Wie er vermutet hatte, konnte Raphael als einfühlsame, gutmütige Seele seine Handlungen nachvollziehen. Mit einem aufmerksamen Summen signalisierte er, dessen Fürsorge und Bedenken ernst zu nehmen.
Erfreut sprach Raphael weiter. „Ich möchte dich nur dazu anhalten, deine Herkunft und alles was du weißt nicht zu vergessen. Im Prinzip ist die Erde nichts anderes als eine größere Variante von Luzifers Experiment. Ebenso wie die Bewusstseinsfragmente hat auch jegliches Leben auf der Erde die Wahrheit von Allem was ist vergessen. In dieser Umgebung fällt es einem nur allzu leicht, ebenfalls in den Zustand des Unwissens abzudriften. Aber du bist kein Bewusstseinsfragment, das beim Passieren der Spiegelbarriere zwangsläufig seine Herkunft und Erinnerungen vergessen muss. Halte dir immer vor Augen wer du bist, wo du herkommst und was du weißt. Wenn du das vergisst, wird deine Aufgabe für dich so gut wie unmöglich werden und auch deine Rücker ins Himmelsreich wird dadurch gefährdet.“
Raphaels Worte ließen Jesajah erschaudern. Der Schein seiner Lichtgestalt wurde schlagartig kälter und er verspürte wieder den Impuls nervös zu schlucken, obwohl er in seiner jetzigen Form gar keine Kehle besaß. Das machte ihm umso bewusster, wie Recht Raphael hatte. Er musste alle Empfindungen unterdrücken, die an eine physische Gestalt und die Individualität gekoppelt waren, allen voran die neu erwachte Leidenschaft für Leila.
Zum gefühlten hundertsten Mal betätigte ich die Entriegelung der Tastensperre meines Handys, um nach etwaigen verpassten Anrufen oder SMS zu sehen, obwohl ich ganz genau wusste, dass mein Handy seit meinem letzten Kontrollblick nicht geklingelt hatte. Auch diesmal fehlte auf dem Display die erwünschte Nachricht.
Frustriert schmiss ich das Handy auf die andere Seite meines rostroten Zweisitzers, nur um mich im nächsten Moment hinüber zu beugen und es doch wieder griffbereit vor mich auf den hölzernen Couchtisch zu legen. Mittlerweile war Sonntagabend, ohne dass ich die vereinbarte Nachricht von Jesajah erhalten hatte.
Mein erster Eindruck hat mich wohl nicht getäuscht und er findet mich doch langweilig, gestand ich mir im Stillen ein, wobei sich eine enttäuschte Leere in meiner Brust breitmachte. Gestern Abend hatte ich Jesajah im Maxxim nach seiner Handynummer gefragt, doch er hatte gemeint, dass er sein Handy nicht bei hätte und die Nummer nicht auswendig wüsste. Blauäugig hatte ich die Aussage hingenommen und ihm stattdessen ganz klischeemäßig meine Handynummer auf eine Serviette geschrieben. Seit dem Aufwachen wartete ich nun auf eine SMS oder einen Anruf, doch mittlerweile war es 22:49 Uhr und er hatte sich immer noch nicht gemeldet.
Mit einem resignierten Seufzer stand ich vom Sofa auf und ging in die Küche. In Gedanken bei unserem ersten Treffen und Jesajahs schnellem Verschwinden, holte ich eine Tafel weißer Schokolade aus meinem Naschvorrat, brach ein Stück ab und steckte es mir in den Mund. Während die Schokolade auf meiner Zunge schmolz und das Aroma von Vanille freisetzte, gestand ich mir ein, dass Jesajah sich im Maxxim wohl nur aus Höflichkeit mit mir unterhalten und meine Nummer entgegengenommen hatte. Auch wenn man kein Zahlenjunkie war, konnte man im Regelfall die eigene Handynummer auswendig aufsagen.
Das wäre ja auch zu schön gewesen, wenn er sich für mich interessiert. Meine letzte Beziehung war über vier Jahre her. Natürlich hatte es zwischendurch die eine oder andere Romanze gegeben, aber etwas Ernstes war nie dabei gewesen. Entweder hatte ich schnell erkannt, dass mein Geliebter nichts für die Ewigkeit war und der Fairnesshalber nach ein paar gemeinsamen Abenden Schluss gemacht, oder es stand von Anfang an fest, dass es nur um Spaß ging.
Doch um herauszufinden, zu welcher Kategorie Jesajah gehören könnte, müsste er sich erst einmal melden. Aber wollte ich überhaupt etwas mit einem Typen anfangen, der unzuverlässig war? So nötigt hatte ich es nun auch nicht, mich an den erstbesten Kerl heranzuwerfen, der mir über den Weg lief.
Ich muss aufhören, ständig so viel in alles hineinzuinterpretieren, ermahnte ich mich selbst. Vielleicht ist ihm einfach was dazwischen gekommen und er meldet sich morgen oder übermorgen. Und wenn nicht, dann halt nicht. Es ist ja nicht so, dass es in Berlin an Singelmännern mangelt. Irgendwann kommt schon der Richtige. Hinter das Thema Jesajah in Gedanken ein Häkchen setzend, ging ich ins Badezimmer, um mir ein Entspannungsbad mit einem der Badeöle einzulassen, die ich letztes Jahr von Carolin zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte.
Noch während das heiße Wasser in die Wanne floss und den Raum mit weißen Dunstschwaden füllte, schlüpfte ich aus meiner kuschligen Jogginghose, dem übergroßen blauen Pulli und der Unterwäsche. Da ich meine Haare in Vorbereitung auf den morgigen Arbeitstag noch waschen musste, ließ ich sie gleich offen, bevor ich etwas des nach Orange und Ingwer duftenden Öls in die Badewanne goss und mich in das bereits eingelaufene Wasser gleiten ließ.
Kaum, dass ich ganz in der Wanne lag und das Rauschen des Wassers mich langsam in einen Dämmerzustand versetzte, glaubte ich plötzlich das Klingeln meines Handys zu hören. Hektisch richtete ich mich in eine sitzende Position auf, wobei einige Wasserspritzer auf dem blauen Badvorleger landeten, und stellte das Wasser ab. Den Atem anhaltend, lauschte ich angestrengt auf die bekannten Klänge meines Handys, doch es war nichts zu hören.
Halb enttäuscht, halb verärgert über mich selbst, ließ ich mich zurück ins Wasser sinken. So recht entspannen konnte ich jedoch nicht mehr. Ich verspürte den innerlichen Drang aufzustehen und nachzusehen, ob ich das Wasser nicht einfach zu spät abgestellt und der Anrufer, von dem ich hoffte, dass es Jesajah war, bereits aufgelegt hatte. Dennoch zwang ich mich dazu liegenzubleiben, um das Bad nicht zu verschwenden und nicht enttäuscht zu werden, wenn auf dem Display immer noch kein verpasster Anruf verzeichnet wäre. Nach einigen Minuten gelang es mir tatsächlich, mich wieder zu entspannen und den Duft des mittlerweile aufgelösten Öls zu genießen.
Zufrieden mit mir selbst, mich nicht von dem Gedanken an einen Mann, den ich eigentlich kaum kannte und der vielleicht gar nichts von mir wollte, dominiert haben zu lassen, kehrte ich zwanzig Minuten später wieder in Kuscheloutfit und mit Handtuchturban auf dem Kopf ins Wohnzimmer zurück. Auch wenn ich das Bad doch noch hatte genießen können, wanderte mein Blick zuerst zu meinem Handy. Seufzend gab ich nun doch der brodelnden Neugierde nach, die beim Anblick des Telefons sofort erneut Besitzt von mir ergriff.
Kaum, dass ich die Tastensperre entriegelt hatte, entwich ein helles Quietschen meiner Kehle und ich tat einen Freudensprung. Ein breites Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus und ich klickte aufgeregt das Briefsymbol neben der angezeigten, mir unbekannten Nummer am unteren Rand des Displays an.
„Hallo Leila,
tut mir leid, dass ich mich erst so spät melde. Ich hoffe, du bist gestern / heute früh gut nachhause gekommen. Wenn du Lust auf weitere ungewöhnliche Gespräche über Luzifer, den Himmel, etc. hast, kannst du dich ja bei mir melden. ;)
Jesajah“
Ich blickte auf die paar Zeilen und konnte nicht aufhören, vor mich hin zu grinsen. Auch meine siebenundzwanzigjährige Lebenserfahrung änderte nichts daran, dass es immer wieder aufregend und schmeichelhaft war, wenn ein Mann Interesse bekundete. Vor allem, wenn er so gut aussah wie Jesajah. Doch auch wenn alleine die Erinnerung an seine meerblauen Augen, die scharf geschnittenen Gesichtskonturen und den durchtrainierten Körper ausreichten, um in meiner Magengegend ein aufgeregtes Flattern zu erzeugen, so wollte ich es ihm nicht zu einfach machen. Männer waren bekanntlich Jäger und wer sich als zu leicht erlegbare Beute präsentierte, landete schnell im Abseits.
Statt Jesajah anzurufen, tippte ich die Nummer von Alyssia in das Festnetztelefon. Bereits nach dem zweiten Läuten wurde mein Anruf entgegen genommen. „Na endlich, ich dachte schon, du rufst mich gar nicht mehr an. Und, hat er sich gemeldet?“
„Ja“, antwortete ich schlicht. Alyssias Art mit der Tür ins Haus zu fallen, quittierte ich mit einem Schmunzeln.
„Komm schon, Leila, lass dir nicht alles aus der Nase ziehen. Ich will Einzelheiten wissen.“
„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Er hat gerade eben erst versucht mich anzurufen, aber da war ich im Bad und habe das Telefon nicht gehört. Also hat er eine SMS geschrieben.“
Als ich nicht mehr sagte, gab meine Freundin ein genervtes Schnauben von sich. „Und was hat er geschrieben?“
Ich spannte Alyssia nicht länger auf die Folter, sondern lass ihr die kurze Nachricht vor. Während sie meiner Meinung nach mehr in die wenigen Sätze hineininterpretierte, als wirklich vorhanden war, ließ ich mich wieder auf mein Sofa sinken. Das Telefon zwischen Kinn und Schulter eingeklemmt, löste ich das Handtuch von meinem Kopf, um meine Haare an der Luft weitertrocknen zu lassen.
„Ach komm schon, Lys“, unterbrach ich meine beste Freundin, die gerade dabei war zu analysieren, warum Jesajah die SMS nur mit seinem Namen und nicht mit ‚Liebe Grüße‘ oder ‚Viele Grüße‘ beendet hatte. „Das hat nun wirklich nichts zu bedeuten. Vielleicht war ihm ‚Liebe Grüße‘ oder ‚Viele Grüße‘ einfach zu steif. Da hat jeder andere Vorlieben.“
„Ja, du hast wahrscheinlich Recht“, stimme Alyssia mir zu, nur um sich gleich auf einen anderen Teil von Jesajahs SMS zu stürzen. „Dann erzähl mir lieber, was das mit diesem ungewöhnlichen Gespräch über Luzifer, den Himmel und Co. auf sich hat.“
Die nächste halbe Stunde verbrachte ich damit, in allen Einzelheiten meine Unterhaltung mit Jesajah vom Vorabend wiederzugeben. Ebenso wie ich fand Alyssia sein Hobby mehr als ungewöhnlich für einen Mann, entschied jedoch, dass das kein Ausschlusskriterium sei.
Nachdem ich Alyssia versprochen hatte, sie über alles auf dem Laufenden zu halten, verabschiedeten wir uns voneinander. Ein Blick auf die Uhr ließ mich zu dem Entschloss kommen, ihrem Vorschlag zu folgen und mich erst morgen bei Jesajah zurückzumelden. Zum einen war es wirklich höchste Zeit, dass ich endlich ins Bett kam, und zum anderen wirkte es auf diese Weise nicht so, als ob ich nur so lange aufgeblieben wäre, um auf seinen Anruf zu warten.
Am nächsten Tag konnte ich mich kaum auf meine Arbeit konzentrieren. Ich hatte beschlossen, Jesajah in der Mittagspause endlich zurückzurufen und legte mir im Kopf seit Stunden alle möglichen Redewendungen zurecht, die mir helfen würden, das Gespräch am Laufen zu halten.
Zum Glück war Herr Loscheld heute nicht im Büro, um seinen Mitarbeitern immer mal wieder über die Schulter zu schauen, und Paul kommentierte meine Zerstreutheit nur mit dem einen oder anderen Kopfschütteln. Wenigstens konnte ich bei den anstehenden Telefonaten mit Herrn Mayer und dem Ansprechpartner bei einem Unternehmen, das professionelle Pan and Paper Runde veranstaltete, meine Fokus auf die vor mir liegende Aufgabe richten, sodass ich bis zum Mittag die Bögen für die Charakterbildung an Herrn Mayer gemailt und fünf Spielleitern für die Schiller GmbH gebucht hatte.
Mit meinen Fortschritten zufrieden, schließlich fand das Teambildungsseminar bereits in einem knappen Monat statt, stand ich gegen 12:30 Uhr von meinem Schreibtisch auf und streckte mich.
„Gibt es jetzt Mittag?“, fragte Paul, dem meine Bewegung sofort hatte im Eingang zu seinem Arbeitsplatz erscheinen lassen.
„Ja, aber ich gehe heute nicht in die Kantine“, wollte ich seinen Versuch, sich mir anzuschließen, abwehren, noch eh er seine Absicht kundgetan hatte. Doch Paul ließ sich nicht so leicht abwimmeln.
„Das macht doch nichts. Ich finde die Idee ganz gut, mal was anderes zu essen, als den ständigen Kantinenfraß. Wo wollen wir denn hingehen?“ Noch während er sprach, stand er auf, schnappte sich seine Jacke von der Stuhllehne und warf sie sich über.
Auch Berenice hatte unseren bevorstehenden Aufbruch bemerkt und kam herüber, um sich uns anzuschließen. „Ich war auch noch nicht essen. Ist es okay, wenn ich mitkomme?“
Eigentlich aß ich gerne mit Berenice und Paul zusammen zu Mittag. Berenice hatte den gleichen Humor wie ich und wenn sie dabei war, waren die Unterhaltungen mit Paul zumeist recht lustig. Doch heute kam es mir mehr als ungelegen, dass wir alle zur selben Zeit eine Pause einlegen konnten.
„Ich kann heute leider nicht“, entschuldigte ich mich bei den beiden. „Ich muss ein dringendes Telefonat führen. Im Anschluss hole ich mir dann einfach eine Kleinigkeit beim Bäcker.“
In Pauls Gesicht zuckte es und ich ging schon halb davon aus, dass er anbot, mich zum Bäcker zu begleiten, als Berenice ihm zuvor kam. „Na gut, dann halt nur wir zwei, Paul.“
Mit einem Schulterzucken stimmte er Berenice gezwungenermaßen zu und folgte ihr zum Aufzug, währenddessen ich übertrieben sorgfältig meine Schlüssel in die Tasche steckte und in meinen Anorak schlüpfte. Sobald sich die Aufzugtür hinter Berenice und Paul geschlossen hatte, verließ ich meinen Platz, um selbst nach unten zu fahren.
Um in Ruhe telefonieren zu können, beschloss ich eine Runde um den Block zu drehen. Es war ein schöner Tag, der von einer überraschend milden Brise begleitet wurde. Die Sonne schien vom mit kleinen Wölkchen gespickten Himmel und brachte das bunte Laub der Straßenbäume zum Leuchten.
Ich folgte der Chausseestraße einige Meter und bog in die abzweigende Schlegelstraße ein, die zu einer kleinen Grünanlage führte. Mit jedem Schritt, dem ich mich dem Park näherte, schlug mein Herz heftiger. Es war eine Mischung aus Vorfreude und Nervosität, die von mir Besitzt ergriff und mich wieder in die Gefühlswelt eines pubertierenden Teenagers zwang.
Das Laub raschelte unter meinen Füßen, als ich dem kleinen Pfad in die Grünanlage folgte. Vor mir spazierte ein älterer Mann mit seinem Hund über den Rasen und am anderen Ende des Parks saß eine Frau auf einer Bank und streckte ihr Gesicht in die Sonne. Ich ging zur nächstbesten freien Sitzgelegenheit und tat es der Frau gleich, während ich noch einmal tief durchatmete. Dann schob ich meine fast schon alberne Nervosität zur Seite, stellte mir vor einen ganz normalen Anruf bei meinen Eltern zu tätigen und wählte Jesajahs Nummer.
Es tutete viermal, dann ertönte seine Stimme. „Hallo Leila. Schön, dass du anrufst.“
Augenblicklich stahl sich ein Lächeln auf mein Gesicht und ich entspannte mich. „Hi Jesajah“, begrüßte ich ihn. „Ich habe deinen Anruf gestern gar nicht mehr mitbekommen.“ Das war zwar nicht ganz die Wahrheit, aber gelogen war es auch nicht.
„Das habe ich mir schon gedacht. Es war ja auch schon spät“, deutete Jesajah meine Worte wie erhofft. „Eigentlich wollte ich mich nur wie versprochen bei dir melden und fragen, ob du gut nachhause gekommen bist.“
Jesajahs Worte brachten mich zum Schmunzeln. Das war wohl der am häufigsten vorgeschobene Grund, um nach einem ersten Treffen erneut den Kontakt zu suchen.
„Klar, ich bin ja schon ein großes Mädchen“, erwiderte ich kokett und erntete dafür ein leises, tiefes Lachen.
„Das wollte ich auch gar nicht bestreiten. Aber man weiß ja nie. Nicht, dass du erneut von einem Taschendieb angefallen wirst.“
Grinsend legte ich meinen Kopf in den Nacken und betrachtete die gelben und orangenen Blätter über mir. Die am Rand des kleinen Parks in Gruppen zusammenstehenden Linden und Ahornbäume waren bereits allesamt bunt gefärbt und nur wenige Blätterkronen wurden noch vom Grün dominiert.
„Ach, wenn du wieder da bist, um mich zu retten, dann macht mir das nichts aus.“ Das tiefe Summen von Jesajahs Lachen hallte in meinem Ohr und erfüllte mich mit einem eigenartigen Hochgefühl. Plötzlich mutiger, fügte ich hinzu: „Ich habe mich noch gar nicht nach deinem Arm erkundigt und mich richtig bei dir bedankt. Darf ich dich zur wieder Gutmachung auf einen Kaffee einladen?“
Instinktiv hielt ich die Luft an und stieß sie erleichtert wieder aus, als Jesajah antwortete: „Meinem Arm geht es zwar gut, aber die Einladung nehme ich trotzdem gerne an.“
Ich saß an einem der kleinen Tische bei Starbucks, nicht unweit von All for One, und spähte immer wieder erwartungsvoll zur Eingangstür. Bei unserem Telefonat vor einigen Tagen hatte ich mich mit Jesajah für 17:00 Uhr hier verabredet, um zum Feierabend gemeinsam eine der Kaffeespezialitäten zu genießen und mich somit für die Rettung meiner Tasche zu bedanken. Um ja nicht zu spät zu kommen, hatte ich das Büro überpünktlich verlassen und war bereits fünfzehn Minuten vor der vereinbarten Zeit bei Starbucks eingetroffen.
Mittlerweile hielt der Sekundenzeiger jedoch stramm auf Punkt 17:00 Uhr zu, von Jesajah war jedoch weit und breit nichts zu sehen. Wahrscheinlich gab es einmal wieder Probleme mit der S-Bahn, weshalb er sich verspäten würde. Gerade, als ich auf meinem Handy nachsehen wollte, ob eine Mitteilung von ihm eingegangen war, öffnete sich die Tür und Jesajah kam herein.
Seine kastanienbraunen Haare standen wie am Abend im Maxxim in einer wilden Sturmfrisur von seinem Kopf ab und gaben ihm zusammen mit dem Bartschatten einen verwegenen Eindruck. Suchend sah er sich um, bis er mich entdeckt hatte. Dann erschien ein erfreutes Lächeln auf seinen vollen Lippen und er setzte sich in Bewegung.
Schnell stand ich von meinem Platz auf, um ihn wenigstens annähernd auf Augenhöhe begrüßen zu können. Doch da viel mir ein grundlegendes Problem auf: wie sollte ich ihn überhaupt begrüßen? Ein Händedruck schien mir zu distanziert, für eine Umarmung waren wir jedoch noch nicht vertraut genug. Einfach nur ‚Hi‘ zu sagen und unschlüssig voreinander stehen zu bleiben, erschien mir aber auch nicht als beste Alternative.
Noch bevor ich eine Lösung für das Problem gefunden hatte, hatte Jesajah das Café durchquert und war bei mir angekommen. Ohne Vorwarnung beugte er sich zu mir hinunter und hauchte mir einen Kuss auf die Wange, bevor er sich wieder aufrichtete und in angemessenem Abstand vor mir stehen blieb.
„Wartest du schon lange“, fragte Jesajah, während ich noch in der Wirkung seiner charmanten Begrüßung gefangen war.
Um etwas Zeit zu gewinnen schüttelte ich zunächst nur den Kopf und ließ mich zurück in den Sessel sinken. Dann antwortete ich: „Nein, nur ein paar Minuten.“
Jesajah nickte und nahm mir gegenüber Platz. Aufmerksam sah er sich in dem gut besuchten Café um. Ich nutzte die Gelegenheit und ließ meinen Blick über seine Statur gleiten. Heute trug er einen dunkelblauen Kapuzenpullover, der seine Augen besonders zur Geltung brachte, und eine verwaschene Jeans. Seine Jacke hatte er neben sich über die Sessellehne gelegt.
„Weißt du schon, was du möchtest?“, wollte ich wissen und stand auf, um mein Versprechen wahr zu machen und mich mit einem Kaffee oder einem Stück Kuchen für seine Rettung zu bedanken.
Jesajah wandte sich wieder zu mir um und lächelte. „Ich glaube, ich nehme einen doppelten Espresso.“
Mit einem Nicken machte ich mich auf den Weg zur Theke. Dabei bemerkte ich aus den Augenwinkeln, wie Jesajahs Blick jetzt an meiner Gestalt hinauf und hinabglitt, sobald er glaubte, meine Aufmerksamkeit sei auf etwas anderes gerichtet. Grinsend legte ich eine extra Portion Hüftschwung in meinen Gang und stolzierte auf den hohen Absätzen meiner schwarzen Stiefel zum Tresen.
Für unser heutiges Date hatte ich mich extra schick gemach und die langweiligen Anzughosen, die ich für gewöhnlich auf Arbeit trug, gegen einen engen beigen Stiftrock eingetauscht. Als Oberteil trug ich eine durchscheinende schwarze Bluse, unter der sich ein ebenfalls schwarzes Top abzeichnete. Eigentlich war die Bluse für den Arbeitsalltag etwas zu gewagt, doch da ich heute keinen Kundentermin auf meiner Agenda gehabt hatte, hatte ich beschlossen, für Jesajah eine Ausnahme zu machen. Das Outfit hatte ich mit meiner Lieblingskette abgerundet, dem silbernen Medaillon meiner Oma, das ich nach ihrem Tod geerbt hatte.
Mit einem doppelten Espresso und einem mittleren White Chocolate Mocca bewaffnet, kehrte ich etwas später zu unserem Tisch am Fenster zurück. Mit den Worten ‚Bitte sehr der Herr. Als Entschädigung für Ihre Mühen‘ stellte ich den Espresso vor Jesajah auf dem niedrigen, runden Tisch ab und ließ mich mit meiner Tasse in den Händen in den Sessel sinken.
Beim Trinken löste sich eine meiner schwarzen Locken aus dem hochgebundenen Zopf und ich schob sie hinter mein rechtes Ohr. Dabei beobachte ich verstohlen, wie Jesajah genießerisch einen Schluck nahm. Seine Augen hielt er einige Sekunden geschlossen, bevor er sie wieder öffnete und auf mich richtete.
„Vielen Dank für die Einladung. Aber ich hätte wirklich keine Gegenleistung erwartet.“
„Ich weiß“, erwiderte ich mit einem zaghaften Lächeln. Dann beschloss ich, dass Angriff die beste Verteidigung sei und fügte hinzu: „Aber ich wollte mich gerne bedanken… und dich wiedersehen.“
Jetzt war es Jesajah, der die Lippen zu einem Grinsen verzog. Dabei erschienen wieder die beiden Grübchen über seinen Mundwinkeln und in seine Augen trat ein verschwörerischer Glanz. „Das trifft sich gut. Ich wollte dich auch wiedersehen.“
Die Art und Weise, wie er das äußerte, als gebe er ein großes Staatsgeheimnis preis, ließ mich unweigerlich auflachen. „Na dann sind wir ja beide zufrieden“, gab ich mit einem koketten Augenaufschlag zurück. Ich war überrascht wie leicht es mir fiel, mit Jesajah zu scherzen, bedachte man meine Nervosität vor unserem Treffen. Seine lockere Art schien einen Großteil der Anspannung von mir zu nehmen und lediglich ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch zurückzulassen. Es war ein angenehmes Gefühl, das Hoffnung auf mehr machte.
„Hast du eigentlich einen Spitznamen?“, wechselte ich das Thema, um nicht nur belanglose Witzeleien auszutauschen.
„Einen Spitznamen?“ Überrascht sah mich Jesajah an, als hörte er die Frage zum ersten Mal. Dann versteckte er seine Verblüffung hinter einem weiteren Lächeln und schüttelte den Kopf. „Nein, habe ich nicht. Mir hat noch keiner einen gegeben.“
Seine Reaktion verwirrte mich leicht, wieder einmal. Es hatte den Anschein, als wären die alltäglichsten Sachen neu für ihn. Ich runzelte kurz die Stirn, dann legte ich meine Verwirrung ab und fragte: „Darf ich dir dann einen geben? Ich habe da nämlich schon eine Idee.“
Jesajah nahm einen weiteren Schluck von seinem Espresso, bevor er ergeben mit den Schultern zuckte. „Warum nicht. Was schwebt dir denn vor?“
„Was hältst du von Jes?“, stellte ich gespannt die Gegenfrage.
Jesajahs Augenbrauen zogen sich zu einem nachdenklichen Strich zusammen und kleine Fältchen gruben sich in seine Stirn. „Jes. Das klingt… moderner.“ Seine Stirn glätte sich wieder, als er zustimmend nickte. „Ja, das gefällt mir. Von nun an kannst du mich Jes nennen.“
Unsere Aufmerksamkeit wurde zum Fenster gelenkt, vor dem ein Mädchen in verspäteter Halloweenverkleidung an der Hand ihrer Mutter vorbei lief. Auf dem Kopf trug sie einen schwarzen Spitzhut, ähnlich dem, den ich im Maxxim getragen hatte, und in der Hand hielt sie einen Zauberstab.
„War deine Freundin eigentlich sehr traurig, dass keine von euch den Wettbewerb gewonnen hat?“, wandte sich Jesajah wieder mir zu.
„Es ging. Das Gewinnerkostüm war einfach mal was ganz anderes. Sich als Melanie Daniels aus Alfred Hitchcocks Klassiker ‚Die Vögel‘ zu verkleiden, darauf wäre ich nie gekommen.“ Kopfschüttelnd nahm ich einen weiteren Schluck, eh mein White Chocolate Mocca kalt wurde. Dabei bemerkte ich, dass Jesajah mich einmal mehr ahnungslos musterte.
„Du bist nicht aus Berlin, oder?“, musste ich einfach nachfragen und sah ihn prüfend an. Zur Bestätigung schüttelte Jesajah den Kopf, fügte dem jedoch nichts hinzu. Neugierig geworden fragte ich weiter: „Und wo kommst du her?“
Wieder legte sich Jesajahs Stirn in Falten, während er darüber nach zu grübeln schien, was er auf meine Frage antworten sollte. Diese ganze Geheimniskrämerei machte mich langsam aber sicher misstrauisch. Was hatte er zu verbergen, dass er nicht einmal auf so eine schlichte Frage antworten konnte?
Ich wollte schon resigniert das Thema wechseln, als Jesajah doch noch sagte: „Ich komme aus Eldorado.“
„Eldorado? Das liegt aber nicht in Deutschland, oder?“
Wieder erschien ein nachsichtiges Lächeln auf seinem Gesicht. „Nein, tut es nicht.“
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Jesajah mir etwas verschwieg. Es fühlte sich an, als müsste ich ihm mit einer Pinzette jede Kleinigkeit aus der Nase ziehen. So mühsam hatte ich mir das Gespräch nicht vorgestellt, nachdem wir im Maxxim so ungezwungen miteinander geredet hatten. Enttäuschung machte sich in meinem Bauch breit und ich fühlte mich an unsere erste Begegnung erinnert, während der Jesajah auch kaum mehr als zwei Sätze gesagt hatte.
Meine Empfindungen mussten mir deutlich ins Gesicht geschrieben stehen, denn plötzlich lehnte sich Jesajah zu mir nach vorne und flüsterte verschwörerisch: „Ich glaube kaum, dass schon einmal jemand hier in Eldorado war. Es liegt sehr abgeschieden vom Rest der Welt und ist nur schwer zu finden.“
Ich wusste nicht, ob mich diese Worte milder stimmen sollten, oder nicht. Sie gaben kaum mehr preis, als wenn Jesajah einfach weiterhin geschwiegen hätte. Unsicher sah ich ihn an und wusste nicht, wie ich das Gespräch weiterführen sollte. Doch diesmal ergriff Jesajah die Initiative. Sich die vorderen Haarsträhnen aus der Stirn streichend, fragte er: „Was machst du eigentlich beruflich? Du hattest ja gemeint, dass du direkt von Arbeit kommen wirst.“
Der abrupte Themenwechsel verwirrte mich mindestens genauso sehr wie Jesajahs rätselhafte Äußerungen. „Ich… bin Projektmanagerin für Teambildungsmaßnahmen.“
In einer Mischung aus Überraschung und Anerkennung hob Jesajah die Augenbrauen. „Das klingt interessant. Und was machst du da genau?“
In ein paar wenigen Sätzen faste ich meine Tätigkeit zusammen und schilderte die komplexen Anforderungen am Beispiel der Schiller GmbH. Ich beendete die kleine Exkursion in die Welt der Sozialkompetenzen mit den Worten ‚Im Prinzip geht es also darum, in einer Firma oder Arbeitsgruppe den Gedanken der Einheit zu fördern und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu erzeugen‘.
Überrascht stellte ich fest, dass Jesajah mich über alle Maßen interessiert betrachtete. So als wäre mein Job der bedeutsamste, den es gäbe. In seine Augen war ein enthusiastischer Glanz getreten, der das Blau seiner Iriden regelrecht zum Funkeln brachte. Er hatte einen Arm vor der Brust verschränkt. Den Ellenbogen des anderen hatte er auf seinem Knie abgestellt und stützte mit der dazugehörenden Hand sein Kinn.
Die lässige Pose hatte bei ihm etwas ungemein Erotisches an sich, wie er durch die Fransen seiner wieder in die Stirn gefallenen Haare zu mir hinüber spähte. Ich spürte das Flattern, das von der schleppenden Natur unserer Unterhaltung verdrängt worden war, unter seinem intensiven Blick in meinen Bauch zurückkehrt.
„Glaubst du denn an die Einheit?“ Das enorme Interesse Jesajahs ließ mich zusehends nervös werden. Auch wenn ich meinen Job wirklich mochte und mich selbst dafür begeistern konnte, so hatte ich noch nie jemanden getroffen, der dermaßen fasziniert von meinem Beruf war.
„Naja, ich denke, dass das Leben einfacher wäre, wenn wir alle mehr zusammenrücken und mehr Rücksicht aufeinander nehmen würden, wenn es das ist, was du meinst. Wirklich eins können wir natürlich nie werden. Wir sind alle unterschiedliche Individuen und das ist auch gut so. Sonst wäre das Leben ja ganz schön langweilig, wenn wir alle gleich wären.“
Jesajahs brennender Blick wurde nachdenklicher, währen er weiterhin mein Gesicht studierte. Um mich nicht weiterhin wie ein seltener Käfer zu fühlen, der unter einer Luppe von einem wissbegierigen Biologen betrachtet wurde, setzte ich zur Gegenfrage an. „Und was machst du?“
Diesmal antwortete Jesajah ohne lange zu zögern. „Ich erforsche Luzifer und suche nach seinem Erbe.“ Dabei verzog sich sein Mund zu einem schiefen Grinsen.
Das war ja mal wieder eine typische Jes-Antworte, dachte halb verstimmt, halb belustigt. „Also bist du so etwas wie ein Religionshistoriker?“, hakte ich mit gerunzelter Stirn nach.
„So könnte man es sagen.“
„Also echt, Jes, kannst du nicht einfach einmal eine klar verständliche Antwort geben?“ Die Arme vor der Brust verschränkt, schüttelte ich den Kopf. Irgendwie hatte ich mir das Treffen anders vorgestellt. Doch zu meiner Überraschung wurde Jesajah plötzlich ernst. Das Grinsen um seinen Mund erlosch und er setzte sich in eine aufrechte Position.
„Es tut mir Leid, Leila, wenn ich dich verärgert habe. Aber das ist nun einmal, was ich mache. Ich forsche nach allem, was mit Luzifer zusammenhangt, und versuche sein Vermächtnis zu finden.“
Skeptisch betrachtete ich Jesajah. Er konnte doch nicht wirklich davon ausgehen, dass ich das glauben würde. Doch dann viel mir eine so simple Erklärung für sein Interesse an Luzifer ein, dass ich unwillkürlich auflachen musste. Als Atheistin war ich zunächst gar nicht darauf gekommen, aber Jesajah musste religiös sein. Wahrscheinlich war er wirklich Historiker oder Erforscher alter Schriften und hatte sich auf Luzifer spezialisiert. Das würde auch seine beeindruckenden Ausführungen im Maxxim erklären.
Mit einem Mal hatten Jesajahs eigenartige Äußerungen einen Grund, der nicht damit zusammenhing, dass er verrückt war. Schmunzelnd fragte ich: „Du bist echt ein Fan von Luzifer, oder?“
Doch zu meiner Verblüffung fand Jesajah die Frage alles andere als amüsant. Seine Miene verdüsterte sich und er erwiderte mit tonloser Stimme: „Ich bin alles, aber bestimmt nicht sein Fan.“
Meine Verwirrung wurde immer größer. „Aber du weißt so viel über Luzifer und hast die meiste Zeit, die wir uns jetzt kennen, über ihn geredet, da habe ich angenommen, dass er dich fasziniert. Oder du die Geschichten um ihn herum zumindest interessant findest.“ Noch während ich sprach, ging eine weitere Veränderung mit Jesajah vor. Sein düsterer Gesichtsausdruck wurde aufmerksamer und sein Blick intensiver, bevor er für einige Sekunden die Augen schloss und auf ein für mich unhörbares Geräusch lauschte. Dann hoben sich seine Augenlider wieder und auf sein Gesicht trat ein erfreutes Lächeln.
Zufrieden lehnte er sich in seinem Sessel zurück, legte den linken Fuß auf das rechte Knie und sah mich offen an. „Man kann Luzifer als vieles Bezeichnen, aber gewiss nicht als langweilig. Auf der Erde ranken sich so viele Legenden und Geschichten um ihn, dass es zum Teil schwer fällt, die Wahrheit vor Augen zu behalten. Du hast die wahre Geschichte um Luzifer ja auch nicht gekannt und ich würde behaupten, dass es so fast allen Menschen geht. Ich bin auf der Suche nach den wenigen, die sich von den Lügen nicht blenden lassen.“ Nach einer kurzen Pause fügte er mit schiefem Grinsen hinzu: „Dass ich dir dabei über den Weg gelaufen bin, ist eine bezaubernde Abwechslung.“
Ich verschluckte mich fast an dem letzten Schluck meines White Chocolate Moccas. Das war ja mal wieder eine Kehrtwendung um 180 °C. Eben noch hatte sich Jesajah über meine Äußerung zu seinem Interesse an Luzifer aufgeregt und im nächsten Moment versuchte er tatsächlich mit mir zu flirten. Auch wenn letzteres eigentlich der Grund war, weshalb ich ihn wiedersehen wollte, hatte ich nicht mehr damit gerechnet, dass unser Gespräch noch solch eine Wendung nehmen würde.
„Bist du dir sicher? Ich habe den Eindruck, Luzifer hat dich schon genug verzaubert“, entgegnete ich ein Spur ruppiger, als beabsichtigt.
Jesajahs Augenbrauen schossen in die Höhe „Aber du weißt schon, dass Luzifer ein Mann ist?“
Ich stutze kurz, bevor ich nicht anders konnte als zu Lachen. Die Anspielung auf seine Heterosexualität lockerte augenblicklich die leicht angespannte Stimmung zwischen uns und brachte uns endlich auf gängigere Themen einer Verabredung zu sprechen.
Schweißgebadet schreckte ich aus dem Schlaf auf. Mit zittriger Hand tastete ich nach der Lampe auf meinem kleinen Nachttisch und knipste sie an. Warmes Licht flutete durch mein Schlafzimmer und vertrieb die Schrecken des Albtraums, der mich heimgesucht hatte.
Noch immer tanzten die Bilder von dämonischen Fratzen vor meinem geistigen Auge und ich hörte das gehässige Gackern hunderter schriller Stimmen. Zwischen all den Schreckgestalten hatte ich Jesajah gesehen, der wieder die Flügel seines Halloweenkostüms getragen hatte, nur diesmal waren sie um ein Vielfaches größer gewesen. Sein Blick hatte so intensiv auf mir gelegen, dass ich das Gefühl gehabt hatte, Jesajah würde mich verbrennen, anstatt der um mich herumtanzenden Teufelchen. Jetzt noch konnte ich die Hitze auf meiner Haut spüren, die mich im Traum zu verzehren drohte.
Mit Knien weich wie Butter verließ ich das Bett und ging ins Badezimmer, um ein paar Schlucke kalten Wassers zu trinken. Ich spritzte mir das erfrischende Nass ins Gesicht, bevor ich in großen Zügen trank. Als ich den brennenden Durst gelöscht hatte, blickte ich in den Spiegel und prallte mit einem spitzen Aufschrei zurück. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und ich klammerte mich an den Heizkörper in meinem Rücken, damit ich nicht kraftlos zu Boden sank.
Doch bereits einen Wimpernschlag später war der ganze Spuck vorbei. Ich starrte in den Spiegel, aus dem mir nur mein eigenes Gesicht entgegenblickte, satt des Antlitzes eines fremden Mannes mit rotglühenden Augen. Den Blick nicht vom Spiegel nehmend, lief ich rückwärts aus dem Badezimmer und zog hastig die Tür zu. Mein Puls war auf hundertachtzig und das Blut rauschte mir in den Ohren, während ich mich panisch im Schlafzimmer umsah. Als mein Blick auf den großen Ganzkörperspiegel neben meinem Kleiderschrank fiel, rechnete ich halb damit wieder das schaurige Gesicht zu sehen. Doch der Spiegel zeigte nur mein Abbild.
Dennoch hastete ich zum Schrank, zog ein frisches Bettlaken daraus hervor und schmiss es über den Spiegel. Danach rannte ich zur Wohnungstür, um nachzuschauen, ob sie auch wirklich verschlossen war. Nachdem ich den Schlüssel zweimal prüfend bis zum Anschlag umgedreht hatte, lief ich zurück ins Schlafzimmer. Als ich das Wohnzimmer passierte, überlegte ich kurz, ob ich es wagen könnte Alyssia anzurufen, verwarf den Gedanken jedoch wieder. Was ich im Badezimmerspiegel gesehen hatte, konnte nur eine durch meinen Albtraum hervorgerufene Halluzination gewesen sein. Wahrscheinlich basierend auf Jesajahs ganzem Gerede über Luzifer. Deswegen Alyssia mitten in der Nacht aus dem Schlaf zu klingeln, erschien mir mehr als kindisch. Dennoch liefen mir kalte Schauer über den Rücken, als ich in mein Bett zurückkehrte.
Noch einmal warf ich einen prüfenden Blick auf den verhüllten Ganzkörperspiegel. Einfach nur den beigen Stoff statt die spiegelnde Oberfläche zu sehen, beruhigte mich ein wenig. Trotzdem ließ ich den Rest der Nacht die kleine Lampe auf meinem Nachttischchen brennen, um die Spukgestalten aus meinen Träumen fernzuhalten.
Als ich am Samstagmorgen erwachte, fühlte ich mich wie gerädert. Nach dem Albtraum hatte ich eine gefühlte Ewigkeit wachgelegene, bevor ich in einen unruhigen Schlaf hinübergeglitten war. Auch wenn ich nicht gläubig war, schickte ich ein Dankesgebet zum Himmel, dass ich nach der schrecklichen Nacht wenigstens nicht zur Arbeit gehen musste.
Da es draußen bereits hell war, knipste ich meine Nachttischlampe aus und drehte mich vom Fenster weg. Dabei fiel mein verschlafener Blick auf die geschlossene Badezimmertür. Die Erinnerung an das Gesicht mit den rotglühenden Augen reichte aus, um erneut ein eisiges Kribbeln meine Wirbelsäule hinab zu jagen. Auch wenn die Nacht alles andere als erholsam gewesen war, verspürte ich mit einem Mal keine Lust mehr im Bett zu bleiben. Ins Bad wollte ich jedoch auch nicht gehen und so begnügte ich mich mit einer flinken Katzenwäsche über der Küchenspüle.
Mit zwei Marmeladentoast und einer Tasse warmen Kakao ließ ich mich wenig später im Wohnzimmer nieder. Die sonst so beruhigende Stille in meiner Wohnung drückte mir plötzlich aufs Gemüt, sodass ich kurzerhand den Fernseher einschaltete. Als aktueller Sender war noch N24 vorbelegt, auf dem ich mir Donnerstagabend eine Dokumentation über die Lebensweise sibirischer Tiger angeschaut hatte. Jetzt lief eine Nachrichtensendung, die über die aktuellen Geschehnisse in der Welt berichtete.
Ich wollte gerade auf einen unterhaltsameren Kanal wechseln, als die Moderatorin einen neuen Bericht über einen plötzlich ausgebrochenen Buschbrand in der Nähe von Cairns im australischen Staat Queensland begann. Laut der Berichterstattung brach das Feuer heute Nacht zwischen 02:00 Uhr und 03:30 Uhr, also zwischen 11:00 Uhr und 12:30 Uhr Ortszeit, aus. Aufgrund der für einen Brand ungewöhnlichen Jahreszeit und des landeinwärts wehenden Winds, der den Qualm von Cairns wegblies, wurde das Feuer erst mehrere Stunden nach dessen Ausbruch entdeckt. In diesem Moment waren die Rettungstrupps immer noch dabei die Flammen zu löschen und das Feuer unter Kontrolle zu bringen.
Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus, als mir bewusst wurde, dass der Steppenbrand zu dem Zeitpunkt ausgebrochen sein musste, als mich mein Albtraum aus dem Schlaf gerissen hatte. Auf dem Bildschirm erschienen die Bilder von rotzüngelnden Flammen, über denen zwei Löschhelikopter kreisten und ihre geladenen Wassermassen auf das Inferno unter sich schütteten. Der Anblick reichte aus, um mich wieder das brennende Gefühl verspüren zu lassen, das mich schon in meinem Albtraum heimgesucht hatte.
Mir instinktiv über die Arme streichend, starrte ich wie gebannt auf den Fernseher. Die Moderatorin berichtete gerade über den angerichteten Schaden und die verheerenden Auswirkungen, sollte das Feuer nicht demnächst eingedämmt werde, als mein Blick in die untere rechte Bildschirmecke glitt. Vor Schreck fiel mir das Toast aus der Hand und landete mit der Marmeladenseite auf meiner hellen Kuschelhose. Doch statt die Sauerei aufzuräumen und meine geliebte Hose vor allzu großem Schaden zu bewahren, starrte ich wie versteinert auf den Fernseher.
In Mitten der tanzenden Flammen glühten zwei blutrote Augen, denen ein hämischer Glanz innewohnte. Doch wie bereits bei der Halluzination in meinem Badezimmerspiegel waren sie verschwunden, nachdem ich ein einziges Mal geblinzelt hatte.
Dennoch reichte die erneute Sinnestäuschung aus, um mich hellauf in Panik zu versetzten. Wie von der Tarantel gestochen, sprang ich von der Couch auf, wobei ich das von meiner Hose auf den Teppich rutschende Toast keines Blickes würdigte. Mit wild klopfendem Herzen schnappte ich mir die Fernbedienung und schaltete den Fernseher kurzerhand aus. Doch noch immer glaubte ich auf der mattglänzenden schwarzen Oberfläche diese unheimlich leuchtenden Augen zu sehen, auch wenn ich diesmal mit Gewissheit sagen konnte, dass es lediglich auf meiner Netzhaut hängengebliebene Lichtreflexionen waren.
Aber musste ich nicht tatsächlich etwas gesehen haben, um jetzt immer noch die Bilder vor Augen zu haben?
Egal was ich gesehen hatte oder glaubte, gesehen zu haben, mich hielten keine zehn Pferde mehr in meiner Wohnung. In Windeseile rannte ich ins Schlafzimmer, schlüpfte in eine vernünftige Jeans und einen blauweiß gestreiften Pullover. Dann hastete ich in den Flur, zog mir die bequemen braunen Lederboots über die Füße und schlüpfte in meinen Anorak, in dessen Taschen ich Handy, Portmonee und Schlüssel verstaute. Alles in allem war ich nach nicht einmal fünf Minuten, nachdem ich erneut diese schaurigen Augen erblickt hatte, aus meiner Wohnung geflüchtet.
Ohne zunächst zu wissen, wohin ich eigentlich laufen wollte, setzten sich meine Füße in Bewegung. Passend zu meiner Stimmung war der Himmel mit dicken, grauen Wolken überzogen, von denen feiner Nieselregen hinabfiel. Im Gehen zog ich mir die Kapuze meines Anoraks über die dunklen Locken, die mir wirr vor das Gesicht hingen. Mit einer flinken Handbewegung steckte ich die widerspenstigen Strähnen hinter meine Ohren und sah mich um.
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich den Weg zu meinen Eltern eingeschlagen hatte. Meine Mutter und mein Vater wohnten nur zwanzig Gehminuten entfernt am Rand des Volksparks Friedrichshain, in dem ich als Kind in jeder freien Minute gespielt hatte. Mein liebstes Ziel war es dabei gewesen, den Kletterfelsen zu erklimmen, auch wenn mich mein Vorhaben das eine oder andere aufgeschürfte Knie gekostet hatte.
Der Gedanke an meine Eltern ließ sofort das Gefühl von Geborgenheit in mir aufsteigen. In der Hoffnung, sie auch wirklich zuhause anzutreffen, setzte ich meinen Weg fort.
Den Kopf nach vorne geneigt, den Blick auf den Gehweg gerichtet, damit der Wind mir die kalten Regentropfen nicht mitten ins Gesicht blies, schritt ich weit aus. Ich war gerade einmal zwei Querstraßen weit gekommen, als sich eine dunkle Gestalt in mein Sichtfeld schob. Alarmiert riss ich meinen Kopf in die Höhe und blickte direkt in Jesajahs blaue Augen.
„Jes? Was machst du denn hier?“
Jesajah erwiderte meinen fassungslosen Blick mit einem milden Lächeln. „Ich war auf dem Weg zu dir, um dir das hier zu geben.“ Irritiert blickte ich auf den Gegenstand, den er soeben aus seiner Jackentasche zog. In eine durchsichtige Plastiktüte eingeschlagen, beförderte er meinen schwarzen Organizer zu Tage.
„Wo hast du den denn her?“
„Du musst ihm im Café vergessen haben. Als ich noch einmal zurückgegangen bin, lag er auf deinem Sessel.“
Sprachlos und verwirrt nahm ich das kleine Büchlein entgegen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, es im Starbucks aus der Tasche geholt zu haben. Warum Jesajah noch einmal in das Café zurückgegangen war, war mir an dieser Stelle egal. Das er jedoch extra den Weg zu mir auf sich genommen hatte, ohne sich im Vorfeld zu vergewissern, ob ich auch tatsächlich zuhause sei, weckte meinen heute ohnehin schon lauernden Argwohn.
„Wieso hast du nicht einfach angerufen?“, wollte ich wissen, während ich Jesajah den Organizer abnahm.
„Ich war eh gerade in der Gegend unterwegs. Da dachte ich mir, ich bringe ihn dir einfach vorbei. Wenn du nicht da gewesen wärst, hätte ich den Organizer in den Briefkasten geschmissen.“
Bei den Worten verengten sich meine Augen zu schlitzen und ich spähte lauernd zu Jesajah auf. „Und woher weißt du, welcher mein Briefkasten ist?“ Soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich ihm nie meinen Nachnamen genannt.
Auf Jesajahs Gesicht erschien ein schiefes Grinsen und er tippte auf das Büchlein in meinen Händen. „Dein Name und deine Anschrift stehen in dem Buch.“
Natürlich, darauf hätte ich auch selbst kommen können. Plötzlich erschien mir mein übertriebenes Misstrauen äußerst kindisch. Jesajah hatte mir einen Gefallen tun wollen und ich horchte ihn aus wie einen Schwerverbrecher.
Schuldbewusst senkte ich den Blick. „Entschuldige mein Verhalten. Ich hatte keine sonderlich erholsame Nacht.“
Als ich den Kopf wieder hob, begegnete ich Jesajahs besorgtem Blick. Seine Augenbrauen hatten sich ein Stück gehoben und seine Stirn zierten kleine Fältchen. Die Arme vor der Brust verschränkt, sah er fragend auf mich hinab.
„Ich habe einfach nur schlecht geträumt“, fühlte ich mich genötigt, mich weiter zu erklären.
„Und dann machst du bei diesem Mistwetter einen Spaziergang?“ Jesajah machte eine ausladende Geste und deutete von uns bis zur anderen Straßenseite. Auf dem Asphalt hatten sich große Pfützen gebildet, auf denen die herabfallenden Regentropfen kleine Kreise zogen. Das Laub der Bäume hatte sich von den Ästen gelöst und lag als matschige Masse auf den Dächern der parkenden Autos und den Gehwegen und verwandelte diese in die reinste Rutschpartie.
„Eigentlich war ich auf dem Weg zu meinen Eltern“, gestand ich ein. Doch plötzlich schien mir diese Idee gar nicht mehr so reizvoll. Meine überfürsorgliche Mutter würde mich nur nach dem Grund für meinen spontanen Besuch fragen und sich nicht zufriedengeben, eh sie eine passende Antwort bekommen hatte. Dass ich sie einfach nur einmal so besuchen wollte und dafür den Weg durch Regen und Wind auf mich genommen hatte, würde sie nicht glauben.
Außerdem wollte ich meinen Organizer nicht durch diesen Nieselregen tragen, auch wenn er von einer Plastiktüte geschützt wurde. Alle wichtigen Kontakte und Termine steckten in diesem kleinen Büchlein. In dieser Hinsicht war ich noch altmodisch und machte meine Planungen lieber auf Papier, statt in einem elektronischen Kalender.
Der Gedanke alleine in meine Wohnung zurückzukehren, war jedoch ebenfalls nicht sonderlich reizvoll. Schon die Erinnerung an den Anblick der roten Augen genügte und ein Zittern lief durch meinen Körper.
„Ist dir kalt?“
Jesajahs besorgte Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Um den wahren Grund für mein Unwohlsein nicht äußern zu müssen, nickte ich stumm. Dann kam mir eine Idee. Zwar gab mir Jesajah immer noch das eine oder andere Rätsel auf, dennoch fragte ich ihn: „Hast du Lust auf eine Tasse Tee oder Kaffee zum Aufwärmen?“
Ein wenig Smalltalk würde mich vielleicht auf andere Gedanken bringen, oder ich könnte noch das eine oder andere Wissenswerte über Luzifer erfahren, dass meine plötzlichen Halluzinationen erkläre würde. Und wenn mir die Situation zu unangenehm werden sollte, würde ich einfach vorgeben, mit Alyssia oder Carolin verabredet zu sein.
Mit einem dankbaren Lächeln nahm Jesajah mein Angebot an und folgte mir zu meiner Wohnung.
Ich hatte Jesajah bereits ins Wohnzimmer geschickt, während ich noch unsere Jacken im Flur an den Haken hing. Als ich ihm in die Wohnstube folgte, sah ich ihn stirnrunzelt vor meiner Couch stehen. Mich fragend, ob ihn womöglich wieder eine Banalität, wie beispielsweise eines meiner grünen Dekokissen, aus der Fassung gebracht hatte, folgte ich seinem Blick und entdeckte das angebissene Marmeladentoast auf dem hellen Teppich liegen.
Peinlich berührt umrundete ich den Couchtisch und hob mein vergessenes Frühstück vom Boden auf. Jesajah musste jetzt ja denken, dass ich der allergrößte Schmierfink war. Doch noch mehr frustrierte mich der große rote Fleck, den die Erdbeermarmelade hinterlassen hatte. „Verdammt, dass bekomme ich nie wieder raus.“
„Wenn du Glück hast, hilft destilliertes Wasser. Hast du irgendwo welches?“, warf Jesajah zu meiner Überraschung ein. Ich hatte ihn gar nicht so eingeschätzt, dass er etwas von Hausfrauentricks verstand.
Unter den feuchten Strähnen meiner Locken spähte ich zu ihm auf. „Ja, im Bad auf der Waschmaschine.“ Ich deutete auf die Tür zu meinem Schlafzimmer, das den einzigen Zugang zum Bad darstellte, während ich schon in die Küche lief, um einen Eimer und einen sauberen Lappen zu holen.
Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, stand Jesajah bereits mit der Flasche Destillierwasser im Türrahmen zu meinem Schlafzimmer. „Hat es irgendeinen Grund, dass über deinem Spiegel ein Bettlaken hängt?“, erkundigte er sich mit hochgezogenen Augenbrauen.
Ich spürte, wie jegliche Farbe aus meinem Gesicht wich. Erst der Fleck und jetzt der Spiegel. Ich hätte Jes nicht mit in meine Wohnung nehmen dürfen. Nach außen hin um Gelassenheit bemüht, ging ich zu Jesajah und nahm ihm die Flasche aus der Hand. „Das Lacken hängt zum Trocknen dort“, sagte ich betont beiläufig. Dennoch waren meine Schultern verkrampft, als ich mich neben dem Fleck auf den Boden hockte und behutsam die Marmelade aus den Teppichfransen entfernte.
Eine Weile herrschte Schweigen, dann durchbrach Jesajahs tiefe Stimme die nur von den Schrubgeräuschen begleitete Stille. „Leila?“
Als ich keine Anstalten machte zu antworten, wiederholte er lauter: „Leila, was ist los?“
Genervt stieß ich einen harten Luftstrom aus und hob meinen Blick. Jesajah hatte währenddessen auf meinem Zweisitzer Platz genommen und beobachtete jede meiner Bewegungen mit Argusaugen. Erst jetzt fiel mir auf, dass er sich nicht nur die Jacke, sondern auch seinen Pullover ausgezogen hatte. Auf dem blau-grün gestreiften T-Shirt, waren dunkle Flecke zu erkennen, die darauf schließen ließen, dass der Regen ihn vollkommen durchnässt hatte. Unter dem feuchten Stoff zeichneten sich die Konturen seiner Brustmuskulatur ab und lenkten meine Aufmerksamkeit für einige Sekunden von dem wirklich Wichtigen ab. Nämlich: warum war er dermaßen durchnässt, obwohl er laut seiner Aussage nur einen kurzen Abstecher machen wollte, um mir den Organizer wiederzugeben? Der Regen war niemals so stark, dass man auf dem kurzen Weg von der U-Bahn zu mir dermaßen nass wurde, dass die Feuchtigkeit durch zwei Kleidungsschichten drang.
„Das könnte ich auch dich fragen.“ Ich ließ den Lappen in den Eimer fallen und sah fordernd zu Jesajah auf. „Ich kann mich nicht erinnern, den Organizer im Starbucks aus meiner Tasche genommen zu haben.“
Jesajahs Blick blieb gelassen, aber wachsam. Geschmeidig stand er von der Couch auf, ging vor mir in die Hocke und sah mir prüfend in die Augen. Ich musste unwillkürlich Schlucken, während mich das Blau seiner Iriden sofort gefangen nahm. Dennoch wirkte seine Präsenz besänftigend auf mich. Er strahlte eine innere Ruhe aus, die auf mich übersprang und meine verspannten Schultern ein wenig lockerte. Aber da war noch etwas anderes. Meine Nasenflügel bebten, als ich den süß-herben Duft einatmete, der von Jesajah ausging. Es war eine Mischung aus Kiefernharz, Zimt und Sommerregen.
Noch nie zuvor hatte ich den Geruch eines Menschen derartig wahrnehmen können. Die neue Erfahrung erschreckte mich ein wenig und übte gleichzeitig eine eigenartige Faszination auf mich aus. Was war Jesajahs Geheimnis, dass er dermaßen anders wirkte, als all die Menschen, mit denen ich bisher zu tun gehabt hatte?
„Wer bist du?“, hauchte ich benommen. Ich erinnerte mich an Jesajahs Aussage, dass er aus Eldorado stammte. Vielleicht würden sich einige der Fragezeichen in meinem Kopf auflösen, wenn ich in Erfahrung brachte, wo dieses Eldorado lag?
„Du weißt wer ich bin. Jesajah“, kam die sanfte Antwort. Dennoch zuckte ich zusammen, als er ohne Vorwarnung die Hand an meine Wange legte und mit dem Ende einer meiner dunklen Locken spielte. Die Berührung war kaum mehr als das Kitzeln einer Feder, dennoch hatte ich das Gefühl von einem Stromschlag getroffen worden zu sein. Die Augen vor Überraschung weit aufgerissen, zuckte ich zurück. Auch in Jesajahs Gesicht zeichnete sich Verwunderung ab, während er auf seine Hand hinabblickte.
„Was war das?“, fragte ich.
„Wohl eine statische Entladung.“
Natürlich, was sonst. Mein inneres Ich stand mit verschränkten Armen da und schüttelte missbilligend den Kopf. Seit wann war ich dermaßen leicht aus der Fassung zu bringen? Ich hatte mich selbst immer als strukturierte und überlegte Person gesehen, doch im Moment fiel es mir schwer, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.
„Ist mit dir alles in Ordnung?“, riss mich Jesajah aus meinem Self-Profiling. „Du wirkst so angespannt.“ Dabei schienen seine Augen nach wie vor bis auf meine Seele hinabschauen zu wollen.
In dem Versuch, mein Gehirn endlich wieder zum normalen Funktionieren zu bringen, stand ich auf und ließ mich auf meiner Couch nieder. Der Abstand zu Jesajah lichtete den Nebel um meine Gedanken immerhin ein wenig und ich fuhr mir mit den Händen über das Gesicht. „Es ist nichts. Dein ganzes Gerede über Luzifer hat mir nur einen der schlimmsten Albträume meines Lebens beschert“, gab ich einen Teil der Wahrheit zu.
„Was für einen Albtraum?“
Zwischen den Finger zu Jesajah hinüberspähend, der nach wie vor vor mir auf dem Boden hockte, runzelte ich die Stirn. Was interessierte ihn meinen Albträume? Doch sein brennender Blick signalisierte mir, dass er nicht locker lassen würde, bis ich ihm eine Antwort gegeben hatte. Diese nach oben zusammengezogenen Augenbrauen und das wissbegierige Funkeln in den Augen kannte ich nur allzu gut von meiner Mutter, wenn sie mir einmal wieder Löcher in den Bauch fragte.
Also sagte ich mit einer wegwerfenden Handbewegung: „Nichts besonderes, wenn man zuvor an den Teufel gedacht hat. Im Traum habe ich ein paar Dämonenfratzen gesehen und rotglühende Augen, die mich anstarrten.“ Dass ich die Augen im Nachhinein eigentlich erst im Spiegel und dann noch im Fernseher gesehen hatte, musste ich Jesajah ja nicht gerade auf die Nase binden. Ich kam mir so schon albern genug vor, einem erwachsenen Mann meine Albträume zu erzählen, wie ein kleines verängstigtes Schulmädchen.
Doch Jesajah schien das Ganze kein bisschen kindisch zu finden. Bei der Erwähnung meiner Traumgestallten hatten sich seine Muskeln unter dem dünnen T-Shirt sichtlich angespannt und seine Hände lagen zu Fäusten geballt auf seinen Knien. Einen Moment sah er mich mit finsterer Miene an, dann erhob er sich geschmeidig und begann zwischen Couchtisch und Fernseher auf und ab zu laufen.
„Hattest du zuvor schon einmal Träume von Luzifer und seinen Anhängern?“
Verwirrt sah ich Jesajah dabei zu, wie er Furchen in meinen hellen Wohnzimmerteppich lief. Waren wir jetzt in etwa schon wieder beim Thema Luzifer angekommen? Auch wenn ich ihn zu Beginn auf eine Tasse in meine Wohnung eingeladen hatte, um nicht alleine zu sein oder einen möglichen Grund für meine plötzlichen Halluzinationen zu erfahren, so wirkte seine besorgte Haltung doch mehr als befremdlich auf mich. Für meinen Geschmack nahm er das ganze Thema viel zu ernst.
Es war nur ein Traum gewesen. Und auch wenn die Sinnestäuschungen mich zunächst erschreckt hatten, musste es einen simplen Grund geben, weshalb ich plötzlich diese roten Augen sah.
Jesajahs fragender Blick bedeutete mir, dass er immer noch auf eine Antwort wartete. „Ähh, nein.“
Trotz meiner Verneinung sah er mich weiterhin prüfend an. Zwischen seinen Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet, die seinem Gesicht zusammen mit den verengten blauen Augen einen lauernden Ausdruck gab.
Was erwartete er von mir? Denn das er auf eine bestimmte Reaktion meinerseits aus war, schien mir die plausibelste Erklärung für sein Verhalten zu sein. Mit einem Mal fühlte ich mich mehr als unwohl unter seinem stechenden Blick. Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus und ein unheilvoller Schauer lief über meinen Rücken, den auch sein gutes Aussehen nicht verhindern konnte. Ich fand Jesajah nach wie vor sehr attraktiv, doch sein komisches Verhalten hatte einen Teil der Faszination zerstört, die er zu Beginn auf mich ausgeübt hatte.
Jesajah schien meinen plötzlichen Sinneswandel zu spüren, denn er hielt in seinem Marsch durch mein Wohnzimmer inne und sah mich mit einem entschuldigenden Lächeln an. „Ich wollte dir keine Angst machen, Leila. Aber Visionen von Luzifer zu haben, ist immer Grund für Besorgnis. Man weiß nie, was er als nächstes tut.“
Ich konnte gerade noch so verhindern, dass mir der Mund aufklappte. Visionen? Ja klar, und ich bin die Königin von England. Jesajahs Arbeit schien ihn eindeutig den Bezug zur Realität verloren haben zu lassen.
Da mich seine Worte keinesfalls beruhigten, wechselte Jesajah die Taktik. Mit den Worten ‚Ruh dich aus. Ich mache uns in der Zeit einen Tee, wenn du nichts dagegen hast.‘ verschwand er in meiner Küche.
Tee. Den hatte ich ja komplett vergessen. Während ich Jesajah in der Küche rumhantiere hörte, wahrscheinlich auf der Suche nach den Tassen und den Teebeuteln, überlegte ich, was ich nun als nächstes tun sollte. Der Gedanke an ein erneutes Auftauchen der rotglühenden Augen, während ich alleine in meiner Wohnung war, jagte mir immer noch eisige Schauer über den Rücken. Andererseits war Jesajahs Gegenwart im Moment auch alles andere als beruhigend. Es hatte fast den Anschein, als wolle er mich in meinen Halluzinationen noch bekräftigen.
Plötzlich schoss eine Eingebung durch meinen Kopf, die mich augenblicklich eine kerzengerade Haltung annehmen ließ. Vielleicht schien es nicht nur so, sondern entsprach der Wahrheit und Jesajah tat mir in diesem Moment etwas in den Tee, was meine Sinnestäuschungen noch verstärken sollten. Hatte er das auch bei Starbucks getan? Hatte ich meine Tasse und ihn dort so lange aus den Augen gelassen, um ihn die Gelegenheit dafür zu geben? Ich konnte es nicht mit Sicherheit sagen.
Dennoch stand für mich jetzt eines fest: so gut Jesajah auch aussah und so ungerne ich es wahrhaben wollte, ich musste an einen religiösen Fanatiker geraten sein. Enttäuschung machte sich in mir breit, erneut eine Niete erwischt zu haben, wurde jedoch sogleich von der Überlegung verdrängt, wie ich Jesajah jetzt am besten los wurde.
Möglichst leise stand ich auf und schlich in den Flur, wo ich mein Handy aus meiner Jackentasche zog. Flink tippte ich eine SMS an Alyssia ein, die sie aufforderte, mich umgehend anzurufen. Dann legte ich das Handy auf die kleine Anrichte im Flur und ging zurück ins Wohnzimmer.
Gerade, als ich mich wieder auf das Sofa gesetzt hatte, kam Jesajah mit zwei dampfenden Tassen aus der Küche. Er stellte eine vor mir auf dem Tisch ab und setzte sich mit seiner rechts neben mich. Mit angehaltenem Atem lauschte ich auf mein Handy, das auch prompt zu klingeln begann. Erleichtert stand ich auf, wobei ich mich bemühte, nicht allzu hektisch zu wirken.
„Ich bin gleich wieder da“, sagte ich an Jesajah gewandt, ein hoffentlich echt wirkendes entschuldigendes Lächeln auf den Lippen.
Im Flur griff ich hastig nach dem kleinen Mobiltelefon und drückte die grüne Hörertaste. Mit extra lauter Stimme, damit Jesajah auch ja alles mitbekam, was ich sagte, meldete ich mich. „Ja, hallo?“
„Ich bin´s doch, Leila. Du meintest, ich soll dich anrufen. Was ist los?“, vernahm ich Alyssias besorgte Stimme.
„Hi Lys, schön dich zu hören. Was gibt´s denn?“
„Bei mir? Gar nichts. Ich sollte doch dich anrufen. Ist alles okay?“ Die Verwirrung meiner besten Freundin war deutlich zu hören.
Ich gab meiner Stimme eine mitfühlende Note, als ich ohne auf Alyssias Wort einzugehen antwortete: „Oh Gott, wirklich? Okay, ich bin sofort bei dir.“ Dann legte ich auf, noch eh meine Freundin ein weiteres Wort sagen konnte.
In gespielter Panik eilte ich zurück zu Jesajah und baute mich wild gestikulierend vor ihm auf. „Entschuldige, aber du musst sofort gehen. Alyssia braucht meine Hilfe.“
Verblüfft starrte mich Jesajah einige Sekunden an, dann glätteten sich seine Gesichtszüge und er stand auf. „Kann ich irgendwie helfen?“
Instinktiv trat ich einen Schritt zurück, als er sich in seiner vollen Größe vor mir aufrichtete. Dennoch drang mir erneut sein Duft in die Nase und weckte die Assoziation mit verregneten Sommerwiesen und winterlichen Kieferwäldern. Der Geruch wirkte auf mich wie eine Beruhigungspille, dennoch hatte ich nicht vor, mich von ihm einlullen zu lassen.
Schnell wandte ich mich ab und eilte zurück in den Flur. Während ich in meine Schuhe und den Anorak schlüpfte, rief ich Jesajah zu: „Danke für das Angebot, aber ich glaube kaum, dass du etwas für sie tun kannst. Frauenprobleme, wenn du verstehst, was ich meine.“
Schulterzuckend erschien Jesajah im Türrahmen, nun wieder mit Pulli bekleidet. Er folgte meinem Beispiel und zog seine eigene Straßenkleidung an, bevor wir wenig später meine Wohnung verließen und uns vor der Haustür trennten.
Ich steckte mir den letzten Rest meiner Mandarine in den Mund und spülte den süßen Fruchtsaft mit einem Schluck Tee hinunter. Dann kuschelte ich mich fester in die braune Wolldecke und lauschte Alyssia, die Carolin gerade alle Vorzüge Jesajahs aufzählte, angefangen bei den strahlend blauen Augen, über das scharfgeschnittene Kinn, die vollen Lippen und die breite Stirn bis hin zu dem männlichen Bartschatten und der verwegenen, kastanienbraunen Sturmfrisur. Natürlich ließ sie auch den durchtrainierten Körper mit den gut definierten Muskeln und den schmalen Hüften nicht aus.
Kopfschüttelnd saß ich auf der Couch und spähte zu meinen beiden Freundinnen hinüber. Nachdem ich nach wie vor verunsichert bei Alyssia aufgeschlagen war, hatte diese sofort eine Krisensitzung einberufen, zu der auch Carolin angereist gekommen war. Denn eine Reise konnte man die Fahrt von Spandau nach Treptow durchaus nennen.
Jetzt saßen wir zu dritt in Alyssias Wohnzimmer auf der Couch, mit Tee, Obst und Gebäck bewaffnet. Meine beiden Freundinnen hatte zudem eine Flasche Rotwein aufgemacht, doch ich traute dem Alkohol heute nicht so recht über den Weg. Wenn ich meine Fantasie schon nüchtern nicht im Griff hatte, dann wollte ich gar nicht erst wissen, was ich mir unter Alkoholeinfloss alles zurecht spinnen würde.
„Also wenn Jesajah wirklich so gut aussieht, wie du behauptest, dann würde ich ihm schon die eine oder andere Macke zugestehen“, kommentierte Carolin Alyssias Ausführungen mit einem breiten Grinsen.
„Ganz meine Rede. Aber unsere Leila scheint da anspruchsvoller zu sein.“ Mit einem Zwinkern in meine Richtung füllte Alyssia ihr Rotweinglas auf und nahm einen tiefen Schluck, bevor sie etwas ernster wurde. „Oder ist da noch etwas anderes? Irgendwie fällt es mir schwer zu glauben, dass du dich alleine von seinen religiösen Ansichten abschrecken lässt. Solange er nicht versucht dir seinen Glauben aufzuzwingen, kann er doch denken was er will. Das sollte einer romantischen Beziehung nicht im Weg stehen.“
Schnell nahm ich einen weiteren Schluck von meinem Tee, um etwas Zeit zum Nachdenken zu haben. Sollte ich Alyssia und Carolin von den roten Augen erzählen? Lieber nicht. Auch wenn die beiden meine besten Freundinnen waren, so würde ich ihnen doch auch nur schwer Glauben schenken, wenn sie mir solch eine Geschichte auftischen würden. Wahrscheinlich würde ich ihre Erscheinungen auf ein Gläschen zu viel oder eine übereifrige Fantasie zurückführen. Aber ganz gewiss würde ich sie nicht als Realität annehmen.
„Da ist noch die Sache mit dem Organizer“, umschiffte ich den eigentlichen Grund für mein Unwohlsein. „Ich habe ihn im Starbucks nicht aus der Tasche geholt. Je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir. Wie ist er also in Jesajahs Besitz gekommen? Und dann ist es ja nicht nur, dass Jesajah religiös ist. Er scheint wirklich zu glauben, dass Luzifer existiert und unter uns lebt.“ Ich sah von Alyssia, die ihr Rotweinglas in den Händen schwenkte, zu Carolin hinüber. „Würdet ihr etwas mit einem Typen anfangen, der scheinbar nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, nur weil er zum Anbeißen aussieht?“
„Aha, du findest ihn also doch zum Anbeißen“, stürzte sich Alyssia mit einem Grinsen auf den letzten Teil meines Satzes, ohne mein eigentliches Anliegen zu beachten.
Gespielt entnervt rollte ich mit den Augen und gab meiner Freundin einen Klapps gegen die Schulter. „Jetzt hör schon auf, Lys. Ich habe doch schon längst zugegeben, dass Jesajah verdammt heiß ist. Das würde selbst ein Blinder mit Krückstock erkennen. Trotzdem werde ich mich auf keinen religiösen Fanatiker einlassen, sonst Ende ich zum Schluss noch im Nonnenkostüm in irgendeinem Kloster.“
„Im Kloster geht auch nicht alles so keuch zu, wie man denkt“, warf nun auch Carolin ein und brach zusammen mit Alyssia in schallendes Gelächter aus. Sich die Bäuche haltend, kicherten beide um die Wette, wobei Carolin ihre kurzen braunen Haare wie ein Vorhang vor das Gesicht fielen.
„Ich weiß gar nicht, was daran so lustig sein soll.“ Leicht verstimmt zog ich die Decke fester um mich und sah demonstrativ aus dem Fenster. Der Himmel war endlich etwas aufgeklart. Die rote Abendsonne schien durch die dünnen Wolkenfetzen direkt in Alyssias Wohnzimmer und tauchte die spartanische in Schwarz- und Weißtönen gehaltene Einrichtung in ein warmes Licht.
„Ach komm schon, Leila, das war doch nur Spaß.“ Carolin hatte sich aus ihrer vom Lachen gekrümmten Haltung aufgesetzt und sah mich jetzt entschuldigend an. „Ich verstehe dich schon. Ich würde auch nichts mit einem Kerl anfangen wollen, bei dem ich ständig auf der Hut sein muss. Hätte Fin bei jedem unserer Treffen fast nur über Gott, Luzifer, Dämonen und so weiter geredet, wäre ich mit ihm heute wohl auch nicht zusammen. Ich kenne Jesajah zwar nicht, aber nachdem was du erzählt hast, klingt er für mich auch leicht gaga. An Gott und den Teufel zu glauben ist ja schön und gut, dass macht immerhin auch die Hälfte von Fins Familie, aber wirklich davon auszugehen, dass Kreaturen der Hölle unter uns leben, ist dann schon etwas zu krass. So etwas behauptet nicht einmal Fins Onkel und der ist immerhin Priester.“
„Danke, Caro!“, stieß ich vehement aus. „Endlich mal ein vernünftiges Kommentar.“ Ich zog einen Arm unter der Decke hervor und schnappte mir einen der Cookies vom Couchtisch. Dann fiel mir noch etwas anderes ein, das ich eigentlich schon seit Montag tun wolle. „Kann ich mir mal deinen Laptop ausleihen?“, fragte ich Alyssia und biss ein Stück von dem Keks ab.
„Klar. Was willst du denn machen?“ Sie holte ihren Laptop aus einer Kiste unter dem Tisch hervor und betätigte die Einschalttaste.
„Jesajah meinte, er kommt aus Eldorado. Ich will nachgucken, wo dieses Eldorado liegt.“
„Bist du dir sicher, dass er Eldorado gesagt hat?“ Carolin hatte skeptisch eine Augenbraue in die Höhe gezogen und schielte mich beim Trinken über den Rand ihres Glases hinweg an.
„Absolut sicher. Ich habe mich noch gewundert, dass ich nie etwas von einer Stadt oder einem Land gehört habe, dass so heißt.“
„Das liegt daran, dass Eldorado nicht real ist.“
Überrascht sah ich Carolin an, die ihr Rotweinglas auf dem Couchtisch abgestellt hatte und nun mit an die Brust gedrückten Beinen auf dem Sofa hockte. „Wie meinst du das?“
„Eldorado ist ein sagenumwobenes Goldland in Südamerika. Zur Zeit des Goldrauschs haben bereits viele Goldschürfer nach diesem Land gesucht, doch es wurde nie gefunden. Es ist eine Legende, ein Mythos, ebenso wie Atlantis oder das Schlaraffenland.“
„Nicht nur“, warf Alyssia ein. Sie klimperte noch einige Sekunden auf der Tastatur herum, dann stellte sie den Laptop auf den Tisch und zeigte uns eine Website mit Begriffsdefinitionen von ‚Eldorado‘. „Eldorado ist auch ein anderer Ausdruck für den Himmel. Ebenso wie Elysium, Jenseits oder Paradies.“
Ich konnte nicht anders, als sprachlos auf den Bildschirm zu starren. Da war er wieder, Jesajahs wahnhafter Glaube an alles Göttliche. Was für eine andere Erklärung gab es dafür, dass er mir den Himmel als sein Herkunftsland genannt hatte?
„Und er hat wirklich gesagt, er kommt aus Eldorado?“, griff Carolin meinen Gedanken auf.
„Ja.“ Mit einem ungläubigen Schnauben schüttelte ich den Kopf. „Da haben wir den Beweis dafür, dass Jesajah ein Spinner ist. Fins Familie ist in meinen Augen ja schon mehr als religiös“, sagte ich an Carolin gewandt, „aber Jesajah setzt dem allen noch die Krone auf. Ich denke ihr stimmt mir zu, wenn ich beschließe, lieber die Finger von ihm zu lassen.“ Carolin nickte sofort bekräftigend mit dem Kopf, doch Alyssia kräuselte nur unschlüssig die Stirn. „Oder siehst du das anders?“
Nachdenklich spielte Alyssia mit einer Strähne ihrer roten Haare, die im Licht der Abendsonne wie Rubine glänzten. Seit ich denken konnte, beneidete ich sie um diese glatte lange Mähne, mit der sie jede nur erdenkliche Frisur zu Stande brachte. Meine Haare hingegen vermochten es nicht einmal in einem ordentlichen Zopf zu bleiben.
„Ich denke, ich sehe das im Grunde genauso wie ihr. Man muss einem Typen schon zu einem gewissen Grad vertrauen, um etwas mit ihm anzufangen. Was du ja, deinem getürkten Anruf nach zu urteilen, nicht tust. Also wird es schon besser sein, wenn du dich nicht weiter mit Jesajah triffst, auch wenn es eine Verschwendung von Mann ist.“
Einen Moment saßen wir drei schweigend da und hingen unseren eigenen Gedanken nach. Es war ja nicht nur Jesajahs übertriebener Glaube an Gott und andere himmlische oder höllische Wesen, es waren auch die zwiespältigen Gefühle, die er in mir wach rief. Ich hatte mich in seiner Nähe durchaus wohl gefühlt, zumindest zu beginn. Aber dann waren da der viel zu intensive Blick gewesen und das Gefühl, dass er meinen Glauben an Luzifer regelrecht erzwingen wollte. Ständig kam er auf dieses Thema zu sprechen und sah mich dabei so an, als müsste ich die Realität seiner Fantasien anerkennen. Soviel also zu Lys Ansicht, dass alles okay ist, solange er nicht versucht mir seinen Willen aufzuzwingen.
Erschrocken zuckte ich zusammen, als Alyssia neben mir einmal kräftig in die Hände klatschte. „So Mädels, genug mit den Hirnverrenkungen. Wir sind hier um Leila auf andere Gedanken zu bringen, also schmeißen wir jetzt eine DVD in den Player und machen uns einen gemütlichen Mädelsabend.“
Jesajah
Kaum, dass Leila außer Sichtweite war, schlug sich Jesajah mit der flachen Hand gegen die Stirn und schüttelte den Kopf. Das Treffen war alles andere als wie erhofft verlaufen. Eigentlich hatte er Leila den Organizer wiedergeben wollen, den er in einem Moment ihrer Unaufmerksamkeit aus ihrer Tasche stibitzt hatte, um einen Grund für ein baldiges Wiedersehen vorzuschieben. Zudem hatte er gehofft, durch seine zur Schau gestellte Hilfsbereitschaft ihr Vertrauen zu gewinnen. Doch was auch immer eben in Leilas Wohnung geschehen war, es hat nicht im Geringsten dazu beigetragen seine Ziele zu erreichen. Ganz im Gegenteil.
Das Knattern eines Autos, das dicht neben Jesajah durch eine große Pfütze fuhr und im Vorbeifahren das dreckige Regenwasser auf den Bürgersteig spritzte, riss ihn aus seinen Grübeleien. Erschrocken sprang Jesajah zur Seite, wurde aber dennoch von einem Schwall des eisigen Nass getroffen. Fluchend wischte er die noch nicht eingezogenen Tropfen von seiner dunklen Jeans und sah dem Autofahrer grimmig hinterher, bevor er seinen Weg fortsetzte.
Der Regen war in der letzten halben Stunde noch stärker geworden und ein heftiger Wind hatte sich zu den vom Himmel fallenden Wassertropfen dazugesellt, der Jesajah den Niederschlag mitten ins Gesicht blies. Den Kopf gegen den Regen schützend Richtung Boden geneigt, stapfte Jesajah die nassen Straßen entlang. Auch wenn er völlig durchnässt sein würde, wenn er zuhause ankam, so verspürte er doch wenig Lust sich mit einer Horde Menschen in eine überfüllte U-Bahn zu quetschen. Da lief er lieber einige Stationen und versuchte seinen Kopf frei zu bekommen.
In Gedanken wieder bei seinem Gespräch mit Leila, versuchte Jesajah zu ergründen, was eigentlich geschehen war. Zu Beginn war alles nach Plan verlaufen. Sie hatte ihn sogar in ihre Wohnung eingeladen, womit er gar nicht gerechnet hatte. Doch dann war irgendetwas schrecklich schief gegangen.
Nach einigem Überlegen kam Jesajah zu dem Schluss, das alles mit seiner Entdeckung des auf dem Teppich liegenden Marmeladentoast und dem verhüllten Spiegel begonnen hatte. Und dann war da noch die anhaltende Anspannung, die von Leila Besitzt ergriffen hatte. Daran kann kein einfacher Albtraum schuld gewesen sein.
„Dämonenfratzen und rotglühende Augen, ein verhüllter Spiegel und scheinbar ein überstürzter Aufbruch“, zählte Jesajah die Fakten auf, die ihm ins Auge gesprungen waren. Für ihn deutete alles darauf hin, dass Leila eine Vision von Luzifer gehabt hatte, wahrscheinlich in dem Spiegel, woraufhin sie ihn verhüllt und panisch die Wohnung verlassen hatte. Doch wie kam dann das Toast auf den Boden?
Unwirsch wischte sich Jesajah einigen Regentropfen aus dem Gesicht und bog in die nächste Querstraße ab. Hier herrschte ein stärkerer Verkehr, der seine Gedanken mit dem Brummen vorbeifahrender Autos untermalte. Den wenigen Passanten ausweichend, die ihm auf dem Gehweg entgegen kamen, schalt sich Jesajah innerlich einen Narren.
Gabriel hatte ihn davor gewarnt, Leila zu sehr zu bedrängen. Der Argwohn der Menschen verschloss sie schnell Dingen gegenüber, die ihnen im ersten Moment suspekt erschienen. Dennoch hatte er unbedingt das Thema Luzifer zur Sprache bringen müssen und Leila somit bereits bei ihrem zweiten Treffen vergrault. Es wäre viel sinnvoller gewesen, sie einfach in der Annahme zu bekräftigen, dass es ein simpler Albtraum gewesen war, dem sie keine weitere Beachtung schenken müsste. Aber dann hätte sich Jesajah als dreckiger Lügner gefüllt. Außerdem hätte er dann nicht das enorme Ausmaß der zunehmenden Stärke der von Leila ausgehenden Schwingungen entdeckt, je mehr sie sich mit Luzifer befasste.
Es war beinah schon erschreckend gewesen, welche Intensität Luzifers Schwingungen angenommen hatten, als er Leila darauf hingewiesen hatte, dass ihr Traum eine Vision von ihm gewesen sein musste. Die machtvolle Autorität, die Wissbegierde und der unbeugsame Wille, die plötzlich in der Luft gelegen hatten, hatten Jesajahs Nackenhaare aufgerichtet und ihm eine prickelnde Gänsehaut beschert. Leila hingegen schien von alldem nichts gemerkt zu haben. Vielleicht, weil sie schon so sehr an Luzifers Schwingungen gewöhnt ist.
Doch dann blieb immer noch die Frage offen, woher diese Schwingungen kamen. Gingen sie von dem Ring oder der Kette aus, die Jesjaha aufgefallen waren und die Leila auch schon bei ihrem Treffen im Starbucks getragen hatte? Allerdings konnte er sich nicht daran erinnern, sie bei Leila auf der Halloween Party gesehen zu haben. Also hafteten sie vielleicht tatsächlich an Leila selbst und waren von einem anderen Artefakt auf sie übergegangen. Das herauszufinden hatte oberste Priorität. Und wenn er dafür Leila bei ihrer nächsten Begegnung anlügen müsste, dann würde er das tun, so sehr es ihm auch wiederstrebte.
Er wollte sie beschützten, hatte den unbändigen Drang verspürt, sie in die Arme zu schließen und zu trösten, als sie völlig aufgelöst vor ihm auf dem Boden gehockt hatte. Doch mehr als eine sachte Berührung ihrer Haare hatte er sich nicht zugestanden. Er durfte sich nicht zu sehr an diese Frau binden, egal auf welche Art und Weiße. Der Stromschlag, den sie beide bekommen hatten, war ihm dafür Beweis genug. Was sollte er auch anderes gewesen sein, als ein versteckter Hinweis von Allem was ist, die Finger von Leila zu lassen.
Und dennoch sah Jesajah wieder diese funkelnden grünen Augen umrahmt von einem Meer schwarzer Locken, als er für einen Moment die Lider schloss. Ihre Haare hatten sich ebenso weich angefüllt, wie sie für ihn ausgesehen hatten. Wie gesponnene Seide waren sie durch seine Finger geglitten, bevor der Stromschlag ihn hastig die Hand hatte zurückziehen lassen. Ob ihre Haut sich ebenso weich anfühlte?
Grimmig biss Jesajah die Zähne aufeinander und ballte die Hände in seinen Jackentaschen zu Fäusten, als er spürte, wie sei Blut bei den Gedanken an Leila in Wallung geriet. Das Gefühl war immer noch neu für ihn und zerrte gefährlich an seiner Selbstbeherrschung, die auf der Erde erste Risse bekommen hatte. Erst jetzt verstand er, was die Redewendung ‚in Versuchung geraten‘ wirklich bedeutete.
Seufzend hob er seinen Kopf und streckte sein Gesicht den Regentropfen entgegen. Das zuvor noch als unangenehm empfundene kalte Nass strich wie ein kühler Lappen über seine Stirn, Nase und Wangen und verschaffte seinem erhitzten Gemüt eine erleichternde Abkühlung.
In Gedanken einen Entschluss fassend, zog Jesajah seinen Schlüssel aus der Tasche und schloss die Haustür auf. Er würde Leila weiterhin nicht von der Seite weichen, egal ob sie ihn sehen wollte oder nicht. Er würde sie auf Schritt und Tritt begleiten, im Verborgenen jede ihrer Regungen verfolgen und auf das kleinste Anzeichen für Luzifers Anwesenheit achten. Und sobald sich ihm die Gelegenheit bot, Luzifers Erbe aufzudecken, würde er zuschlagen, um endlich wieder ins Himmelsreich zurückkehren zu können und die Erde und all ihre Versuchungen hinter sich zu lassen.
Einmal mehr befand sich Jesajah auf dem Weg zur siebenten Himmelsebene, um sich mit der Führungsriege der Erzengel zu treffen. Fast zwei Wochen waren vergangen, ohne dass etwas Nennenswertes geschehen war. Leila ging ihrem gewohnten Tagesablauf nach, der aus Arbeit, einkaufen, Freunde treffen und in der Wohnung entspannen bestand. Das Interessanteste, was Jesajah dabei beobachtet hatte, war ein Treffen zwischen Leila und einem älteren Pärchen gewesen. Der Vertrautheit nach zu urteilen, mit der sich die drei begegnet waren, ging Jesajah davon aus, dass es sich bei der Frau und dem Mann um Leilas Eltern handeln musste, auch wenn er keine gravierende Ähnlichkeit feststellen konnte.
Während Jesajah die Lichtbögen von einer Ebene zur nächsten passierte, wurde er von dem einen oder anderen Engel und Erzengel gegrüßt, die ihm auf seinem Weg entgegen kamen. Doch keiner fragte nach dem Grund für seinen Besuch, bis er kurz vor seinem Ziel von einer gleißenden weißen Lichtgestalt abgepasst wurde. Ein freudiges Pulsieren ging von ihrem Körper aus, dem eine Spur Neugierde anhing.
„Jesajah! Endlich sehen wir uns mal wieder. Und, wie ist dein Aufenthalt auf der Erde so?“
„Langatmig und leider nicht sonderlich ertragreich.“
„Wieso? Hast du das Tor noch nicht gefunden?“
Jesajah wich einer Gruppe entgegenkommenden Erzengeln aus, wobei er Nehinah an den Rand des Lichtbogens drängte, um nicht weiter im Weg zu stehen. Es wunderte ihn nicht, dass sie ausgerechnet nach dem Tor fragte. Immerhin war es Nehinahs Idee gewesen, dass das Tor den Ort markierte, an dem er Luzifers Erbe finden würde. „Schon, nur ist die zugehörige Stadt der Menschen so groß, dass es einem schier unmöglich erscheint, dort einen bestimmten Gegenstand zu finden, wenn man nicht einmal weiß, wonach man eigentlich sucht.“
Ein nachdenkliches Glühen verließ Nehinahs Körper und hüllte die beiden Erzengel ein. Nach einer Sekunde des Schweigens, sagte sie: „Also stehen wir immer noch am Anfang. Vielleicht hätte Michael einen von uns, der mehr Erfahrung im Umgang mit den Menschen und dem Leben auf der Erde hat, hinabschicken sollen.“
Die Worte des anderen Erzengels waren eine schlichte Feststellung, dennoch erweckten sie in Jesajah den Eindruck eines persönlichen Angriffs. Die aus seiner Gestalt herausströmenden Lichtfäden begannen wild um sich zu peitschen und sein Licht nahm einen kalten Weißton an.
„Ich werde das schon schaffen. Jeder andere von euch, hätte genau solche Probleme wie ich.“
Was er da gesagt hatte, wurde Jesajah erst bewusst, als er Nehinahs überraschtes Aufflackern bemerkte. Er hatte etwas getan, was kein Erzengel tun würde, der der Einheit so nah wie möglich zugetan war. Er hatte sich durch eine simple Formulierung von den anderen Erzengeln abgegrenzt, sich als Individuum beschrieben, als eigenständige Person. Statt von ‚uns‘ zu sprechen, hatte er sich durch den gebrach des Worts ‚euch‘ auf eine andere Ebene der Wahrnehmung gestellt.
Verstört zuckten die Lichtfäden um Jesajahs Körper hin und her. „Ich … muss jetzt los. Michael, Gabriel, Raphael und Uriel warten bereits auf mich.“ Nehinah einfach stehen lassend, trat Jesajah den Rückzug an. In fast schon gehetztem Tempo flog er durch den Himmel, wofür er den einen oder anderen verwunderten Lichtschein der anderen Engel erntete.
Erst, als er die siebente Ebene erreicht hatte, drosselte er seine Geschwindigkeit wieder. Die vier Anführer brauchten nicht mitzubekommen, wie weit er bereits der Individualität verfallen war. Das kurze Gespräch mit Nehinah hatte Jesajah gezeigt, dass er sich weiter von der Einheit entfernt hatte, als er es bis jetzt selber wahrhaben wollte.
Die Worte des anderen Erzengels waren eine sachliche Zusammenfassung der Tatsachen gewesen. Es hätte Jesajah auf keinen Fall als persönlicher Angriff vorkommen dürfen, dass sie überlegte, ob Michaels Entscheidung, ihn zur Erde zu schicken, die richtige gewesen war. Sie waren alle eins. Jeder Erzengel, Engel und jedes andere Wesen war ein Teil des großen Ganzen, wodurch der Konkurrenzgedanke an Bedeutung verlor. Jesajah wusste das und dennoch hatten ihn Nehinahs Worte auf einer ganz persönlichen Ebene getroffen.
Bemüht, wieder Ordnung in seine Gedanken zu bringen, schwebte Jesajah auf die große Lichtkuppel in der Mitte der Ebene zu. Die Führungsriege der Erzengel war bereits anwesend. Ihre hellleuchtenden Körper schwebten in der Mitte der Kuppel über dem Wolkenboden und verbreiteten einen warmen Schein.
Tief durchatmen und Ruhe bewahren. Du schaffst das, sprach sich Jesajah gut zu, obwohl die Formulierung ‚tief durchatmen‘ in seiner jetzigen Gestalt wenig Sinn ergab. Sich einen Ruck gebend, schwebte Jesajah weiter auf die Kuppel zu und passierte ihre flimmernde Außenwand.
„Willkommen zurück, Jesajah.“ Raphaels sanfte Worte strichen wie Balsam über Jesajahs aufgewühlte Gefühlswelt. Er schickte einen hellen Lichtstrahl aus, der den Gruß des Erzengels erwiderte. „Was hast du uns heute zu berichten?“
„Leider wie immer nicht viel“, gestand Jesajah ein. „Dem Erbe Luzifers bin ich nach wie vor nicht näher gekommen, dafür hatte ich ein interessantes Zusammentreffen mit Leila.“
Fragend flackerten die vier Gestalten der Anführer gleichzeitig auf.
Wie eine Einheit, schoss es Jesajah durch den Kopf. Im nächsten Moment hätte er sich am liebsten auf die Lippen gebissen, hätte er denn in seiner jetzigen Form welche besessen. Alleine der schlichte Gedanke kam einem Frevel seiner Existenz nah, zeiget er doch deutlich, dass die Wahrheit für ihn nicht mehr selbstverständlich war.
Schnell verstecke Jesajah seine Gefühle hinter einem Schutzschild aus gleichmäßig pulsierendem Licht, während er sich beeilte die unausgesprochene Frage der vier Erzengel zu beantworten. „Ich bin der festen Überzeugung, dass Leila eine Vision Luzifers gehabt hat.“
„Eine Vision?“ Ein leichtes Vibrieren ging von Gabriel aus, das dessen Überraschung widerspiegelte. „Ich weiß, dass einige wenige Menschen sensibel für die Wahrnehmung anderer Existenzebenen sind, aber eine Vision Luzifers? Davon habe ich bei ihnen noch nie gehört. Was für eine Vision soll das gewesen sein?“
So detailgenau wie möglich, ohne seine eigenen Gefühle zu verraten, gab Jesajah das Gespräch mit Leila wider. Dabei achtete er darauf, besonders ihre Gefühlswelt und die wachsende Stärke von Luzifers Schwingungen zu beschreiben, je ernster sie sich mit dem Thema Luzifer befasst hatte. Seine Erzählung beendete er leicht zerknirscht mit Leilas plötzlichem Rückzug und seiner seitdem ereignislosen Beschattung.
„Deine neuen Erkenntnisse sind interessant und gleichzeitig ernüchternd“, stellte Michael in der für ihn typischen sachlichen Weise fest. „Diese Leila scheint uns tatsächlich unserem Ziel näher bringen zu können, doch ist sie wie alle Menschen so sehr in ihre Ansichten verbohrt, dass sie die Wahrheit einfach nicht sehen will. Wenn wir wie bisher weiter machen, kann es noch Ewigkeiten dauern, bis wir etwas Hilfreiches von ihr erfahren.“
„Und so viel Zeit bleibt uns nicht.“ Uriel hatte sich aus der Viererkonstellation gelöst und kam ein Stück zu Jesajah heruntergeschwebt. „Wir müssen dieser Menschenfrau die Augen öffnen und ihr den wahren Weg weisen, bevor Luzifer noch mehr Schaden anrichten kann. Zeig ihr die Wahrheit.“
Jesajah war im ersten Moment viel zu verblüfft, um auf Uriels Worte zu reagieren. Leila die Wahrheit zu sagen, würde bedeuten, sich ihr zu offenbaren. Dass dieser Vorschlag ausgerechnet von Uriel kam, überraschte Jesajah. Der Erzengel war für seine fast schon übertriebene Strenge bekannt, wenn es um die Einhaltung ihrer selbst auferlegten Grenzen ging. Lediglich den Menschen gegenüber schien er einen weichen Kern zu besitzen.
Es war in der Vergangenheit schon öfter vorgekommen, dass Uriel in das irdische Leben eingegriffen und als Wegweiser der Menschen fungiert hatte. Doch die wenigen Male, die das geschehen war, waren nichts im Vergleich zur Ewigkeit von Allem was ist. Dass seine Mission einen dieser überaus seltenen Momente beinhalten würde, hätte Jesajah nie vermutet.
„Seit ihr euch da sicher?“ Eine eigenartige Nervosität ergriff von Jesajah Besitzt. Sich Leila offenbaren zu dürfen, bedeutete die Erlaubnis zu erhalten, bis zum Äußersten zu gehen. Ihm würden alle Türen und Tore offenstehen, um an sein Ziel zu gelangen.
Gespannt sah er zwischen den vier Anführern des Himmelsreichs hin und her. Michael schien Uriels Vorschlag am wenigsten zu gefallen. Ein unschlüssiges Summen umhüllte seine Gestalt, während Raphael und Gabriel ihrem Bruder bereits nach wenigen Sekunden zustimmten.
Raphaels Entschluss verwunderte Jesajah nur wenig. Als heilkräftiger Ratgeber war er den Menschen schon immer auf besondere Weise zugetan. Und Gabriel Zustimmung rührte wohl von seiner Neugierde her, mehr über Leilas Vision erfahren zu wollen. Lediglich Michael sah darin nur wenige Vorteile, dafür aber umso mehr Risiken.
„Wir wissen nicht, wie Leila auf etwaige Offenbarungen reagieren wird. Die Geschichte der Menschen hat uns gelehrt, dass sie das Meiste fürchten, was sie nicht verstehen.“
„Aber wie würde denn die Alternative aussehen?“, warf Raphael ein. „Sollen wir so viel Zeit mit der Suche nach Luzifers Erbe vergeuden, bis es auf der Erde nichts mehr zu retten gibt? Einer unserer Brüder ist schuld daran, dass die Menschen vom rechten Weg abkommen und so viel Leid erdulden müssen. Sollten wir da nicht alles daran setzte, sie zu schützen, auch wenn wir dafür einige unserer eigenen Regeln außer Acht lassen müssen?“
Gespannt wandten sich alle Michael zu. Der Anführer der himmlischen Heerscharen schien nach wie vor mit sich zu hadern und das strategische Für und Wider abzuwägen, bevor er mit einem ergebenem Abdimmen seiner Leuchtkraft zustimmte. „Meinetwegen. Versuchen wir Leila mit Hilfe der Wahrheit mehr Informationen zu entlocken.“
Freudige Erregung ergriff von Jesajah besitzt. Er durfte einem Menschen seine wahre Natur zeigen. Das hätte er sich niemals träumen lassen. Und vor allem hätte er niemals erwartet, dass ihn diese Aussicht dermaßen begeistern würde. Doch bevor seine Vorfreunde Überhand gewinnen konnte, verpasste ihm Michael einen Dämpfer.
„Aber ich warne dich, Jesajah, sollte Leila panisch reagieren oder gar versuchen, dein wahres Naturell der gesamten Menschheit zu offenbaren, gilt deine Mission als gescheitert. Ich rate dir also, nur als allerletzte Option auf die Offenbarung der Wahrheit zurückzugreifen. Die Wahrheit der Einheit sollte von jedem Lebewesen selbst entdeckt werden. Sie einfach mitzuteilen könnte im schlimmsten Fall den Geist des Betroffenen verwirren. Sei dir dessen immer bewusst.“
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Tag der Veröffentlichung: 13.11.2016
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