Coverlizenz: Sebastian Laffin
Cover Design: Ann-Marie Rechter
Story-Konzept: Sebastian Laffin
Korrektorat: Sina Katzlach
Hrsg:
Siehe Impressum
Das Urheberrecht obliegt dem titelführenden Autor. Das Kopieren und die Weiterverbreitung auch einzelner Passagen der vorliegenden Texte des Serientitels "Athyria" ist nur mit dessen ausdrücklicher Genehmigung erlaubt.
Athyria
High Fantasy/Roman
© Sebastian Laffin
Erzähler: Jabbar Ramzi Wasem
den Alten Völkern gewidmet
Sebastian Laffin
Athyria
(Einleitung)
Erstes Buch:
Die Kraji
Prolog
Kapitel eins:
Die Audienz
Kapitel zwei:
Der Große Regen
Kapitel drei:
Die Heimkehr des Königs
Kapitel vier:
Faryfra
Kapitel fünf:
Der Dunkle Prinz
Kapitel sechs:
Blutmond
Kapitel sieben:
Der Geheimbund
Kapitel acht:
Die Nacht des Einhorns
Zweites Buch:
Die Waisen Nifayas
Kapitel eins:
Der lange Arm eines Toten
Kapitel zwei:
Nifaya
Kapitel drei:
Ein zweifelhaftes Erbe
Eine alte Legende aus dem Lande der Kemet erzählt von fernen Welten, geschaffen von vergessenen Göttern, lange bevor die Erde entstand. Kemet ist das biblische Land eines der ersten terraistischen Völker, das Alte Ägypten.
Geschrieben wurde die Legende auf Pergamentrollen, die heuer verschollen sind. Weitererzählt wird sie von dem Beduinen Jabbar Ramzi Wasem, der die Schriften im zwanzigsten Jahrhundert Erdenzeitalter in einem verfallenen Tempel fand. Über den Verbleib besagter Zeitdokumente ist nichts überliefert, doch die Mär ging lange von Mund zu Mund.
Ein anderer Name für Kemet war Ta Meri, was bedeutet: Geliebtes Land. Daraus leitete sich später der Name Themera ab, ein kleiner Ort in der Wüste Medin. Diese wiederum befand sich auf dem Planeten Athyria aus der Galaxie Setham X.
Über eine terraistische Ära zur Entstehung des Athyrianischen Sonnensystems ist nichts belegt. Es heißt, die ersten Humanoiden lebten auf diesem erdähnlichen Planeten lange vor unseren Ahnen.
Die Historie Athyrias beginnt zur Zeit des Drachen vor vielen Jahrtausenden Monden, bevor ein Meteoritenschauer den Planeten heimsuchte. Der erste König wurde von den Göttern gesandt, um ihren Geschöpfen zu lehren, was Leben ist. Überliefert ist nur der Name Zuberi. Der erste König gründete die Stadt Bharya in der Wüste Medin.
Die Kraji
Der Nordwind löste soeben das Ungemach der Südwinde ab und läutete in der Wüste Medin den kalendarischen Anfang des Jahres ein. Traditionell lud der Herrscher Medinas, König Khnemu I., alle Lehnsmänner, Statthalter und Dorfvorsteher zur jährlich stattfindenden Frühlingsaudienz in der Residenzstadt Bharya.
Der in prunkvolle Gewänder gekleidete Almadin aus Nifaya, eine der wichtigsten Handelsstädte Medinas, kämpfte sich gemeinsam mit seinen zwei Leibwächtern aus den Nachwehen eines Tornados hervor. Drei Tage lang hatten sich OkPara, Abbas und Abanos in einer Höhle verborgen gehalten.
Der noch immer wirbelnde Sandstaub raubte ihnen den Atem. Stumm trieben sie ihre Kamele durch die in der frühen Morgensonne glänzenden Dünen und ließen ihre Heimatstadt weit hinter sich. Erst, als der gelbgolden glühende Feuerball im Südosten stand, ergriff einer von ihnen das Wort. "Glücklicherweise hatten wir genug Vorsprung", plauderte Abbas. "Ihr habt gut geplant." Er streifte den älteren Mann, der links neben ihm ritt, mit einem Blick, zog seinen dunklen Seidenschal etwas weiter nach unten und nestelte an seinem nachlässig gewickelten Turban, der zu der Uniform eines Maharis gehörte.
"Ich bin schon lange genug in meinem Amt, um auf alles vorbereitet zu sein", entgegnete OkPara mit hörbarem Stolz in der Stimme. Er blickte auf eine lange Ahnenreihe zurück, die gegenüber dem Adel eines Monarchen seiner Meinung nach nicht viel geringer war, wenn nicht gar überlegen.
Abanos verzog sein Gesicht zu einer skeptischen Miene. "Habt Ihr Euch auch das Vorbringen Eures Anliegens vor dem König gut überlegt? Immerhin lief bei der Schlacht um Themera einiges nicht so ganz sauber ab." Der jüngere Abbas schaute geschockt.
"Nehmt Euch nicht zuviel heraus!", fuhr der Statthalter Nifayas ihn an. "Auch wenn Ihr einer meiner engsten Vertrauten seid, heißt das nicht, dass Ihr Euch alles erlauben könnt!"
"Verzeiht! Aber zu viel hängt davon ab, wie Ihr König Khnemu Eure Geschichte mit den Krajis verkauft", erwiderte Abanos zerknirscht. "Schließlich fordert Ihr Bharya etliche Einheiten ab."
"Niemand außer uns kennt die Wahrheit. Haltet Euch bei der Audienz einfach zurück, wie es ohnehin von Euch erwartet wird. Ich weiß schon, was ich tue." OkPara trieb sein Kamel etwas schneller voran und ritt voraus. "Kommt, wir haben keine Zeit zu verschenken."
Die beiden Leibwächter folgten seinem Beispiel und schlossen auf. Nebeneinander trabten die drei Männer an den rechten Ufern des Hayas entlang, dessen in der Sonne funkelnde Wassermassen die Wüste durchschnitten wie ein magisches Band.
Der Fluss war das Lebenselixier der Beduinen und speiste die meisten Oasenstädte in seiner Nähe. Zugleich war er die Verbindung zwischen zwei Ozeanen, von denen das Meer der Panik nicht viel mehr als eine Legende war. Es verbarg sich hinter einem großen Gebirge, das Medina im Osten begrenzte. Nur die alljährlich wiederkehrende Schwemme des Hayas bewies, dass es ihn gab. Von den Völkern der Wüste wurde der Ozean geliebt und gefürchtet.
***
Bharya
Laute Rufe kündigten die Ankunft mehrerer Karawanen an. Erleichtert seufzte OkPara auf, als die Spitzen der Pyramiden zu sehen waren.
Er warf einen Blick auf den Sonnenstand. "Wir dürften pünktlich sein", bemerkte er mit zufriedener Miene.
Majestätisch ragte der königliche Palast Bharyas von einer Höhe herab. Der rechteckige Bau schien direkt aus dem Fels des Jabal Amul gemeißelt worden zu sein und war mehrere Stockwerke hoch. Die Terrassen verjüngten sich nach oben zu Pyramidenform.
Khnemus Residenz war über eine künstliche Rampe erreichbar und wurde ringsum von mit Runen verzierten hohen Säulen gestützt. Abbas' Augen weiteten sich voller Bewunderung bei diesem Anblick. "Was für ein Monument", rief er aus. "Ich wage nicht, mir auszumalen, wie viele daran geschuftet haben."
"Der Palast ist uralt", erwiderte OkPara, "und es heißt, er wurde bereits zu Zeiten Zuberis gebaut. König Khnemu soll einer seiner direkten Nachfahren sein."
Die drei Männer überquerten die Brücke des Haya und wurden von mehreren Wachen empfangen. "Habt Ihr Waffen dabei?", fragte einer von ihnen. "Die dürfen nicht mit in den Palast."
"Unsere Chepesch sind in den Satteltaschen unserer Kamele verwahrt", antwortete OkPara, der das Prozedere kannte. "Wenn Ihr mir gewährleistet, unsere Tiere wohl zu behüten, besteht von unsererseits kein Anlass zur Sorge."
"OkPara!" Sethos, der Oberbefehlshaber Bharyas, trat aus den hinteren Reihen hervor. "Ihr wisst ja, wo unsere Ställe sind." Er nickte drei Wachen zu und wies sie an: "Begleitet den Statthalter von Nifaya und seine Männer zu den Tierunterkünften."
"Habt Dank!" Der Almadin neigte leicht seinen Kopf, sprang von seinem Kamel und führte es hinter seinen Begleitern her. Abbas und Abanos taten's ihm nach.
Nachdem sie ihre Tiere den Stallburschen übergeben hatten, machten sie sich zu Fuß auf den Weg zur Audienz. In den engen Gassen Bharyas wimmelte es von Menschen aus verschiedenen Bevölkerungsschichten.
Die Händler, die mit reich ausgestatteten Karawanen von weit her angereist waren, um auf dem an das Bankett angeschlossenen Jahrmarkt auch noch ihren Reibach zu machen, stachen mit ihren bunten Gewändern aus der Menge heraus. Überall knallten Peitschen von Ochsentreibern, deren Proviantkarren auf der breiten Palaststraße fuhren. Wacheinheiten marschierten hinter ihnen her und passten auf, dass dem bharyanischen Volk kein Leid durch die panisch muhenden Tiere geschah. OkPara und seine beiden Leibwächter schlossen sich dem Zug an und flanierten die Rampe hinauf zur Residenz.
***
Khnemu I.
Das Haar des amtierenden Königs Medinas war mittlerweile ergraut, und unaufhaltsam rückte die Zeit heran. Bald würde er sein Amt an seinen Thronfolger abgeben müssen. Seine beiden Söhne Jadar und Narmar saßen rechter - und linkerhand an seiner Seite auf einem Sessel. Wie der Vater waren die beiden Knaben in nachtschwarze Seide gewandet.
Des Königs Gewänder waren golden bestickt, sein Haupt schmückte ein filigran geschmiedetes Golddiadem. Die Diademe der Prinzen und die Stickereien auf ihren bodenlangen Tadyas waren in Silber, und sie trugen Riemchensandalen aus Schlangenleder.
Als König Khnemu aufstand und seine Shejka auf einem goldenen Tischlein ablegte, verstummte das Gemurmel im Saal. Das versammelte Volk kniete sich auf den Boden und verbeugte sich tief.
Erhaben setzte er sich und tuschelte mit seinen Söhnen, die sich daraufhin erhoben, um seinem Beispiel zu folgen. Etwas unbeholfen starrten die beiden Prinzen in die Menge hinab, was ihren Vater zu einem milden Lächeln veranlasste.
"Ihr steht da wie die Suren von Junud Valley", zischte er zwischen seinen Zähnen hervor. Khnemu sprach von riesigen Statuen, welche die tierköpfigen Götter Medinas darstellten. Ebenso häufig, wie diese zu sehen waren, versanken sie in den Fluten des östlichen Meeres, wenn es über die Ufer trat und durch die zwischen den Bergen liegende Schlucht auf den Haya traf.
Voller Stolz musterte der König seinen wohlgeratenen Nachwuchs. Jadar, sein Erstgeborener, war achtzehn Jahre alt. Sein langes, gewelltes Haar glänzte schwarz wie das Gefieder eines Raben.
Doch auch sein Jüngster stand dem in nichts nach mit seinen dunkelbraunen Locken und feurigen Augen so dunkel wie Kohle. Narmar war sechzehn. Für beide war der heutige Tag ein Debüt. Dementsprechend waren sie aufgeregt und gespannt, welche Aufgaben der König ihnen zugedacht hatte. "Etwas mehr Haltung, wenn ich bitten darf", raunte Khnemu seinem Jüngeren zu, als er dessen Blicke zu Jadar gewahr wurde. "Für eure Eifersüchteleien untereinander ist hier nicht der richtige Ort."
Narmars Miene versteinerte. Gehorsam blickte er hinab in die Menge und verkniff sich ein Grinsen. 'Wie sie katzbuckeln', dachte er mit einem Anflug von Spott. 'Es muss herrlich sein, mächtig zu sein.'
Sein Vater stieß ihm mit dem Ellenbogen leicht in die Rippen, hatte er doch dessen innerliche Rebellion durchaus bemerkt. Jadar warf einen schadenfrohen Blick auf seinen Bruder, was auch ihm einen Rüffel mit der Elle einbrachte. Der König stemmte sich aus seinem Sessel hoch und streckte gebieterisch beide Arme zur Seite aus. Mit geschlossenem Mund räusperte er sich als Warnung an seine Söhne, sich zu benehmen.
Die kniende Menge erhob sich still, verteilte sich auf beide Seiten der Saalmitte und bildete einen Korridor. Dumpfe Trommelschläge kündigten den Einmarsch der geladenen Gäste an.
Neugierig wandten sich etliche Gesichter dem Eingang zu. Vereinzelte Stimmen aus dem Volk begannen leise zu flüstern, sich fragend, wer wohl alles kommen würde.
***
Liebliche Harfenklänge begleiteten die Ankunft der drei Lieblingsfrauen des Königs. Grazil und ohne einen einzigen Blick nach links oder rechts schienen sie lautlos über den weißen Marmorboden zu schweben, begleitet von bewunderndem Raunen. Es geschah nicht sehr oft, dass das Gemeine Volk Khnemus Frauen zu sehen bekam.
Selbstbewusst schritt die Älteste von ihnen voran. Ihre dunkelrote Seidenrobe mit gleichfarbigem Spitzenschleier, der ihren Körper von Kopf bis Fuß umschmeichelte und das Gesicht freiließ, wies Nefertari als des Königs Hauptfrau aus. Xhemile und Shayma, die beiden Mütter von Narmar und Jadar, hielten drei Schritte Abstand zu ihr. Deren türkisfarbenen Gewänder waren aus gefärbter Baumwolle und mit weißen Stickereien verziert. Das Antlitz von beiden war bis unter die Augen verhüllt. Sie durchquerten den Gang zwischen den Tischen hindurch, die an beiden Seiten aufgereiht waren. Auf dem roten Thronteppich knieten sich die Frauen auf die unterste Treppe und neigten ihr Gesicht in Richtung König.
Xhemile, die jüngste von ihnen und Narmars Mutter, hob heimlich den Blick auf zu Khnemu und errötete leicht, als sie das Aufblitzen in seinen Augen sah.
Auf seinen Wink hin erhoben sie sich und erklommen die Stufen zum Thron. Nefertari stellte sich hinter den Sessel des Königs, die beiden anderen hinter die ihrer Söhne.
***
Als die Musik verstummte, wandten sich die Blicke der Menge zur Tür. Mit raschelnden Gewändern durchschritten die geladenen Statthalter der Handelsstädte Medinas den Saal, OkPara aufgrund der Dringlichkeit seines Anliegens allen voran. Sein faltiges Antlitz war angespannt, wusste er doch um die Wichtigkeit der Erfüllung der heutigen Forderung an seinen König. In seinem Gefolge hatte er Abanos und Abbas, seine Leibwächter und seine Vertrauten.
OkPara durchschritt als erster Almadin mit seinem Gefolge den Thronsaal. Seine beiden Leibwächter befanden sich in seinem Schatten. Abanos hielt etwas in Händen, das in Tuch eingeschlagen war.
Die Menge reckte die Köpfe, neugierig, was für Geschenke die Abgesandten der wichtigsten Handelsstädte des medinischen Reichs mitbringen würden. Traditionell wurden bei Banketten repräsentative Handelswaren vor den König gebracht.
Von Trommelschlägen begleitet traten die drei Männer gemessenen Schrittes vor die mit rotem Teppich ausgelegte Treppe des Throns. Große seidene Kissen waren an den Seiten der fünf Stufen bereitgelegt.
"Der Almadin von Nifaya hat sich gut gehalten", flüsterte eine männliche Stimme auf der linken Seite. Der Angesprochene antwortete mit leisem Gelächter. "In der Tat. Er bewegt sich fast wie ein Tänzer."
Abbas hörte es und schoss einen strafenden Blick zu den beiden Ratsherrn. Der erste Sprecher senkte den Blick und verstummte, der zweite starrte nur in die Luft.
Unter dem aufgeregten Raunen des Volks verneigten sich OkPara, Abanos und Abbas vor König Khnemu.
Abanos reichte seinem Herrn das Geschenk. Gespannte Stille senkte sich über den Raum.
OkPara legte das kleine Sujet auf einem Kissen nieder. "Passend zum Anlass des heutigen Tages überreiche ich Euch und Eurem jüngsten Sohn Narmar eine kleine Aufmerksamkeit aus Nifaya." Feierlich straffte er sich und fuhr fort: "Eure Majestät, ich hoffe, es ist Euch gefällig." Mit einer erneuten Verneigung traten die drei Männer einen Schritt nach hinten und warteten auf Reaktion.
König Khnemu fasste OkPara ins Auge und nickte ihm hoheitsvoll zu. "Ich danke Euch, OkPara. Bitte nehmt Platz." Mit einer Geste wies er den Abgesandten aus Nifaya ihre Plätze zu. Sie traten ab und begaben sich zu ihrem Tisch.
***
Die Ortsvorsteher der Dörfer um Nifaya herum mischten sich unter die Menge. Der eine oder andere warf neidische Blicke zu den festlich gedeckten Tafeln hinüber.
Khalfani, der Emdal von Khahas, flüsterte seinem Begleiter zu: "Wie gern wäre ich auch an der königlichen Tafel geladen. Wahrlich fürstliche Speisen werden kredenzt bei Audienzen unseres Königs."
Er bekam ein spöttisches Lachen als Antwort: "Dann werdet Ihr wohl zusehen müssen, dass Ihr OkPara aus seinem Amt verdrängt."
"Nichts läge mir ferner. Besser als er könnte ich das Territorium von Nifaya auch nicht verwalten." Sich weiter leise unterhaltend verschwanden die zwei rechterhand des Throns in der Masse.
Anschließend legten die restlichen Abgesandten der Handelsstädte Medinas ihre Gaben ab und nahmen ebenfalls an den mit seidenen Tischdecken ausgelegten Banketttischen Platz.
Jede Stadt hatte ihr eigenes Tischkärtchen in Form einer mit ihrem Namen eingravierten Steintafel. Silberne Bestecke, Kristall und weißes Porzellan funkelte im Licht mehrerer Öllämpchen, die überall standen und hingen. Der Duft eines gebratenen Ochsen hing über dem Raum. Manch ein hungriges Maul aus dem Gemeinen Volk stöhnte unter den Qualen des Tantalus auf.
"Ich bin gespannt, wann König Khnemu eröffnet", flüsterte OkPara seinen Begleitern zu. "Uns brennt die Zeit unter den Nägeln, und die Kraji warten nicht, bis sich Eure Majestät darauf besinnt, dass wir seine Hilfe brauchen."
***
Bald verebbte auch das letzte Gespräch. Nachdem alle Abgesandten sich eingefunden hatten, erhob sich der König. Prüfend blickte er durch die Menge.
Seine linke Hand hob sich zu den Musikanten, die sofort verstummten. Feierliche Stille senkte sich darnieder. Gebannten Blickes waren aller Augen auf die königliche Familie gerichtet.
Schließlich erhob der König das Wort: „Ich danke Euch allen für das zahlreiche Erscheinen zu unserer Frühlingsaudienz. Dies ist nicht der einzige Anlass, den wir zu feiern haben." Er blickte zu Narmar: "Mein jüngster Sohn Narmar erreicht heute sein sechzehntes Lebensjahr und ist nunmehr in dem Alter, in dem er seine ersten Aufgaben wahrnehmen muss."
Mit einem Wink forderte er ihn auf, sich zu erheben. Narmar stellte sich der Etikette gemäß vor seinen Sessel und nickte etwas unbeholfen den ihn neugierig musternden Anwesenden entgegen.
Der König fuhr fort: "Zu meiner anderen Seite haben wir meinen erstgeborenen Sohn Jadar, der eines Tages Euer König sein wird." Seine Miene wurde grimmig, als Narmar es wagte, sein Gesicht zu verziehen. Gelassen erhob sich Jadar, stellte sich an die Seite seines Vaters und brach somit die höfische Etikette. Ein paar Stimmen aus dem Volk raunten einander zu, doch ihre Worte waren nicht zu verstehen. Khnemu erhob seine Hand und gebot Ruhe.
Seine Augen wanderten in Richtung der Statthalter, während er weitersprach: "Heute ist der Tag, an dem jeder Anwesende vortragen kann, was ihn bewegt. Die Almadine werden die Ersten sein. Einstweilen wünschen wir viel Kurzweil bei Speis und bei Trank. Die Audienz ist eröffnet."
***
Narmar bewegte sich einen Seitenschritt auf seinen Vater zu und zischte zwischen den Mundwinkeln durch: "Das war nicht sehr schicklich von Jadar. Immer drängt er sich vor." Khemu sah ihn grimmig an und versteckte die Hände heimlich ringend zwischen den weiten Ärmeln seines Gewands.
"Musik!", rief er laut in die Menge, um das unflätige Gebaren seines Jüngsten zu überspielen, und setzte sich - nahezu am Verzweifeln - auf seinen Thron.
Als die beiden Knaben ebenfalls saßen, murmelte er leise in Narmars Richtung: "Er ist nun einmal der Erste und somit etwas älter als du."
"Seht, Vater, selbst da", bekräftigte dieser und grinste recht unverschämt.
Während sogar Khnemu sich ein mildes Lächeln verkniff, zogen sich Jadars Mundwinkel mürrisch nach unten. Zu allem Überfluss gab der König seinem Jüngsten recht, indem er sich mit leisem Tadel an den Älteren wandte: "Mein Sohn, dir ist bewusst, dass dein arroganter Auftritt gerade nicht zu deinem Vorteil war? Das Volk wird dich als tollpatschigen, unwissenden Prinzen ansehen.“ Jadar öffnete den Mund, als wolle er widersprechen. Mit einem bösen Blick zu seinem Bruder hinüber besann er sich jedoch anders und setzte nur eine trotzige Miene auf. Der Zorn fraß ihn fast auf, doch er würde den Teufel tun und sich eine weitere Blöße gaben, nahm Jadar el Hadary sich insgeheim vor. Plötzlich spürte er tröstend die Hand seines Vaters auf seinem Arm. "Deine Zeit kommt", flüsterte dieser ihm zu.
***
Durch des Vaters tröstende Hand sah sich Jadar ermutigt. Er wandte den Kopf und fragte leise: „Was geschieht jetzt?"
"Wir hören uns nacheinander die Anliegen der Statthalter an und suchen gemeinsam mit ihnen nach Lösungen, damit diese beruhigt sein und ihrem Volk positiv entgegentreten können bei ihrer Rückkehr“, flüsterte Khnemu sanft.
Narmar beugte sich etwas in Richtung der beiden und belauschte deren Gespräch. Der König stieß ihn leicht an. "Geduld. Heute ist dein Bruder dran."
Der jüngere schmollte. "Aber ich habe Geburtstag. Wann bekomme ich meine Geschenke?" Er lehnte sich wieder zurück und verschränkte die Arme. Mit neidischer Miene starrte er in die Menge hinab und wünschte sich, ein ganz normaler Junge zu sein. Er würde immer im Schatten von Jadar stehen, das wurde ihm soeben bewusst.
Jadar lächelte sanft, als er das kleine Geplänkel bemerkte und spitzte die Ohren. Sofort kassierte auch er einen Rüffel von Khnemu. „Sei nicht so neugierig, das schickt sich nicht", flüsterte er mühsam beherrscht, setzte sich in gerade Position und mahnte die beiden Knaben noch einmal: "Und nun benehmt Euch." Er nickte OkPara zu, der mittlerweile vor den Thron getreten war. "Bitte sprecht."
***
Der Statthalter von Nifaya verneigte sich tief. „Eure Majestät, wir benötigen Eure Unterstützung. In das Hoheitsgebiet von Nifaya sind die Kraji eingedrungen und haben Themera übernommen. Sie haben keinen einzigen Menschen am Leben gelassen. Ich selbst habe unsere fähigsten Mahari in den Kampf geschickt. Doch keiner konnte es mit ihnen aufnehmen“, berichtete OkPara mit bedrücktem Gesicht.
Khnemu hob die linke Augenbraue. „Wie kann es sein, dass Eure Krieger nicht fähig sind, eine Horde räudiger Katzen aufzuhalten?“, fragte er spöttisch.
"Nifayas Streitmacht ist nicht so groß, Eure Majestät. Und uns fehlen Waffen", stand der Almadin Rede und Antwort und knetete verlegen seine faltigen Hände.
Der König stützte seinen Kopf auf eine Hand und beäugte ihn nachdenklich. "Ich werde mir erst ein Bild machen müssen, OkPara. Erwartet uns deshalb demnächst bei Euch in der Stadt."
Ein entschlossener Ruck ging durch seinen Körper, und er blickte zu seinem älteren Sohn. "Jadar el Hadary, das wird deine erste Aufgabe sein", sprach er feierlich.
Der Almadin von Nifaya zuckte zusammen. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Am Liebsten wäre es ihm gewesen, die Streitmacht Bharyas als Verstärkung anzufordern. Einen anderen Befehlshaber in der Stadt zu haben war nicht vorgesehen. Zu viel lag im Argen, wie OkPara wohl wusste. Per Dekret des Königs war Sklavenhandel verboten, die Reichen ließen es sich wohl ergehen und beuteten im Gegenzug all die hungernden Armen aus. Selbst er war nicht frei von Schuld, hielt er sich doch junge Sklavinnen in seinem Harem.
Verschlagen hob er seinen Blick: "Eure Majestät, Nifaya ist weit. Euer Sohn ist noch unerfahren, und mit Verlaub: Auch Ihr solltet mit Euren Kräften haushalten. So weiß ich sehr wohl, welche Strapazen für eine solche Reise auf Euch zukommen werden. Erfuhr ich sie doch am eigenen Leib." Zur Bekräftigung ächzte OkPara und rieb sich seinen Rücken. "Gebt mir Waffen und zehn Einheiten Eurer Mahari mit, und Nifaya bekommt die Kraji selbst in den Griff."
***
Als die Forderungen von OkPara verklangen, blickten die geladenen Gäste geschockt in seine Richtung. Proteste wurden laut. „Wie könnt Ihr so mit dem König sprechen!“ Ein Almadin rief: „Das wird sich der König nicht gefallen lassen. Er sollte Euch hinrichten lassen!“
Ein Ortsvorsteher aus dem Territorium Nifayas verteidigte vehement seinen Almadin: "Er möchte doch nur unsere Bürger schützen."
König Khnemu erhob sich. „Ruhe! Noch bin ich der König und habe zu entscheiden, wer hier wie bestraft werden soll!", rief er laut über die Köpfe der Menge hinweg. Die Stimmen verstummten.
Jadar krallte sich erschreckt an seinem Platz fest, als ihm bewusst wurde, was sein Vater da von ihm verlangte: Er schickte ihn in ein besetztes Gebiet. Ob er dieser Mission gewachsen war? Mitten in seine bangen Überlegungen hinein hörte er die Stimme seines Bruders: "Werter Vater, irgendetwas ist faul."
Narmar el Hadary scheute sich nicht, es laut auszusprechen, und seine Bemerkung gelangte an OkParas Gehör. "Herr", stammelte Nifayas Statthalter und erklomm die Treppe bis vor den Thron.
"Was für eine Ungehörigkeit!" Erneut begannen im Volk die Gemüter zu kochen. OkPara störte sich nicht daran. Nur für Narmars Ohren bestimmt zischte er leise: "Herr, macht einem alten Mann keinen Kummer. Ich flehe Euch an, behaltet Eure Bedenken für Euch."
Ein scharfer Blick des Königs traf ihn. "Was fällt Euch ein? Belästigt gefälligst meine Söhne nicht." Mit einer wedelnden Handbewegung scheuchte er ihn hinfort. "Begebt Euch an Euren Platz. Ich werde mich mit meiner Familie zur Beratung zurückziehen und gebe Euch dann Bescheid."
***
OkPara schlich an seinen Platz zurück wie ein geprügelter Hund. Der König begab sich mit seinen drei Frauen und seinen beiden Söhnen gemeinsam in ein kleines Nebengemach hinter dem Thron.
Nefertari, Xhemile und Shayma schickte er zurück in das Haremsgebäude. Dann setzte er sich an einen Tisch und hieß Jadar und Narmar, es ihm gleichzutun.
Beide gehorchten und nahmen Platz, einer zur rechten und einer zur linken Seite des Vaters. Kritisch beobachteten sie einander.
Khnemu seufzte auf. "Könnt Ihr Euch nicht endlich vertragen?" Er bekam keine Antwort, ließ sich davon jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Ernst wandte er sich an seinen jüngeren Sohn: "Narmar, was stieß dir bei der Anhörung OkParas sauer auf?"
Der Junge warf einen triumphierenden Blick zu seinem Bruder. "Vater, er war zu aufdringlich und wollte unbedingt zehn Einheiten Mahari unter seinem Befehl. Ihr seid der König, es ist Eure Streitmacht."
Nachdenklich betrachtete Khnemu seinen Jüngsten. Ohne ihn zu bestätigen oder zu entkräften wandte er sich schließlich an Jadar: "Und was sagst du dazu?"
Der Prinz zögerte. Unsicher starrte er seinem Vater ins Gesicht und versuchte, aus seiner Miene zu lesen. Khnemu hob seine Augenbrauen. "Nun?"
"Mir fiel auf, dass OkPara uns unbedingt aus Nifaya fernhalten wollte," erwiderte er fest.
Der König schwieg und ließ die Worte seiner Söhne auf sich wirken. Beide hatten sie recht.
Nach geraumer Zeit lehnte sich Khnemu mit verschränkten Armen zurück. "Was schlagt Ihr vor?"
“Vater, ich würde OkPara zeigen, dass Ihr der Herr im Haus seid. Ihr solltet die Mahari anführen und die Kraji vertreiben“, antwortete Narmar eilig.
Khnemu sah hinüber zu seinem älteren Sohn. “Und was würdest du empfehlen, Jadar?“
Der Prinz senkte seinen Blick und gab sich besonnen. Eine Weile überlegte er und wägte ab, dann kam die Antwort: “Nun, er hat um Hilfe gebeten. Es wäre falsch, sie zu verwehren, da es um unser Land geht und wir den Handel brauchen über die Grenzen hinaus. Bharya wäre hingegen ungeschützt, wenn wir soviele Mahari losschicken, wie von ihm gefordert. Der Weg ist ja nicht an einem Tag geschafft. Hinzu kommt noch, dass wir nicht wissen, ob er vertrauenswürdig ist. Ich würde dazu raten, dass Ihr mitreitet, Vater, aber mit weniger Männer."
Khnemu drückte entschlossen die Hände auf den Tisch und stemmte sich hoch in den Stand. "So machen wir es." Dabei blickte er Jadar an.
Narmars Miene verschloss sich, als er das sah. Er verkniff sich seine Enttäuschung, dass die Meinung seines Bruders berücksichtigt wurde und seine nicht. 'Eines Tages, Bruder ...', nahm er sich insgeheim vor.
Auf des Vaters Wink hin erhoben sich die beiden Prinzen und folgten dem Regenten zurück in den Thronsaal. Der Etikette gemäß stellte sich die Königsfamilie vor ihre Sitze. Khnemu erhob seine Hand zu den Musikanten und stoppte die Pausenmusik.
Während es im Saal ruhig wurde, wandten sich die Blicke der Menge zum Thron hinauf. König Khnemu zitierte mit lauter Stimme OkPara herbei. Als dieser vor ihnen stand, verkündete er seine Entscheidung: "Nach einführlicher Beratung kamen Prinz Jadar und ich überein, gemeinsam mit der Hälfte der von OkPara geforderten Mahari nach Nifaya zu reisen. Mein erstgeborener Sohn wird der Befehlshaber der Königlichen Streitmacht sein."
***
OkPara war konsterniert. Bang sah er all seine Felle davon schwimmen. Fieberhaft begann er zu rechnen, wieviel Zeit ihm bliebe, um zu verhindern, dass Medinas Herrscher und dessen Stab zuviel Einblick erhielt.
'Am besten wäre, ich verschwinde so schnell wie möglich aus dem Palast.' Er überlegte, ob er genügend Vorsprung herausholen könnte, um zumindest seine Sklavinnen vor dem Antlitz des Königs zu verbergen. Sollte er sie einfach entlassen? 'Oder ich verstecke sie in einem Verlies.'
Ihm wurde bewusst, dass er seinen ganzen Harem auflösen müsse. Haremsdamen zu halten, war laut Medinas Gesetzen nur dem König erlaubt.
Abanos und Abbas standen hinter ihm. Der Jüngere fragte leise: "Herr, was werdet Ihr nun tun?"
Selbstredend wusste die Leibwache OkParas über die Umstände in Nifaya Bescheid. Abanos flüsterte diesem ins Ohr: "Ihr hättet auf mich hören sollen. Ich habe es Euch ja gleich gesagt, dass Khnemu seine Streitmacht niemals unter fremden Befehl stellen wird."
Unwirsch winkte der Statthalter ab und vergaß dabei gänzlich, wo er sich befand. "Gleichgültig jetzt." Er hatte seinen Entschluss gefasst. "Wir werden so schnell wie möglich von hier verschwinden und den König und dessen Sohn in Nifaya erwarten."
Abbas, der das Gespräch von Abanos und OkPara mitbekam, warf ein: "Aber werdet Ihr Euch nicht lächerlich machen, wenn Ihr jetzt nachgebt?"
OkPara grinste verschlagen. "Keine Rede davon, dass ich nachgeben werde. Das Besprochene bleibt unter uns."
***
Weder dem Pöbel im Saal noch dem König und den beiden Prinzen blieb das Zaudern OkParas und das Tuscheln mit seinen Vertrauten verborgen. Erheiterte Stimmen mischten sich mit Verwirrung.
"Was heckt OkPara da mit seinen Männern aus?", fragte eine Bauersfrau mürrisch. "Der Auftritt des Almadins von Nifaya ist ein Skandal", erwiderte eine männliche Stimme. Murren wurde unter den Zuschauern laut. Der Statthalter aus Zahray rief zum Thron vor: "OkPara aus Nifaya, Ihr seid nicht der Einzige, der hier Probleme hat. Ihr stehlt dem König die Zeit."
Von einem anderen Tisch wurde Essam bestätigt: "Genau, wir wollen auch noch drankommen heute."
Der König hob beide Hände. "Ich bitte um Ruhe." Laut und bestimmt trug seine Stimme durch den Saal. Das Volk gehorchte und starrte gebannt nach vorn.
Das Weinen eines Kindes durchbrach die kurzfristig eingetretene Stille: "Ich habe solchen Hunger."
Khnemu legte die Hände auf seinen Kopf. Er wünschte sich, der Tag wäre bereits zu Ende. "Gebt dem Kind etwas zu essen", rief er zu den Tischen der Statthalter hinüber. "Eure Tafeln sind reich gedeckt, es muss niemand hungern." Er wandte sich an OkPara: "Nun, Ihr habt meine Entscheidung gehört. Was sagt Ihr dazu?"
Der alte Mann verzog sein Gesicht. "Ihr wisst doch gar nicht, was ihr mir und meinem Territorium damit antun werdet. Ein Knabe wie Euer Sohn ist doch nicht fähig, auch nur eine einzige Einheit Mahari anzuführen, geschweige denn fünf!", rief er mit sich überkickender Stimme und zeigte entrüstet mit einem Finger zu Jadar. Der junge Prinz sah OkPara entgeistert an.
Dieser fuhr fort: "Außerdem sind fünf Einheiten zu wenig. Ich hatte mir zehn Einheiten zur Unterstützung erhofft, unter meinem Befehl." Wie eine lästige Fliege schüttelte er Abanos Hand auf seiner Schulter ab und übersah jeden seiner Versuche, ihn zu beruhigen. "Lass mich!", zischte er seinem Leibwächter zu. "Was fällt dir ein? Noch bin ich dein Herr." Er war komplett außer sich, hatte jegliche Kontrolle über seine Synapsen verloren und drehte sich mit dem Gesicht zum Volk. "Ortsvorsteher von Nifaya, habt Ihr nichts hierzu zu sagen? Stehe ich ganz allein mit den Kraji da und kämpfe für unsere Bürger? Ist das ein guter König, der seinen Untertanen die Hilfe verwehrt?"
Der Ortsvorsteher von Themera, der das Massaker als Einziger überlebt hatte, trat aus der Menge hervor: "Die Kraji überfallen kleine Dörfer, plündern und brandschatzen, vergewaltigen unsere Frauen und ermorden unsere Bürger. Sie rotten ganze Orte aus, und Ihr habt nicht mehr für uns übrig als fünf Einheiten, angeführt von einem unreifen Jüngling? Mit Verlaub: Doch OkPara hat recht."
***
Der Almadin Nifayas drehte sich mit dem Gesicht zum Thron und verkniff sich ein triumphierendes Lächeln: "Seht, Eure Majestät, da hört Ihr es selbst. Mein Fürsprecher ist der einzige Überlebende aus Themera, ein Dorf aus Nifayas Territorium. Einst hatte es 15000 Bürger gehabt. Gelebt wurde dort hauptsächlich von Ziegen. Deren Leder wurde nach Nifaya geliefert, und verzeiht: Vieles aus unserer Region befindet sich auch bei Euch am Hof."
Von den Tischen der Statthalter wurde wiederum Murren laut: "Die weite Reise hätten wir uns sparen können. Alles dreht sich um OkPara und irgendeinen rebellierenden Stamm. Was in den anderen Städten geschieht ..."
Eine Frau trat aus der Menge und schob ein Kind vor sich her. Spuren im Antlitz des Kleinen zeugten von geflossenen Tränen. In der Hand hielt es ein Fladenbrot. Die Bäuerin warf sich vor dem König zu Boden und berührte den Teppich des Throns mit ihrem Gesicht. Jadar schritt die Treppe herunter und hob sie auf: "Frau, was ficht Euch an?" Sein Vater ließ ihn gewähren.
"Eure Majestät, ich habe Euch etwas zu sagen. Es geht um OkPara." Sie flüsterte und warf einen ängstlichen Blick zu den drei Männern in ihrem Rücken.
Prinz Jadar el Hadary führte sie an die Seite, wo niemand mehr mithören konnte. "Was ist mit OkPara?", fragte er leise.
"Er lügt." Leicht errötend senkte die Frau ihren Blick. "Ich bin aus Nifaya und bin mit meinem Kind weit gereist, um ein einziges Mal in meinem Leben den König zu sehen. Nifaya sieht wohlhabend aus, aber die Wahrheit ist: Wir alle sind arm. Nur OkPara und sein reiches Gesindel nicht!"
"Hmmm ...", machte Jadar. "Habt Ihr mir sonst noch etwas zu sagen? Ich kann nicht versprechen, dass wir etwas dagegen tun können, denn so ist es oft auch in den anderen Städten. Mein Vater sagte mir einmal, so geht es nun einmal zu auf der Welt. Korruption gibt es überall. Aber möglicherweise habt Ihr mir noch etwas Prekäreres, was uns dabei hilft, richtig zu handeln."
"Ja, Herr", erwiderte sie. "Das hab ich durchaus. OkPara und seine Männer rauben Frauen aus anderen Stämmen und halten diese als Sklavinnen. Deshalb die Kraji!"
***
Während sie sprachen, durchschritten Bedienstete des Königshauses den Thronsaal und verteilten kleine Fladenbrote unter dem Volk. Der König hatte einstweilen Befehl gegeben, auch den Mob zu versorgen. Rufe und Gelächter waren zu hören. Ein Teil der Menge begab sich gelangweilt nach draußen, wo Spiele zur Zerstreuung stattfanden. Der Saal leerte sich, ein jeder mit etwas zu Essen in seiner Hand. "Ein Hoch auf den König", jubelte eine kleine Gruppe von Handwerkern, die man gut an ihren praktischen Kurz-Tadyas und ihren Sunnas erkannte. Auf ihrem Kopf hatten sie dreieckförmige Hüte.
Khnemu rief seinen Sohn zu sich: "Jadar, was hast du mir zu berichten?"
Der Prinz drehte sich um. "Einen Moment, Vater, ich bin noch in einem Gespräch."
OkPara äugte misstrauisch zu der Bäuerin und zu Jadar herüber, wagte jedoch nicht, sie zu unterbrechen. Er versuchte, zu verstehen, was sie besprachen. Der Almadin konnte nur Bruchstücke hören, sie waren zu weit von ihm weg. Das Wenige, das er jedoch aufgeschnappt hatte, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn.
"Wir müssen hier weg", flüsterte er seinen beiden Leibwächtern zu. Diese sahen ihn verständnislos an. "Das könnt Ihr nicht machen", flüsterte Abbas. "Ihr könnt den König nicht so brüskieren, ohne etwas mit ihm zu verhandeln. Der Pöbel würde Euch lynchen."
"Der König lässt uns selbst wie dumme Esel dastehen, indem er Störungen hinnimmt", grollte OkPara, laut genug, dass Khnemu sein Murren verstand.
Seine Miene verfinsterte sich grimmig. "Wartet gefälligst!", donnerte er in dessen Richtung. "Ihr wolltet etwas von uns, nicht wir von Euch."
Genervt ließ er sich fallen und setzte sich in seinen Thronsessel. Er hatte die Steherei satt und pfiff auf Etikette. Dieser Umstand wurde von Narmar mit einem süffisanten Lächeln belohnt, doch stur blieb er stehen und höhnte in OkParas Richtung: "Wie sagtet Ihr? Mein Bruder ist zu jung, um eine Streitmacht zu führen? Nun, möglicherweise sollte ich das übernehmen, ich bin noch jünger. Aber selbst ich würde das noch besser können als Ihr, ein altes Kamel."
***
"Huuuuuuuuuuhhhhhhhhh!", ging ein gemeinschaftliches Raunen durch das restliche Volk, das sich noch im Thronsaal befand. Vereinzelte Lacher stiegen aus der Menge auf wie Seifenblasen.
Jadar verabschiedete sich mit einer warmen Berührung am Arm von der älteren Bäuerin und schickte sie mit ihrem Kind zu den riesigen Zelten, die als Gastunterkunft am Rand von Bharya auf die Auswärtigen warteten.
OkPara flüchtete sich in Entrüstung, war aber insgeheim froh, dass der jüngste Bengel des Königs ihm einen sauberen Abgang gewährte. "Kommt, Männer, wir gehen!" Verabschiedend winkte er in die Menge, wo er die Ortsvorsteher Nifayas vermutete. "Folgt mir, wenn Ihr für Nifaya seid." An den König gewandt: "Das hat ein Nachspiel!" Heftig drehte er sich um die eigene Achse, warf einen gebieterischen Blick zu seiner Leibwache und eilte mit rauschenden Gewändern und Häme im Rücken hinaus.
"Unsere Waffen müssen scharf, unsere Schilde hart und unsere Angriffe mächtig sein, um die Kraji zu schlagen. Ich weiß, dass es eine lange und gefährliche Reise wird und Ihr eure Familien hier lassen müsst.
Dafür werdet Ihr Ruhm und Ehre erreichen! Ihr werdet die Helden sein, die Medina aus den Klauen der Kraji befreit und eure Brüder mit eurem Blut beschützt habt!“
Die Mahari des Königs standen in Reih und Glied geordnet vor den Toren Bharyas. Prinz Jadar el Hadary hielt die traditionelle Rede, die ihm von seinem Ausbilder beigebracht worden war. Gehorsam trommelten die Krieger auf ihre Schilde.
Neben Jadar saß Khnemu auf seinem prächtig geschmückten Kamel, dessen mit Edelsteinen bestickte Decke ihn von den Kamelen der Offiziere abhob.
Über den sandfarbenen Tadyas trug die gesamte Streitmacht ein Kettenhemd. Auf ihren Köpfen trugen die Krieger die für Mahari typischen Alraas. Vier Einheiten waren mit Speeren bewaffnet. Sie waren Fußvolk.
Die Reiter hatten das Privileg, mit dem traditionellen Chepesch-Schwert ausgerüstet zu sein.
Die Kettenhemden des Königs und seines Sohnes waren indessen besonders edel: In kunstvoller Handarbeit waren sie aus den Panzerplatten von Skorpionen gefertigt.
Nun sprach auch Khnemu: "Jeder Mann, der heute mit uns reitet, ist bereits jetzt ein Held von Bharya! Wir kehren mit Ehre zurück!", rief er hoch herab von seinem Kamel, das mindestens so majestätisch wie dessen Reiter erschien. Als wäre es sich seiner edlen Herkunft bewusst, starrte es hochmütig in die Menge, die im Hintergrund zwischen den Toren stand.
"Frauen Bharyas", führte Jadar die Abschiedsworte seines Vaters weiter: "Wir bringen Euch Eure Männer wieder wohlbehalten zurück."
Zur Bekräftigung trommelten die Fußsoldaten erneut mit ihren Speeren auf ihre Schilde. Die Offiziere winkten tapfer ihren weinenden Frauen zu.
Ungeduldig scharrte das Kamel des Prinzen mit seinen Hufen. "Auf geht's, Männer!", rief Jadar und reckte seinen Befehlsarm nach oben. "Wir marschieren ab."
Die Streitmacht Bharyas wandte sich geschlossen um und marschierte mit den Lobeshymnen des sie verabschiedenden Volkes im Ohr hinaus in die Wüste.
***
In den frühen Morgenstunden waren sie aufgebrochen. Nunmehr brannte die Sonne heiß auf die Köpfe der Männer herab. Ihre mit Stiefeln bekleideten Füße knirschten im aufgeheizten Sand. Das monotone Geräusch wurde begleitet von rhythmischem Rasseln der provisorischen Panzer, mit denen die Mahari gerüstet waren.
In der Ferne tanzten Fata Morganas einen verführerischen, jedoch auch gespenstischen Tanz. Sich von diesen bunten Feen fangen zu lassen, bedeutete Tod, wie jeder wusste.
Prinz Jadar ritt neben dem König, der heiße Wind spielte mit seinem Gewand. Ab und an erhoben sich die stetigen Böen zu Brüllen, wenn die Göttin der Lüfte von Wut gepackt wurde und Wüstenrosen vor sich hertrieb wie eine Horde Kamele. Von Stil hatte Aeria noch nie viel gehalten, und manchmal war sie recht launisch. Der junge Königssohn hingegen schien ihr zu gefallen. Seine Ohren umsäuselnd umwarb sie ihn wie einen Geliebten und versetzte den Prinzen in Trance.
Und während der König seine Blicke prüfend zum Horizont schweifen ließ, die Mahari schwitzend marschierten und die Kamele der Offiziere stoisch vor sich hin schritten, träumte Jadar von der letzten Begegnung.
***
Am Tag der Audienz
'Wo ... bin ich?', fragte sich der junge Prinz. Soeben befand er sich noch bei seinen Mahari, doch ihm war, als hätte er seinen Körper verlassen und sähe von oben auf etwas Anderes herab.
Es ist die Welt der Vergangenheit. Sein Geist kehrt zurück in den Thronsaal, es ist der Tag der Audienz. Vor den Stufen des Throns steht OkPara und berichtet von seinem Problem mit den Kraji.
Jadars Blick schweift während seinem Geschwafel gelangweilt über die Menge: Und wird gebannt!
OkParas Worte werden zu einem einheitlichen Rauschen, das nur noch an seine Ohren dringt, doch ihn nicht erreicht. Er hört auch nicht, was sein Vater sagt.
Die Eskapaden seines kleinen Bruders sind nur noch im Hintergrund, nichts kann ihn mehr verletzen. Die Gesichter der Menschen im Saal verschwimmen zu einem Einheitsbrei, er sieht nur noch SIE. Er ist gefangen von diesem Blick aus blauen Augen, der Anmut und der Grazie des Mädchens, das zwischen den Leibern der Menschen wirbelt wie ein tanzender Geist. Sie schlängelt sich durch die Menge. Ein zarter Spitzenschleier verhüllt ihr Gesicht und lässt nur die Augen frei. Diese wunderbaren Augen, so blau wie das Meer, von dem er so gern träumt.
Kurz bevor sie das Eingangsportal des Thronsaals durchquert, wirft sie noch einmal einen Blick zurück und sieht ihn an. Seit jenem Tag dachte Jadar nur noch an sie.
***
Zurück in der Wüste
Eingelullt von den monotonen Schritten der Mahari klammerte sich König Khnemu am Knauf seines Sattels fest. Wie lange waren sie nun schon unterwegs?
Die einzige Orientierung, die sie besaßen, war der Stand der Sonne am Himmel. Inbrünstig wünschte er sich den Abend herbei. Der Schweiß klebte ihm bereits jetzt auf der Stirn, als wären sie schon Tage gefangen in diesem Brutofen der Wüste Medin.
Mehr noch als nach dem Abend sehnte er sich nach einer Oase, doch die nächste war mindestens zwei Tagesmärsche von ihnen entfernt. Weit und breit sah er nur Dünen und gelben Sand. Es hatte schon lange nicht mehr geregnet, sein gesamtes Reich litt unter Trockenheit. Selbst der Fluss von Bharya, der von den Quellen des Jabal Amul gespeist wurde, drohte demnächst zu versiegen.
Wenn dies geschähe ...
Die Schweigsamkeit seines Sohnes hatte er längst schon bemerkt. Er fragte sich, wo der Junge mit seinen Gedanken war, doch um ihn anzusprechen, fehlte es ihm an Kraft.
In der Hoffnung, die Pyramiden von Bharya noch einmal sehen zu können, warf Khnemu einen Blick zurück, sah jedoch nur noch den Gipfel des Gebirgsmassivs. Eine Vorahnung machte sich in ihm breit. Bang sah der König wieder nach vorn und gab ein erschöpftes Ächzen von sich.
Jadar vernahm es und kehrte wieder in seinen Körper zurück. "Was ist mit Euch, Vater?", fragte er besorgt. "Ihr seid ganz blass."
Der Prinz lenkte sein Kamel direkt neben ihn und gab der Streitmacht ein Handzeichen für einen Halt. Wie er es gelernt hatte, dirigierte er die Proviantkarren zu einem weiträumigen Kreis. Knarzend gruppierten sie sich, eskortiert von den Reitern. Die immerwährende Stille der Sandwüste wurde kurzfristig von den hektischen Arbeitsgeräuschen der überraschten Truppen durchbrochen.
***
Währenddessen kümmerte sich Jadar um seinen Vater. Der Prinz saß ab und half ihm von dessen Kamel. Fürsorglich tupfte er Khnemu mit einem Tuch die schweißnasse Stirn ab.
"Setzt Euch!", forderte er ihn auf und breitete die Schutzdecke seines Sattels im Sand aus. Sein Blick war unverwandt auf den König gerichtet, hoffend, dass er sich wieder erholt. "So habe ich Euch noch nie gesehen. Ihr seht aus, als wäre Euch ein Geist begegnet!" Er reichte Khnemu einen mit Wasser gefüllten Lederbeutel. "Trinkt, und dann erzählt mir, was mit Euch geschah."
Der König klopfte neben sich in den Sand. "Setz dich", sprach er, nachdem er sich erfrischt hatte. "Diese Rast war nicht geplant, aber nun ist es schon so. Sei dir aber dessen bewusst, dass wir hier nicht bleiben können." Er zog einen großen Zirkel mit seinem Arm und blickte hinaus in die Ferne. "Wir sind nicht geschützt. Weder vor der Sonne noch vor räuberischem Gesindel."
"Das weiß ich, Vater. Doch bevor Ihr vom Kamel fallt vor Erschöpfung, war es das Beste so." Jadar griff in den Sand und ließ ihn durch seine Finger rieseln. "Es kühlt bald ab ...", murmelte er.
"Dann haben wir noch einiges zu bewältigen", rügte König Khnemu. "Gib Befehl für den Abmarsch."
"Erzählt mir erst, vor was Ihr Euch fürchtet. Ich sah die Angst auf Eurem Gesicht." Prinz Jadar el Hadary schnippte eine große Spinne von seiner Hand, die sich in den Kopf gesetzt hatte, seinen Arm zu erobern. "Sagt, Vater, warum habt Ihr mich zum Kommandanten ernannt?"
„Mein Sohn, es gehört zu den Aufgaben eines Herrschers, dass er für sein Volk in den Kampf zieht. Nur so kannst du den Menschen beweisen, dass du bereit bist, für sie zu sterben." König Khnemu blickte in den fast weißen Himmel hinauf. "Irgendwann wirst du meinen Platz einnehmen. Bis dahin musst du lernen, was es heißt, Befehlshaber über die Königliche Streitmacht zu sein. Unser Auftrag ist deine Prüfung. Ein Fehler genügt, und es sterben Menschen."
***
Während er dem Prinzen erklärte, was von ihm erwartet wurde, starrte König Khnemu in Richtung Bharya. Vor seinem inneren Auge sah er die Pyramiden.
Jadar bemerkte seinen seltsam abwesenden Blick. Für einen Moment wurde der Körper seines Vaters transparent. Er erschrak. Vorsichtig berührte er den König Medinas an seiner Schulter und war erleichtert: Er hatte sich das nur eingebildet. Dennoch blieb ein ungutes Gefühl in ihm zurück. "Vater, was ist mit Euch?", fragte er noch einmal. "Ihr seid so nachdenklich, und für einen Moment war mir, als sei Euer Geist nicht mehr bei uns."
Khnemu seufzte. In ihm war Abschied, und er konnte es sich selbst nicht erklären. "Jadar, meine Zeit ist bemessen. Ich habe den Ruf der Pyramiden gehört."
Betrübt inspizierte er seine Mahari. Lachend und schwatzend saßen die Männer zwischen den Proviantwagen im Sand, froh über den unerwarteten Halt. Ab und an streifte ihn ein fragender Blick.
Er hatte die Königliche Streitmacht unter den Befehl seines Sohnes gestellt, damit Jadar beweisen konnte, was er von seinem Ausbilder Sethos gelernt hat. Von seinem sechsten Lebensjahr an wurde er in den Gärten des Königlichen Palastes unterrichtet. Der Prinz hatte es nicht immer leicht gehabt, wie Khnemu wohl wusste: Der dreißigjährige Hüne war stark, streng und loyal. Vor Allem war Sethos gerecht und machte unter seinen Schülern in Bezug Abstammung und Herkunft keinerlei Unterschied.
***
Aufbruch
Prinz Jadar el Hadary kannte die Legende des Rufs der Pyramiden. "Vater, das glaube ich nicht", erwiderte er. "So alt seid Ihr noch nicht, dass Ihr Euch fürchten müsst." Er stand auf und klopfte sich den Sand aus seiner Tadya. "Wir reiten weiter, wie Ihr es wünscht." Der König ließ die Meinung seines Sohnes dahingestellt sein und seufzte nur: "Ich hoffe nur, Sethos hat dir genug beigebracht. Die Kraji sind nicht zu verachten. Ich wünschte, dass eine diplomatische Lösung möglich sein wird." Mit Jadars helfender Hand als Unterstützung erhob Khnemu sich ebenfalls.
Gemeinsam gingen sie zu ihren Kamelen. Der Prinz half ihm hoch und saß ebenfalls auf. Mit erhobenem Befehlsarm rief er zum Lager hinüber: "Männer, wir brechen auf. Bis Sonnenuntergang sollten wir bei den Höhlen sein."
***
Bald darauf waren sie erneut unterwegs. Über ihnen zog die Sonne ihre Bahn von Süd bis Südwest. Unter der Last ihrer Reiter ächzten eine Vielzahl Kamele.
Unverwandt war Khnemus Blick gen Horizont gerichtet. Mit seinen Gedanken war er weit voraus. Noch immer war ihm, als sängen die über ihnen krächzenden Ohrengeier schon seinen Grabgesang.
Zu allem Überfluss ritt in seinem Rücken ein Scherzbold: "Die Geier kreisen schon", spöttelte ein Offizier zwei Reihen hinter ihm und wies in den Himmel.
Khnemu drehte sich mit verärgerter Miene um. "Konzentriert Euch auf den Marsch und guckt keine Löcher in die Luft, da tätet Ihr leichter!", rügte er laut.
"Verzeiht, Eure Majestät", entschuldigte sich der Mahari bei ihm, verschwand aus seinem Blickfeld und glücklicherweise auch aus seinem Hörbereich. Der König konnte dessen Bonmots kaum noch ertragen.
"Vater, seht!" Jadar wies zwischen zwei Kakteen. Bekümmert sprach er weiter: "Alles leidet unter der Dürre." Er folgte dem Fingerzeig seines Sohnes und nickte, als er das halb abgefressene Skelett einer Antilope sah. Ein Geier saß drauf, funkelte die Männer listig aus kleinen Augen an und schlug krächzend mit seinen Flügeln. Sein Ruf klang fast triumphierend in Khnemus Ohren.
Erneut überlief ihn ein Schaudern. Er versuchte, es zu vergessen und antwortete Jadar: "Wir müssen sparsam mit Wasser umgehen. Bis zur Oase ist es noch weit."
Unter den Hufen seines Kamels zerbarsten knackend Panzer von Skarabäen. 'Ein weiteres Omen', dachte der König. 'Was wird uns auf dieser unseligen Reise erwarten?'
***
Die Sonne stand bereits weit im Westen, als ein Jubelschrei der Mahari den Prinzen aus seinen Gedanken riss. Er hatte es aufgegeben, seinen Vater in ein Gespräch zu verwickeln, um ihn aufzuheitern.
So heiß es auch war: Er genoss seine erste weitere Reise. Für seine Umgebung hatte er kaum Augen gehabt, folgte er doch seinem eigenen Traum voller verbotener Schönheit. Hätte seine blauäugige Dschinniya Flügel gehabt, so hätte ihn das kaum verwundert.
Er hatte sie noch einmal gesehen. Die Unbekannte hatte ihn am Abend der Audienz in seinen Gemächern aufgesucht und ihm eine Botschaft seines Vaters gebracht. Schnell wie der Wind war sie wieder verschwunden gewesen und hinterließ ihn verwirrt. Sie musste eine Dienerin sein, vermutete der junge Thronfolger Medinas und beschloss, den König bei Gelegenheit nach ihr zu fragen.
Nun blickte er auf, die erleichterten Rufe seiner Männer im Ohr. Am Horizont erhoben sich zwei Tafelberge im erlöschenden Sonnenlicht. Bald waren sie bei den Höhlen.
***
Am anderen Tag blieb es dunkel. Dicke schwarze Wolken türmten sich unheilverkündend im Osten auf und verdeckten die Morgensonne.
König Khnemu hatte gemeinsam mit den Offizieren der Mahari und seinem Sohn in einer Höhle geruht. Er hatte kaum schlafen können. Seine Gedanken waren noch immer beim Ruf der Pyramiden gewesen, er ließ ihn nicht los. Alles zog ihn nach Bharya zurück.
Er hatte sich gefragt, was Narmar wohl tat. Ihr Abschied war überschattet gewesen von den Ereignissen am Audienztag, und er bedauerte die Missstimmung zwischen ihm und seinem Jüngsten.
Dass auch er Anlass gehabt hatte, in die Zeremonie des Frühlingsbanketts mit eingebunden zu werden, war schlichtweg untergegangen. Alles hatte sich um Jadar und OkPara gedreht, und selbst die anderen Statthalter kamen zu kurz. Es hatte viel Zorn und Hader gegeben, auch die diplomatischen Beziehungen zu den anderen Handelsstädten waren dadurch gestört.
Narmar hatte an jenem Tag die Schwelle zum Mannesalter erreicht. Das höfische Protokoll hätte etliche Rituale vorgesehen gehabt, um ihn zu feiern. Unglücklicherweise hatte sich zu viel überschnitten. Sein zweiter Sohn hatte nicht viel Gelegenheit gehabt, sich über Geschenke zu freuen, Etikette hin oder her.
Ironie des Schicksals war, dass ausgerechnet OkPara, der dem Königspalast den ganzen Ärger eingebrockt hatte, sich befleißigt sah, Narmars wichtiges Ereignis würdig zu bedenken. Mit dem Armreif des Kriegers hatte der korrupte Almadin einen Brauch aus Nifaya nach Bharya gebracht. Das edle Schmuckstück war aus Bronze geschmiedet und hatte die Form einer Schlange. Zwei Smaragde ersetzten die Augen. Getragen wurde dieses am Oberarm.
Khnemu nahm sich vor, es beim nächsten Mal besser zu machen. Er hatte die Befürchtung, dass er an den ewigen Disputen zwischen seinen zwei Söhnen nicht ganz unschuldig war, weil Narmar - soweit er zurückdenken konnte - immer im Schatten stand.
Es waren die Schattenseiten der Zeit, die ihn dazu bestimmte, ein schlechter Vater zu sein, nur weil es die Vorsehung gewollt hatte, dass er als Thronhalter Medinas den Sitten seiner Ahnen entsprach. Doch mit diesem Problem stand er nicht allein. So ging es allen Regenten überall auf der Welt.
Zumindest hatte er das Beste daraus gemacht. Narmar hatte den Armreif des Kriegers noch am Abend von ihm persönlich erhalten, und er hatte ein langes Gespräch mit seinem Jüngsten in seinen Privatgemächern geführt. Er hatte ihm versprochen gehabt, dass er sich beweisen darf und ihn offiziell während seiner Abwesenheit zu seinem Vize ernannt. Dass Narmars Oheim - ein Bruder von der Hauptfrau des Königs - gleichwohl ein heimliches Auge auf ihn werfen sollte, nun: Das stand auf einem anderen Blatt.
***
Im Lager der Mahari wurde es unruhig. "Männer, wacht auf!", drang ein entsetzter Ruf an die Ohren des Königs. Schwerfällig kämpfte er sich aus seiner Gedankenwelt und blickte sich um. Seine innere Uhr sagte ihm, dass es bereits morgens sein müsste. Es drang kein einziger Sonnenstrahl zu ihnen in die Höhle herein, vielmehr war es stockfinster. Die Luft war zum Schneiden dick, sie war feucht und es war noch heißer als von ihm erwartet.
Bevor sie in der Nacht zuvor ihre Schlafstatt aufgesucht hatten, hatte ein Offizier ein Lagerfeuer im Höhleneingang entfacht, doch auch das war erloschen.
Khnemu tastete neben sich, wo er den ruhenden Leib seines Sohnes vermutete. "Jadar, wach auf." Der Platz neben ihm war jedoch leer. Der König befürchtete Schlimmes.
Im Dunkeln vernahm er Rascheln von Stoff, begleitet von einer schlaftrunkenen Frage: "Was ist denn los?"
"Hat jemand Feuerstein?", fragte er ins Rund statt einer Antwort. "Wir brauchen Licht. Es müsste schon Morgen sein, und es wird Zeit für den Aufbruch."
"Was ist im Lager unserer Männer für ein Radau?", fragte eine andere Stimme. "Seid Ihr wohlauf?"
"Es geht mir gut", entgegnete Khnemu. "Wir haben ein anderes Problem als mein Befinden. Horcht, Mahari!" Er spitzte die Ohren. Lautes Rauschen vermengte sich aus dem Lager der Streitmacht mit hektischem Treiben und Schreien.
***
"Gebe Aeria, die Göttin der Lüfte, dass Jadar dort draußen bei seinen Kriegern ist", murmelte der König besorgt vor sich hin. Die Inbrunst seiner gebetsmühlenartig hervorgestoßenen Worte war ihm gar nicht bewusst.
Mittlerweile waren die ersten Fackeln entzündet. Dunkle Gesichter kristallisierten sich aus der Finsternis.
"Was für ein Schlammassel!", stieß einer der Offiziere hervor und meinte das wörtlich. Der Höhlenboden war schlammig und veranlasste nicht nur ihn zu großer Besorgnis. Ein jeder wusste, was das bedeutete: Geruhsames Erwachen sah anders aus.
Draußen vor der Höhle röhrten Kamele. Khnemu zögerte keine Sekunde mehr und sprang auf. Der Schlamm stand ihm bereits bis an die Knöchel.
"Wir müssen raus hier", schrie er. "Wacht auf, Ihr Eselsköpfe, sonst saufen wir demnächst hier drinnen ab."
***
Binnen Sekunden brach im Höhleninneren Panik aus. Hektisch packten die Männer ihre Satteltaschen zusammen und drängten sich um ihren König.
"Die Fackelträger vornean", bellte er befehlsgewohnt. "Wir haben nicht viel Zeit, um unsere Haut zu retten. Es hat seit Jahren nicht mehr geregnet, da wird Aerias Aufruhr gewaltig sein!"
Im selben Moment setzte er sich in Bewegung. Mit dirigierenden Gesten versuchte er, Ordnung in die Formation der Männer zu bringen.
Eilig und überraschend gewandt führte er den Offizierstrupp zum Höhlenausgang. Dort angekommen, galoppierte eine Herde Antilopen an ihnen vorbei und flüchtete in Richtung Tafelberg. "Dort müssen wir hoch!", deutete Khnemu den Mahari mit seinem Arm. "Geht Ihr voraus, ich suche meinen Sohn."
"Was ist mit unseren Kamelen?", wurde der König von einem seiner Männer gefragt. Er winkte ab. "Wir nehmen die, wo wir schnell erwischen. Die anderen finden den Weg schon allein. Oben am Berg sehen wir uns." Ohne ein weiteres Wort ging König Khnemu el Hadary davon.
***
Der goldene Skorpion
Mehrere Tagesreisen von Bharya entfernt lag zwischen Palmwedeln und Farnen die Oase Faryfra. Umringt von einem kleinen Gebirge befand sie sich leicht abgesenkt in einem Tal. Gespeist wurde die Wasserquelle dieser Oase aus einer Quellhöhle auf halber Höhe der Berge.
Die Legende erzählt: Hoch oben in den Gipfeln lebte eine besondere Gattung von Skorpionen. Sie waren sehr alt, sehr groß und hatten goldene Panzer. Man sagte sich, dass sie seit 2500 Jahren dort lebten.
Die goldenen Skorpione waren eine Mutation aus Skorpion und Krebs und hatten sehr starke Scheren, so lang wie zwei Ellen.
Ihr Körper war doppelt so groß wie ein Mann, ihre goldenen Panzerplatten so stark wie ein Fels. Sie waren nahezu unverwundbar, und nur, wer ihre empfindlichste Stelle kannte, konnte sie töten. Es hieß, der Gott der athyrianischen Schöpfung hätte sie selbst gemacht.
***
Sechs Tage nach dem Großen Regen waren Vater und Sohn wieder vereint. Khnemu und Jadar waren mehrere Tage mit ihren Mahari in den Bergen gefangen gewesen. Das Land war überflutet.
Sie hatten sich aus den Augen verloren gehabt, doch Jadar hatte seine Mission auch ohne das Beisein des Königs gemeistert. Er hatte die Speerwerfer und die Kamelreiter auf einen der beiden Tafelberge geführt, mit ihnen gemeinsam die Kamele zusammen getrieben und dort gerastet, bis das Wasser zurück ging. Am dritten Tag erfuhr er durch einen Kurier, dass auch Khnemu in Sicherheit war, dass er ihn gesucht und nicht gefunden hatte, und dass er mit den Offizieren gemeinsam in den Vulkanhöhlen sei. Diese befanden sich auf dem anderen Berg.
Wie Khnemu es vorausgesagt hatte, fanden die Kamele ihre Fluchtwege selbst. Kein einziges war verloren gegangen, und die gut geschulten Tiere fanden fast von allein zu ihren Herren zurück. Proviantkarren hatten sie bis auf fünf aufgeben müssen. Diese lagen jetzt irgendwo in der Wüste im Schlamm, der allmählich zu trocknen begann.
***
Am siebten Tag befanden sie sich endlich am ersten regulären Zielpunkt von ihrer Reise. "Fünf Tage Zeitverlust", sagte Khnemu gerade mürrisch zu seinem Sohn, als sie vor sich die ersten Handelskarawanen nach Faryfra erblickten. Dem Sonnenstand nach war es früher Mittag.
"Wir müssen mehrere Tage Rast einplanen, Vater", erwiderte Jadar. "Unsere Männer sind hungrig, es war ein harter Marsch. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, um die verlorenen Karren zu ersetzen."
Der König nickte. "Ich weiß. Doch vor der nächsten Handelsstadt dürfte das kaum möglich sein. Alles, was wir tun können, ist, unsere Taschen zu füllen und uns zu stärken. Ich hoffe, dass genügend Karawanen ankommen, so dass es für alle reicht." Besorgt blickte er in die ausgezehrten Gesichter der Offiziere in ihrem Rücken.
Beim höchsten Sonnenstand kamen sie an. Ihre Gewänder stanken nach Schweiß, das Fell der Kamele war struppig, die Hufe voll getrocknetem Schlamm. Während der König und der Prinz gemeinsam mit zehn Offizieren Faryfra betrat, schlugen die Mahari ihr Lager im Schatten der Berge auf. Die Speerwerfer bildeten einen Ring, was ursprünglich die Aufgabe der Proviantwagen war. Den Schutz der Wagenburg konnten die Schilde der Männer schwerlich ersetzen, wenn es zum Angriff käme, doch zumindest waren die Speerwerfer wehrhaft und achtsam.
***
Drei Tage verbrachten sie in der Oase. In der letzten Nacht vor der geplanten Weiterreise betrat Jadar das große Zelt seines Vaters. Er setzte sich zu ihm auf den Boden und fragte: "Erklärt mir, was für Euch ein guter König ist."
Khnemu schenkte zwei Becher Wasser ein und stellte sie in die Mitte. "Ein guter König muss teilen können, drum trinke, mein Sohn. Darbe mit mir für unser Volk!"
"Ihr trinkt Wasser, weil auch unsere Mahari das tun?" Nachdenklich betrachtete Jadar das faltige Gesicht seines Vaters. Noch nie war der junge Prinz ihm so nahe gewesen wie seit jenem Tag, als sie gemeinsam den ersten Schritt vor die Tore Bharyas taten.
"Ja, aber das ist nicht alles", antwortete Khnemu. "Was von dir als Heerführer erwartet wird, habe ich dir schon erklärt. Darüber hinaus ist die Aufgabe eines Regenten, das Sprachrohr seines Volkes zu sein. Verstehst du das?"
Jadar schüttelte zögernd den Kopf und nippte an seinem Wasser. "Nicht ganz, Vater."
„Du verstehst es nicht?“ Der König musterte seinen Sohn mit hochgezogenen Augenbrauen. „Es ist ganz einfach. Ein guter König muss immer ein Vorbild sein, für seine Krieger und jeden Bürger in seinem Reich. Das heißt auch, sich immer für sein Volk einzusetzen, gerecht zu sein, nicht zu schlemmen, wenn andere darben, zu teilen, wenn es dessen bedarf. Es bedeutet, für das Land seiner Ahnen zu sprechen, wenn es in Bedrängnis gerät, und auch dafür zu sterben."
***
Jadar blickte schüchtern zu Boden. „Ich verstehe. Aber macht Ihr Euch keine Sorgen um Bharya während Eurer Abwesenheit? Was wäre, wenn Feinde den Palast stürmen würden oder es in der Stadt einen Aufstand gibt?“
"Kennst du die Legende von König Zuberi?", fragte Khnemu, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und legte sich hin. Jadar setzte sich näher zu ihm und betrachtete sein Gesicht, als suche er darin die Antwort. "Ja, Vater, ich kenne sie. Aber ... Erklärt mir bitte, wie Ihr das seht." Er zog ein flackerndes Öllämpchen etwas näher zu ihnen heran und verschränkte seine Beine im Schneidersitz.
"Wie ich das sehe ...", murmelte Khnemu. "Nun, lieber Sohn, es spielt keine Rolle. Es spielt nur eine Rolle, was die Legende erzählt. Was die Menschen glauben oder auch, was sie glauben wollen. So, wie die Sitten der Völker überall auf der Welt die Aufgaben ihrer Anführer sehen, so werden sie liegen. Ein guter Führer wird den Aufgaben gerecht, ein schlechter nicht."
"Das klingt einfach, Vater. Zu einfach. Liegen die Aufgaben denn immer gleich?"
"Nicht immer. König Zuberi zum Beispiel wurde von der Vorsehung zum Sprachrohr der Götter bestimmt, um den Menschen beizubringen, wie man überlebt. Sein Geist wurde vom Gott der Schöpfung berührt, und er war heilig. Seine Heiligkeit wurde von König zu König weitergereicht, immer auf der Erblinie der Ahnen. Heiligtümer rühren Menschen nicht an. Tun sie es doch, begehen sie eine Sünde. Aus diesem Grund ist Bharya vor Angriffen sicher."
"Nun, wenn ich Euch richtig verstehe, seid auch ihr heilig und ein Sprachrohr der Götter. Erbe ich eines Tages den Thron, bin ich es auch. Verzeiht, Vater, doch diese Ansicht verstehe ich nicht. Und ich fürchte, sie ist gefährlich."
Jadar presste seine Lippen aufeinander und schüttelte sachte den Kopf, ehe er aufstand und sich artig vor Khnemu verneigte. "Ich muss über Eure Worte nachdenken", sprach der junge Prinz. Khnemu setzte sich auf. "Tu das, mein Sohn. Du hast noch viel Zeit, um zu wachsen und reifen. Und eines Tages wirst auch du es verstehen."
Der König streckte seinen Arm zu seinem stehenden Jungen hoch und berührte sachte seine Hand. "Schlafe einstweilen, uns steht noch eine lange Reise bevor."
***
Trotz der Mahnung seines Vaters saß Jadar noch lange vor seinem Zelteingang und starrte hinauf zu den Sternen. Viel ging ihm dabei durch den Kopf. "Ein König ist genau so viel wert wie ein anderer Mensch und nicht heilig", flüsterte er vor sich hin.
Als der Mond fast schon wieder hinter den Bergen verschwand, schlüpfte er hinein und legte sich schlafen. Am nächsten Morgen wurde er von Geschrei und unmenschlich klingenden Geräuschen geweckt. Er schreckte hoch.
Noch halb in Trance griff er nach Krummschwert und Schild, sprang im Lendenschurz vor das Zelt und erblickte voller Schrecken ein riesiges Ungetüm, das im Lager der Mahari wütete. Ungläubig riss er die Augen auf und wähnte sich in einem Alptraum. Unweit von ihm wurde soeben einer seiner Männer von den starken Scheren des Ungeheuers in der Mitte halbiert.
Die beiden Körperhälften des Opfers fielen in den Wüstensand und färbten ihn rot. Alles war so schnell gegangen, dass der Getötete nicht einmal mehr Zeit zum schreien gehabt hatte, doch damit war es noch nicht vorbei. Der nächste Mahari verlor seinen Kopf. Mit weit aufgerissenen Augen und geöffnetem Mund rollte er vor seine Füße. Spätestens jetzt begriff Jadar die Todesgefahr, in der auch er sich befand. Er übergab sich.
"Der König, der König ..." Ein entsetzter Ausruf eines Kriegers brachte ihn schließlich auf Trab. Das Untier befand sich nun genau vor ihm und versperrte Jadar den Weg.
***
Fünf Armlängen vor ihm klappten blutrot gefärbte Zangen auf und zu. Hinterlistig funkelten ihn große schwarze Knopfaugen an.
Das Sonnenlicht brach sich gleißend auf dem goldenen Panzer des Monsters. Dieser war gesprenkelt vom Blut seiner Opfer. Ein lautes Rasseln drang an Jadars Ohren und brachte ihn fast um den Verstand.
'Ein Scarabäus', schoss es ihm kurz durch den Kopf, doch dann siegte sein Überlebensinstinkt. Mit einem lauten Aufschrei und gezücktem Chepesch warf er sich dem hochaufgerichteten Unwesen entgegen und ritzte es am Bauch. Schwarzes Chitin drang aus der Wunde.
Mit einem schnellen Ausfallschritt sprang Jadar wieder zurück und verhedderte sich fast in den Schnüren von seinem Zelt. Der riesige Skorpion kappte in seiner Raserei eine uralte Palme, deren Stamm doppelt so dick war wie der Leib von einem Mann. Dem Prinzen brach der Schweiß aus, als er das sah.
Wie in Zeitlupe senkte sich der Körper des Untiers zu Boden und kam erneut auf ihn zu. Hinter dessen Kopf erblickte Jadar die Berge. Weitere zwei von den todesbringenden Wesen kamen von oben herab und würden sich binnen Minuten im Lager befinden. Der Prinz stieß einen Warnruf aus und suchte fieberhaft nach einem Fluchtweg.
***
Mittlerweile waren etliche Mahari aus ihrer Schockstarre erwacht. Zehn Männer gruppierten sich zu einem Kreis und versuchten, den Skorpion zu umzingeln.
Ein Offizier war Jadar zu Hilfe geeilt und schleuderte ihn genau im richtigen Moment zur Seite. Eine Sekunde, und der um sich schlagende Stachel des Riesenskorpions hätte den Jungen erwischt.
"Wir brauchen Seile", schrie Jadar und rappelte sich wieder auf. Er haute einem panischen Kamel hinter sich auf den Hintern. Entsetzt brüllend schaukelte es davon. In der Zwischenzeit hatten weitere zwei Untiere das Lager erreicht und wüteten hindurch wie ein Tornado. Leichenteile flogen durch die Luft, als würden die beiden jonglieren.
Der Ruf des Prinzen hatte weitere Mahari an seine Seite gebracht. Hurtig kletterten fünf Männer auf Palmen und warfen Seile von oben herab.
"Am Bauch ist es empfindlich", keuchte Jadar in Richtung seiner Helfer. "Das ist unsere einzige Chance." Die Mahari am Boden zogen den Kreis um das Tier enger. Es bäumte sich auf und schlug mit den Zangen um sich. Ein weiterer Mann fiel ihm zum Opfer. Entsetzt schrien sie auf. Im selben Moment sprang der Prinz gemeinsam mit fünf Offizieren auf das gefesselte Unwesen zu.
Drei Krummschwerter fuhren in dessen Bauch. Das Tier fiel zu Boden und gab noch immer nicht auf. Zehn Männer stemmten sich von einer Seite gegen den Skorpionpanzer und warfen es um.
Acht Beine zappelten hektisch durch die Luft. Das Wesen stieß einen lauten Schrei aus, wie ihn noch kein einziges Ohr jemals vernahm. Er klang wie ein Ruf direkt aus der Hölle.
***
Mit vereinten Kräften hatten sie schließlich das Untier besiegt. Den Krummschwertern der Mahari setzte es nichts mehr entgegen.
Dennoch war die Gefahr noch nicht gebannt. Von den goldenen Skorpionen gab es noch mehr. Einer von ihnen tobte durch die Oase und hielt sich dort schadlos. Die Wasserquelle füllte sich mit dem Blut der vielen Opfer. Tote Kamele und Ochsen lagen im Sand.
Proviantkarren standen verwaist am Wegesrand, die verstümmelten Leiber von Händlern daneben.
In den späten Mittagsstunden formierten sich die Speerwerfer im Gebirge und bekämpften die beiden anderen Ungeheuer von oben. Es war ein Glücksspiel.
Etliche der Männer am Boden waren nur noch bewaffnet mit ihrem Dolch, doch bald stellten sie fest, dass das ein Vorteil war. Sie retteten vielen Bedrohten das Leben. Prinz Jadar el Hadary stellte schließlich gemeinsam mit seinen Offizieren zwei Stoßtrupps von je zwanzig Männern auf und schickte sie bis hinauf in die Gipfel. Sie waren bewaffnet mit Krummschwert und Schild und ihrem Dolch. Ihre Mission war, die restlichen Skorpione zu suchen und sie zu vernichten. Ob sie jemals wieder kämen ...
Am Abend waren auch die anderen beiden Monster besiegt. Prinz Jadar el Hadary hatte keine Sekunde Zeit gehabt, um sich zu besinnen, doch nun vermisste er seinen Vater. Er hatte ihn noch kein einziges Mal im Verlauf dieses tragischen Tages erblickt. Voller Angst begab er sich noch vor Sonnenuntergang zu dessen Zelt und fand es leer.
Am ersten Tag nach der Abreise seines Vaters bereitete sich der jüngste Sprössling aus dem Hause Bharya auf seine neue Aufgabe vor. Der König hatte Prinz Narmar el Hadary während seiner Abwesenheit zu seinem Vize ernannt. Ihn beschäftigten ganz ähnliche Fragen wie Tage später auch seinen Bruder an einem anderen Ort: Wie man regiert. Ob gut oder schlecht, war ihm allerdings zu diesem Zeitpunkt ziemlich egal. Er hatte ein ganz anderes Problem.
Die Bürger aus Bharya hungerten und konnten die immer teurer werdenden Lebensmittel der Händler nicht mehr bezahlen. Kaum hatte der König die Stadt verlassen, ging der Mob auf die Straße und begab sich geschlossen vor den Palast. "Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch", sagte eine Dienerin zu ihrer Kollegin, als Narmar gerade seine Gemächer verließ.
Er hörte es und knurrte: "Ihr solltet vorsichtig sein mit dem, was Ihr sagt. Nun, wo mein Vater fort ist, bin ich hier die Katze!" Er strafte die Kammerzofe mit scharfem Blick.
***
Vor dem Palast hielt die Königliche Leibwache den pöbelnden Mob zurück. "Die Händler beuten uns aus, der König verlässt einfach das Haus. Ein Jüngelchen fein soll unser König nun sein!", spöttelten mehrere Stimmen gemeinsam zu den Bogenfenstern im dritten Stock des Palastes hoch.
Narmar öffnete das Fenster und beugte sich hinaus. "Das habe ich gehört! Ich werde eine Möglichkeit finden, um euch zu helfen, aber nun geht zurück in eure Häuser. Bei diesem Tumult kann ja niemand nachdenken!", rief er hinab und schloss das Fenster. 'Ich habe keine Ahnung, wie ich das lösen soll! Ich brauche Hilfe ...'
So keck, wie der Sprössling des Königs normalerweise war, so hilflos fühlte er sich in diesem Moment. Den Beraterstab seines Vaters zu Rate zu ziehen kam für ihn nicht in Frage. Nach längerem Überlegen fiel ihm die Bibliothek ein. Zielstrebig durcheilte er die Gänge, stieg die Treppe hinab und betrat den großen Raum der Königlichen Regimentsbücherei. Zum Glück war ihm niemand begegnet.
***
Wie vom Donner gerührt stand er in der doppelflügeligen Tür. Ein achteckiger, hoher Raum mit Kuppeldecke tat sich vor ihm auf.
Bisher hatte Narmar sich noch nie bemüßigt gesehen, sich mit mehr als der für seine Ausbildung zum Mahari notwendigen Literatur auseinanderzusetzen. Nun sah er sich überfordert.
Weit und breit war niemand zu sehen, der ihm helfen konnte. In den Gängen waren kostbarste Dokumente aus geschöpftem Büttenpapier und Pergamentrollen aus hauchdünn gegerbtem Ziegenleder in wandhohe Regale sortiert. Narmar stöberte stundenlang und suchte nach Geschichten über Hungersnot und Revolten, fand jedoch nur trockenen Stoff über Kriege, Diplomatie und Gefahren der Wüste. Plötzlich fiel ihm eine dicke Rolle Pergament in die Hand. Darauf stand: "Der goldene Skorpion".
Er wusste, er hätte weiter suchen sollen, doch die Aufschrift machte ihn neugierig. Auf einem Tisch rollte er die Pergamentrolle aus. Darin befand sich eine Kohleskizze und die stichwortartige Aufzeichnung einer Legende. Narmar bekam eine Gänsehaut von dem Kontext der Sage, worin es hieß, dass übergroße Skorpionwesen in der Wüste hausen würden, die jederzeit überall auftauchen könnten. Noch mehr schockierte ihn, als er las, dass die Ungeheuer unbesiegbar seien.
"Hoffentlich gibt es diese nicht wirklich", murmelte er vor sich hin. Er hatte keine Ahnung, weshalb er beunruhigt war, schließlich handelte es sich ja nur um eine Sage.
'Legenden sind Märchen', sagte er sich. Trotzdem dachte er plötzlich an seinen Vater und machte sich Sorgen. Der pöbelnde Mob im Hof des Palastes war fast vergessen.
***
"Narmar?", rief eine männliche Stimme. Es klopfte laut an der Tür, und kurz darauf wurde sie aufgerissen. Der Prinz schrak aus seinen Gedanken auf und blickte hinter dem Regal hervor.
Sein Oheim und Ausbilder Gahiji betrat den Raum. "Da bist du ja. Hast du nichts Besseres zu tun als zu lesen? Hast du die Leute draußen nicht bemerkt?"
"Oh Onkel, gut das Ihr kommt. Ich habe schon mit dem Pöbel gesprochen, sind sie noch immer nicht fort?"
Gahiji zog eine ernste Miene. "Weg? Nein, dass sind sie nicht. Sie wollen eine Lösung haben, denn sie haben Hunger. Und du sitzt hier rum und liest irgendwelche alten Bücher! Beweg dich, Junge!"
Der junge Prinz grinste. "Ich habe auch schon eine Idee." Kaum ausgesprochen, schoss er aus dem Raum, trappelte die Treppen hinunter in die Höfische Küche und klatschte laut in die Hände. "Dienerschaft! Treibt alles zu essen und trinken auf, was die Speisekammer des Königs hergeben kann. Und dann brauche ich jede Menge Mägde, die mir ab sofort zur Verfügung stehen."
Die in der Küche versammelten Bediensteten zögerten einen Augenblick, bevor sie sich in Bewegung setzten und die Befehle des Jungen Herrn ausführten. Sie brachten alles, was sie finden konnten, in die Küche, ob roh oder servierfertig. Widerwillig verteilten sie es auf mehreren großen Arbeitstischen.
Fünf Küchenmägde traten an Narmar heran. Von oben herab sah er sie an. "Fünf alte Frauen? Mehr habt Ihr mir nicht zu bieten? Ich brauche noch ein paar mehr, und die sollten stark sein. Und dann brauche ich genauso viel Körbe wie Dienerinnen.
Eine der Küchenfrauen verzog das Gesicht. "Junger Herr, so alt sind wir nicht. Ihr seid einfach nur zu jung." Die Magd wandte sich ab und verließ den Raum.
Ein Diener trat an und fragte: "Was habt ihr denn vor? Wenn das rohe Fleisch hier zu lange liegt, dann wird es verderben, Herr."
"Selbstredend solltet Ihr das rohe Fleisch kochen", antwortete Narmar belehrend. "Schürt die Feuer, setzt Wasser auf, tut, was auch immer man tun muss, um etwas zu essen zu machen."
Der ältere Mann verneigte sich kurz vor Narmar und lupfte seine runde Mütze an. "Sehr wohl, Herr." Er begab sich zur Kochstelle und entzündete gemeinsam mit ein paar anderen Knechten die Kochfeuer. Gemeinsam legten sie die riesigen Fleischbrocken zurecht und steckten diese auf Spieße, um sie zu grillen. Zudem sotten sie buntes Gemüse.
Mehrere Mägde betraten den großen Küchenraum und brachten Körbe. Sie stellten sich zu den anderen Dienerinnen und warteten auf ihren Auftrag.
"Ihr alle, die Ihr nun da seid", befahl der Prinz den Frauen. "Schnappt Eure Körbe und füllt sie mit all diesen Speisen und Getränken, die Ihr gebracht habt. Danach geht hinab in den Hof und versorgt die Menge."
Die Frauen tauschten missmutige Blicke aus. Wortlos begaben sie sich ans Werk und füllten die Körbe mit den bereits fertigen Speisen und Fladenbroten. Eine der älteren trippelte an ihm vorbei. "Das wird aber keine Lösung auf Dauer sein, Herr."
'Sie nehmen mich nicht für voll', dachte Narmar verletzt, versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen. "Spart Euch Eure Klugscheißerei", fuhr er die Magd stattdessen an. "Was fällt Euch ein?"
Die junge Frau zuckte kurz mit den Achseln. "Nun ... wenn wir alle Lebensmittel vom Königlichen Hof draußen verteilen, was wollt Ihr und Euer Personal dann essen?"
***
"Für uns wird schon trotzdem noch genügend zu essen da sein", grollte eine tiefe Stimme hinter Narmars Schulter. Der junge Prinz drehte sich um und wusste nicht, ob er erleichtert oder verärgert sein sollte. "Oheim, danke für Euren Beistand", sprach er höflich. Anschließend wandte er sich an die junge Magd. "Wenn Ihr nun nicht sofort einen Korb nehmt und tut, was ich Euch sage, landet Ihr in unserem Kerker wegen Palastrebellion."
Die Dienerin senkte den Kopf und verbeugte sich vor den beiden. Sie nahm sich einen Korb und half den Anderen, die Lebensmittel nach draußen zu bringen. "Dennoch ist es nur eine vorübergehende Lösung, Narmar. Du musst dir Gedanken um einen anderen Weg machen", gemahnte Gahiji ihn leise und führte den widerstrebenden Jungen aus der Küche hinaus. "Ich werde ein paar Herolde in die Adelsviertel schicken. Die dürfen ruhig auch ein bisschen bluten und etwas locker machen", antwortete der Prinz in trotzigem Ton.
Gahiji hob eine Augenbraue an und legte Narmar eine Hand auf die Schulter. "Dann ziehst du auch noch deren Schmach auf dich. Wie wäre es denn, wenn du mit den Händlern reden würdest? Es muss ja einen Grund dafür geben, dass sie ihre Preise immer weiter erhöhen."
"Ich ganz allein? Aber Onkel, wie sieht denn das aus, wenn ein Angehöriger des Königshauses sich auf die Straße begibt, um mit den Händlern zu reden?", fragte Narmar entsetzt. "Wofür haben wir unseren Senat?"
"Ein König sollte seinem Volk nah sein und sich um deren Belange kümmern, aber wenn du lieber den Senat da rausschicken willst ... Außerdem würdest du natürlich mit Wachen vors Volk treten." Gahiji kratzte sich kurz am Kinn. "Ich kann dir nur sagen, dass dein Vater sicher hinaus zu den Händlern gegangen wäre."
"Je nun, lasst mich überlegen. Dort draußen schreien sie sich die Seele aus dem Leib und wollen etwas zu essen. Und gehe ich raus, dann essen sie mich."
Logischerweise hatte Narmar das nun nicht gerade ernst gemeint, doch sein Onkel sah ihn entgeistert an. Gahiji verstand offenbar nicht sehr viel Spaß, doch das war dem Jungen bekannt. "Ihr werft mich den Wölfen zum Fraß vor", hieb er erneut in die Bresche und verkniff sich ein Lachen.
"Wofür denkst du habe ich dich jahrelang trainiert!? Damit du rumjammerst wie ein Neugeborenes?! Jeder gute König hat diese Dinge selbst erledigt! Und weißt du warum? Damit sein Volk wusste, dass er sich für es einsetzt! Nun kommst du mir so ... PAH!", schrie er Narmar an.
Der Prinz erstarrte erschrocken, als hätte der Blitz ihn getroffen. Er war die Strenge seines Ausbilders gewohnt, doch angeschrien hatte er ihn noch nie. Das würde nicht einmal sein Vater wagen. Er überlegte, wie er nun damit umgehen solle und schwankte zwischen Wut und dem Wunsch, vor Gahiji zu fliehen.
Der Ausbilder blickte in Narmars Gesicht und bemerkte dessen Verwirrung. Er seufzte auf und fuhr in milderem Ton fort: "Ich bin nicht dein Vater, doch er wüsste, was er nun mit dir tun würde. Ich rate dir einfach, meinen Rat anzunehmen, wenn du irgendwann vielleicht einmal regieren willst." Er wandte sich ab und ließ ihn allein.
***
Nachdenklich trat der blutjunge Vizekönig an ein Fenster und sah hinaus. Mittlerweile hatten die Küchendiener mit der Verteilung der Lebensmittel begonnen und bewegten sich mit ihren Körben gewandt durch die Menge.
Aus der Küche roch es nach gebratenem Fleisch. Er würde im Thronsaal Tafeln aufstellen lassen und das Volk in den Palast einladen, nahm er sich vor.
Das Geschrei der Menge wurde lauter. Eine Küchenmagd stürzte und fiel schreiend zu Boden. Der Pöbel fiel über sie her und riss ihr ihren Korb aus der Hand. Fladenbrote und Obst rollten in den Sand. Mehrere Männer stürzten sich auch auf die anderen Mägde, die mit weiteren Lebensmitteln noch am Rande des Menschenknäuels am Boden standen. Zwei Frauen flüchteten sich in den Palasteingang. Eine ältere Magd in einer bunten Tadya fiel einer Horde keifender Weiber zum Opfer.
"Lasst mich in Ruhe! Hilfe!", schrie sie und wehrte sich mit Händen und Füßen. Die Frauen zerkratzten ihr geifernd das Gesicht und zerrissen ihre blutige Kleidung. Schreiend schlug die Dienerin um sich. "Meine Augen, meine Augen ..."
***
"Wache!", schrie Narmar von oben herab. "Schafft Ruhe im Hof!" Mehrere Mahari warfen sich zwischen die vereinzelten Kämpfe und schlugen mit ihren Schilden um sich, um den Mob zu zerteilen.
"Auseinander, Ihr Tiere!", schrie der Wachkommandant und befahl seinen Kriegern, ja kein Blut zu vergießen. Er selbst prügelte sich noch mit drei Männern. Ein Fausthieb streckte ihn zu Boden. Füße traten ihm die Seite.
"Die Hitze hat Euch wohl allen die Gehirne verbrannt!", schrie Narmar von oben, wandte sich vom Fenster ab und rannte die Treppen hinab. In der Waffenkammer in der unteren Etage rüstete er sich mit Krummschwert und Schild, rannte hinaus in den Hof und mischte sich unter die Menge. Der junge Prinz landete mit seinem Chepesch einige Treffer. Zwei Männer fielen blutend und schreiend zu Boden. Er kämpfte sich vor bis zur Mitte des riesigen Menschenknäuels im Hundert. Dort ging er zu Boden.
Der Pöbel kannte mittlerweile nicht Freund und nicht Feind und schlug blindlings um sich. Wehgeschrei und Flüche waren bis zum Marktplatz von Bharya zu hören, wo die Händler warteten, um ihre Waren feilbieten zu können. An diesem Tag indessen sollten sie warten, bis sie schwarz dabei wurden. Kaum jemand aus der Stadt verirrte sich an deren Stände und ärgerte sich mit den überteuerten Waren herum. Im Hof des Palastes hingegen kochte die Wut über die Händler, die von weither gekommen waren, um mit den Bürgern zu handeln.
Die Menge war kaum zu beruhigen. "Das Volk hungert!", schrien mehrere Stimmen. "Wo ist unser König, dem bisher immer eine Lösung einfiel?", rief eine Frau.
Prinz Narmar el Hadary lag inmitten tobender Meute bewusstlos am Boden und blutete aus mehreren Wunden. Die Tritte, die ihn von allen Seiten trafen, spürte er nicht.
***
Die Magische Zeitfalle
Die Legende erzählt: Wann immer ein Reisender die Tore Bharyas verlässt und durch eines der vier Magischen Portale die Wüste betritt, verliert er die Zeit. So kann es passieren, dass sich der Eine oder Andere zwischen den Goldenen Dünen verirrt und die nächste Stadt nicht mehr erreicht. Der Eine oder Andere ritt schon unter der Ewigen Sonne der Wüste Medin und hatte den Sonnenuntergang niemals erblickt.
Aus einem Tag werden oft zwei oder aus einer Minute eine Stunde. Selbst Jahre können verloren gehen, weil die Zeit im Lande Medina oft ewig ist. Doch manchmal vergeht sie auch schnell, Auge in Auge mit dem Tod oder dem Feind oder den Monstern der Berge.
Die vier Magischen Portale sind runde Bögen aus rotem Gestein. Es hieß, die Götter selbst hätten einen Fluch darüber gelegt, um zu verhindern, dass die Geschöpfe Athyrias nach der Ewigkeit streben.
Vier Portale gibt es vor den Toren der Stadt: Je eines im Osten und Süden, eines im Westen und eines im Norden. Wer den Fluch kennt und auf dem selben Weg zurückkehrt, auf dem er Bharya verließ, der wird davon befreit.
***
Dunkle Tage lagen über der Residenzstadt. Prinz Narmar el Hadary lag verletzt in den Kammern der Alma Shiferi und erlangte sein Bewusstsein nicht wieder zurück. Sethos und Gahiji waren vollauf damit beschäftigt, mit den verbliebenen fünf Einheiten Mahari die Rebellion gegen die Händler niederzuschlagen, die sich mittlerweile bis in die Adelsviertel erstreckte.
Zwei Karawanen, die Bharya erreichten, würden die Stadt nie mehr verlassen. Auf den kunstvoll erbauten Türmchen des Palastes mit goldenen Kuppeln wehte schon lange keine Standarte mehr. Mittlerweile wusste es jeder: Der König war außer Haus, der junge Vizekönig verletzt und die Stadt führungslos. Die Daheimgebliebenen warteten verzweifelt auf Nachricht aus Themera, wie es der König vor seiner Abreise schwor. Khnemu hatte Sethos strengstens untersagt, die Stadt zu verlassen und befahl ihm, Bharya zu halten, während er mit Jadar auf Kriegszug war. Dass ein interner Einsatz der Königlichen Streitmacht notwendig sein würde, hätte jedoch niemand gedacht.
Am zweiten Tag der Rebellion hing der Himmel voll mit bleischweren Wolken, doch die Hitze wollte nicht weichen. Die wenigen Bauern, die im Hinterland Bharyas einige einst fruchtbare Reisfelder hatten, warteten sehnlichst auf Regen und beteten täglich. Doch von dem Elend am Rande der Stadt merkten die Bharyaner nichts, sie lebten wie unter einer Glocke aus Glas. Ein jeder dachte, der König hätte für alles gesorgt, so dass niemand Hunger litt.
Wie dramatisch ihr Irrtum war, bekamen schließlich die Händler und der Adel zu spüren. Was im Palasthof begann, zog sich bald über die ganze Stadt. Ströme von Blut weichten den Sand, und die Dienerschaft im Palast hätte den Stellvertreter des Königs am Liebsten gelyncht.
***
Am achten Tag wurden die Gebete der Bauern erhört. Die Welt verdunkelte sich, als hätte ein übermächtiger Gott die Sonne für immer ausgeknipst.
Das Kampfgetümmel auf dem Marktplatz hörte schlagartig auf, und es wurde still. Nicht einmal mehr die Schreie der Verletzten waren zu hören, kein Rascheln von Kleidern, kein Waffengeklirr.
Fast hätte man denken können, dass niemand mehr wagte, zu atmen. Die Stille war beinahe greifbar. Niemand mehr konnte den Anderen sehen, jegliches Licht war versiegt. ... Und plötzlich stürzte der Himmel ein!
In den Räumen der Heiler schlug Narmar genau in dem Moment die Augen auf, als ein ohrenbetäubender Donner auch das kleinste Piep einer Maus noch verschlang. Das Echo wurde vom Jabal Amul zurückgeworfen und hallte bis weit hinaus über die Grenzen Bharyas.
Verwirrt und mit einem Anflug von Ehrfurcht starrte er in die Dunkelheit. Er spürte wohl die Anwesenheit von einer Person, denn eine zarte Hand lag auf seinem Arm. Der Prinz hielt den Atem an und versuchte, zu verstehen, wo er sich befand. Schließlich erinnerte er sich an den Kampf im Hof vom Palast. 'Wo bin ich?', fragte er sich. 'Bin ich gestorben und bin nun in der Gewalt einer Göttin?'
Dann kam der Regen und rauschte laut über die Stadt. Narmar hingegen vermeinte, die Schwingen von Aeria zu hören. Die Göttin der Lüfte trug seinen Geist durch die Welt.
***
Eine mysteriöse Kraft zog ihn aus seinem Körper. Weit unter sich sah Narmar seinen geschwächten Leib, erfühlte jede einzelne Auszehrung in seinem Gesicht und konnte erkennen, dass jemand neben ihm lag. Er wunderte sich über das bläuliche Licht, das den Raum unter seiner schwebenden Seele erhellte.
Zugleich genoss er die Freiheit. Er stellte sich vor, ein übergroßer Falke zu sein, durchstieß die geschlossene Kammertür und flog durch die Räume der Alma Shiferi. Entsetzt sah er die vielen Verletzten.
Die Stille um sich herum machte ihm Angst. Alles, was er vernahm, war das Rauschen des strömenden Regens, der von allen Seiten gegen die Wände des Gebäudes der Heiler schlug wie unzählige winzige Hämmer.
Narmar wandte sich um und kehrte in seine Kammer zurück. Dort schrak er zusammen, als er sie erkannte!
***
Nefertari hatte bereits am dritten Tag die Abwesenheit des Königs genutzt und flanierte hofrecht durch den Palast. Jeder Versuch von Sethos, sie zurück ins Haremsgebäude zu schicken, war an ihrem Starrsinn gescheitert, und sich an der Hauptfrau des Königs zu vergreifen, hatte niemand gewagt. Also ließ man sie gewähren und hoffte das Beste, dass auf den Aufstand der Armen nun nicht auch noch eine Rebellion der Haremsdamen erfolgte.
Täglich hielt sie Wache an Narmars Krankenlager, doch von stiefmütterlichen Gefühlen war sie weit entfernt. Sie hatte Gefallen an ihm gefunden und verschlang ihn bei ihren Besuchen regelrecht mit ihren Augen.
Der Prinz hatte die Kammer für sich allein, und bis auf die täglichen Visiten seiner Alma wurde er nicht gestört. Ansonsten bekam Narmar bis zu seinem Erwachen am Tag des Großen Regens nichts mit.
Beim Anblick der sündhaft leicht bekleideten Frau, die sich - offenbar schlafend oder gar tot - an seinen mit Seide bedeckten Leib schmiegte, befiel eine schemenhafte Erinnerung seine noch schwebende Seele und brachte ihn aus der Fassung.
'Sie ist die Frau meines Vaters!' Mit mehreren entrüsteten Falkenschreien stieg Narmar nach oben, stob zu einem der runden Fenster hinaus und fühlte den strömenden Regen auf seinen Schwingen.
Seine bläulich leuchtende Aura begleitete ihn und zeigte ihm den Weg durch die Nacht. 'Weltuntergang', schoss ihm durch den Kopf.
Er verwandelte sich in eine Eule und ließ sich fallen. In spiralenförmigen Kreisen sank er bis knapp über den Boden, verharrte im Standflug und schaute sich um. Entsetzt erblickte er verstümmelte Leichen am Wegesrand. 'Was ist geschehen?', fragte er sich.
Im Segelflug wandte er sich zum Marktplatz und erblickte erstaunt steinstarre Menschen, die in den Himmel sahen. Sie standen da, und es sah aus, als wären sie mitten im Kampf erstarrt. 'Es muss eine Strafe der Götter sein', stellte er fest. Narmar setzte sich auf die Schulter von einer Frau und stieß ein lautes Gurren aus. Roboterhaft wandte sie ihren Kopf und sah ihn an. 'Hinfort, wir sind verflucht', flüsterte sie.
Er versuchte, zu schreien, sie sollten sich retten, bevor die Stadt unterging, doch alles, was seinen gelben Krummschnabel verließ, war ein gutturales 'Schuhu'. Als Narmar bemerkte, dass er nichts ausrichten konnte, spreizte er seine Flügel und flog voller Trauer wieder davon.
***
Der Große Regen hatte nun auch Bharya erreicht und beendete die Kämpfe zwischen Arm und Reich. Die Bauern im Umland der Stadt tanzten jubelnd auf ihren Feldern. Bald würden sie wieder fruchtbar sein. Das Ausmaß einer Sintflut nach Jahren der Dürre nahm jedoch wesentlich größere Dimensionen an als erhofft.
Der Fluss Haya schwoll an und brachte bis weit hinter die Stadtmauern hinaus noch mehr Tod mit sich. Jeder war nur noch darauf bedacht, sein eigenes Leben zu retten, und die Menschen in den Niederungen flüchteten sich in die Berge. Vieh ging zugrunde. Die Adelsviertel gingen mit ihren Sandsteingebäuden sprichwörtlich baden.
Sethos und Gahija hatten alle Hände voll damit zu tun, mit der Streitmacht Bharyas gemeinsam die Leben von denen zu retten, die überrascht worden waren. Das waren vor Allem die Rebellischen, die zu beschäftigt gewesen waren, um die Gefahr zu bemerken.
Binnen eines Tages hatte die gesamte Stadt unter Wasser gestanden. Mit Flößen aus Palmstämmen wurden noch mehr Verletzte zwischen mehreren Heilsgebäuden aufgeteilt. So wie alle anderen war auch das, in dem Narmar rekonvaleszendierte, komplett überfüllt.
In des Prinzen Genesungsraum hatte sich bis zum ersten Tag des Großen Regens ein kleiner Skandal abgespielt, der nicht nur die fünf dort beschäftigten Heiler in Atem hielt.
***
Es war die Hauptfrau des Königs, die dafür gesorgt hatte, dass die Gerüchteküche zu brodeln begann. Zuerst schien Nefertaris Interesse an dem im Koma liegenden Prinzen nur voller Besorgnis zu sein, doch bald steigerte es sich offensichtlich zu obskurer Begierde. Unglücklicherweise wagte es niemand, sie des Raums zu verweisen.
Am Tag seines Erwachens fand Narmar nur schwer wieder in seinen Körper zurück. Während seiner Transformation hatte er so viel Elend gesehen, dass er am Liebsten in der Welt, in die er Einblick erhalten hatte, geblieben wäre. Die Entrüstung über seine erste Entdeckung zog ihn jedoch wieder zurück, und vielleicht auch die Neugier. Er hatte noch nie die Wärme eines Frauenleibs an seinem Körper gespürt.
Bei seiner Rückkehr siegte jedoch die Empörung. Mit flatternden Wimpern schlug er seine Augen auf, atmete schneller und verschluckte sich vor Schock beinahe an seiner eigenen Zunge.
Nefertari schmiegte sich mit geschlossenen Lidern enger an ihn. "Du bist ja wach." Sie dehnte sich, öffnete ihre Augen und lächelte ihn strahlend an. Ihre Hand schlich sich unter die Decke und war im Begriff, ihren Weg in äußerst verbotene Regionen des knabenhaften Körpers zu finden ...
Entgeistert drückte sich Narmar gegen die Wand und versuchte, sich ihr zu entwinden. "Was machst ... Was machst du hier?", stammelte er mit rotem Kopf. "Du bist die Frau meines Vaters."
Plötzlich packte ihn Zorn. Heftig stieß der Prinz sie mit beiden Armen von sich. "Raus aus meinem Bett!", schrie der Junge erbost. "Wache, entfernt diese ... Frau!"
Statt der erwarteten Wache betrat die Heilerin Chavi den Raum. Sie war die oberste Alma. "Was ist hier los?" Sie warf einen empörten Blick zu der Hauptfrau des Königs. "Ihr seid ja immer noch da!" An Narmar gewandt: "Ihr weilt wieder unter den Le..."
"Was hier los ist?", fiel er ihr ins Wort. "Diese ... " Verächtlich spuckte er aus und fuhr aufgeregt fort: "Diese da ist die Frau meines Vaters und ich möchte, dass sie sofort von hier verschwindet."
Nefertari räkelte sich katzenhaft. "Aber ... aber, wer wird denn hier spröde sein?" Ihre Augen schossen einen provokativen Blick zu der alten Heilerin.
Bestimmt trat diese an Narmars Bettstatt heran: "Ihr habt den Prinzen gehört, nun geht!"
"Ihr erteilt mir hier keine Befehle!", zischte Nefertari. "Ein Wort von mir ..."
"Ruhe!", mischte Narmar sich ein. "Raus hier, du Königshure!", befahl er mit fester Stimme und stieß sie voller Nachdruck gegen die Brust. Sie fiel zu Boden. Ungeachtet seiner Nacktheit sprang er aus dem Bett und trat nach ihr. "Wagt Euch nicht noch einmal in meine Nähe. Ihr würdet es bitter bereuen!"
Chavi griff nach Nefertaris Arm, packte mit aller Kraft zu und zog sie hoch. "Verschwindet. Sonst holen wir die Wache und machen Meldung beim König, wenn er zurückkehrt." Die Heilerin sah zu dem Jungen hin. "Prinz Narmar, verzeiht, doch zieht Euch was an."
Er blickte an sich herunter, errötete und nahm seine schwarze Sunna von einem Stuhl. Hastig schlüpfte er hinein. Als ihm die Situation bewusst wurde, lachte er schelmisch: "Ihr habt mich bei allen Göttern schon als Baby gewickelt, da werdet Ihr schon nicht erblinden."
"Ich vielleicht nicht", erwiderte Chavi, "aber die Dame vielleicht." Sie warf einen Blick zu der sich heftig wehrenden Frau. Unerbittlich hielt sie Nefertaris Arm umklammert. Gemeinsam führten sie die Hauptfrau des Königs hinaus.
***
Knapp zwei Wochen nach Abreise des Königs ließ der Regen nach. Beim höchsten Sonnenstand zogen die letzten dunklen Wolken gen Norden und verschwanden dort aus dem Blickfeld. Einige weitere Tage zogen ins Land, bis das Wasser vollständig verdunstet war. Das ganze Ausmaß der Sintflut wurde nun sichtbar.
Die Bauern hatten sich so vieles erhofft für die nächste Ernte, doch bald war die Sonne so heiß wie zuvor und brannte riesige Löcher in ihre Felder. Zwischen dem Fluss Haya und dem Wüstenrand hingegen blühte das Land in den buntesten Farben. Orchideen wuchsen zwischen Fahrrinnen von Ochsenkarren.
Zwischen Stadt und Schutzwall von Bharya bildeten sich Treibsandfallen an den unmöglichsten Stellen und verschlangen alles mögliche blökende Kleinvieh, das dumm genug war, sich ihnen zu nähern. Die Bharyaner in den niederen Lagen standen kniehoch im Schlamm. Doch stieg man auf einen Berg, glänzten die Dünen hinter den Vier Portalen rotgolden unter der abendlichen Sonne. Die Wüste bot dem Auge volles Kontrastprogramm.
Die Geflüchteten kehrten aus den Bergen zurück, besiedelten die Residenzstadt erneut und blickten gen Süden. Nahezu jeder war gespannt auf Ankunft des Königs, von dem sie nichts wussten außer dass er und sein Sohn sich nach Themera aufgemacht hatten. Doch Nachricht aus der Ferne blieb aus.
Nach den Aufständen traute sich kaum ein Händler mehr in die Stadt. Aus Angst vor Armut und Hunger war die Stimmung zwischen den Bürgern von Bharya noch immer gedrückt. Es war wie ein Schwelbrand. Der kleinste Funken würde genügen, und die Folgen waren nicht abzusehen.
***
Narmar war mittlerweile genesen und befand sich wieder im Königshaus. Auch ihm war die Not Bharyas nicht verborgen geblieben.
Noch weniger ließ sie ihn kalt. Einmal mehr verfluchte er seine Unerfahrenheit und sein junges Alter.
Viele Stunden verbrachte er in der Bibliothek und studierte alle möglichen Dokumente, von denen er dachte, dass sie ihm bei Lösungsfindungen helfen könnten.
In den Nächten lag er oft bis in die frühen Morgenstunden mit verschränkten Armen auf seinem Bett, starrte gegen die Decke und grübelte, wie er das Unheil von Bharya abwenden konnte. Seinen Oheim zurate zu ziehen, kam ihm nicht in den Sinn.
Er schien um Jahrzehnte gereift. Winzigste Fältchen bildeten sich in seinem Gesicht und spotteten seines Jungmannes Alter von sechzehn Jahren. Und dennoch war er noch ein Kind mit dem Wunsch, endlich erwachsen zu sein. Dergestalt war auch das Befinden des jungen Prinzen: Eines Tages, zwei Wochen nach Ende des Großen Regens. Es waren die frühen Vormittagsstunden, als er sich einmal mehr in sein Gemach zurückgezogen hatte. Ein Gedankenkarussell kreiselte in seinem Kopf und brachte ihn fast um den Verstand.
"Ich weiß nicht mehr was ich tun soll ...", murmelte er leise im Selbstgespräch. "Die Stadt versinkt im Chaos, die Menschen hungern, und sogar im Palast ist fast alles aufgebraucht."
Das erste Mal kam ihm der Gedanke, dass er vor dem Großen Regen eventuell doch zu unüberlegt gehandelt hatte, als er die Speisekammern leeren ließ, um die Lebensmittel unter dem Volk zu verteilen. Immerhin hatte er deshalb genügend Ärger gehabt und wurde an jenem Tag sogar von dem undankbaren Pöbel verletzt.
Er trat an einen großen Tisch aus Zedernholz aus und rollte eine Karte aus. Mit einem Finger zog er die vermutete Reiseroute seines Vaters nach und wünschte sich, er wäre hier. Zwei lautstark streitende Stimmen vor seinem Fenster lenkten ihn von seinen Problemen ab.
„Verdammt nochmal! Du kannst doch nicht einfach abhauen!“, rief eine männliche Stimme.
Narmar trat ans Fenster, blickte hinab in den Hof und sah, wie sich ein Paar bitterlich stritt. Der Mann hielt die Frau am Arm. Sie schrie ihn an. "Wenn wir hierbleiben, verhungern wir."
„Was ist da unten los?“, rief Narmar hinab. Beide Personen blickten zu im nach oben. „Die Magd möchte gehen, da sie denkt, dass sie hier verhungern wird, Herr“, erklärte der Diener.
Der junge Prinz seufzte laut. Da war er wieder bei seinem Problem. Er blendete das Dienerpaar im Hof unten aus, stützte beide Arme auf die Fensterbank und starrte in Richtung Wüste. Ein einzelner Ohrengeier flog laut kreischend über seinem Kopf hinweg. `Tod!', schoss es ihm durch den Kopf. 'Noch mehr Tod!' Ein Schaudern durchlief ihn. Die Frau im Hof unten schrie wütend auf. Der Mann murmelte beschwichtigend auf sie ein ...
Der Prinz sah noch einmal auf. Sein Atem stockte. Mit weit aufgerissenen Augen hob er die Hand und zeigte in Richtung Süden. Eine Karawane!“, schrie er laut.
Er vergaß alles um sich herum, verließ sein Gemach und rannte aufgeregt durch den Palast. Hektisch überrannte er einen jungen Diener. Dieser knallte die Treppe hinab, verfluchte ihn, rappelte sich wieder auf und humpelte schimpfend davon.
Narmar jedoch war in diesem Moment in einer anderen Welt und nahm nichts mehr um sich herum wahr. Seine Füße trugen ihn aus dem Palast, durch die Stadt bis weit hinaus vor die Tore. Der junge Prinz war wie beflügelt.
***
Auch in der Stadt selbst hatte man die Karawane bereits erblickt. Ein kleiner Junge hatte in der Nähe der Magischen Portale gespielt, von denen es hieß, dass sie Reisenden die Zeit stahlen, wenn sie diese durchquerten. Der Kamelzug war riesig, und es waren noch etliche Ochsenkarren dabei. Gemächlich schaukelten die prächtig geschmückten Höckertiere auf Bharya zu. Ab und an hieb ihnen ein Treiber mit einer Gerte sanft auf den Hintern. Die Reiter waren in die bunten Tadyas der Händler gewandet und machten ernste Gesichter, die Räder der Ochsenkarren rumpelten dumpf durch den mittlerweile fast getrockneten Schlamm, der das Umland der Stadt noch immer umgab.
Mit einem Jubelschrei auf den Lippen und einem schmutzigen Zeigefinger deutete der Knabe in die nahe Ferne, drehte sich um und flitzte in Richtung Stadt. "Eine Karawane ... eine Karawane", schrie er, lief weiter und wiederholte es so oft, bis er dachte, dass jeder es wüsste.
***
Die frohe Kunde machte die Runde. Die Ankündigung der ersten Karawane seit einem Monat war wie ein Silberstreif am Horizont. In den Gebäuden der Stadt kramten die Bürger all ihr verbliebenes Hab und Gut zusammen und eilten zum Marktplatz, um die Händler dort zu erwarten und mit ihnen zu handeln.
Die Währung Bharyas war Tausch, nur die Reichsten der Stadt konnten mit Münzen bezahlen. Manch ein Familienvater schnitt seinen Töchtern die langen Zöpfe ab, um sie für dringend benötigte Lebensmittel zu verkaufen. Magere Ziegen wurden zusammengetrieben und zum Marktplatz gebracht. Das eine oder andere Familienerbstück in Form von Schmuck landete in den Taschen von Müttern, um es zu versetzen.
Die Straßen Bharyas füllten sich mit Jubel und der Hoffnung der Menschen. Auch Narmar trug Hoffnung im Herzen und all seine Wünsche, dass die Ankunft der Karawane die Not Bharyas beenden würde. Mit flatternden Gewändern eilte er durch die Stadt, kämpfte sich durch die wuselnde Menge und rannte mit glücklich leuchtendem Antlitz den Händlern entgegen. Zur Mittagsstunde war er außer Atem bei ihnen angelangt.
Gemessenen Schrittes trat der Anführer der Reisenden auf Narmar zu: "Ihr tragt die Gewänder des Königshauses. Seid ihr Prinz Narmar?"
Dieser bejahte die Frage und ließ seinen Blick die hintereinander aufgereihten Tiere entlang schweifen. "Was habt Ihr uns mitgebracht?", schob er hinterher. Beim ersten Ochsenkarren rasteten seine Augen ein und weiteten sich entsetzt. "Was ...", stieß er hervor und stockte.
Der Mann nahm ihn am Arm und führte ihn die Karawane entlang. "Wenn Ihr der Prinz seid, fürchte ich, müssen wir uns unterhalten." Die Stimme des Händlers klang ernst und so, als hätte er sehr schlechte Ware dabei.
***
Wie gebannt hing Narmars Blick an der schlaff herab hängenden Hand. Sie trug den königlichen Siegelring. Für einen Moment sackten seine Knie unter ihm zusammen. Der Anführer der Karawane stützte ihn.
Voller Schmerz glitt sein Blick über den aufgeworfenen Haufen von weißer Gaze, der einen ruhenden Körper vollständig verbarg.
Bis auf diese schmale, faltige, baumelnde ... Hand, an der er ihn erkannte. 'Mein Vater ...'
Diskret trat der Händler zurück und gab der Karawane Anweisung für einen Halt. "Ich lasse Euch für einen Moment mit ihm allein."
"Es ist so absurd!", keuchte Narmar. "Er zog glorreich aus mit meinem Bruder, und ..." Er schluchzte auf. "Mit einem Ochsenkarren kehrt er wieder zurück." Er warf sich über den Stoff und vergrub sein Gesicht darin. "Dafür wird er mir büßen müssen", schrie er. "Ich habe meinen Vater geliebt!"
***
Die heiße Sonne Bharyas stand hoch am Zenith, als sich die zarte Blüte aufkeimender Hoffnung in die stachlige Distel der Trauer verwandelte. Wieder war der kleine Junge derjenige, der alles sah. Und wieder würde er seine Mission des Schicksals erfüllen und fungierte als Herold.
In noch näherer Ferne hatten sich die Ochsenkarren an die Spitze gesetzt. Ein dunkel gekleideter Mann schritt ihnen voran, das Antlitz gezeichnet von Schmerz.
Der Mann war sehr jung - und dennoch sehr alt! Es war das Knabengesicht des jüngsten Prinzen, kaum älter als der Bote, der der Schreckenskunde vorauseilen würde.
Ravic rannte der Karawane entgegen, schaute entsetzt in Narmars Gesicht und erkannte ihn doch. Sein Blick glitt ab zu dem Siegelring, der allein dem Königshaus Bharya gehörte. Seine Gedanken rasten blitzschnell.
Der kleine Herold zog seine Schlüsse, drehte sich wortlos auf seinen Hacken um und flitzte voraus bis zur Stadt. "Der König ... Der König!", gellte sein Ruf durch die Gassen und Straßen. "Der König ist tot!"
Als die Karawane mit ihren prächtig geschmückten Kamelen Bharya erreichte, war die Stadt mucksmäuschenstill. Die Bürger standen am Straßenrand, die Gesichter voll Trauer.
Der Kamelzug wandte sich in Richtung Marktplatz. Die Ochsenkarren hingegen zogen hinauf zum Palast. Die Menschen sammelten sich stumm zusammen und folgten ihnen. Kein einziger dachte mehr an den Handel und an Armut und Hunger. Prinz Narmar el Hadary brachte seinen Vater nach Hause. Und es sah aus, als gäben die Ochsengespanne König Khnemu das letzte Geleit.
In der Wüste, Tag 15 nach dem Großen Regen
Für Jahre werden die Völker der Wüste eine andere Zeitrechnung haben. Wann immer die Sprache auf die Ereignisse in Faryfra kommt, hört man nur: Es war die Zeit des Großen Regens.
In jenen Tagen wurde Heldengeschichte geschrieben, die bald in ganz Medina in aller Munde sein würde: Die Oase Faryfra wurde von den Monstern der Berge befreit. Von Ohr zu Ohr hört man nur einen Namen: Prinz Jadar el Hadary aus Bharya schlug diese Schlacht.
Zwar gehen Gerüchte, dass der alte König in den Bergen auf der Suche nach den Goldenen Skorpionen verloren ging, doch wie es oft mit Gerüchten so ist: Oft sind sie mehr als profan und stellen sich irgendwann im besten Fall als halbe Wahrheit dar.
Möglicherweise wird dieses historische Dokument, auf hauchdünnem Pergament aus Ziegenleder und mit der Feder eines alten Geiers geschrieben, nie ein Auge außer meines erblicken.
Möglicherweise erfährt nie jemand den Namen des Chronisten, der es verfasste. Möglicherweise werde ich den Fund dieses Papyros nicht mehr erleben, denn meine Rasse ist in Gefahr. Ich bin ein Katzenmensch. Die Mediner nennen uns Kraji.
Zudem war ich Augenzeuge und weiß somit, was wirklich geschah. Mit Müh und Not kam ich selbst mit dem Leben davon, und ich floh in die Wüste. Wahr ist: Prinz Jadar el Hadary hat mit seiner Streitmacht die Oase Faryfra von Monstern befreit. Nie mehr wird ein Auge einen Goldenen Skorpion erblicken.
Wahr ist auch, dass es uns gibt. Wir sind die Krajis, und wir wurden von OkPara versklavt. Wahr ist: Themera ist in unserer Hand. Wir nahmen bittere Rache, um unsere Frauen aus seinen Händen zu befreien. Bis dato sind wir gescheitert. Wir hoffen auf Rettung! Wie sehr hatten wir auf König Khnemu gehofft. Doch nun ...
Es heißt, sein Sohn will uns vernichten! Ich hoffe, er hat mehr Verstand! Da nie jemand meinen Namen erfährt, denn ich werde es nicht mehr erleben, kann ich es verraten: Der König weiß nichts von dem Massaker in der Oase. Denn durch einen glücklichen Zufall war er nicht dabei!
Gez: Ein Kraji
***
In der Oase
Am Abend nach dem Kampf in Faryfra begab sich Jadar auf eine Erhöhung und blickte über die Männer hinweg. Mit hochgerecktem Schwert in der Hand erhob er seine Stimme: „Mahari! Ihr habt tapfer gegen diese goldenen Ungeheuer gekämpft, und wir haben gesiegt. Wir haben ein paar Brüder verloren. Mein Vater ist auf unerklärliche Weise aus unserem Lager verschwunden. Wer über seinen Verbleib etwas weiß, der trete nach vorn."
Suchend blickte er die Reihen seiner Männer entlang, doch alles schwieg. Er versuchte es noch einmal. "Hat wirklich niemand König Khnemu gesehen?" Einige Mahari schüttelten langsam ihre Köpfe und starrten zu Boden. "Nun denn, es sei ...", fuhr er fort. "Wir müssen ihn suchen. Wer ist bereit, mich zu begleiten?" Aus den Reihen der Offiziere traten einige Männer nach vorn. Einer sprach: "Für Euch und unseren König gehen wir durch die Hölle. Euer Vater hat uns vor dem Ertrinken bewahrt."
Ein paar Männer trommelten mit ihren Speerspitzen auf ihre Schilde und kamen hinzu. "Auch wir sind bereit", verkündete deren Sprecher. "Unser König hat uns nur Gutes gelehrt und hat uns weise geführt."
Das Trommeln führte sich fort durch die Reihen der Königlichen Streitmacht. Die Speerwerfer salutierten feierlich mit erhobenen Waffen.
Prinz Jadar zählte ab. Bisher fünfzig Mahari stünden ihm zur Verfügung. Nachdenklich kratzte er sich am Kinn. Ein paar Schwertkämpfer unterhielten sich leise.
'Ihre Kamele würden uns gute Dienste leisten bei einer Suche', dachte der Erstgeborene von König Khnemu. Laut rief er: "Noch jemand?"
Stumm und feierlich wurde er von zwanzig Kamelreitern umringt. Alles, was man in der beginnenden Dunkelheit hörte, war das langsame Mahlen der Kiefer von ihren Tieren. Im Hintergrund färbte sich der Himmel blutrot. Gnädig deckte die Dämmerung die grausigen Folgen der Kämpfe zu.
Jadar entblößte sein Haupt. "Morgen in der Frühe bestatten wir unsere tapferen Krieger und schicken ihre Seelen in Gedanken den Haya entlang. Mögen sie erfolgreich das Portal des Nordens erreichen und Frieden in der Ewigkeit finden." Die versammelten Mahari taten ihm nach. Ernst senkten sie ihre Köpfe. Nach einem Moment des Schweigens fuhr Jadar fort: "Lange aufhalten können wir uns nicht mehr. Die Suche nach Eurem König duldet keinen Aufschub. Wollen wir hoffen, dass er noch lebt."
Leises Murmeln folgte auf seine Worte. Ein heißer Wüstenwind fegte durch die Oase, die einst ein Paradies und nun von Tod und Blut verseucht worden war.
***
Intrigen
Am anderen Morgen waren Jadar und seine Männer bereits beim ersten Sonnenstrahl auf den Beinen. Es galt, den Handelsreisenden in der Oase Faryfra zur Hand zu gehen und die Spuren der Schlacht zu beseitigen. Die Kadaver der gefallenen Monster begannen bereits zu verfaulen.
Jadar rümpfte die Nase und wedelte angeekelt mit seiner Hand. Er blieb kurz stehen und betrachtete nachdenklich die in der Sonne blitzenden Panzer. Ein Bild stieg vor seinem inneren Auge auf: Er saß auf einem Kamel und trug eine goldene Rüstung.
'Standesgemäß', dachte er und träumte von riesigen Truppen mit ihm an der Spitze und einem solch edlen Statussymbol. Schließlich schritt er zur Tat, betrat die Oase und pickte sich den erstbesten Anführer einer Handelskarawane heraus. "Herr, darf ich was fragen?", leitete er das Gespräch ein und verneigte sich leicht.
Der Mann sah ihn an und grüßte zurück. "Selbstverständlich." Er musterte ihn neugierig. "Ihr seid der Sohn von König Khnemu, oder?" Jadar nickte. "Ja. Ich wollte fragen, ob Ihr einen Rüstungsbauer kennt." Er drehte sich im Kreis und musterte die anderen Menschen in der Oase. Laut rief er: ""Oder einer von Euch?" Verständnislose Augen sahen ihn an. "Von was redet Ihr da?", fragte einer der Sitzenden, die dabei waren, ein frühes Mahl zu verzehren.
"Er sucht einen Rüstungsbauer", sprang der zuerst angesprochene Händler helfend ein. Die bunt gekleideten Männer blickten einander ratlos an. Nach ein paar Schweigesekunden streckte einer die Hand: "Ja, mein Bruder ist Rüstungsbauer in Bharya, Herr."
"Und reist Ihr dorthin?", fragte Jadar weiter. Der Mann nickte. "Wer ist der Anführer von Eurer Karawane?", bohrte der Prinz. Der Händler stand auf und trat auf ihn zu. "Das bin zufällig ich. Wie kann ich zu Diensten sein?"
Jadar lehnte sich an eine halb umgefallene Palme und rieb sich triumphierend die Hände. "Gut." Sein Blick schweifte zu dem Platz, an dem der erste goldene Skorpion erlegt worden war.
"Seht Ihr das Vieh?" Er deutete mit dem Zeigefinger hinüber. Die Augen des Händlers folgten seiner Geste. Furcht und Entsetzen malten sich auf seinem Gesicht. "Ja, Herr!", bestätigte er. "Was habt Ihr vor?"
Jadar grinste. "Wir sammeln Trophäen. Ich bitte Euch, die Panzerplatten der Bestien nach Bharya mitzunehmen, zu Eurem Bruder zu bringen und ihn im Namen des Königshauses zu beauftragen, Rüstungen daraus zu machen. Besseres Material können nicht einmal unsere Schmiede liefern."
"Aber entbeinen müsst Ihr sie selbst", entgegnete der Händler. "Unsere Ochsenkarren stellen wir Euch gern zur Verfügung. Immerhin habt Ihr und Eure Mahari einigen von uns das Leben gerettet." Der ältere Mann sank vor Jadar zu Boden und legte sein Gesicht auf seine Füße. "Ich danke Euch im Namen Faryfras." Der Prinz errötete und starrte entgeistert auf den am Boden liegenden Mann. "Bei allen Göttern!", stieß er hervor. "Erhebt Euch!"
Jadar reichte dem am Boden liegenden Mann seine Hand und zog ihn hoch. "Es liegt in unserer Verantwortung, das Land sicher zu halten." Sprach's und verließ die Oase.
***
Wenig später scharte er eine Handvoll seiner Männer um sich und beauftragte sie damit, die riesigen Skorpionkadaver zu zerlegen und die Panzerplatten aufzubewahren. Ungeduldig beantwortete er ihre Fragen, hieß sie, die gewölbten goldenen Platten anschließend zu der vor dem Tor der Oase wartenden Karawane zu bringen und den Händlern Geleit nach Bharya zu gewähren. "Mahari!", rief er gebieterisch. "Ich übertrage Euch die Verantwortung, dass sie unversehrt in Bharya angelangen. Ich werde die Rüstungen persönlich abholen und sollte ich feststellen, dass Ihr mich hintergehen wollt ..."
"Warum sollten wir, Herr?" Der angesprochene Offizier reagierte gekränkt. "Wir waren Eurem Vater stets treu ergeben, und mit Verlaub: Nicht nur ihm."
Der Prinz winkte ab. "Ja ja, schon gut. Verzeiht!" Er schwang sich auf sein Kamel und ritt zu den wartenden Händlern.
"Wann zieht Ihr los?", fragte er deren Anführer am Anfang des Zugs, der aus zehn Kamelen und zwanzig Ochsenkarren bestand. "Wir haben hier bereits alles erledigt und sind bereit für die Weiterreise. Wir warten nun nur noch auf die Skorpionpanzer und wir können abreisen. Werdet ihr nicht nach Bharya zurückkehren? Sollen wir vielleicht etwas ausrichten?" Die dunklen Augen des Händlers richteten sich neugierig auf den Prinzen.
"Wir haben noch viele Pläne", erwiderte Jadar. "Der König ist weg, wir müssen ihn suchen. Danach geht es weiter nach Themera. Die Stadt wurde von den Krajis besetzt."
"Wie konntet Ihr denn Euren eigenen Vater verl...", platzte der Mann heraus, brach den Satz ab und senkte sein Haupt. "Vergebt mir. Nun dann wollen wir euch auch nicht weiter aufhalten."
Der Händler wandte sich seiner Karawane zu. "Wir brechen auf, sobald unsere Ochsengespanne beladen sind. Bis dahin: Musik!"
Schallendes Gelächter antwortete ihm. "Musik?", höhnte einer der Mitreisenden. "Und wer soll die machen? Sollen unsere Kamele lernen zu singen?"
Die Männer des Kamelzugs lachten noch lauter. Tränen liefen einigen übers Gesicht.
Jadar hörte eine Weile lang zu und griff sich insgeheim an den Kopf.
'Sie lachen ...', dachte er, 'und kurz zuvor noch bangten wir alle um unser Leben.' Grübelnd ritt er zurück.
***
Als die Schatten der Speere nach Südosten zeigten, waren die Ochsenkarren der Karawane mit den Panzern der Goldenen Skorpione beladen.
Insgesamt waren es zehn. Auch der Kampf in den Bergen war erfolgreich gewesen. Die von Jadar gesandten Stoßtrupps waren mit reicher Beute aus den Bergen zurückgekehrt. Drei weitere Mahari waren gefallen. Insgesamt hatte der Kampf gegen die Monster der Urzeit zwanzig Opfer gefordert.
Die Karawane brach auf, doch die Worte des Händlers hatten sich im Gedächtnis des Prinzen festgesetzt. Auch wenn er sich vor seinen Männern nichts anmerken ließ, war er betroffen. Genau dieselben Vorwürfe machte er sich selbst: Er hätte nicht von der Seite seines Vaters weichen sollen, dann müssten sie ihn jetzt nicht suchen.
"Zeitverlust!", murmelte er. "Immer nur verlorene Zeit." Er baute sein mittlerweile demoliertes Zelt vollständig ab und haderte weiter mit sich und der Welt. 'Der Regen, die Skorpione ... der König weg!'
Wütend trat er nach einem äußerst stabilen Hering aus der bharyanischen Schmiede und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen Zeh. "Verdammt!"
***
Unter der heißen Mittagssonne Faryfras bestatteten sie ihre Toten am Fuß der Berge. Sie stapelten große Felsbrocken um die leblosen Körper.
Bevor sie die Höhleneingänge schlossen, bildeten sie einen Kreis und standen stumm und betroffen davor. Der Worte waren's zuviel, es war schon alles gesagt. Die Mahari zogen ihre Tufyas in ihre Stirn und begaben sich zu ihrem Sammelplatz.
Dort wandte sich Prinz Jadar el Hadary an seine Männer: "Mahari macht euch fertig, denn auch wir werden aufbrechen! Wir müssen den König finden." In dem Moment hörten sie außerhalb der Oase lautes Getrappel. Eine Staubwolke kam auf sie zu und näherte sich überraschend schnell. Ein paar der Männer lauschten auf und blickten in die vermutete Richtung. Einer von ihnen zeigte in die Ferne und schrie: "Seht! Was ist das?"
Jadar formte seine Augen zu Schlitzen und sah angestrengt hin. "Mahari, begebt Euch in Verteidigungsposition!", gab er den Befehl. Die Mahari griffen nach ihren Waffen und formierten sich.
Die Wolke kam näher auf sie zu. Bedrohlich hob die im Viereck aufgestellte Fußformation ihre Speere.
"Wartet!", schrie ein Offizier, der ein bisschen vernünftiger war und etwas mehr zu sehen schien. "Das ist ein Pferd. Schafsköpfe, wollt Ihr Pferde erlegen?"
Es war derselbe, der bereits am Morgen Jadar einen Blick in den Spiegel gewährt hatte. Dieser wurde dessen gewahr, und Zorn stieg in ihm hoch. "Selbst wenn es ein Pferd ist!", zischte Jadar in Richtung des vorlauten Kriegers. Mit belehrender Miene und aufgeplusterter Brust fuhr er fort:" Wisst Ihr, ob der Reiter uns wohlgesonnen ist? Und als Schafskopf lasse ich mich ungern bezeichnen."
"Verzeiht, Eure Unvernunft hat mich dazu verleitet", entgegnete der erfahrene Mann. SeKani stand schon lange im Dienste des Königs und hatte höheren Rang. "Selbst wenn dieser Reiter uns nicht wohlgesonnen sein sollte: Ihr könnt ihn nicht einfach erlegen wie Vieh!"
Jadar trat dem Mann noch etwas näher. "Habe ich denn gesagt, dass die Mahari angreifen sollen? Habt Ihr mir überhaupt zugehört? Ich habe gesagt, sie sollen Verteidigungshaltung annehmen, oder?" Der Prinz blickte ihm fest in die Augen. "Wir können Euch aber auch gerne vor die anderen Mahari stellen und abwarten, was der Reiter mit Euch anstellen wird."
"Ho ho, junger Prinz", schmunzelte der Mahari. "Ihr habt ja richtig Feuer. Das würde dem König gefallen. Aber trotzdem mein Rat: Wartet ab, was der Reiter überhaupt von uns will." SeKani überschattete seine Augen. "So wie ich jetzt erkennen kann, trägt er die Botenuniform aus Nifaya."
***
Wenig später hatte der Bote aus Nifaya die Oase erreicht, riss sein Pferd grob am Halfter und bremste vor Jadar ab. Noch bevor er absprang, schrie er. "Ihr müsst sofort nach Themera!"
"Ihr habt mir nichts zu befehlen. Stellt Euch erst einmal ordentlich vor!", erwiderte Jadar und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Wamukota aus Nifaya", stellte der Bote sich vor. "Aber wir haben keine Zeit. Euer Vater ist in Gefahr, Ihr müsst sofort aufbrechen nach Themera und ihn retten."
"Von was redet Ihr da?" Jadar trat auf den Boten zu und packte diesen am Kragen. "Was wisst Ihr über den Verbleib meines Vaters?"
Schweiß trat auf dessen Stirn. "Ich weiß nur, was mir aufgetragen wurde. Ich sollte Euch sagen, dass Euer Vater in Gefahr ist und bei den Kraji in Themera ist. Wir haben in Nifaya nicht die Männer, um ihn zu retten. Ihr müsst euch beeilen."
"Was?", schrie der Prinz. "Heißt das, die Kraji haben meinen Vater entführt?"
Wamukota riss die Augen auf und begann zu zittern. "Ja, aber fragt mich nicht, woher sie ihn haben."
Jadar wandte sich an seine Mahari. "Männer, habt Ihr das gehört? Beeilt Euch, wir brechen so schnell wie möglich auf. Brecht Eure Zelte ab, füttert und tränkt eure Kamele noch einmal, dann geht es los."
Er drehte sich zu dem jungen Boten herum. 'Dessen verschlagener Blick gefällt mir nicht', dachte er. Doch er beließ es dabei, beäugte das riesige Heißblut, auf dem er gekommen war und fragte: "Woher habt ihr eigentlich dieses Pferd?"
"Aus Nifaya. Wir haben Händler außerhalb unseres Landes. Dort gelangt man an solch Reitgetier. Sie sind zwar teuer, aber durchaus schneller als unsere Kamele."
***
Während sie redeten, bereitete sich die Streitmacht Bharyas auf den Marsch nach Themera vor. Die Offiziere schrien laut durcheinander, die Kamele wurden aus den Stallzelten geholt und röhrten aufgeregt im Hintergrund. Zwanzig Mahari beluden die Proviantkarren mit ihren Zelten und von den sich in der Oase befindlichen Karawanen ergatterten Lebensmitteln. Einige neue Ochsengespanne, die nach dem Kampf gegen die Goldenen Skorpione verwaisten, waren hinzugekommen.
Jadar hingegen brütete noch etwas aus. Er ließ den Boten aus Nifaya los, klopfte ihm noch einmal gegen die Brust, als ob er seine provokative Berührung abstreifen wollte und sprach dann forsch: "Ich möchte genau dieses Pferd. Ihr werdet es mir überlassen."
Wamukote verschlug es für einen Moment die Sprache, blickte den jungen Prinzen beinahe ängstlich an und fragte dann. "Wie soll ich denn dann zurück kommen?"
"Mit meinem Kamel." Jadar grinste unverschämt und wies auf sein Höckertier. "Ich nenne das einen fairen Tausch." Sein Gehirn gaukelte ihm die tollsten Bilder vor, wie er auf diesem schwarzen Ungetüm seine Truppe anführte - natürlich in goldener Rüstung aus den Panzerplatten der Skorpione. Er war ein Held!
"Das ... Das kann doch nicht Euer Ernst sein! Für das Tier musste ich lange sparen. Ich wurde dadurch zum schnellsten Boten in Nifaya, und ihr wollt mir ein lahmes Kamel dafür geben?" Der Bote ließ sich auf die Knie sinken. "Bitte Herr tut das nicht ... Ich brauche es ..."
Jadar baute sich drohend über ihm auf. "Ich würde Euch raten, mir meine Bitte zu gewähren. Denn eigentlich bin ich gar nicht gut auf Nifaya zu sprechen. Mir wurde am Tag der Anhörung OkParas genügend berichtet, und wer weiß: Vielleicht habt Ihr das Pferd sogar gestohlen."
Wamukote kroch auf seinen Knien ein wenig zurück. "Dann nehmt ... und geht ... Aber es ist nicht mein Vergehen ... Ich bin lediglich ein Bote, der Nachrichten überbringt und ich habe nichts gestohlen."
Der Prinz hob den jungen Boten auf, klopfte ihm den Sand aus den Kleidern und führte ihn zu seinem Kamel. "Seht, dieses Tier ist aus der Königlichen Kamelzucht. War kann schon von sich behaupten, ein königliches Kamel sein eigen zu nennen? Nur das Königshaus von Bharya - und jetzt auch Ihr."
Er griff nach dem Halfter von dem schwarzen Schlachtross, schwang sich auf und ritt hinüber ins Lager seiner bereits wartenden Krieger, ohne sich noch einmal umzusehen. "Wenn Ihr fertig seid", schrie er, "ziehen wir los."
In der Meinung, Khnemu in den Händen der Krajis zu wissen, brodelte Zorn und Trauer in etlichen Herzen. Alle Gedanken waren gen Themera gerichtet. Vom Moment des Aufbruchs in Faryfra an gab es nur noch ein Ziel für die Maharis: "Wir werden unseren König befreien", schrien einige Männer, bevor es losging.
Aufgewiegelt von der Botschaft OkParas, der noch auf dem Weg nach Nifaya von der Ankunft des Prinzen in der Oase und auch von dem Kampf gegen die Skorpione erfahren hatte, war das ursprüngliche Ziel komplett vergessen: 'Die Katzenmenschen gehören vernichtet', raunte es von Mund zu Mund. Das niederträchtige Konzept des Almadins, der Streitmacht des Königs zu seinen eigenen Gunsten habhaft zu werden, ging scheinbar noch im Nachhinein auf.
Jadar war wie besessen. Mit hasserfüllt glitzernden Augen und den Blick gen Themera gerichtet ritt er an der Spitze der Truppen und sprach kein Wort. Das schwarze Schlachtross und er schienen regelrecht miteinander zu verwachsen und eine Ausgeburt der Hölle zu sein.
Würde er jedoch sehen und hören, was vor den Toren Nifayas bei OkParas Ankunft geschah: Wer weiß, möglicherweise würde er sich daran erinnern, was das eigentliche Ziel seines Vaters gewesen war: Diplomatie bei den Krajis statt Kampf.
Er sah jedoch nicht OkParas hinterlistiges Grinsen und hörte auch nicht dessen Worte, die der korrupte Statthalter zu seinen beiden Leibwächtern sprach: "Der Schachzug wird uns gelingen. Der Prinz wird nicht mit den Kraji verhandeln, sondern macht sie nieder, wie wir es wollten. Und Themera ist dann wieder in unserer Hand. Und wenn wir Glück haben, wird der Prinz auch noch sterben. Wir sind aus dem Schneider, und niemand kann uns dafür verantwortlich machen."
Weil er nichts wusste, trieb der Dunkle Prinz, wie es bald heißen würde von ihm, seine Mahari unerbittlich voran und gönnte ihnen weder Rast noch Ruh.
Nachts wanderten sie unter Vollmond und dem gespenstischen Licht brennender Fackeln. Tags rann allen der Schweiß von der Stirn, ihre Stiefel fielen allmählich in sich zusammen, sie litten Hunger und Durst, und trotzdem: Keine Sekunde dachte auch nur einer der Männer an Rast. So kamen sie irgendwann kurz vor Themera an einen Fluss.
***
Die Brücke
Die Sonne blinzelte über den Horizont und tauchte die Dünen auf ihrem Weg in Blutrot und Gold. Der Wind fegte den Sand in die Luft und schlug ihnen entgegen. Jadar ritt seinen Truppen voraus. Als er die Brücke erblickte, hob er seinen Befehlsarm und gebot Halt.
Auf der Hälfte der Strecke zwischen Wüste und dem morastigen Gebiet um den Fluss herum schaukelte die Masse der Krieger wie ein behäbiger schwarzer Riesenkäfer vor und zurück, formierte sich neu und lief nach hinten aus wie eine gekringelte Schlange. Erhaben trottete das schwarze Schlachtross des Prinzen weiter. Als Jadar sein Gewicht verlagerte und die Zügel straffte, warf es unwillig den Kopf nach oben, schnaubte ihn an und blieb dann stehen. Lobend tätschelte er dem Teufelsbraten den Hals und begutachtete die vor ihm liegende Brücke. Sie schien ihm recht breit, doch sowohl Planken und die starken Streben, auf denen sie gebaut worden war, waren wurmstichig und morsch. Er holte eine Karte aus seiner Satteltasche, schaute sie an und verglich.
Ein Offizier stellte sich mit seinem Kamel neben ihn und fragte: "Und jetzt?"
"Wir müssen da rüber", antwortete Jadar, zog die Linien des Flusses auf der handgemalten Karte nach und faltete sie so auf, dass er ebenfalls einen Blick drauf werfen konnte. "Den Fluss zu umgehen, dauert zu lang. Aber östlich und westlich sind nochmal zwei Brücken." Der Prinz wies mit dem Zeigefinger auf die betreffenden Stellen.
"Was habt Ihr vor?", fragte SeKani. Mittlerweile herrschte zwischen Jadar und ihm so eine Art Waffenstillstand, doch grün waren sie sich noch lange nicht. Etwas sagte dem vierzigjährigen Mahari, dass die Mischung aus jugendlichem Ungestüm und Unsicherheit, die der Prinz mittlerweile gelernt hatte, gut zu verbergen, gefährlich war. Er fragte sich, was irgendwann überwog - später, in ferner Zukunft. Einstweilen jedoch war er gewillt, ihm zu gehorchen, wie es sein Amtsverständnis gebot.
"Zehn Kamele in der Breite", teilte er Jadar seine Einschätzung mit. Die Brücke hatte kein Geländer, und den Kamelreitern würde alles Geschick abverlangt werden, um ihre Tiere sicher nach drüben zu bringen.
Der Prinz sprang von seinem Ross, stellte sich an den Anfang der Brücke und starrte hinunter. Hoch war sie nicht, die Ufer waren recht flach. Der Fluss verzweigte sich in mehrere Richtungen. An einigen Stellen schien er zu versanden. Der Hauptarm war reißend und ging weiter vorn in Stromschnellen über. Ohrenbetäubendes Tosen sagte ihm, dass irgendwo ein Wasserfall war.
"Wenn wir die Kamele über die Brücke schicken ...", schlug SeKani ihm vor. "Gespanne über die beiden anderen Brücken ... Wie weit sind die entfernt?"
"Schicken wir zwei Späher, die das für uns herausfinden", bestimmte Jadar und stieß einen lauten Pfiff aus. Fast sofort standen mehrere Mahari parat und umringten ihn.
***
Die immer länger werdenden Schatten waren fast schon im Westen, als die beiden gesandten Späher zurückkehrten und Meldung machten. Sie berichteten von zwei schmalen Brücken, über die der Breite nach je ein Ochsengespann passen würde.
Jadar handelte schnell. Er bestimmte insgesamt vier Offiziere zur Begleitung der Wagenburg und sandte sie zu der betreffenden Einheit nach hinten, um deren Verbringung zu koordinieren.
"Somit sind wir die Ersten", bemerkte ein auf Befehl wartender Treiber zu seinem Lenker. Besorgt richtete sich sein Blick gen Sonnenuntergang. "Wir kommen wieder mitten hinein in die Nacht."
"Wir haben doch bestimmt wieder Fackelträger dabei", erinnerte der Andere. "Vielleicht schaffen wir es ja auch, noch vor Einbruch der Nacht drüben zu sein."
"Euer Wort im Gehörgang von Batha'a, dem Gott der Schöpfung!", seufzte der Treiber. "Ich fürchte, einen Schutzpatron können wir alle für lange Zeit brauchen." Auch für die Kamelreiter hatte der Prinz bereits die ersten Vorbereitungen getroffen. In Abwesenheit der Späher hatte er als Erstes mit seinem Pferd und in Begleitung SeKanis die Brücke getestet. Die beiden Männer hatten sie ein paar Mal mit ihren Tieren überquert und waren sicheren Fußes wieder zurückgekehrt.
Dennoch war der erfahrene Offizier noch lang nicht beruhigt. Es waren etliche brüchige Planken, und an manchen Stellen fehlten sie ganz. 'Wenn auch nur ein einziger Kamelhuf sich darin verheddert', machte er sich Gedanken, 'dann fällt nicht nur einer ins Wasser.'
SeKani stieg von seinem Kamel, trat an die Böschung neben der Brücke und blickte zu Jadar hoch. "Wie machen wir es mit den Speerwerfern?"
Der Prinz sprang ebenfalls ab, stellte sich neben ihn und deutete die flacheren Seitenarme des Flusses entlang. "Die schicken wir hier lang."
Sein Pferd prustete ihm in den Nacken, drehte sich um und schubste ihn mit seinem riesigen Hintern. Mit den Armen rudernd hielt Jadar sein Gleichgewicht. Für einen Moment brach ihm der Schweiß aus.
Er klammerte sich an ein dürres Gestrüpp, kam ins Rutschen und war schon halb über die Böschung gestürzt, als SeKani ihm die Hand reichte und wieder nach oben zog.
***
"Um aller Götter Willen, was ist das für ein Vieh", rief einer von den Speerwerfern herüber. Brüllendes Gelächter begleitete seine Worte.
Jadar wischte sich den Schweiß von der Stirn und schrie: "Euch wird das Lachen schon noch vergehen. Für Euch und Eure Einheit gibt's nur das Beste." Er stieß ein triumphierendes, fast irres Lachen aus. "Komm her, Großmaul, und schau."
Der Speerwerfer, der es gewagt hatte, zu lachen, kam zögernd und ohne Waffen nach vorn. Als er angekommen war, griff der Dunkle Prinz grob nach seinem Arm und zerrte ihn bis an den Rand der Böschung.
"Eure Einheit wird hier hinab müssen, um den Fluss zu überqueren", prophezeite er dumpf. Seine Augen hatten wieder diesen seltsamen Glanz, der SeKani schaudern ließ.
***
Mit geweiteten Augen starrte der Mahari die gewiesene Richtung entlang. Die Böschung war zwar niedrig genug, um sie zu überwinden, doch allein bei dem Gedanken, das Sumpfgebiet zu durchqueren, raste sein Herz vor Angst. Es schien, als führten die Seitenarme des Hauptflusses ins Nirgendwo.
Wohin er sah, erblickte er nur brackiges Wasser, nassgrauen Sand und abgestorbenes Gestrüpp. An manchen Stellen blubberten Blasen.
Uralte Baumstämme lagen halb an den Ufern der schmalen Rinnsale vergraben. Ein seltsames Geräusch drang von unten herauf. Es klang wie Gelächter und paarte sich immer wiederkehrend mit dem Knarren von Bäumen und leisem Rascheln von Blättern.
'Er schickt uns direkt in den Tod', dachte er. Die Legenden der Ehemaligen Völker fielen ihm ein. Es hieß, ein von den Göttern verbannter Dämon lebe in der Nähe von Flüssen. Seine schwarze Seele - so erzählte die Sage - hielte sich in gefallenen Bäumen versteckt und warte geduldig auf seine Opfer, die dumm genug waren, den Sumpf zu queren. Die Ehemaligen Völker nannten ihn Amu'ra den Alligatoren-Gott. Mit furchtverzerrter Miene wandte er sich an den Prinzen: "Herr, und wenn es dort Riesenechsen gibt?"
Jadar lachte ihn aus. "Wann habt Ihr das letzte Mal von Riesenechsen erfahren? Im gesamten Land von Medina wurde noch kein einziges Mal ein solcher Schwachsinn gehört. Mich zu verspotten, das habt Ihr vermocht. Dazu wart Ihr mutig genug. Doch wenn es darum geht, sich die Füße ein bisschen nasszumachen, da wollt Ihr kneifen. Es gibt keinen anderen Weg. Die Brücke brauchen wir für die Kamele."
Er wandte sein Gesicht der Königlichen Streitmacht zu, deren Kopf mehrere Fuß entfernt vor ihm stand. "Genug geredet", sagte er in bestimmtem Ton. "Offiziere, nach vorn. Alle!" schrie Jadar mit sich überschlagender Stimme.
***
Mittlerweile war das Land grau in grau, der Himmel fast lila. Die Schatten verdrängten das Licht der Sonne mehr und mehr ins Land des Vergessens und pirschten sich allmählich an ihre Opfer heran. Bis zum nächsten Morgen würden sie einige Male erfolgreich sein.
Der Wille des Prinzen schien ungebrochen zu sein. Der Ruf aus Themera hallte laut durch sein Herz. Viel zu lang hatte er sich aufhalten lassen mit banalem Geplauder, wie er sich sagte.
Mit gebieterischen Gebärden stellte er die jeweiligen Formationen zusammen und teilte ihnen je zwei Offiziere zur Begleitung zu. Unerbittlich trieb er seine Männer zur Eile an. Den mahnenden Worten einiger seiner älteren Führer schenkte er schlicht kein Gehör. Das Entsetzen hatte sich in die Reihen der Mahari geschlichen, doch kein einziger kam mehr auf den Gedanken, sich aufzulehnen. Noch vor Einbruch der Dunkelheit betraten die ersten Kamele die Brücke, und die ersten Speerwerfer rutschten die Böschung hinab. Ihre Waffen hatten sie auf die Ochsenkarren verladen, um so unbeschwert und beweglich wie möglich zu sein. Alles, was sie noch hatten, waren die Dolche.
Jeder fünfte hatte Fackeln und Zündstein dabei. Die Offiziere nahmen dicke, aufgerollte Seile mit hinab in den Sumpf, was ein Vorschlag SeKanis gewesen war.
So fühlte sich jeder einigermaßen gewappnet für alle möglichen Gefahren. Nur gegen die Dämonen des Todes ... Da hatte noch kein Athyrianer die richtige Waffe gehabt!
***
Jadar führte die Kamelreiter an, SeKani die Männer im Sumpf. So war auch der Prinz derjenige, der die Brücke mit seinem Pferd als Erstes betrat. Er hatte den Hengst Shaytan genannt - der schwarze Teufel.
Es schien, als hätte das Schicksal Mitleid mit all diesen Männern, denn es dunkelte nicht. Vielmehr wurde es plötzlich hell. Niemand konnte es fassen: Die Sonne stand im Zenith. "Die Magische Zeitfalle", raunte es von Mund zu Mund. "Hoffentlich bleiben wir nicht darin gefangen, denn sonst kommen wir niemals an", unkte ein Schwertkämpfer auf seinem Kamel.
Sanft umtänzelte sein Tier ein Plankenloch. Zwei weitere Kamele taten ihm nach, doch plötzlich wurden sie angerempelt. Eines hinter ihnen war gestolpert und riss vier von ihnen mit. Die Reiter am Kopf des Trupps trieben ihre Kamele an und brachten sich auf der anderen Seite der Brücke in Sicherheit, doch hinter ihnen bildete sich ein wirres Knäuel aus zappelnden Leibern. Drei Männer fielen mit ihren Tieren über den Brückenrand und stürzten mit einem langgezogenen Schrei hinab in die Fluten.
Zwei konnten sich halten und klammerten sich an den äußeren Planken fest, bis helfende Hände sie wieder nach oben hievten.
Die gefallenen Kamele hatten sich die Läufe gebrochen und wurden erdolcht, um ihnen die Qualen zu nehmen.
***
Groll gegen den Prinzen setzte sich in den Herzen der Überlebenden fest. Mittlerweile waren ein drittel der Kamele in Sicherheit.
Unermüdlich führten Jadar und Shaytan Runde um Runde je zwanzig Reiter über die Brücke. Der Prinz sah noch weitere stürzen, einen konnte er retten. Dennoch ließ er nicht ab von seinem Plan und nutzte die Gunst der Stunde, die ihm die Vorsehung zu bescheren schien.
Die Erschöpfung seiner Mahari war ihnen deutlich anzusehen, doch irgendwann war es geschafft. Alle Kamele mitsamt ihren Reitern waren in Sicherheit.
Wie lange die Querung der Brücke insgesamt gedauert hatte, war nicht abzusehen, denn noch immer brannte die Sonne auf ihre Köpfe.
Jadar el Hadary hieß seine verbliebenen Reiter, sich auf dem freien Platz hundert Fuß weiter zu versammeln und auf ihn zu warten. Er übergab sein Pferd einem Mahari und machte sich auf den Weg in den Sumpf. Der Prinz war beunruhigt. SeKani und seine Männer waren verschollen ...
***
Auge in Auge
Am anderen Ende der Brücke war die Böschung wesentlich steiler. Jadar tat ein paar Schritte, um eine günstige Stelle zum Abstieg zu suchen, und noch während er unterwegs war, entzog ihm das Schicksal die Gunst. Das Südportal von Bharya machte seinem Ruf alle Ehre und bestätigte seine Legende.
Die Magische Zeitfalle brach in sich zusammen, die Uhr des Universums lief der des Lebens um Dimensionen voraus. Es wurde dunkel, und zwar so schnell, dass selbst der Galopp einer Antilope noch langsam war.
Jadar hatte die Hälfte der gefundenen Abstiegsstelle bereits überwunden gehabt, als er es merkte. Mit einem Schrei stürzte er ab und landete an einer tieferen Stelle im Fluss. Prustend tauchte er auf und watete fluchend und mit triefender Kleidung ans Ufer.
Kurzerhand zog er sie aus, band sich seinen Dolch um und begab sich - nur noch im Lendenschurz - auf die Suche nach seinen Männern. Irrlichter in einem diffusen silbernen Nebel begleiteten seinen Weg, doch noch bevor er sich darüber Gedanken machen konnte, sah er sich Auge in Auge mit einem Dämon.
'Der Alligatoren-Gott!', gellte es in seinem Gehirn. Die Warnung seines Maharis fiel ihm siedendheiß ein, und wie er ihn verlachte.
Der Blick des im Dunkeln lauernden Ungetüms erinnerte ihn an kleine Flämmchen, doch er wagte nicht, sich auszumalen, wie es sich anfühlen würde, wenn das Feuer des Schmerzes ihn überkam. Leise setzte er seinen Fuß ...
Und blieb dann stehen. Er würde warten! Er würde so tun, als wäre er gar nicht da! Einfach die Augen schließen und im Boden verwurzeln, so wie ein Baum.
Vielleicht ließe das bis auf die Augen unsichtbare Riesenvieh sich ja von ihm täuschen und verschwände wieder im Sumpf.
Jadar drosselte sogar seinen Herzschlag und seinen Atem und wunderte sich nicht einmal, dass er das konnte.
***
An die hundert Mahari waren über die Sümpfe zwischen den Nebenarmen des Flusses verteilt. Auch sie wurden vom Fluch des Alligatoren-Gotts begleitet, vor dem Jadar gewarnt worden war.
In selbem Maße war ihnen das Schicksal eine ganze Weile gewogen, so dass sie zumindest eine ganze Strecke zurücklegen konnten, bevor die Nacht über sie kam. Ihre Begleitoffiziere hatten sie vorbildlich geführt.
Der eine oder andere hatte sich gewundert gehabt, für was die mitgeführten Seile gut sein könnten. Als es für einige der kleineren Fußeinheiten darum gegangen war, tiefere Gewässer zu überqueren, hatte sich die Idee von SeKani indessen bewährt. An ihnen hangelten sich die Männer entlang und behaupteten sich so gegen die Fluten. Kein einziger von ihnen ertrank.
Die eigentliche Gefahr lauerte hingegen am Wegesrand. Die Niederungen des nassen Deltas erreichte die Sonne gar nie. Ihr Licht wurde durch die dicht bewachsenen Böschungen und durch das Laub uralter Bäume gedämpft. Das Land dort unten schien wie ein Fernes auf einem anderen Planeten zu sein - oder das Land der Dämonen. Auge in Auge mit dem Tod marschierten, schwammen und wateten die Mahari voran, ihre Offiziere und die Ewige Dämmerung stetig bei sich. Nebelgeister umarmten ihre Körper wie den eines Geliebten, dicke Äste warfen sich ihnen regelrecht von selbst in den Weg ...
Alles in diesem Sumpfgebiet führte ein gespenstisches Leben. Baumstämme halb vergraben im Schlamm, scheinbar mit funkelnden Augen.
Solange sie zusammen blieben, bestünde keine Gefahr, doch wehe, einer von ihnen ginge verloren. Und weil sie sich im Land der Dämonen befanden, geschah ebendies!
***
Der Trupp von Teremun und Cairoshell hatte fast schon das Ende des Weges erreicht und war voller Hoffnung, als sie hoch über einer Böschung die Sonne erblickten.
Sie waren drüben!
Jubelnd erhöhten sie ihre Geschwindigkeit und hielten drauf zu. Die beiden Begleitoffiziere rollten die Seile zusammen und warfen sie sich über die Schulter.
"Das bisschen schaffen wir ohne", rief Teremun nach hinten und wies den niederen Buckel hinauf. Er trat zur Seite und winkte die ersten Mahari heran.
"Wir machen den Abschluss", erklärte er dem jüngeren Offizier Cairoshell auf dessen verwunderten Blick. Geistesgegenwärtig stellte dieser sich ihm gegenüber und behielt die nachfolgenden Männer im Auge.
Nachdem ein Drittel der erschöpften Krieger bereits oben war, erscholl von hinten plötzlich ein Schrei: "Bebti!" Begleitet wurde es von schmerzerfülltem Schluchzen und einem langgezogenen, markerschütternden Kreischen.
Teremun löste sich aus seiner Position, rannte nach hinten und sah gerade noch, wie das Bein eines jungen Mahari im weitaufgerissenen Rachen einer fünf Fuß langen Echse verschwand.
Ein etwas älterer Junge stand schluchzend daneben und war im Begriff, sich nur mit einem Dolch bewaffnet auf die Bestie zu werfen.
Der Offizier schnappte ihn von hinten am Kragen und hielt ihn davon ab. Dann schlich er von hinten an das Opfer heran und rammte ihm seinen Dolch von unten ins Herz.
***
Entsetzen zeichnete sich auf den Gesichtern der Männer, die am Rand des Geschehens standen. Die Mahari starrten und starrten und waren offenbar paralysiert. Teremun schrie sie an: "Was steht Ihr hier und haltet Maulaffen feil?" In Windeseile zog er den toten jungen Mann von dem Alligator weg, nahm sein Seil von der Schulter und warf ein Ende einem der Herumstehenden zu. Zugleich rief er nach Cairoshell. Dieser rannte herbei.
Währenddessen schrie der andere Junge hysterisch auf: "Was habt Ihr getan? Mein Bruder, mein Bruder ...!" Einer seiner Gefährten nahm ihn am Arm und führte ihn aus der Gefahrenzone des Alligators, der noch mit dem Bein des Opfers beschäftigt war. Das Tier wich mit mahlendem Kiefer ein paar Schritte zurück. Knochen krachten.
Teremun und der Mahari mit dem anderen Ende des Seils bewegten sich ohne Hast hinterher.
Kurz bevor die Bestie es geschafft hatte, zu fliehen, warfen sie das Tau und umwickelten damit seinen Rachen, zogen gemeinsam mit Brachialgewalt zu und hielten das sich heftig windende Tier fest im Griff. Cairoshell warf sich mit dem Dolch in der Hand auf den Alligator und erhielt einen Hieb mit dem rauhen, schuppigen Schwanz. Ein breiter Blutstrom rann ihm über den Arm, tropfte auf den Echsenkörper und in den Schlamm.
Der junge Offizier rammte dem Monster den Dolch in den Nacken. Dunkles Blut schoss wie eine Fontäne nach oben. Der Alligator bäumte sich auf und warf ihn ab.
Cairoshell landete in flachem Wasser, riss sein Gewand entzwei und umwickelte mit dem Streifen seine Wunde am Arm. Schnell sprang er wieder auf, schrie den Anderen zu: "Kommt her und helft!" und stürzte sich dann wieder auf den furios sich windenden Körper.
Mit einem schnellen Griff zog er seinen noch immer steckenden Dolch aus dessen Fleisch.
Währenddessen kamen zwei Mahari dazu, ebenfalls mit dem Dolch in der Hand. Binnen kurzer Zeit war es erlegt.
***
Im Bann der Nacht
Wesentlich später begegnete Jadar el Hadary seinem Dämon. Was auch immer er verbrochen hatte, dass die Magische Zeitfalle bei dieser Begegnung versagte: Möglicherweise ist das Schicksal weise und erkennt, wer der Prüfung bedarf. Vielleicht war es aber auch gar keine Prüfung, sondern eher ein weiterer Schachzug des Universums. Wer kennt schon die Spielregeln, wenn die Schöpfung der Götter als Spielbrett herhalten darf?
Als der junge Prinz aus dem Wasser kam, hatte er das Hindernis auf seinem Weg für einen Baumstamm gehalten, doch wurde er bald eines Besseren belehrt. Die funkelnden Augen des Wesens hatten seinen noch immer nassen Körper im Stand gebannt. Regungslos verharrte Jadar an Ort und Stelle, starrte, starrte ...
Sein Blick schien ihm plötzlich so scharf wie noch nie! Jede einzelne Runzel des Echsenpanzers zeichnete sich vor seinen halb geschlossenen Augen aus dem Dunkel heraus. Er sah die kleinen Öhrchen, die starren und nach oben gezogenen Lider, die scharfen Zähne ...
Mondlicht reflektierte sich in dessen Augen. Das Tier war riesig, doch je länger Jadar sich im Bann des Alligatoren-Gotts befand, umso stärker fühlte er sich.
Ganz langsam legte er eine Hand an den Gurt mit seinem Dolch und hielt sich bereit. Eine unheilvolle Glut flackerte in seinem Blick.
Plötzlich befand sich eine fremde Macht in seinem Gehirn. 'Ihr seid nicht nach meinem Geschmack.' Jadar fühlte die Worte, ohne diese zu hören. Er begriff und nahm den Faden auf. 'Ich glaube Euch nicht', sendete er die Antwort zurück. 'Drehe ich meinen Rücken, fallt Ihr mich an.'
***
Leise Männerstimmen rissen Jadar aus seinem Wachtraum. Er spitzte die Ohren und erkannte in einer von ihnen die Stimme SeKanis. Ein paar Mal hörte er seinen Namen. Plätschern verriet ihm, dass der Trupp sich im Wasser befand.
Ganz in der Nähe mäanderte murmelnd ein Bach. Auch er hatte schon dessen Bekanntschaft gemacht. Das Rinnsal war nicht sehr breit, doch teilweise tief und an manchen Stellen reißend genug, um sicher vor monströsen Echsen zu sein. Innerlich beglückwünschte er die Begleitoffiziere des Trupps zu ihrer Wahl, doch nun war die Zeit des Träumens vorbei. Der Alligator schlug zu!
Von der anderen Seite kam ein weiterer Trupp in Form eines Fackelzugs. Mehrere der Fackelträger sprangen mitten ins Geschehen hinein und blendeten die Riesenechse mit deren Flammen, noch bevor es Jadar erreichte.
Das Tier brüllte auf. Das Licht der Fackeln erhellte den Schauplatz. Ehrfürchtiges Raunen ging durch die Reihen der Männer. Die Echse wich zurück.
SeKani erklomm mit fünf Mahari das Ufer des Bachs. Mit triefenden Tadyas eilten sie ihren Gefährten zu Hilfe. "Was für ein Ungetüm!", entfuhr es einem der Männer.
"Den Todesstoß werde ich ihm versetzen", brüstete sich Jadar und setzte dem im Rückwärtsgang fliehenden Tier hinterher. Sein Fuß verfing sich in einem am Boden liegenden Ast.
Er ruderte mit den Armen und wurde von SeKani gestützt. "Glaubt mir, allein kommt Ihr den Viechern nicht bei", erwiderte der Offizier. "Lasst ihn laufen und kommt mit zu Euren Männern. Wir haben Euch schmerzlich vermisst!"
***
Nachdem sie den Marsch durch die Sümpfe endgültig überstanden hatten, kletterten Jadar und seine Männer die Böschung hinauf. Unterwegs sammelte er sein zurückgelassenes Gewand ein und zog es an.
Mit vor Nässe tropfender Tadya warf Jadar einen Blick zurück. Der Sumpf verlor allmählich an Schrecken, und je mehr er darüber nachdachte, umso mehr ärgerte er sich über die Gedankenfalle, in die er getappt war. 'Ein Alligatoren-Gott!', verhöhnte er sich insgeheim selbst. 'Ein Dämon, der mit mir kommuniziert. Ha!' Er war versucht, sich zu schämen, doch dann sagte er sich: 'Für Schmach fehlt mir die Zeit. Mein Vater ist in Gefahr.'
Nur aus diesem Grund hatte er den Rat SeKanis befolgt und auf die Verfolgung des fliehenden Alligators verzichtet. Kurzerhand riss er sich von seinem letzten Erlebnis los und rief erleichtert: „Auf Männer, zum Sammelplatz! Wir werden erwartet!“ Ohne weitere Verzögerung schritt er voran.
***
Im Licht der Fackelträger kamen sie an. Aus östlicher und westlicher Richtung rollten die ersten Gespanne heran und verteilten sich rund um das Lager. Einer der leitenden Offiziere trat an Jadar heran. „Herr, wir haben alle Proviantwägen erfolgreich hier hinüber gebracht. Kein einziges Opfer haben wir zu beklagen.“
Der Prinz nickte und schwenkte als Zeichen zum Wegtreten den Kopf. Er rief nach SeKani. "Erfasst alle Verluste, die wir erlitten haben."
Sein Rundumblick glitt durch den Saum des Geländes. Hier war bereits wieder Wüste. Ein Schaudern ergriff ihn. Ihm war, als käme er aus einem anderen Leben zurück.
***
Unterdessen wanderte SeKani im Licht des Vollmonds und in Begleitung von fünf Offizieren durchs Lager. Mittlerweile hatten sich die Ochsenkarren zu einem Rondell formiert. Im Inneren harrten die mittlerweile versammelten Einheiten der Dinge. Die Zelte aufzuschlagen für eine Rast wagte keiner von ihnen, obwohl es Not tat. Kein Einziger von ihnen konnte sagen, wie lange sie schon marschierten, doch mehrmals hatten sich die beiden Zeiger der Uhr des Universums gedreht.
Die sechs Offiziere inspizierten die Reihen der Männer, befragten ihre Mahari und machten Inventur über den verbliebenen Bestand der bharyanischen Streitmacht. Unterdessen wurde es Morgen, und die Sonne ging auf. Schließlich kehrte SeKani zu Jadar zurück.
Erschöpft und niedergeschlagen trat er auf ihn zu. "Herr, wir haben keine Karren verloren. Acht Kamele und ihre Reiter ertranken, 3891 Speerwerfer sind noch bei uns." SeKani zögerte, wandte sein Gesicht ab und verkniff sich ein Lächeln. "Allerdings noch ohne Speere."
Jadar hob seine beiden Brauen an. „Was heißt hier ohne Speere?“, zischte er.
SeKani wich weiter dem bohrenden Blick des Prinzen aus. "Sie befinden sich mitsamt den Schilden noch auf den Gespannen." Er hatte die Neuverteilung der Waffen heimlich verzögert, um den Mahari ein bisschen Ruhe zu gönnen.
***
Themera
Nach weiteren Tagen Marsch kamen Jadar und seine Männer vor Themera an. Die Männer waren nach der Überquerung des Flusses mit den Kräften am Ende. Die Sonne stand hoch erhoben am Himmel, als die Streitmacht des Königs das Lager im Schatten von Dünen aufschlug. Erst jetzt gestattete Jadar seinen Mahari ein bisschen Ruhe und sandte Späher in die von den Krajis besetzte Stadt.
Ungeduldig wartete er auf deren Rückkehr. Runde um Runde ging er in seinem Zelt auf und ab und malte sich allen möglichen Schrecken aus. Was, wenn sein Vater schon nicht mehr lebte? Was, wenn seine Späher entdeckt würden und er noch mehr Männer verlor?
Irgendwann wurden die beiden Hälften seines Zelteingang schließlich auseinander geschlagen, und SeKani trat ein. Mit einem militärischen Gruß trat er an Jadar heran. "Herr, einer der Späher ist zurückgekehrt."
Der Prinz drehte sich seinem Offizier zu. "Einer? Und was ist mit den anderen zwei?"
"Vermutlich wurden sie gefangen genommen oder getötet." Fragend sah SeKani ihn an. "Was werden wir tun?" Besorgt bemerkte er die Wut in Jadars Blick.
Dieser ließ seinem Zorn auch prompt freien Lauf und schmetterte eine Wasserkaraffe vor seine Füße, die am Boden klirrend zerbrach.
SeKani zuckte zusammen. "Herr ...", stammelte er.
"Herr! Herr!", äffte Jadar ihn nach. "Wofür haben wir gut ausgebildete Mahari, wenn sie sich wie unbedarfte Kleinkinder gefangen nehmen lassen?“ Erbost trat er nach den Scherben. "Bringt mich zu diesem Späher. Ich knöpf ihn mir vor." Grummelnd verließ er mit SeKani das Zelt.
***
Sein Offizier führte Jadar zum Zentrum des Lagers, wo er den Späher im Stabszelt hatte warten lassen. Dieser saß verängstigt und zitternd auf einem Lederkissen am Boden, war in Gedanken versunken und murmelte unentwegt vor sich hin. Ehe dieser überhaupt bemerkt hatte, dass jemand hinter ihm stand, fuhr der Dunkle Prinz den armen Mann an: "Was ist passiert? Wo sind die anderen beiden, und wie sieht es im Dorf aus?“ Der Späher zuckte heftig zusammen, sprang auf in den Stand und nahm Haltung an. Seinem Bericht zufolge hatten sich er und seine beiden Gefährten von drei Seiten dem Dorf genähert.
"Wir haben jedwelche Deckung genützt, waren fast unsichtbar", beteuerte er. "Plötzlich waren wir von diesen Chimären umzingelt. Kein Einziger von uns hat sie kommen gehört. Sie standen hinter uns, als wären sie Geister." Seine Finger bebten. "Sie ... Sie ... haben die Köpfe ihrer Opfer auf Spieße gesteckt ...", erzählte er haspelnd weiter.
Eine Träne quoll aus seinen Augen und tropfte auf SeKanis Hand, der den Mahari tröstend umarmte. "Ihr habt nichts falsch gemacht", redete der Offizier beruhigend auf den jungen Mann ein. "Ihr wart tapfer."
Jadar sah das ein bisschen anders. "Nichts falsch gemacht?", brauste er auf. "Nur Eselsköpfe tappen in Fallen. Weshalb genau ist er hier, und die anderen nicht?"
"Fragt ihn, nicht mich", entgegnete SeKani. Er blieb gelassen, obwohl es ihm schwer fiel. 'Auf das Niveau des Prinzen begebe ich mich auf keinen Fall hinab', sagte er sich.
***
Kurz vorher
Der Stammesälteste Ak'kir bewegte sich auf einen alten, knorrigen Stock gestützt durch das von den Krajis besetzte Themera und begutachtete die Ausbeute. die sie den ursprünglichen Dorfbewohnern entrissen hatten. Er querte humpelnd den Ortskern, wo noch immer die Toten der Schlacht gestapelt waren. Überlebende hatte es seines Wissens keine gegeben. Die Themeraner, die nicht gefallen waren, fielen der Seuche zum Opfer. Die Katzenmenschen selbst waren dagegen immun.
Die Gräueltaten OkParas und seiner Schergen waren noch immer in seinem Gedächtnis. Keinesfalls billigte er die Gegenmaßnahmen seines eigenen Volks, doch die Warnung nach Nifaya hatte eine deutliche Sprache gehabt: "Ihr habt unsere Frauen geraubt, und wir rauben dafür Euer Leben."
***
Vorausblickend war Ak'kir bewusst, dass es noch nicht zu Ende war. Jegliche Warnung war bisher vergeblich gewesen. Ein Teil der Kraji wurde noch immer durch Nifaya versklavt. Die Frauen befanden sich in den Händen der Reichen, und er wagte nicht, sich auszumalen, zu welchen Diensten.
"Nicht mehr lange, und wir schlagen in der Hauptstadt zu", schimpfte er laut, ungeachtet der schrägen Blicke der entgegenkommenden Kraji. "Uns bleibt gar nichts anderes übrig, als weitere Zeichen zu setzen."
„Ak'kir!“, rief plötzlich ein Katzenmann und lief auf den Ergrauten zu. Erwartungsvoll wandte er sich herum und stützte sich auf seinen Stock.
„Wir haben Späher aus Bharya gefangen genommen“, beschied ihm der Krieger.
„Dann wird es also nicht mehr lange dauern, bis sie kommen“, erwiderte er und strich sich durch den unter der Schnauze herabhängenden Bart.
„Was sollen wir mit ihnen tun?“
„Sperrt sie in eines der Gebäude, aber bringt sie nicht um. Findet heraus, wann sie angreifen wollen“, befahl er. Der junge Kraji verneigte sich. Ak'kir blieb noch einen Moment zwischen den Ruinen des einstigen Themera stehen. 'Vielleicht können wir mit diesen neuen Angreifern eine Übereinkunft treffen. Vielleicht ist das eine weisere Entscheidung als darauf zu warten, dass sie uns angreifen', überlegte er mit auf seinem Stock überkreuzten pfotenähnlichen Händen. Sein altes, halb befelltes Katzengesicht legte sich noch mehr in Falten.
Eine junge Kraji-Dame flanierte anmutig an ihm vorbei und grüßte ehrerbietig. Sie trug einen wasserbefüllten Eimer mit frischen Fischen in ihrer schwarz besamteten Krallenhand. Bewundernd sah er ihr nach. 'Was für eine Schönheit'; dachte er. 'Jung müsste man sein.'
Nach einem Moment riss er sich von ihrem Anblick los und durchschritt weiter die Straßen des Dorfs. Sorgenvoll blickte er in die Zukunft und dachte darüber nach, wie noch mehr Blutvergießen zu verhindern sei. In der Gefangennahme der Späher sah Ak'kir eine Chance.
***
Wenig später erblickte er in naher Ferne einen Trupp Kraji-Krieger. Sie trugen Rüstungen aus dickem Leder und hatten ihre Speere gezückt. Vor ihnen liefen drei gefesselte Männer in bharyanischer Mahari-Tracht.
Der Stammesälteste blieb stehen und sah ihnen hinterher, setzte sich wieder in Bewegung und folgte der ungefähren Richtung, in die der kleine Zug marschierte. Nach einer Weile verlor er sie aus den Augen.
Ak'kir erhöhte sein Schritttempo, so gut es ging, doch sein Alter war ihm im Weg. Mit schmerzverzerrtem Gesicht verfluchte er seine Arthritis, stützte sich auf seinen Stock und atmete schwer. Er zog einen seiner gekrümmten Haxen hoch, schüttelte ihn und setzte ihn wieder auf. Ein am Lagerfeuer sitzender, fischbratender Kraji beobachtete ihn aus mandelförmigen Augen, stand auf und trat zu ihm. "Wo wollt Ihr hin, Ak'kir? Soll ich Euch begleiten?", bot der junge Katzenmann an und reichte ihm seinen Arm.
"Drei Späher aus Bharya wurden gefangen genommen. Zu denen will ich", erklärte Ak'kir.
"Ah ja, ich habe davon gehört. Bestimmt werden sie ins Haus des ehemaligen Dorfherrn gebracht." Die beiden Männer schritten nebeneinander her.
Der Kraji hatte sich bei ihm untergehakt und begleitete den alten Mann ein kleines Stück, bis Ak'kir sich bei ihm bedankte. "Ich glaube, den Rest des Weges schaffe ich allein. Die Schmerzen ... Aber sie sind schon wieder besser."
***
Am Ende der Straße war Ak'Kir schließlich am Ziel. Am Eingang des halb zerfallenen, quaderförmigen Sandsteingebäudes standen zwei Wachen mit ineinander überkreuzten Speeren. Ak'kir stieg schwerfällig die wenigen Stufen hinauf und hob den Blick. „Ich will zu den Gefangenen.“
Die Kraji gewährten ihm Einlass und wiesen ihm den Weg zum Verlies. Dort standen weitere Wachen. Einer von ihnen öffnete mit einem großen, verschnörkelten Schlüssel die schwere Eisenholztür und winkte den Stammesältesten zu den drei Geiseln durch. Sie waren mit Ketten an in die Wand eingelassene starke Ringe gekettet.
Ak'kir ging auf einen von ihnen zu. „Ich habe einen Vorschlag für Euch“, radebrechte er in ihrer Sprache. Der bharyanische Mahari hob den Kopf und blickte ihn verwirrt an, was den Kraji zu einem wohlgefälligen Schmunzeln veranlasste. „Ihr wundert Euch, dass ich Eure Sprache spreche, auch wenn nicht so gut?", fragte er.
Der Bharyaner nickte.
"Nun, Euer Volk und wir Katzenmenschen waren nicht immer verfeindet“, fuhr Ak'kir fort.
Drei Augenpaare sahen ihn erwartungsvoll an. "Und was wollt Ihr von uns?", fragte einer der drei von Jadar ausgesandten Späher. "Werdet Ihr uns töten?"
"Nicht, wenn Ihr tut, was wir sagen."
"Wer seid Ihr, und was genau erwartet Ihr nun?"
"Ich bin Ak'kir, der Stammesälteste dieser Sippe, die hier im Dorf lebt. Ich möchte von Euch, dass einer zurückgeht und Eurem König berichtet, dass wir nicht die Absicht haben, euch etwas anzutun. Wir wollen nur unsere Frauen zurück. Ihr und Euresgleichen habt sie uns geraubt.“
„Wir Euch beraubt? Ihr habt dies ganze Dorf übernommen und seine Einwohner getötet“, fuhr ein anderer der drei Geiseln auf.
Ak'kir seufzte. „Ja, aber erst, nachdem uns nicht gestattet worden war, unsere Frauen wieder zu haben und wir von euresgleichen verspottet wurden, dass wir nichts ausrichten könnten, da wir nur ein Haufen von wilden Katzen seien.“
Die Gefangenen schwiegen. „Wie es scheint will niemand, von Euch die Aufgabe des Boten übernehmen? Dann wird es wohl so kommen müssen, wie Euer Feldherr es für richtig erachtet und es wird viel Blut vergossen werden, was ich eigentlich versuche zu vermeiden.“
Er drehte ihnen den Rücken zu und ging langsam zum Ausgang. „Halt“, rief einer der Späher. Ak'kir blieb stehen und zuckte mit einem seiner spitzigen Ohren. „Ich werde gehen...“, fügte derjenige, der gerufen hatte, hinzu. Die anderen beiden Geiseln blickten ihn an und riefen durcheinander: „Du Verräter!“ „Wenn wir dich kriegen, dann wirst du unter dem Sand verscharrt!“
Ak'kir entblößte ein katzenhaftes Grinsen und rief: „Wachen, holt ihn aus den Ketten und bringt ihn hinaus.“ Die Kraji-Wächter betraten das Verlies.
Er wies auf den Späher, der sich bereit erklärt hatte, die Botschaft zu überbringen.
"Er!", bestimmte der Stammesälteste. „Bringt ihn an den Rand des Dorfs und lasst seinen Weg überwachen. Wenn er irgendetwas versuchen sollte, wisst Ihr, was zu tun ist.“
***
Wieder im bharyanischen Lager
Nachdem der Mahari mit seiner Erzählung zu seiner Gefangennahme und Wiederfreilassung geendet hatte, herrschte Schweigen im Raum. SeKani musterte den jungen Bennu. An seinen Handgelenken waren noch die Spuren der starken Fesseln, mit denen er vor das Kriegslager hinter den Dünen geführt worden war.
Sein Antlitz war noch immer von Schrecken gezeichnet. Noch nie zuvor hatte er einen Kraji gesehen. Die seltsamen Wesen machten ihm noch mehr Angst als der Alligator, dem sein Bruder Beptu zum Opfer gefallen war.
Jadar verschränkte schließlich die Arme vor seiner Brust, baute sich vor ihm auf und starrte ihn drohend an. "Und ist mein Vater dort? Weißt du Esel denn wenigstens das?" Entsetzt riss Bennu die Augen auf und nahm eine geduckte Haltung ein. "Euer ... Euer Vater? Davon weiß ich nichts!" Verunsichert und hilfesuchend glitt sein Blick durch den Raum, fand jedoch nichts, an was er sich festhalten konnte. Schließlich senkte er ihn zu Boden.
"Der Prinz griff sich an den Kopf. "Das ist nicht zu fassen!", brüllte er los. "Jeder Mahari wusste, warum wir uns so beeilten." Unruhig durchmaß er in langen Schritten das Zelt, fasste mal hierhin, mal dorthin und hatte plötzlich eine dünne Gerte in seiner Hand. Unbewusst begann er, mit dieser zu spielen und trat wieder zu den beiden Männern.
***
Langsam hob Bennu den Kopf und starrte wie hypnotisiert auf Jadars Hände. Im Abstand von fünf Lidschlägen klatschte die Gerte wiederholt in die linke Handfläche des jungen Thronfolgers. Als er seine weiteren Worte hörte, trat ihm Schweiß auf die Stirn.
"SeKani, bestraft diesen Hund!", befahl der Dunkle Prinz und hielt seinem Offizier die aus Leder gefertigte Gerte hin. "Dummheit gehört unter Todesstrafe gestellt!"
Sein Offizier räusperte sich. "So sehr ich Euch schätze, aber ich weigere mich, den Befehl von Euch auszuführen. Der Mann hat genug Schrecken erlebt, da braucht er nicht noch Hiebe von seinen eigenen Leuten."
Jadar verbog wütend die Gerte in seiner Hand und ließ sie schnellen. "Seid Ihr der König oder bin ich derzeit dessen Vertreter?", zischte er mit zu Schlitzen verengten Augen. "Vielleicht solltet Ihr statt seiner die Gerte zu spüren bekommen!" Purer Hass schlug SeKani entgegen.
"Wenn Ihr das meint, dann soll es so sein", entgegnete SeKani gelassen. Der junge Späher saß zitternd und bibbernd am Boden. Seine Füße trugen ihn nicht mehr. "Nein, bitte, bitte ...", rief er. "Mir ist das entgangen, dass Euer Vater dort sein soll. Mein Bruder ist tot! Von einem Offizier von Euch wurde dieser getötet, um ihm dem Rachen eines riesigen Alligators zu entreißen. Habt um aller Götter willen wenigstens Erbarmen mit mir ..."
SeKani fuhr zeitgleich mit Bennus Flehen fort: "Wenn Ihr meint, Prinz Jadar, dass eine solch drakonische Strafe angebracht ist für mich und diesen Jungen, der dem Kindesalter kaum entwachsen ist: Dann führt die Gerte gefälligst selbst."
Ruhigen Schrittes trat er auf den Aufgang zu. Mit einem kehligen Knurren warf Jadar die Gerte auf ein schwarzes Marmorpult und sah verächtlich auf den jungen Mahari hinab. "Du hast Glück, dass du so einen mutigen Fürsprecher hast."
Bennu traten Tränen in seine Augen. Flehend sah er Jadar an. "Bitte verzeiht, dass ich meinen Auftrag nicht richtig ausgeführt habe."
"Für weitere Kindereien fehlt uns die Zeit", mahnte SeKani vom Ausgang her. "Bitte bedenkt: Euer Vater ist in Gefahr, und die Kraji haben noch immer zwei unserer Späher in ihrer Gewalt." Prinz Jadar el Hadary gehorchte.
***
Die Stimme der Vernunft
Was stand der Königlichen Streitmacht Bharyas bevor? Insgesamt fünf Einheiten Krieger zogen mit ihrem König Khnemu el Hadary und dessen erstgeborenen Sohn Jadar aus, um in der Stadt Themera nach dem Rechten zu sehen und eventuell Hand anzulegen, wenn es notwendig war. Es hatte geheißen, die Kraji hielten den kleinen Ort bei der Handelsstadt Nifaya besetzt und hätten alles Leben dort ausgelöscht. Doch war das die Wahrheit?
***
Schon auf dem Weg nach Themera hatte sich abgezeichnet, dass es nicht einfach war. Viele Männer verloren schon im Vorfeld ihr Leben: Durch eine ungeplante Schlacht gegen eine Legende, die Goldenen Skorpione in der Oase Faryfra, doch auch durch den Marsch bis zum Ziel. Einige der Mahari fielen Alligatoren zum Opfer, und andre ertranken. Angeblich wurde der König durch die Kraji entführt, und dessen Sohn Jadar hatte seitdem das Kommando.
Mittlerweile standen sie direkt vor Themera, nur durch ein paar hohe Dünen von diesen seltsamen, furchteinflößenden Wesen entfernt, die nun in dem kleinen Ort lebten. Zwei Späher befanden sich noch in deren Gewalt, und keiner wusste, was mit ihnen geschehen war. Konnten sie auf Jadar bauen, dass er das Richtige tat und sie nicht in ihr Verderben führte, wie so mancher von den Männern befürchtete?
Die Gespräche im Lager der Streitmacht waren sehr kontrovers: Viele sprachen dem Prinzen ihr Vertrauen aus, doch mindestens ebenso viele Stimmen sprachen dagegen. Vor Allem die Offiziere taten sich schwer, seine bisherigen Anweisungen und strategischen Planungen gutzuheißen, doch nur SeKani hatte den Mut, sich mit dem Jüngling, der sich vorgenommen hatte, irgendwann einmal König zu sein, auseinanderzusetzen und ihm Paroli zu bieten. Allerdings war der erfahrene Offizier irgendwann mit seiner Weisheit am Ende: Würde er sich mit dem Thronfolger komplett überwerfen, dann sähe es düster aus. Vor Allem fehlte es ihm an Akzeptanz bei dem Prinzen, der in seinen Augen nicht viel mehr als ein junger Hitzkopf war.
SeKani hatte lang genug unter König Khnemu gedient, um zu wissen, dass der noch amtierende Regent von Medina alles tat für sein Volk.
Jede bisherige Entscheidung war voller Güte und Weisheit, unnötiges Blutvergießen war ihm ein Gräuel. Doch bedauerlicherweise war der König diesmal nicht an ihrer Seite. Sie waren angewiesen auf Jadars Entscheidung!
***
Im Dunkel der Nacht
Ohne das Wissen seiner Mahari entfernte sich der Prinz in derselben Nacht noch aus ihrem Lager. Er hatte wohlweislich niemandem etwas von seinem Vorhaben erzählt. Allerdings hatte er sich alles gut überlegt: Wie auch immer sie sich Themera nähern würden, ob in diplomatischer Absicht oder im Kampf: Unter der jetzigen Bevölkerung des Dorfs würden sie auffallen wie bunte Hunde. Mittlerweile war ihm klar geworden, woran auch seine Späher gescheitert waren.
Diese Überlegung hatte ihn nun auch etwas milder gestimmt. Darüber hinaus nutzte er die Erkenntnis und machte sich selbst auf den Weg, allein und ohne jeglichen Schutz außer seiner dunklen Kleidung, seinem Chepesch und seinem Dolch. Nur Shaytan war sein Begleiter. Im Schutz der Dunkelheit ritt er einen großen Bogen um Themera herum und spähte von einem kleinen Hügel herab die Örtlichkeit aus. Er band Shaytan im Dickicht von Büschen an einen verkrüppelten Brotbaum, begab sich in die Nähe des Ortrands und warf sich dort zu Boden. Langsam kroch er auf das äußere Rund der Häuser zu, lauschte und verschwand dann in einer Gasse.
Die Straßen lagen einsam und verlassen vor ihm. Hier und da brannten vereinzelte Fackeln und warfen Schatten, zwischen denen er sich verbarg.
Halb schleichend, halb kriechend bewegte er sich an den Rückwänden von Häusern entlang. Seine Ausbildung bei Sethos kam ihm nun zugute, und er hoffte sehr, dass sein Feldherr mit ihm zufrieden sein würde, wenn er alles erfuhr. Noch lieber wäre ihm zwar, er wäre an seiner Seite, doch andererseits wusste er, dass Bharya ihn ebenfalls brauchte. Ohne Sethos und die verbliebenen Einheiten wäre die Residenzstadt so gut wie schutzlos.
'Mein Vater hat gut entschieden', überlegte Jadar und starrte im Schatten eines Viehtrogs auf einen Hauseingang, vor dem Wachen standen. Lautlos kroch er hinter einen Busch, schmierte sich Schlamm ins Gesicht und beobachtete weiter. Die Kraji Wächter paradierten auf und ab und unterhielten sich leise, wann immer ihre Wege sich kreuzten. Was sie sprachen, konnte er nicht verstehen. Sie redeten in ihrem ureigenen Dialekt, der sich für sein Gehör wie das Maunzen einer Katze anhörte, unterbrochen von Grolllauten und raubtierhaftem Gebrüll.
Angeekelt verzog der Prinz sein Gesicht. Diese Wesen konnten sich nicht einmal entscheiden, was sie eigentlich sein wollten: Mensch oder Tier! Er blickte sich um und überlegte, wie er die beiden Wächter am besten ausschalten konnte, um das Innere des Hauses zu untersuchen. Möglicherweise war das ein Verlies und wurde deshalb bewacht. Wenn dem so sei, dann hätte er leichtes Spiel, und bestimmt fände er dort auch seinen Vater. Alles andre würde sich weisen, sagte er sich und huschte ein Stück weiter nach links. Nun stand er hinter dem Hauseck des rechten Wächters und konnte fast den Wortlaut ihrer Gespräche verstehen.
Jadar verschmolz förmlich mit der Wand und drückte sich in eine Nische, als er die Schritte des Kraji vernahm, der an seiner Seite seinen Kontrollgang machte. 'Komm schon', dachte er, komm herum ums Eck.' Die Schritte der Wache entfernten sich wieder nach links.
Während er wartete, sah er sich um. Rechts von ihm war eine runde Luke, die vermutlich als Fenster diente. Vorsichtig bewegte er sich aus seiner Nische heraus und versuchte dabei, so lautlos wie möglich zu sein. Seine weichen Lederstiefel machten es ihm leicht.
Er spähte ins Innere des Hauses. Dort brannten Fackeln, und wie es aussah, war es ein Wohnraum in Form einer unbehauenen Kammer mit einer Feuerstelle in der Mitte. Diese war in Betrieb. Davor ruhte ein alter Kraji auf einem dicken Polster.
'Uralt', dachte er in Anbetracht des grauen, fast weißen Fells an Armen, Beinen und Kopf. Er vermutete, dass der Katzenmann besagter Stammesältester war, von dem Bennu für Verhandlungen befreit worden war.
'Und wahrscheinlich hat sich der alte Kater auch das beste Haus von Themera gekrallt.' Jadar grinste in sich hinein wegen der Doppeldeutigkeit seines Gedankengangs. Plötzlich kam ihm eine Idee. Der Prinz begab sich wieder in Spähposition und richtete seine Aufmerksamkeit erneut auf die Wachen. Alles, was er tun musste, war den rechten Moment abzuwarten. Und wenn es soweit war, würde er dem Zufall ein bisschen helfen. Zum Beispiel indem er ...
***
'Jetzt!' Sein Herz jubelte. 'Besser geht's nicht mehr!' Er zog seinen Dolch, trat zwei lautlose Schritte vor und kickte einen Kieselstein weg, leise genug, dass es nur der Kraji Wächter an seiner Position hörte. Der andere war geschickterweise an der anderen Ecke des Hauses, genau wie geplant!
Er spähte ums Eck, sah, wie sein Opfer sich drehte und dann in seine Richtung kam.
Jadar machte sich bereit, lauschte auf die Schritte und zählte bis zehn. 'Komm ums Eck, komm, komm!', lockten seine Gedanken.
Gerade als seine Anspannung auf dem Siedepunkt war, wurden seine Wünsche erhört. Der Wächter bog ums Eck, Jadar spannte sich an, packte ihn von hinten am Kragen und würgte ihn.
Der Kraji zappelte in seiner Eisenklammer, versuchte, den Prinzen zu treten und mit seinen Stahlkrallen sein Gesicht zu zerschlitzen, doch Jadar war wendig und wich all seinen Abwehrbewegungen aus.
Als er die Schritte des Zweiten hörte, schnitt er seinem Opfer die Kehle durch, ließ ihn lautlos zu Boden sacken und versteckte sich erneut in seiner Nische.
Wieder begann er zu zählen. Sein Herzschlag dröhnte laut in seinen Ohren. Jeder einzelne Schritt des zweiten Wachmanns erschien ihm wie Donner, je näher er kam.
Dann war der Andre ums Eck. Er konnte seinen potentiellen Angreifer nicht sehen. Die Nische, in der er stand, war uneinsehbar, und der tote Körper des ersten Krajis lag direkt davor.
Der Prinz hatte noch einmal Glück. Der Katzenmann brüllte erschrocken auf und beugte sich über seinen Gefährten, ohne sich umzusehen.
Jadar kam über ihn wie ein Höllengewitter. Furios stürzte er sich auf ihn und schwang einmal sein Krummschwert.
Der Hieb saß. Der Mann brach über der ersten Leiche zusammen. Ein übergroßer Menschenkopf mit Löwenmähne und behaartem Gesicht rollte zu Boden, Blut schoss aus dem Nacken der Leiche wie eine Fontäne empor.
Was der Prinz jedoch niemals vergessen würde, und irgendwann einmal nehme er diesen Anblick mit ins Totenreich: Das waren die Augen. Sie waren so grün wie Smaragde und so wunderschön. Der Kraji war eine Frau!
***
Ak'kir
Der Stammesälteste der Kraji schlief tief und fest im dem Haus, das seine Sippe nach der Übernahme von Themera für ihn reserviert hatte.
Wie alle anderen Gebäude war es nur einstöckig gebaut und bestand aus einem einzigen riesigen Raum, in dem vorher eine themeranische Familie mit zwei Kindern mitsamt Kleinvieh gelebt hatte.
Mittlerweile wohnte Ak'kir allein darin. Er ruhte auf einem Polster, das so groß war, dass noch vier weitere Kraji darauf Platz hätten. Neben der Eingangstür stand ein großer Holzschrank, der nach der Schlacht von den Kriegern seines Stamms durchwühlt worden war. Zerbrochenes Geschirr lag am Boden, es wegzuräumen hatte er noch nicht vermocht.
Der Körper des Alten drehte sich unruhig im Schlaf. Irgendetwas schien ihn zu verfolgen.
Plötzlich schreckte er auf. Sein Kopf drehte sich ängstlich spähend in jede Richtung. Der Raum war leer.
Ak'kir beruhigte sich, zupfte die dünne Decke zurecht und wollte sich erneut niederlegen, als sich das Geräusch wiederholte. Er erhob sich und griff nach seinem Stock. Ein ungutes Gefühl hatte ihn übermannt.
Schwerfällig humpelte er bis zur Tür, öffnete sie vorsichtig und spähte hinaus. Vor ihm stand ein Mann!
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Noch bevor Ak'kir die Tür zuschlagen konnte, wurde sie aufgedrückt. Ak'kir wankte zurück und stolperte über herumliegendes Geschirr. Stöhnend fiel er zu Boden.
"Was ... wollt Ihr von mir? Und wer seid Ihr?", keuchte der Kraji entsetzt.
Der schwarz gekleidete Angreifer beugte sich über ihn und half ihm auf. Überraschenderweise ging er sorgfältig zu Werke, schloss die Tür und reichte dem Stammesältesten sogar seinen Stock.
"Ich sehe, Ihr sprecht meine Sprache", erwiderte Jadar. "Wenn Ihr tut, was ich Euch sage, wird Euch nichts geschehen. Wenn nicht, dann ..." Beiläufig zeigte er seinen Dolch. "Wo ist meine Wache? Was habt Ihr mit ihnen gemacht?", fragte Ak'kir mit zitternder Stimme. Allmählich dämmerte ihm die Erkenntnis, mit wem er es zu tun haben könnte. "Seid unbesorgt, ich habe nur das gemacht, was auch den Bürgern von Themera widerfuhr durch Eure Hände. Oder sollte ich besser sagen: Klauen?" Spöttisch funkelten ihn die dunklen Augen des Prinzen an.
"Das beantwortet meine Frage nicht, was Ihr von mir wollt. Ich bin nur ein alter Kraji, wie ihr uns nennt. Ich habe keinen Wert für euch."
"Welchen Wert Ihr für uns habt, das überlasst meiner eigenen Einschätzung. Wie gesagt, Euch wird nichts geschehen, wenn Ihr tut, was ich sage." Jadar wies auf das Polster. "Setzt Euch. Und rührt Euch nicht, sonst muss ich Euch fesseln. Und antwortet bitte nur auf meine Fragen, wehe Ihr schreit."
Ak'kir wandte sich um und setzte sich auf sein Bett, die einzige Sitzgelegenheit in dem großen Raum. Mehr brauchte er nicht. Nervös krallte er sich an seinem Stock fest. Es gab einen Knacklaut, und die Krücke begann von oben bis unten zu splittern.
Der Prinz beobachtete fasziniert, wie der Stock riss. "Entspannt Euch!", riet er dem alten Mann. "Ihr werdet Eure Gehhilfe noch ein Weilchen brauchen."
Der Kraji ließ ab und verzog ertappt sein Gesicht. "Vergeuden wir nicht unsere Zeit. Stellt Eure Fragen, und dann verschwindet wieder aus unserem Dorf."
"Wo ist mein Vater?", entgegnete Jadar ihm mit ernster Miene. Unablässig wanderte sein Blick im Raum umher, als vermute er, ihn hier zu finden, doch nichts wies auf einen weiteren Ausgang hin. Offenbar hielt der Stamm seine Gefangenen woanders fest. "Euer ... Vater?", Entgeistert starrte Ak'kir ihn an. "Woher soll ich das wissen? Ich weiß ja nicht einmal, wer Ihr seid, woher soll ich dann wissen, wer Euer Vater ist?" Er veränderte seine Sitzposition und sondierte unauffällig durch sein spärliches Wimpernkleid sein Gegenüber.
Jadar knurrte aufgebracht und fuhr ihn an: "Ich habe keine Zeit, mich von Euch an der Nase herumführen zu lassen. Mein Vater, der König von Bharya! Laut dem Boten, der zu mir kam, soll er hier in diesem Dorf von Euresgleichen gefangen gehalten werden."
"Das ist eine Lüge!", brauste Ak'kir auf. "Und glaubt mir, ich wüsste es, wenn es so wäre."
"Wieso sollte ich Euch das glauben? Habe ich einen Grund dazu, anzunehmen, dass Ihr die Wahrheit sprecht?" Mit unbewegter Miene sah Jadar ihn an.
Ak'kir erwiderte ernst: "Dann überlegt: Das Einzige, was Ihr uns zumindest zum jetzigen Zeitpunkt ankreiden könnt, ist die Gefangennahme von Euren Spähern. Hätten wir Euren Vater in unserer Gewalt: Aus welchem Grund hätten wir einen von ihnen laufen gelassen, um unsere Botschaft zu überbringen? Ein besseres Pfand als Euren König hätte es bestimmt nicht gegeben."
Er machte eine winzige Sprechpause und fragte dann: "Woher kam dieser Bote?"
"Aus Nifaya, aber selbst wenn Ihr die Wahrheit sprecht und mein Vater ist nicht bei Euch: Ihr habt unsere Späher in Eurer Gewalt, und Ihr habt komplett alle Bürger eines ganzen Dorfs gemetzelt. Reicht es denn nicht?"
Ak'kirs Blick wurde traurig. "Glaubt mir, es reicht! Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte es kein Blutvergießen gegeben. Doch Ihr habt bestimmt schon davon gehört, warum wir gezwungen waren, an Eurem Volk zu handeln, wie wir es taten. Nifaya hat unseren Stamm lange genug unterdrückt und unsere besten Schätze geraubt: Unsere Frauen. Und Euren Spähern wird nichts geschehen, sie waren nur unser Pfand."
"Ein Pfand für was?" Jadar verstand immer noch nicht und wusste nicht, was er glauben sollte. Das Bild, das sich ihm allmählich zeichnete, war zu unvorstellbar. "Für was sollten sie ein Pfand sein?"
"Wir wollen unsere Frauen zurück!" Ak'kir stieß bekräftigend seinen Stock auf den Boden.
Fassungslos ließ Jadar seine Klinge sinken. "Und das glaubt Ihr mit ein paar Mahari zu erreichen? Sicher nicht! Wenn das alles so stimmt, was Ihr mir erzählt, wird Nifaya sich einen Dreck darum scheren ..."
Sein Antlitz leuchtete auf, als ereile ihn gerade eine Erkenntnis. "Aber wo soll dann mein Vater sein, wenn nicht hier?", murmelte der Prinz mehr zu sich selbst. In forderndem Tonfall richtete er sich wieder an Ak'kir: "Angenommen, er ist wirklich nicht hier, dann lasst die Späher laufen! Ich werde Euer Anliegen direkt vor Ort überprüfen, und IHR haltet solange die Füße still."
Offen sah Ak'kir ihn an. "Ich werde Euch noch etwas verraten: Wir haben uns nur gewehrt. Krieger aus Nifaya fielen selbst in Themera ein, als wir in der Gegend waren, um zu handeln. Ich gebe zwar zu, dass sich während diesem Angriff auch einige von uns hinreißen ließen, doch das ganze Dorf haben nicht wir niedergemacht. Immerhin galt es um unser Leben!"
Ungläubig starrte der Prinz ihn an und suchte nach der Wahrheit in dem alten Gesicht. Nichts wies darauf hin, dass er log. Er trat einen Schritt auf den sitzenden Kraji zu. "Das ergibt doch gar keinen Sinn! Warum sollten die Truppen aus Nifaya in ihrem eigenen Reich ein Dorf nieder machen?", dementierte er in eindringlichem Ton.
Der Stammesälteste zuckte ratlos mit seinen Schultern und versank in grübelndem Schweigen.
Jadar stellte noch einmal seine Forderung: "Nun, ich habe Euch etwas angeboten! Entweder Ihr nehmt an oder wir werden bald Eure Türen niedertrampeln, um unsere Späher zu holen!"
Ak'kir reagierte nicht gleich. Er war noch immer in Gedanken und auf der Suche nach dem "Warum". Tief in sich drin dachte er, hätte er die Antwort gefunden, doch konnte er nur vermuten. Er sprach es aus. "Unser Stamm war dem Statthalter von Nifaya schon immer ein Dorn im Auge. Er konnte unseren Anblick einfach nicht ertragen und symbolisierte an uns seine Macht. Er wollte die Aufmerksamkeit Bharyas auf uns lenken, weil seine Truppen gegen uns nicht ankommen würden." Erwartungsvoll sah er den jungen Prinzen an, seufzte, als dieser nicht reagierte und fuhr dann fort: "Was die Späher betrifft: Wenn es nach mir ginge, würde ich sie gern laufen lassen, doch Ihr müsst mich begleiten. Sie werden bewacht, und allein durch mein Wort lassen die Wachen sie bestimmt nicht frei."
Jadar zog die Augenbrauen hoch und schüttelte erheitert seinen Kopf. "So einfach lasse ich mich nicht reinlegen. Ich gehe mit euch und werde dann von euren Wachen überrumpelt? So einfältig bin ich nicht."
"Ich biete mich als Geisel an, und Ihr zögert?", spöttisch verzog Ak'kir sein Gesicht. "Wir gehen zusammen, Ihr haltet mir Euren Dolch an den Hals, die Wachen gehorchen. Erzählt mir nicht, dass Ihr damit nicht umgehen könnt!"
***
Der Beginn einer Freundschaft
Im silbernen Schein des athyrianischen Sichelmonds und dem diffusen Licht flackernder Gassenfackeln führte Ak'kir den Prinz von Bharya quer durch den nachtschlafenden Ort. Zur Sicherheit - und auf dessen Rat - hatte Jadar den Alten gefesselt, behielt aber den Dolch in der Scheide. Er würde ihn erst ziehen, wenn sie am Zielort angelangt waren. "Ihr habt gutes Vertrauen in mich", gab Ak'kir denn auch von sich mit leisem Schmunzeln.
"Ihr täuscht Euch. Ich habe Vertrauen in meine Schnelligkeit." Noch während der ersten zwei Worte hielt Jadar seine Klinge in der Hand und drehte sie demonstrativ vor den Augen des Krajis. Dieser lachte hellauf. "Die Forschheit der Jugend."
"Psst, seid leise. Ihr weckt ja den ganzen Ort auf", mahnte Jadar. "Oder wolltet Ihr mich doch ans Messer liefern? Ich hoffe das nicht für Euch." Die letzten Worte kamen fast knurrend.
"Beruhigt Euch! Nachts sind meine Stammesgenossen meist auf der Jagd. Das Dorf ist fast leer."
"Ihr jagt bei Nacht?", fragte Jadar verwundert.
"Wir sind die Kraji, das sagt Ihr doch selbst. Katzenmenschen. Und Katzen jagen bei Nacht!"
Ak'kir führte den jungen Thronfolger humpelnd durch eine enge Gasse. Jadar trat hinter ihn und folgte ihm mit der Hand in seinem Rücken.
"Ihr wisst ...", fragte der Kraji, "wenn ich wollte, könnte ich Euch zerfleischen?" Er hob seine Klauenhand und wackelte mit seinen Krallen. Fackellicht brach sich darin. "Oh ja, gewiss doch!" Jadar blieb ruhig. "Doch glaubt mir, Ihr hättet keine Freude dabei. Ich bin durch eine gute Schule gegangen, und mein Fleisch ist zäh!"
Er überholte Ak'kir und stellte sich vor ihn. "Ich hätte zu gern mal einen Kraji kämpfen gesehen. Mir wurde erzählt, Eure Rasse verwandele sich vor einer Schlacht in reißende Riesenkatzen."
Der Alte blieb stehen. "OkPara hat ganze Arbeit geleistet. Wir kämpfen auch nicht anders als Ihr." Voller Bitterkeit verzog er sein Gesicht. "Es heißt auch, unsere Frauen seien gut in der Liebe. Ich fürchte, deshalb wurden sie auch verschleppt."
Jadar sah den Stammesältesten der Kraji lange an. Sein Herz tat einen wehen Sprung, ohne dass er den Grund dafür kannte. Er hätte dieses gebrechliche Wesen am Liebsten vor Allem Unbill beschützt und befürchtete doch, dass er ihn verletzen müsse, wenn etwas schief lief. Insgeheim richtete er ein Stoßgebet an all seine Götter.
Als er Ak'kirs fragenden Blick sah, verschloss sich sein Gesicht. "Kommt!", sagte er knapp.
Die beiden ungleichen Gefährten wider Willen setzten ihren Weg fort und verschwanden im Dunkel der Nacht.
***
Woanders, nicht weit entfernt
Drei dunkel gekleidete Gestalten saßen auf ihren Pferden und starrten von einem Hügel aus auf Themera herab. "Das schmeckt mir nicht", sagte eine männliche Stimme. "Die letzte Zeit lief ziemlich viel schief." Der Reiter spielte nervös mit seinen Zügeln. "Ich fürchte, Euer Plan geht nicht auf", antwortete ein zweiter. Sein Tier schnaubte verhalten und bewegte sich unruhig unter seinem Reiter.
Der Unbekannte spürte eine Störung in seinem Umfeld und spähte umher, um zu orten, woher. Schließlich wusste er es. "Der Prinz ist in der Stadt", führte er fort und deutete zwischen die Büsche. "Dort ist das Pferd, das er unserem Boten abgeluchst hat."
Der dritte stieg ab und schlich sich näher heran, um sich zu vergewissern. "Ihr habt recht, das ist eines der Unseren." Der erste Sprecher stieg ebenfalls ab. Ein Mondstrahl fiel auf ein altes, gehässig verzerrtes Gesicht. "Er wird nicht mehr lange seine Freude damit haben."
Sein Blick fiel auf einen dicken Baum, an den ein großes, menschenähnliches Wesen gefesselt war. Unter einer zerfetzten Lederrüstung flossen Blutströme an einem schwarz befellten Körper herab und tränkten die spärlich mit Farnen bewachsene, halb trockene Erde. Die Kreatur war halb bewusstlos und stöhnte leise.
Ein höhnisches Lachen klang durch die Nacht. "Ich werde dafür sorgen, dass mein Plan aufgeht. Wenn wir mit den Kraji fertig sind, kommt Bharya dran." Er zückte einen Dolch und ging zu seinem Opfer. Dessen Stöhnen verstummte!
***
Die Befreiung der Geiseln
"Wache!", rief Ak'kir und stellte sich gut sichtbar zwischen zwei Stehfackeln. "Ich will zu den Gefangenen." Jadar hielt sich im Schatten und behielt das Ende des Stricks in seiner Hand, mit dem der Stammesälteste gefesselt war. Die kunstvolle Führung der Seile wirkte wie ein Geschirr und war so konstruiert, dass Ak'kir sich selbst befreien konnte, wenn er dies wollte. "Um diese Zeit? Was gibt es so Wichtiges, was nicht bis morgen warten kann?", fragte einer der beiden Wächter zurück. Unauffällig suchend glitt sein Blick durch die Gegend, schweifte an der Gestalt des Stammesältesten vorbei und hielt sich an dessen Augen fest. Offenbar fiel ihm nichts auf.
"Ich fordere die Freilassung der Geiseln", erwiderte Ak'kir in bestimmtem Ton. Die Kraji begannen zu kichern. "Das soll doch wohl ein Witz sein, oder? Ihr wollt uns nur testen." Jadar zog leicht an Ak'kirs Strick. "Ihr hattet recht", raunte er, "Euer Wort allein genügt anscheinend nicht."
"Pssst", mahnte der Stammesälteste. "Ich versuche es erst noch einmal so, aber haltet schon mal Euren Dolch bereit. Ich bitte Euch aber, die stumpfe Seite der Klinge zu verwenden. Nur, falls Ihr stolpert."
Der andere Wächter sah mit hochgezogenen Augenbrauen zu Ak'kir hin und merkte ebenfalls nichts. Er schickte ihn fort. "Wenn dies eine Prüfung gewesen war, dann keine gute. Ich würde Euch dann bitten, wieder an Euren Schlafplatz zu gehen. Ihr könnt die Gefangenen gerne morgen aufsuchen."
"Jetzt!", zischte Ak'kir leise, an Jadar gerichtet. Dieser verstand kein Wort von den Gesprächen, vertraute Akkir jedoch. Blieb ihm was Anderes übrig?
Der Prinz trat aus dem Schatten und hielt seinen Dolch an die Kehle des alten Manns. "Ich fürchte, die Freilassung der Geiseln duldet keinen weiteren Aufschub", richtete er sich mit einer Drohgebärde an die Wächter. "Ich habe hier Euren Stammesältesten in meiner Gewalt."
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Anfangs dachten Mose und Chafulumisa noch an eine Laune des Alten, als Ak'kir vor dem Verlies auftauchte und von ihnen Zugang zu den Geiseln verlangte.
Besser noch: Dass er sie freilassen wollte, obwohl er doch am selben Tag noch entschlossen gewesen war, sie als Pfand einzusetzen. Doch ach, er war alt, und mit alten Krajis ist es nicht anders als mit alten Menschen: Sie zu respektieren fällt nicht immer leicht, denn manchmal haben sie Launen wie Kinder.
Die beiden Wächter dachten sich nicht einmal was dabei, dass er im Nachthemd war. Er stand vor ihnen wie eine Spukgestalt und hielt sie zum Besten.
Zumindest hatten sie dieses solange geglaubt, bis hinter ihm ein schwarzes Ungeheuer aus seinem Schatten trat und in der Sprache der Nifayaner zu ihnen sprach. Der Mann hatte einen Dolch in der Hand und bedrohte damit ihren Alten, der für sie nicht nur Häuptling, sondern auch so etwas wie ihr Maskottchen war.
Eine Welt brach für sie zusammen. Würden sie Ak'kir verlieren, läge auf den Kraji für immer ein Fluch. Also beugten sie sich der Forderung des Fremden, entfernten sich ans andere Ende der Gasse - wie von ihm verlangt - und warfen den Schlüssel vom Verlies vor den Hauseingang. Von dort aus beobachteten sie den Abmarsch der Geiseln in Ak'kirs Geleit.
In dieser Nacht erhielt Jadar el Hadary von Bharya den Beinamen, der ihm für immer blieb: Der Dunkle Prinz.
Noch bevor die Nacht enden würde, schlüge das Schickal sowohl für die Kraji als auch für die Mahari im Lager hinter den Dünen grausam zu. Von diesem Moment an würde nichts mehr so sein, wie es war. Vertraute würden dann Feinde sein, und niemand würde mehr wissen, wem noch zu trauen war.
Diese Nacht begann mit einem Mord, der an Perfidität kaum zu überbieten war. Sie gipfelte in einem blutigen Hinterhalt unter dem athyrianischen Sichelmond: Demselben, der den Beginn einer Freundschaft beschien. Es war eine Freundschaft zwischen Bestie und Mensch.
***
Ein schrilles Wiehern durchbrach die Stille der Finsternis. Gleich darauf folgte das Geräusch eines furiosen Galopps, und etwas später toste ein schwarzes Gespenst durch die einsam gelegenen Gassen des Orts, der den unlängst erlebten Schrecken noch immer allzu deutlich vor Augen hatte: Wenn auch unter fremder Besetzung. ... Themera!
Ein seltsam aussehender Reiter - halb Katze, halb Mensch - lag bäuchlings und regungslos auf diesem Tier, dessen Hufgetrappel wie Donner von den Wänden widerhallte und die Wesen, die zu alt oder zu jung waren, um mit auf die nächtliche Jagd zu gehen, aus ihrem Schlaf riss. Das Pferd war kohlrabenschwarz und sah aus, wie es hieß: Alshaytan al'Aswad - der schwarze Teufel. Blut troff wie ein stetiger Strom von den Lenden Shaytans herab.
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Von der Befreiung der Späher wussten nur diejenigen, die es betraf. Ak'kir hatte sich bereit erklärt, Prinz Jadar und die beiden Mahari zurück ins Lager zu bringen, zur Sicherheit. Der Kraji wollte verhindern, dass sie jemand aus seinem Stamm ohne sein Wissen verfolgte. Mose und Chafulumisa wussten Bescheid, und sie hatten seinen Weggang geduldet. Beide waren ihm treu ergeben und standen hinter jeder Entscheidung, die dieser traf.
Von den beiden Leichen, die Jadar hinter dem Haus des Stammesältesten hinterlassen hatte, wussten sie nichts, und auch Ak'kir blieb deren Anblick erspart. Dass er darum wusste, hatte genügt, er wollte es nicht auch noch sehen. 'Vermutlich hätte ich nicht anders gehandelt'; hatte er sich gesagt, 'wäre es um die Befreiung von einem unseres Stammes gegangen.'
Somit könnte man denken, dass einem Frieden zwischen den Katzenmenschen und den anderen Völkern Medinas kaum noch etwas im Wege stand, doch es kam anders.
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Dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, merkten der Prinz von Bharyia, seine beiden Späher und der Stammesälteste der Kraji in dem Moment, als sie arglos plaudernd den Ortsrand passierten. Beim Klang dieses schrecklichen Wieherns zuckte Jadar schmerzvoll zusammen und dachte besorgt an sein Pferd. Genau in dem Moment, als er losrennen wollte, um zu ihm zu gelangen, kam es auch schon den Hügel herab.
Hören konnte er das nur am Galopp, Shaytans Konturen verschmolzen sogleich mit der Nacht, doch für den Bruchteil einer Sekunde hatte er noch gesehen, dass etwas auf seinem Rücken lag. Im ersten Moment des Schreckens dachte er an einen Totengott.
"Was ... war das?", fragte ihn Ak'kir. "Eine Kreatur direkt aus der Hölle?" Zitternd klammerte er sich an seinen Stock und griff nach Jadars Arm.
"Ich glaube, das war mein Pferd." Er versuchte, das Donnern der Hufe zu orten, das nun näher kam.
"Da!" Serhat, einer der beiden Mahari, deutete ans Ende der Gasse. Jadar sah nur einen flitzenden Schatten, hörte, wie das Getrappel der Hufe sich von ihnen entfernte und sich in einer parallel liegenden Häuserzeile wieder verstärkte. Zwischendurch blitzte im Licht der Stehfackeln ein schwarzer, wie eine dunkle Fata Morgana schillernder Schatten durch die Lücken der Häuser. Noch einmal erklang Shaytans hysterisches Wiehern - und dann war es still.
***
Für eine gefühlte Ewigkeit hörten die vier Weggefährten nur den eigenen Herzschlag . Selbst ihren Atem nahmen sie nicht mehr wahr. Gerade, als sie sich wieder beruhigten, erklangen mehrere Schreie von sehr weit weg. Ak'kir zuckte zusammen und starrte den Hügel hinauf. Ihm wurde eiskalt. "Das waren ... meine Stammesgenossen. Was geht hier vor?", fragte er. Für einen Moment streifte Jadar sein misstrauischer Blick.
Jadar verengte seine Augen zu Schlitzen und lauschte in die Richtung der sich in kurzen Abständen wiederholenden Schreie oben am Berg. "Es hört sich jedenfalls grausam an, doch meine Männer können es nicht sein. Ich habe ihnen keine Angriffserlaubnis erteilt." Ak'kir sah ihm ins Gesicht. "Ich glaube Euch. Aber irgendetwas ist gerade passiert, was mich beunruhigt. Das mit Eurem Pferd ... Es taucht wie ein wildgewordenes Gespenst in Themera auf und galoppiert durch unsere Straßen ..."
Jadar erwiderte: "Etwas hat es erschreckt. Ich habe Shaytan für einen kurzen Moment gesehen, ein Wesen lag auf seinem Rücken. Und mein Pferd war blutüberströmt." Er schwieg für einen kurzen Moment.
"Wer sagt mir, dass er nicht durch Eure Jäger verletzt worden ist?", argwöhnte er plötzlich und blickte Ak'kir fest in die Augen. "Wenn dem so sei, dann ..."
"Droht mir nicht!", fuhr der Stammesälteste der Kraji heftig auf und wedelte aufgebracht mit seinem Stock. "Ich habe mich für Euch zum Idioten gemacht und Eure Späher befreit. Ich gewährte Euch freies Geleit und begab mich als Gewährleistung dafür in Eure Hände, doch droht mir nicht!"
***
Nachtgestalt
Dunkle Gestalten lagen zwischen Gestein und Gestrüpp oben am Berg auf der Lauer und beobachteten ihre Umgebung. Die Nacht war ihr Freund, und der abnehmende Mond gewährte ihnen genügend Sicht, um ihre unbedarfte Beute zu orten.
OkPara hatte vor dem erneuten Abritt in Nifaya hundert seiner besten und loyalsten Männer aus seiner Miliz erwählt und sie unter strengster Geheimhaltung gen Themera geführt. Sie ritten ausschließlich bei Nacht, versteckten sich untertags in Ruinen und führten die schnellsten Pferde, die Nifaya einst von einem Elitegestüt eines Königs auf der anderen Seite des Meeres erhielt. Zwischen Nifaya und Themera machten sie bei eingeweihten Verbündeten Halt, brachten dort ihre Tiere unter und brauchten nun nur noch zu warten. Als Jadar sein Lager hinter den Dünen aufschlug, waren sie bereits da.
OkPara wusste über jede einzelne Bewegung des Prinzen Bescheid. Der Junge war keine Sekunde unbewacht. Er wusste um die Gefangennahme der Späher, und sein Spion hatte ihn sogar über die letzten Schritte Jadars zu deren Befreiung in Kenntnis gesetzt. Nur einmal war sein Plan ins Wanken geraten: Durch Ak'kir.
Eine friedliche Lösung zwischen den Kraji und Nifaya war nicht nach seinem Geschmack. Er wollte die Kraji-Frauen behalten, die für ihn nicht viel mehr als domestizierte Bestien waren und nur unwesentlich besser als gezähmte Haustiere in seiner Stadt gehalten wurden. Die Kraji-Männer waren ihm gelinde gesagt völlig egal, und am Liebsten hätte er diese Tiermenschen komplett vom Erdboden getilgt. Und wenn alles glatt ging, war er binnen eines Jahres der König Medinas und müsste sich nicht mehr von Bharya tyrannisieren lassen.
Dass Khnemu den von der Residenzstadt abhängigen Statthaltern - und somit auch ihm - stets eine Hand gereicht hatte, vergaß er dabei völlig.
Der Almadin der Handelsstadt Nifaya war wie besessen vom Streben nach Macht, und das Glück war ihm hold.
***
Mehrere Dünen lagen zwischen Themera und dem Lager der Streitmacht Bharyas. Es war ein Katzensprung. Rechterhand des Ortes befand sich ein kleiner felsiger Höhenrücken mit spärlicher Vegetation. Nur etwas weiter oben bot der Boden genügend Feuchtigkeit, um dichteres Buschwerk und sogar kleinere Bäume wachsen zu lassen. Dort lebten auch kleinere und mittelgrößere Tiere, und die Kraji gingen auf diesem Berg auf die Jagd. In der Regel nutzten sie bei ihren Beutezügen die Dunkelheit.
Wenn Krajis jagen, sind sie ganz in ihrem Metier. Sie müssen sich nicht mehr verstellen, um den Menschen gefällig zu sein und bekennen sich zu ihrer Natur. Sie entledigen sich all ihrer Waffen, die sie in Schlachten verwenden, um nicht allzu sehr gegen ihre menschlichen Feinde im Vorteil zu sein, und sind nur noch Tier.
Die Legende erzählt, Krajis seien die grausamsten Wesen auf diesem Planeten, doch das ist nur ein Gerücht. Die Wahrheit ist, dass sie alles Leben respektieren, und selbst wenn sie Tiere erlegen, um sich zu ernähren, bedanken sie sich bei der Natur für ihre vielfältigen Gaben und entschuldigen sich im Gebet bei dem Wesen, das für ihre Ernährung sein Leben verlor.
Im Umgang mit menschlichen Feinden versuchen sie, Weisheit walten zu lassen und nicht im Zorn zu handeln. Doch wehe, etwas weckt den Hass in diesen Wesen: Dann können sie unversöhnlich sein! Spätestens dann - und erst da - setzen sie ihre Krallen ein. Es heißt, sie seien aus Stahl!
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Das Glück war OkPara das erste Mal hold, als König Khnemu mit seinem Sohn und seiner Streitmacht in der Oase Faryfra angelangt war, sich in der letzten Nacht vor der Weiterreise nach Themera im Alleingang in die Wüste begab und sich dort verirrte. Ramos, einer der Maharis, war Nifayas Informant und bereits seit Bharya dabei. Er folgte dem König, als dieser das Lager verließ, und verdankte diesem Umstand sein Leben. Am Tag darauf griffen die Goldenen Skorpione an und forderten etliche Opfer.
Auch Khnemu war das Glück in dieser Nacht hold. Hätte er sich nicht in die Wüste begeben, um dem mit seiner Karawane heimkehrenden OkPara ein paar Fragen zu stellen, wäre er vermutlich ebenfalls unter den Opfern in Faryfra gewesen. An Ort und Stelle hatte es sich für den König dann herausgestellt, dass er nur einem Traum gefolgt war - und über dieser Erkenntnis verlor er sich im Nichts. Dort war er verblieben, bis ihn die Handelskarawane aufbrachte, die beauftragt gewesen war, die Panzer der Goldenen Skorpione nach Bharya zu bringen.
Als sie dort ankamen, hatten sie eine weitere traurige Last auf ihren Karren: Den im Sterben liegenden König. Somit hatte sich Khnemus Glück in Pech umgekehrt.
In jenen Tagen trieb sich OkPara stets in der Gegend herum, um Kontakt zu Ramos zu halten. Seine Kamelkarawane hatte er allein nach Hause geschickt, holte seine drei Pferde aus ihrem Versteck und hielt sich mit Abbas und Abanos zusammen bei einem Gastgeber in der Nähe Faryfras auf. Ilianos ahnte zwar nichts von seinen Plänen, doch Obdach gewährte er gern.
Nifayas Almadin plante seine Strategie in seinem Haus bis ins letzte Detail und schob seine beiden Leibwächter zwischen den jeweiligen Stationen, die er zu berücksichtigen hatte, hin und her wie Figuren in einem Spiel. Die Zeit, die Jadar und seine Männer durch die sie begleitenden Umstände bis Themera verloren hatte, kam ihm zupass.
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Die Nacht des Athyrianischen Sichelmonds
Die Sichel des Mondes war zwischen dreiviertel und halb, als OkParas vorletzter Schachzug erfolgte. Wieder war das Glück auf seiner Seite, als Prinz Jadar el Hadary mitten in der Nacht nach Themera ritt. Ramos folgte ihm erneut auf den Fuß und blieb dabei unentdeckt, doch er hielt auch weiter zu seinem Auftraggeber über dessen beiden Wachen Kontakt. So erfuhr OkPara auch von der Befreiung der bharyanischen Geiseln.
Alles Weitere, was sich ansonsten ergab, war jedoch Zufall. Es hatte alles gepasst: Die nächtlichen Lichtverhältnisse, die Jagd der Katzenmenschen, der gefangengenommene Kraji, der das erste Opfer dreier Nachtgestalten geworden war, das Teufelspferd. Shaytan hatte seinem Namen alle Ehre gemacht und spaltete mit seinen gewaltigen Hufen Abanos den Schädel, während dieser gemeinsam mit OkPara und Abbas den toten Katzenmann auf seinen Rücken band. Doch dann kamen weitere Männer hinzu, fesselten das Pferd mit mehreren Seilen und erledigten alles Weitere.
Als sie mit allem fertig waren, bohrten sich stählerne Krallen in seine Flanken, rissen sein Fleisch und versetzten Shaytan in Panik. Sie ließen ihn frei, gaben ihm einen deftigen Klaps ...
OkParas Plan ging auch tatsächlich auf, auch wenn es am Anfang dank Ak'kirs Weisheit und der darauf basierenden diplomatischen Lösung zur Befreiung der von den Krajis gefangengenommenen Späher gar nicht danach aussah. Shaytan ging durch und brachte den heimtückisch gemeuchelten Katzenmann direkt nach Themera. Das stumme Einverständnis zwischen Ak'kir und Jadar kam ins Wanken, doch glücklicherweise stand der Häuptling der Krajis zu seinem Wort. Er blieb an seiner Seite.
Mit dem geisterhaften Erscheinen von Alshaytan al'Aswad war es jedoch noch nicht genug. Jadars Pferd war spurlos zwischen den Häusern Themeras verschwunden. Das Einzige, was er hinterlassen hatte, war ein letztes Wiehern in einer Nacht, in der alles schlief. Jadar hatte es gehört und malte sich allen möglichen Schrecken aus.
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Die Bilder in seinem Kopf waren kaum zu ertragen. Shaytan und er waren zu einer Einheit geworden, nun sah er seinen Schwarzen Teufel blutüberströmt und sterbend am Boden liegen.
Zumindest war das seine Sorge. Alles Andere um ihn herum verblasste. Jadar interessierte nur noch sein Tier und vergaß darüber hinaus den Schutzauftrag für seine Begleiter. Diese brachten sich ihm in Erinnerung: Die aus dem Verlies herausgepressten Mahari waren beide vom Schrecken der Verhaftung gezeichnet und hatten obendrein noch in den letzten Marschtagen der Streitmacht kaum Schlaf gehabt.
Ihr selbsternannter Feldherr - der Prinz - hatte seinen Männern in der Sorge um seinen Vater, den König, alles abverlangt und zur Krönung Bennu, Aron und Serhat nach Themera geschickt. Ihr Auftrag war gewesen, den Ort zu erkunden und ihm zu berichten. Unglücklicherweise wurden sie dabei von den Krajis erwischt und landeten in deren Verlies. Bennu kam durch Ak'kirs Zutun frei, kehrte ins Lager zurück und erfüllte den Auftrag, den er als Bedingung zu seiner Freilassung von dem Stammesältesten erhalten hatte. Nachdem Jadar seine Späher gescheitert sah, machte er sich selbst auf den Weg - und so schließt sich der Kreis.
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Kaum war der erste Schrecken verwunden, schlugen die Dämonen der Nacht ein zweites Mal zu. Ak'kir erkannte die Stimmen seiner schreienden Stammesgenossen sofort, und er wusste sogleich: Oben auf dem Berg lauert der Tod. Das Misstrauen gegen Prinz Jadar, etwas damit zu tun zu haben, schwand jedoch, als er ihm in die Augen sah. Er glaubte seinen Worten.
Nichtsdestotrotz sah sich der Kraji gezwungen, zu handeln. "Rennt!", riet er dem Prinzen. "Nehmt Eure beiden Männer und flieht über die Dünen. "Wenn das dort oben passiert, was ich gerade vermute ...", er wies mit seinem langen Gehstock den Berg hinauf, "werden unsere Wachen nicht mehr lang auf sich warten lassen.
"Ohne mein Pferd gehe ich nirgendwohin", antwortete Jadar und richtete seinen Blick auf einen Fixpunkt zwischen den Häusern Themeras. Der Trotz der Jugend schlich sich in seine Stimme und verbarg dahinter die Trauer.
"Herr, bitte lasst uns ins Lager, wir haben bereits genug durchgemacht. Wir sind froh, wenn wir schlafen können", bat Serhat und senkte erschöpft seinen Kopf. Der Andere tat die ersten Schritte die höchste Düne hinauf und kämpfte sich durch den Sand.
Ak'kirs Stimme wurde eindringlich: "Prinz Jadar, es gilt um Euer Leben. Wenn mein Stamm auf die Idee kommt, dass Eure Krieger unsere unbewaffneten Jäger angreifen, dann habt Ihr es verwirkt. Ich kann Euch keinen Schutz mehr gewähren, selbst wenn ich bei Euch bleibe." Besorgt lauschte er weiterhin in die Nacht und spähte angestrengt in Richtung der Stabsstelle im Ortskern.
"Es bleibt dabei!" Jadar kehrte zurück in die Gegenwart und sah seinen alten Begleiter entschlossen an. "ich bleibe und suche nach Shaytan."
Ak'kir schüttelte ob so viel Unvernunft seinen Kopf. "Ich verstehe Euch nicht! Wenn Euch etwas passiert, dann sind Eure Krieger ohne Schutz. Habt Ihr denn keinen Funken Verantwortungsgefühl?" Er drängte ihn hinter eine Mauer. "Lasst aber wenigstens Eure Männer ziehen."
Jadar blickte Aron hinterher. Dessen Eigenmächtigkeit erregte sofort seinen Zorn. "He, du da!", rief er ihm nach. "Du bleibst!" Er ignorierte das Unverständnis in Ak'kirs Augen. "Ihr dürft gehen", sprach er zu Serhat. "Richtet SeKani aus, dass ich nachkommen werde. Er soll Stellung halten, aber auf gar keinen Fall angreifen lassen. Bekommt ihr das hin?"
Der Mahari nickte und blickte ihn dankbar an. "Aber was ist mit Aron?"
"Ich brauche ihn noch!", erwiderte Jadar knapp. "Alles Weitere braucht Eure Sorge nicht sein. Beeilt Euch und rettet Euer eigenes Leben!"
Währenddessen war der zweite Späher im unteren Drittel der Düne stehen geblieben und hatte sich umgedreht. Er blickte von oben zu Jadar herab und schien zu überlegen, was er nun tun solle. "Kommt herunter", schrie Jadar erbost. "Sofort! Sonst hole ich Euch!"
Aron zuckte zusammen, ließ sich fallen und rutschte eilig die Düne herab. "Seid leise", zischte Ak'kir. "Ihr macht all meine Bemühungen für eine diplomatische Lösung zunichte." Betreten sah der junge Thronfolger zu Boden. "Verzeiht!", doch als er wieder hochsah, war kein Funken Vernunft in seinen Augen zu sehen.
Jadar wartete auf Aron, griff ihn am Arm und zog ihn hinter einen Schutzwall, ohne sich noch einmal nach seinem Beschützer umzusehen.
"Zieht Eure Gewänder aus", befahl er seinem Späher. Im gleichen Atemzug entledigte er sich seiner eigenen Kleider.
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Mit großen Kraji-Augen verfolgte Ak'kir Jadars Tun und dachte, er würde verrückt. 'Wenn das mein Sohn wäre ...' Er griff sich an den Kopf, nahm seinen Stock und humpelte so schnell wie möglich zu den beiden Männern.
"Was um aller Götter Willen habt Ihr nun wieder vor?", fragte er aufgebracht.
Jadar und Aron hatten die Kleidung vertauscht. Der Späher trug nun die dunklen Gewänder des Königshauses Bharya und der Prinz die sandfarbene Kluft eines Mahari. Er reichte Aron einen Lederbeutel mit Schlamm.
"Reibt Euer Gesicht damit ein", befahl er und warf einen Blick zu Ak'kir. "Wie ich bereits sagte, ich geh hier nicht weg ohne mein Pferd. Aber er ...", sein Kopf wies in Arons Richtung, "bekommt einen Spezialauftrag. Und wenn er den nicht ordentlich erledigt, dann war er die längste Zeit einer von uns."
"Ja, das wird mir so langsam bewusst", erwiderte Ak'kir ironisch, zog seine weißen Schnurrhaare hoch und lachte spöttisch. "Aber was genau ist mir noch nicht ganz klar." "Nun, er sieht auf dem Berg nach dem Rechten", erklärte der Prinz, ohne Aron anzusehen. "Er ist ein gut geschulter Mahari, bekommt sogar mein Chepesch mit und müsste sich durchaus behaupten können, wenn ihm etwas passiert."
"Chepesch?", fragte Ak'kir.
"Mein Krummschwert." Jadar hob seine Waffe und zeigte sie ihm. "Geschmiedet in der besten Schmiede Bharyas, aus dem härtesten Stahl und am Schärfsten geschliffen. Ein Hieb damit ...", er fuchtelte demonstrativ und drehte sich dabei im Kreis, "und der Feind ist einen Kopf kürzer."
"Aha!" Der Kraji verbarg seine Erheiterung. Offenbar hatte der Prinz seinen Kummer um seinen Schwarzen Teufel vergessen, doch mit dieser Meinung hatte er sich getäuscht.
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Aron verschmolz mit der Nacht und führte den Auftrag des Prinzen aus. Jadar hatte ihm die besten Wege gezeigt, wie er den Gipfel des Höhenrückens erreichen könne, ohne gesehen zu werden.
Der Späher folgte seinem Instinkt und den Geräuschen, darauf achtend, die Schatten von Felsvorsprüngen und die spärliche Vegetation des Sandsteinhügels zu nutzen, um sich zu verbergen. Er war zu Fuß.
Als er oben angelangt war, sah er als erstes eine Leiche mit zertrümmertem Kopf. Er speicherte sie in seinem Gedächtnis, unterdrückte den in ihm aufsteigenden Schreckensruf und lauschte hinaus in die Dunkelheit. Immer mal wieder ebbte von weiter oben ein Schrei auf und dann wieder ab. Was ging hier vor?
Die Schreie hörten sich unmenschlich an, doch dass es Todesschreie waren, lag auf der Hand. Im Schein des Mondes suchte er nach dem nächsten Pfad für den Aufstieg, begutachtete ihn und beschloss dann, abseits des Weges im Schatten der Felsen zu bleiben. Diesmal würde er auf keinen Fall scheitern!
Gerade, als er nach oben sah, schob sich ein riesiger Schatten vor den silbernen Mond. Doch noch bevor es passierte, sah er fast ganz oben am Gipfel eine huschende Gestalt, die genauso gekleidet war wie er selbst. Dann fiel es ihm ein: Auch der Tote war schwarz gewandet!
Mit klopfendem Herzen drückte er sich in eine vertikale Felsspalte hinter ihm und schloss seine Augen, um seinen Gehörsinn zu schärfen.
Für einen Moment blieb er stehen und versuchte, die Geräusche der Natur zu unterscheiden. Dabei schossen ihm sämtliche Überlegungen durch seinen Kopf.
Er sammelte Fakten! So zum Beispiel wurde ihm klar, dass die Leiche, die er gefunden hatte, erschlagen worden war. Das war keine Kampftechnik, die von Milizen angewendet wurde, denn es war gegen den Kodex. Wer dagegen verstieß, war kein tapferer Krieger, sondern ein meuchelnder Mörder.
Das zweite, was ihm seltsam vorkam, war die Uniform selbst. Kein Mahari trug schwarz, denn das waren die Farben vom Königshaus. Hatte er nicht gerade eben die Kleidung mit dem Prinzen getauscht?
Aron hielt für einige Sekunden den Atem an und lauschte erneut. Von weiter oben erklang ein Sirren, das er noch niemals gehört hatte. Kurz darauf folgte ein weiterer gellender Schrei.
Schließlich öffnete er seine Augen und sah noch einmal hinauf zum Mond. Der Schatten hatte sich verflüchtigt, die Sicht war wieder frei. Aron löste sich aus seinem Versteck.
***
Im Dorf
In der Zeit zwischen der Befreiung der bharyanischen Geiseln und deren Ankunft am Ortsrand von Themera war es den beiden Gefängniswächtern mulmig geworden. Beide zerfleischten sich in Selbstvorwürfen, dass sie den Alten hatten ziehen lassen.
"Wir waren geblendet", sprach Chafulumisa zu Mose und zupfte verärgert an seinem Fell.
"Ja, und nun sind die Gefangnen weg und Ak'kir in den Händen unserer Gegner." Der andere Kraji schnatterte wütend mit seinen Zähnen, und seine Worte wurden von zischenden Geräuschen begleitet. Er stieß seinen Speer in den weichen Boden, der an manchen Stellen noch matschig vom Großen Regen war.
Mose und er gingen die Straße zurück bis zum Verlies. Auf den Stufen lag noch immer ihr Schlüsselbund zum Gefängnis der Kraji. "Wir müssen die Hauptwache informieren", schlug Chafulumisa vor, doch sein Gefährte schüttelte seinen Kopf. "Ak'kir hat strikt untersagt, dass wir ihn verfolgen."
Plötzlich überschlugen sich die Ereignisse. Shaytan galoppierte schnaubend auf sie zu und rannte beide Wächter über den Haufen.
Mose erwischte er ganz, und der Kraji ging mit einem erschrockenen Fauchen zu Boden. Aus vielerlei Wunden blutend und mit verständnislosen Augen starrte er Chafulumisa an, der nur von der Seite erwischt worden war und nun an der Hauswand klebte. "Du ... musst zur ... Wache", stammelte Mose. "Hol ... Hilfe." Er maunzte kläglich und blieb dann still.
Der andere Wächter war mit dem Schrecken davon gekommen. Durch den Aufprall tat ihm zwar alles weh, doch am Schlimmsten war sein Schock. Abergläubisch stieß Chafulumisa ein Banngebet gegen Dämonen aus, löste sich von der Wand und beugte sich schreiend über Mose, das Geräusch von dem Getrappel der Hufe im Ohr. Der Krajimann schüttelte ihn verzweifelt und rief wiederholt seinen Namen. Es dauerte eine ganze Weile, bis er begriff.
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Nachdem Jadar seine Späher an ihre jeweiligen Zielorte entsandt hatte, sprach er zu Ak'kir: "Kehrt auch Ihr nach Hause zurück, ich möchte Euch ungern gefährden."
Der Kraji-Mann wollte davon nichts wissen. "Von den Gefängniswächtern habt Ihr nichts zu befürchten, sie hatten strikte Anweisung, mir nicht zu folgen und mir zu vertrauen. Außer uns vier kennt jedoch niemand den Hintergrund von Eurem Aufenthalt in unserem Dorf. Wenn Ihr der Hauptwache von Themera in die Hände fallt ..."
"Dann werde ich kämpfen müssen", führte Jadar seine Worte fort und trat aus seinem Versteck.
"Wartet!", Ak'kir griff nach seinem Arm. "In dem Fall bleibe ich bei Euch."
Er musterte den jungen Prinzen von oben bis unten. "Ihr seid nicht einmal mehr bewaffnet!"
"Ich habe noch meinen Dolch und meinen Verstand." Ak'kirs graue Augen blieben unverwandt auf ihn gerichtet. Jadar sah den Zweifel darin. "Und meine Schnelligkeit", fügte er an. "Glaubt nicht, ich sei nur ein verweichlichter Königssohn." Er betrat den Innengang hinter dem zerstörten Schutzwall und wandte sich in die Richtung, in der Shaytan als Letztes gewesen war. "Und nun schweigt! In dieser Nacht brauche ich mein Gehör." Er verschwand in einer Gasse.
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Das Zahnrad des Schicksals setzte sich in Bewegung. Chafulumisa hatte sich von seinem Schock erholt und kam zu der Erkenntnis, dass er mit der mysteriösen Situation nicht allein fertig wurde.
Der schwarze Dämon - wie er glaubte, dass sie es mit einem solchen zu tun gehabt hatten - war bereits wieder ums Eck verschwunden, doch er hörte noch immer das Gedonner der Hufe, einen schrillen Höllenschrei ...
Dann nichts mehr! Einsam und verlassen stand er neben der Leiche seines toten Gefährten, und Tränen kullerten über sein halb befelltes Gepardengesicht. Die Stille mit Worten zu durchbrechen vermochte er nicht. Er wagte es nicht, dachte er doch, der Dämon käme wieder zurück, um auch ihn noch zu holen.
Trauernd holte er Moses verbogenes Schild aus der Ecke, in der es gelandet war, und legte es auf dessen Brust. Er blieb eine Weile über den zerschmetterten Körper gebeugt und hielt mit dem Gefährten ein stummes, verabschiedendes Zwiegespräch.
Chafulumisa erhob sich entschlossen und machte sich auf den Weg. Cyr, der Befehlshaber der Hauptwache, musste unbedingt davon in Kenntnis gesetzt werden, was alles geschehen war.
Der wie in Trance wandelnde Kraji spähte in die umliegenden Hinterhöfe hinein, immer auf der Suche nach dem Schwarzen Dämon. Die Angst, dass er auch ihn holen könne, begleitete ihn bei jedem Schritt. Bange mied er die Gassen zwischen den Häusern und arbeitete sich über unwegsames Gelände zum Ortskern vor.
Dass er dort ankam, dazu kam es nicht mehr. Eine schwarz vermummte Gestalt sprang ihn von hinten an und rammte einen Dolch in seinen Rücken. Der tote Körper wurde auf einen Karren verladen und von dannen gebracht. Das Ganze ging so schnell und so lautlos vonstatten, dass niemand etwas davon mitbekam. Ein paar Augenblicke später vernahm Ak'kir nur noch das Rumpeln der Räder.
***
Die grausigen Nachtgeschehen zogen ihre Spuren quer durch Themera. Shaytan wurde an vielerlei Orten gesehen und versetzte die wenigen Kraji, die sich noch im Dorf befanden, in Angst und Schrecken. Mit Getöse und Schaum vor dem Maul durchbrach er die Mauer des Gebäudes, in dem die Stabsstelle der Hauptwache war. Sein Schmerzmarathon endete in den Fängen von Cyr.
Der Zorn der in Themera verbliebenen Krajis richtete sich in den nächsten Stunden nicht mehr nur auf Nifaya, sondern auch auf Bharya. Noch in derselben Nacht wurden Jadar und Ak'kir verhaftet. Beide landeten in dem Verlies, aus denen sie mit einer Finte die beiden gefangengenommen Späher freigepresst hatten. Zwei Tage später wurden sie vor Gericht gestellt!
Die Beweislast war erdrückend: Durch das Aufschlagen seines Militärlagers direkt vor Themera wurde Prinz Jadar el Hadary eine unangekündigte Aggression gegen die Kraji vorgeworfen. Der Befehlshaber der Hauptwache hatte durch eine anonyme Depesche in den Mittagsstunden vor der Sichelmondnacht davon Kenntnis erhalten und war von diesem Moment an auf der Hut. Die durch Ak'kir gefangengenommenen Späher hatten diesen Umstand letztendlich bestätigt.
Darüber hinaus zog Cyr aus diesem geheimnisvollen Dokument, von dem niemand wusste, woher es gekommen war, den Schluss, dass Prinz Jadar el Hadary seinem Volk gegenüber ebenso feindlich gesinnt war wie die Nifayaner. Mehr noch: Es hieß, er sei ebenso wie OkPara darauf aus, seinen Stamm auszumerzen, um Nifaya zu helfen. Somit war die Hoffnung der Kraji dahin, dass Bharya und der amtierende König eventuell auf ihrer Seite stand.
Ak'Kir warf man Hochverrat am eigenen Stamm und Paktieren mit dem Feind vor, weil er die Späher eigenmächtig laufen ließ. Darüber hinaus fand eine Patrouille die drei Leichen im Ort, die jene Nacht hinterließ. Die vierte auf Shaytans Rücken wurde ebenfalls Jadar zur Last gelegt.
All das und noch vieles mehr warf ein sehr dunkles Licht auf Bharya. Auf dem Berg oben hatte OkPara gemeinsam mit hundert Dunkelmahari unbewaffnete Kraji wie Tiere mit Pfeil und Bogen erlegt.
Die Spuren seiner Untaten legte der Almadin so, dass ein Anderer der Schuldige war. Jeder Krug geht jedoch solange zum Brunnen, bis er bricht, und so kam es dann auch!
Vom Tag der tragischen und unerwarteten Rückkehr nach Bharya an blieb Sethos solange am Bettlager seines todkranken Königs, bis er sich vergewissern konnte, dass es ihm besser ging. Dieser war bei Faryfra dem todbringenden Biss eines Skorpions zum Opfer gefallen, wie der Anführer der Handelskarawane dem militärischen Oberausbilder Bharyas berichtet hatte, als er Khnemu brachte.
Gepflegt wurde der sterbende König von den besten Almas und einer Tempelpriesterin, die nicht mehr von seiner Seite wich. Die junge Frau hatte behauptet, sie hätte ein Mittel, das den Tod vom König abkehren könne. In ihrer Verzweiflung hatten Sethos, Gahiji und Narmar nach jedem Strohhalm gegriffen und ließen sie zu ihm.
Als sich ihre Worte zwei Tage später zu bewahrheiten schienen, machte sich Sethos sofort auf den Weg und folgte den Spuren von Khnemus erstgeborenem Sohn. Der aus seiner Ohnmacht erwachte König hatte ihn beauftragt, den Jungen nach Bharya zurückzuholen und dafür zu sorgen, dass Jadar keine Dummheiten macht.
Zu seiner eigenen Sicherheit rekrutierte Sethos einhundert Mahari und führte sie gen Faryfra, weil er dachte, dass er Jadar dort fände. Stattdessen musste er dort erfahren, dass der Prinz mit der Königlichen Streitmacht gen Themera vorgerückt war.
Nach einer kurzen Nachtrast schrieb er eine Depesche mit Erlaubnisgesuch bezüglich Betretens eines Hoheitsgebiets, schickte einen seiner Kamelreiter vor nach Themera und kündigte dort dem Ältestenrat der Kraji seine Ankunft an. Als dieser nicht wie erwartet nach vier Tagen zurückgekehrt war, ahnte er, dass etwas im Argen lag. Erneut brach er auf. In der zweiten Nacht kamen sie an.
***
Am sternklaren Himmelszelt stand hell die Halbsichel des Mondes. Silbern glitzernd lag die Wüste zu ihren Füßen, als Sethos mit seiner Einheit aus Richtung Faryfra kam. Sie durchkämmten Düne für Düne auf der Suche nach dem Lager des Prinzen.
Kurz vor Themera erwartete sie ein grausiger Anblick. Aus der Höhe erblickte Sethos niedergerissene Zelte. Kleine Feuer flackerten an manchen Ecken, und blutbefleckte Schilde blitzten im Mondschein.
„Mahari! Einen Schritt schneller!“, befahl er seinen Männern und trieb sein Kamel die Düne herab in Richtung des Lagers.
Sethos' Mahari brachten ihre Kamele in Sicherheit und betraten gemeinsam mit ihm das Rund. Neben einem Wachfeuer fiel ihr Blick auf einen enthaupteten Mahari. Fassungslos umringten sie den Kameraden.
Sethos kniete neben ihn und legte eine Hand auf seine Brust. „Was ist hier passiert, Bruder!“, flüsterte er leise und schloss kurz die Augen. Leise murmelte er ein Gebet zu den Göttern, stand auf und befahl seinen Begleitern: „Schwärmt weiter aus und durchsucht das Lager. Vielleicht findet ihr noch Überlebende die uns berichten können, was hier geschehen ist!“
Sie stießen auf weitere tote Männer. Nachdenklich durchschritt Sethos das ansonsten verlassen daliegende Kriegsfeld. Irgendetwas kam ihm hier äußerst seltsam vor. Er kletterte die höchste Düne hinauf, die das Lager von Themera trennte, und schaute sich nach allen Seiten um. Sein Blick glitt zu dem kleinen Dorf, doch nichts sah nach einer Schlacht aus. Es lag friedlich vor seinen Augen und war offenbar unbewohnt.
Plötzlich hörte er hinter seinem Rücken Geräusche. In einigen Zelten begann es zu rascheln, und es murmelten Stimmen. Er drehte sich um, rannte wieder zurück und folgte den Lauten.
Aus dem Offizierszelt trat ihm SeKani entgegen und verneigte sich. "Sethos!", grüßte er.
Dieser rief zuerst durchs Lager: "Es gibt noch Überlebende. Kümmert Euch drum!" Dann wandte er sich an SeKani. "Was ist hier passiert?"
Der Offizier schüttelte ratlos den Kopf. "Ich weiß es nicht. Wir wurden im Schlaf überrascht, und all unsere Wachen sind tot." Sein Blick glitt verwirrt umher, und SeKani starrte verständnislos auf die herumliegenden Körper. "Kraji", murmelte er, als er den Leichnam eines Katzenmenschen sah. Ein Speer steckte in seinem Rücken.
"Könnte es ein Hinterhalt der Krajis gewesen sein?", hakte Sethos nach.
"Ich ... weiß ... es nicht. Ein Kampf fand nicht statt, denn das hätten wir bestimmt gehört."
Die beiden Männer liefen nebeneinander her und machten sich gemeinsam ein Bild. Vor jedem dritten Zelt lag ein toter Kraji.
"Wo ist der Prinz?", fragte Sethos den Offizier. Wieder schüttelte SeKani langsam den Kopf.
Sethos hob eine Braue an, wandte sich von ihm ab und kletterte erneut eine Düne hoch. Mit den Händen formte er vor seinem Mund einen Trichter und rief: „Mahari! Dreht jede Leiche um. Wir müssen wissen, ob Prinz Jadar eine von ihnen ist!“ Er kam wieder herunter und half gemeinsam mit SeKani beim Suchen. Sein Antlitz war von Trauer ummantelt.
Aus unversehrten Zelten traten wenig später schlaftrunkene Gestalten und sahen sich fassungslos um. "Was ist hier passiert?", fragte ein Mahari im Unterkleid. Er bekam keine Antwort.
Weitere kamen hinzu und gesellten sich zu den drei Männern. Sethos befahl: "Helft meiner Einheit beim Suchen nach Prinz Jadar. Ich muss wissen, ob er bei den Toten ist. Und vielleicht kann mir ja einer von Euch erklären, was hier los war." Doch auch die Männer schüttelten ratlos den Kopf. "Wir haben geschlafen und nichts gehört."
Plötzlich rief ein Mahari nach ihm. "Seht!" Er eilte zu ihm und stieß auf eine Kraji-Leiche. Diese hatte einen stählernen Pfeil im Rücken.
SeKani kam hinzu. "Bogenschützen!", rief er aus. "Nifaya hat Bogenschützen!"
Etwas weiter vorn lag ein toter Mahari in den Gewändern Bharyas.
Seine Hand hielt etwas umklammert. Sethos öffnete sie und starrte verblüfft auf die Münze mit OkParas Gesicht.
***
Aron: Vor Sethos' Ankunft
Der von Jadar ausgesandte Späher erklomm die Felsen und näherte sich dem Geschehen unterhalb des Berggipfels. Die sich verdichtende Vegetation machte es ihm einfach, sich zu verbergen. An einem etwas stärkeren Baum bemerkte er dicke Stricke, die auf dem Boden lagen. Sie waren blutgetränkt. Seiner Intuition folgend hob er einen davon auf und verwahrte ihn in einer Tasche seines dunklen Gewands.
Als er Stimmen von weiter oben hörte, legte er sich inmitten dichtem Dornengestrüpps auf die Lauer und spähte zu dem Pfad rechterhand hinüber, von dem sie gekommen waren. Der Weg auf dieser Seite des Bergs war gut begehbar und sogar befahrbar, wie er aus den Ochsenkarren schloss, die nach unten fuhren. Auf ihren Ladeflächen schienen größere Lasten geladen zu sein. Sie wurden von Decken verborgen, doch aufgrund der Form hätte Aron schwören können, dass sich darunter Körper befanden.
Er robbte durch die Büsche und erkundete liegend das Gelände um sich herum. Dabei bemerkte er mehrere reglose Leiber. Bei genauerem hinsehen entpuppten sie sich als die Leichen von Krajis. Mit einem Rundumblick begann er zu zählen. Allein in seinem direkten Umfeld kam er auf zwanzig.
Er schloss die Augen und lauschte hinaus in die Nacht auf der Suche nach Leben, doch außer dem Gerumpel der Ochsengespanne und den Stimmen der Treiber war alles ruhig. Mit gesträubten Nackenhaaren erhob er sich und machte sich an den Abstieg. Er hatte genug gesehen!
***
Es heißt, die Kraji wurden einst von einer Göttin geschaffen mit dem Auftrag, sich zu vermehren und ihre Nachfahren - die Katzen - vor dem Einfluss des Menschen zu schützen. Statt jedoch ihre Mission gut zu erfüllen, gerieten sie selbst in deren unguten Bann. Sie passten sich an, wandelten ihre Gestalt und zogen den Zorn der Göttin auf sich. Zur Strafe wurden sie sterblich und dazu verdammt, halb Mensch und halb Katze zu sein und fortan unter den Menschen zu leben.
Um ihren Fehler sühnen zu können, erhielten die Katzenmenschen mehrere Gaben. Eine davon war die Sprache der Tiere und die Kunst, sie zu verstehen. Weitere Gaben waren Einfühlungsvermögen und Lernfähigkeit. Mit der letzteren lernten sie die Fertigung und den Einsatz von menschlichen Waffen.
Da es ihnen per göttlichem Gesetz verboten war, ihre stählernen Krallen gegen Menschen zu nutzen, war ihnen diese letzte Gabe äußerst wichtig geworden, vor Allem, als die Jagd vonseiten der Nifayaner auf sie begann. Viele Katzenmänner, Kinder und Alte wurden von OkPara und seinesgleichen getötet, die schönsten Frauen unter ihnen geraubt und versklavt. Es gab bald keinen Ort mehr, wo sie sich verbergen konnten, also schlugen sie eines Tages zurück. Leben um Leben wurde von den Chimären vergolten im fairen Kampf.
Als OkPara beschloss, sie komplett vom Erdboden zu tilgen, überfiel er an einem Markttag den Ort Themera und tötete sein eigenes Volk, um zu erreichen, dass sich ein jeder Mediner mit dem Stamm überwarf. Zu dieser Zeit waren die Kraji und Themera noch nicht zerstritten und trieben gemeinsamen Handel.
Er erklärte die Katzenmenschen für vogelfrei, setzte auf sie ein Kopfgeld aus und bat in Bharya um Verstärkung seiner Armee. Als ihm diese Bitte nur zum Teil erfüllt worden war, wuchs in ihm der Hass und der Entschluss, selbst den Thron zu erobern. Da OkParas Schachzug schon einmal erfolgreich gewesen war, feilte er an der alten Strategie und verbesserte sie zu äußerst morbider Perfektion.
Erneut plante er, zwei Parteien aufeinander zu hetzen und der lachende Dritte zu sein. Und doch ließ er eines außer Acht: Dass das Leben kein Schachspiel ist! Somit galt es damals wie heute: Jeder Mörder macht einmal Fehler!
***
OkParas erster Fehler war, die Auffassungsgabe der Katzenmenschen zu unterschätzen. Zwar ging sein Plan teilweise auf, als das Prinzenross in der Nacht vor Sethos' Ankunft in Themera einfiel. Zuerst traf ein, was er und seine beiden Leibwächter kalkuliert hatten: Der tote Kraji auf dem Rücken von Shaytan wurde dem ihrer Meinung nach naiven Königssohn aus Bharya in die Schuhe geschoben, und Jadar wurde verhaftet.
Zumindest hatte er Ramos' Worten geglaubt, als er ihm davon erzählte. Doch dann sahen OkPara und Abbas den Prinzen noch in derselben Nacht oben am Berg. Diesen Irrtum hatte sein Informant nicht überlebt.
Der Statthalter Nifayas rammte ihm höchstpersönlich einen Dolch ins Herz, und anschließend landete sein Leichnam auf einem Karren. Zielort: Das Militärlager der bharyanischen Streitmacht.
Danach machten sich OkPara und zehn seiner Komplizen auf die Jagd nach der dunkel gekleideten Gestalt, die sich an ihre Fersen geheftet hatte. Dass es jemand Anderes als der Prinz sein könnte, kam ihnen nicht in den Sinn, und dass Aron keiner von ihnen war, sahen sie an der fehlenden Kopfbedeckung. Die Dunkelmahari waren bis auf Augen, Mund und Nase komplett vermummt.
Der Späher war gerade auf halber Höhe und wähnte sich bereits in Sicherheit, als er einen lauten Ruf von oben hörte: "Der Prinz! Ergreift ihn!"
Kurz darauf sirrten auch schon Pfeile an seinen Ohren vorbei. Geistesgegenwärtig ließ Aron sich fallen und rutschte seitlich über eine Böschung hinab.
Von seiner Deckung aus nahm er vier uniformierte Kraji auf dem Weg den Hügel hinauf wahr und schickte ihnen all seine stummen Gebete, dass sie nicht in die Falle tappten, die ihrem Stamm gestellt worden war.
Als er weitere Schreie hörte, ahnte er, dass genau das soeben geschehen war. Die vier Kreaturen waren in jene Pfeile gerannt, die für ihn bestimmt gewesen waren. Besser gesagt: Für den Sohn seines Königs, wie er messerscharf schloss. Er fragte sich, wie viele von den Krajis noch lebten.
***
Die Antwort auf diese Frage erhielt Aron sogleich: Zwei von den Vieren wählten denselben Fluchtweg wie er und fielen ihm nach kurzem Buschgeraschel und einem langanhaltenden Schleifgeräusch von purzelndem Kies buchstäblich vor seine Füße. Etwas unterhalb von ihm kamen sie auf sandigem Boden zu liegen und glotzten ihn an. Sie pressten einige fremdartig klingende Laute zwischen ihren Lippen hervor, und er wettete mit sich selbst, dass die beiden sich aufs Fluchen verstanden.
Aron stand auf, tat ein paar Schritte nach unten und streckte ihnen beide Hände entgegen. "Freund oder Feind?", fragte er und hoffte, dass sie ihn verstünden. Der ältere Kraji musterte ihn und erwiderte in Arons Sprache: "Wenn Ihr einer von denen da oben seid, dann seid Ihr Feind." Er setzte sich auf und fuhr fort: "Aber wie ich das sehe, wurdet Ihr selbst verfolgt."
Der Katzenmann zog seine Krallen ein und reichte Aron eine fellpfotige Hand. "Ich heiße Elwash."
"Aron!", stellte der Späher sich ebenfalls vor.
"Ach!", rief der jüngere aus. "Und ich dachte, Ihr seid der Prinz von Bharya." Er stand ebenfalls auf und folgte dem Beispiel seines Stammesgenossen. "Ich heiße Ilwash und bin Elwashs Bruder."
"Ich fürchte, das dachten die anderen auch, dass ich der Prinz bin", erklärte der Späher. "Jedenfalls riefen sie seinen Namen, als sie mich entdeckten."
"Und dann?", fragte Elwash. Sie kletterten gemeinsam die Böschung hinab und standen kurz darauf im Schutz der Dünen zwischen Themera und Lager.
"Danach flogen mir dieselben Pfeile um die Ohren wie Euch! Was ist mit Euren zwei Gefährten, die in Eurer Begleitung waren?"
Das dunkle Panthergesicht von Elwash erbleichte. "Sie hat's erwischt." Er nahm seine Pfote und wischte sich damit über die Augen. "Erklärt mir, was da eigentlich los ist. Das waren keine gewöhnlichen Krieger aus Euren Städten, darauf schwöre ich Stein und Bein."
"Nun, ich war da oben, um genau diesem Mysterium auf den Grund zu gehen, was da los ist. Prinz Jadar hat mich geschickt." Aron sah in Richtung Themera. "Wisst Ihr etwas über seinen Verbleib? Das letzte Mal, als ich ihn sah, war er noch in Eurer Stadt." Ilwash wunderte sich. "Es sind komische Zeiten. Es wurde jemand verhaftet, der kein Kraji war. Aber ob das Euer Herr war ..." Er zuckte die Achseln. "Wenn er sandfarbene Kleidung anhatte, dann war er es." Aron überlegte einen Moment. "Und was ist mit dem schwarzen Pferd?"
Elwash lachte. "Gehört das Euch?"
"Nein, meinem Herrn. Er hat es mit einem Boten aus Nifaya getauscht, gegen ein Königskamel." Aron grinste verwegen.
"Nun, wie dem auch sei: Dieses Vieh hat einen Haufen Ärger nach Themera gebracht ... und auch Eurem Herrn", fuhr Elwash fort und begleitete Aron ein paar Schritte zwischen die Dünen.
Von oben herab zischten weitere Pfeile. Gemeinsam duckten sich die drei in eine Kuhle.
Ilwash ergänzte: "Und unser Stammesältester wurde verhaftet. Er paktiere mit dem Feind, warf unser Oberbefehlshaber ihm vor."
"Hmmm ..." Aron rieb sich das Kinn. "Das sind ja Neuigkeiten. Ak'kir hat nur mich und meinen Gefährten aus dem Verlies geholt. Und jetzt muss er dafür bezahlen." Er machte ein betrübtes Gesicht.
"Nun ja, verzeiht", sprach Elwash, "doch das zu Recht. Ich weiß ja nicht, weshalb Euer Prinz seine Einheiten gegen uns führt, aber ein solch ungehöriges Verhalten von seiner Seite aus war von unserem Stamm nicht zu dulden. Wir sind im Krieg mit Nifaya, und alles, was nach einem Verbund mit OkPara aussieht, wird als feindliche Absicht gewertet. Aber seid unbesorgt, bei uns stirbt niemand ohne Grund. Auch Ak'kir und Jadar bekommen eine Anhörung vor dem Ältestenrat, bevor über ihr Schicksal entschieden wird."
Ilwash legte eine Pfote auf den Arm seines Bruders. "Ich bin ja nun nicht ganz so helle, aber etwas macht mich doch stutzig. Die Männer, die uns und auch ihn verfolgten, waren recht finstere Gestalten und gut getarnt. Und nun denk doch einmal zurück: Sie sind uns bekannt!"
Aron lehnte sich auf seine Ellbogen und sah die beiden Kraji-Wächter lange an. "Das wäre gut, denn ...", er stockte kurz, "genau diese Männer haben ziemlich viele von Euch hinterrücks umgebracht."
Er wies hinauf auf den Berg. "Ich kann Euch alles erzählen, denn ich habe mehr gesehen, als es mir lieb ist."
***
Als Arons Erzählung endete, graute der Morgen. Gemeinsam lauschten die drei neuen Gefährten den Geräuschen der Nacht, plauderten und überlegten, was das alles zu bedeuten hatte.
Schließlich zog der Späher sein ergattertes Beweisstück aus seinem Gewand und zeigte ihnen den blutigen Strick, mit dem OkParas erstes Opfer an einen Baum gefesselt worden war.
"Würdet Ihr mir helfen, alles aufzuklären und Euch für Jadar verwenden?", fragte er die beiden Kraji.
Nach kurzem Überlegen nickte Elwash. "Wir haben es schon lange satt, die Buhmänner Medinas zu sein. Alles, was wir wollten, war in Frieden das Leben zu leben, das uns von der Göttin zugedacht ist. Kriege zu führen lag nie in unserer Natur, und schon gleich gar nicht gegen die Menschen." Er verzog verschmitzt sein Gesicht. "Doch wie sagt's Euer Volk? Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällig ist."
"In der Tat!" Ilwash wackelte bestätigend mit seinem Kopf und schlug seinem Bruder triumphierend aufs Bein. Dieser knuffte zurück und stupfte ihn sanft gegen die lederbewehrte Brust.
"Ich habe einen toten Mahari gefunden", grübelte Aron. "Sein Kopf war gespalten, und er war vermummt."
"Das war bestimmt einer von denen", mutmaßte Ilwash und runzelte kritisch seine befellte Stirn. "Aber warum erschlagen sie ihre eigenen Leute?"
"Ich denke, das war das Pferd", schlussfolgerte Aron. "So wie ich diesen schwarzen Teufel kennengelernt habe, ließ er sich die Behandlung, die sie ihm angedacht hatten, bestimmt nicht gefallen."
"Ja, das macht Sinn!" Ilwashs Gesicht erhellte sich freudig, und er rieb sich schadenfroh seine samtigen Pfoten. "Nun müssen wir das nur noch unseren Stammesgenossen erklären, und ..."
"Was denkt Ihr, was auf den Ochsengespannen geladen war?", fragte Elwash und unterbrach seinen Bruder. Aron überlegte nicht lang. "Leichen! Aber was sie damit vorhatten ..." Er zuckte die Schultern, "das weiß ich nicht!"
***
Als die Sonne die Tristesse der Wüste Medin in Gold verwandelte, sah Elwash über den Rand der großen Sandkuhle, in der sie Deckung gefunden hatten. Ringsum lagen die Pfeile der nifayanischen Bogenschützen. "Das war ganz schön knapp", bemerkte er und lauschte, ob ihre Jäger noch irgendwo waren, doch es war ruhig.
"Es ist bereits Morgen", fuhr er fort und blickte seinen im Halbschlaf vor sich hindösenden Bruder an. "Wir sollten zurück." Schlaftrunken öffnete Ilwash seine Lider. "Wieder eine Nacht ohne Schlaf. Wann hört das auf?" Elwash antwortete nicht. Er erklomm den Kuhlenrand und robbte ein paar Meter durch den Sand. Dort schnappte er sich den nächstbesten Pfeil und kroch wieder zurück.
Mit einer ehrerbietigen Geste reichte er ihn Aron, dem bharyanischen Späher. "Hier habt Ihr ein weiteres Beweisstück. Legt diesem nifayanischen Schurken das Handwerk und löscht die Sünden derjenigen, die mit ihm paktieren, aus unseren Herzen. Es ist mir eine Ehre, Euch dabei zu helfen."
Gerührt kniete sich Aron hin und nahm das Asservat aus seinen Händen entgegen. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er verbeugte sich tief und legte vor dem Kraji seine Stirn in den Sand. "Ich danke Euch." Mit umflortem Blick sah er Elwash an. "Wenn es in meinen Händen liegt, werde ich alles daran setzen, um die Ehre Eures Stammes zu retten und all diese grässlichen Lügen, die über Eure Rasse verbreitet wurden, zu tilgen."
Der Katzenmann zog seine Krallen ein und legte Aron eine Klauenhand auf seine Herzregion. "Ich glaube Euch. Und ich werde mich für Euren Prinzen und Ak'kir verwenden und alles daran setzen, dass der wahre Schuldige für all die heimtückischen Morde auf dem Jabal at Them ...", Elwash blickte hinauf auf den Berg, "gefunden und seiner gerechten Strafe zugeführt wird."
Ilwash war mittlerweile vollständig bei sich. "Das ist ein Wort!" sprach er und kniete sich neben die beiden. "Dahinter stehe ich auch. Auf mich könnt Ihr zählen." Plötzlich wurde seine Miene nachdenklich. Er setzte sich noch einmal hin und fragte: "Hat Eure Streitmacht keine Bogenschützen?"
Aron und Elwash lösten sich aus ihrem Verbund und sahen ihn an. "Das ist eine gute Frage", erwiderte Ilwashs Bruder und streifte den Späher mit einem Blick.
Aron verneinte. "Wir beschränken uns hauptsächlich auf Nahkampf." Er zeigte den beiden das Krummschwert, das er vom Prinzen erhalten hatte. "Die Heimtücke eines Fernkampfs verstößt gegen den Kodex der bharyanischen Mahari. Dafür sind wir die Besten."
In seine Augen trat Stolz. "Für den Notfall verwenden wir allerdings Speere. Sethos - unser Oberausbilder - hat unseren Speerwerfern die Bildung spezieller Formationen gelehrt, die sind wirkungsvoller als jeder Pfeil. In der Geschlossenheit einer solchen Formation ist die Verletzungsgefahr äußerst gering."
"Nun, so in der Art ist es auch bei uns. Die Spezialität unserer Einheiten ist der Überraschungsangriff", erwiderte Ilwash. "Unsere Waffen ähneln den Euren."
Elwash rügte: "Wir haben keine Zeit mehr für Fachsimpelei." Er deutete in den Morgenhimmel hinauf. "Es wird nicht mehr lang gehen, und Cyr wird uns suchen lassen." Von Themera herüber klangen bereits die ersten Stimmen zu ihnen herüber, die das Erwachen des kleinen Orts ankündigten.
Aron gähnte. "Ich habe seit Tagen nicht mehr geschlafen." Er legte sich in den Sand. "Bevor ich in unser Lager zurückkehre, bleibe ich noch ein bisschen hier." Die letzten Worte kamen nur noch gemurmelt, und kurz darauf schlief er ein.
Ilwash schaute den ruhenden Mahari teils spöttisch und teils voller Rührung an. "Wir können ihn hier nicht so liegen lassen", sagte er zu seinem Bruder. "Es ist zu gefährlich."
Elwash erwiderte: "Wenn wir ihn ein bisschen bedecken, dann sieht ihn niemand."
"So machen wir es, aber mit was?"
"Komm mit!", forderte Elwash ihn auf. Sie begaben sich noch einmal auf die Böschung, woher sie gekommen waren, und sammelten trockene Zweige und kleinere Büsche von dort. Mit ihrer Ausbeute stiegen sie wieder hinab, rückten ihn an den hinteren Kuhlenrand und deckten ihn zu. "So", sprach Elwash, "ich denke, das dürfte genügen." Die beiden Krajibrüder entfernten sich und gingen zurück in ihr Dorf.
***
Shaytan und Cyr
"Es ist gut, dass Ihr ihn noch in der Nacht zu mir gebracht habt", sprach die Heilerin Saba zu Cyr am Morgen nach den Kraji-Morden auf dem Jabal at Them.
Fragend sah der Befehlshaber der Hauptwache sie an. "Weshalb? Was ist mit dem Pferd?"
Die ältere Frau setzte sich aufrecht auf ihrem halbhohen Lederrundpolster und sah ihn ernst an. "Es ist schwer verletzt und wäre gestorben, hättet Ihr auch nur eine Sekunde gezögert. Ich konnte es retten." Sie deutete auf ein verziertes Holzregal mit mehreren Fläschchen Tinktur. "Wie Ihr gewünscht habt, könnt Ihr das Tier mit nach Hause nehmen. Doch ich gebe Euch noch etwas mit zur Weiterbehandlung."
Saba stand auf, trat an ihr Regal und holte mehrere Fläschchen herunter. "Auch für Euch selbst habe ich noch etwas. Alshaytan al'Aswad hat Euch viel zu erzählen, das erfuhr ich in einer Vision." Während sie zu Cyr an den Tisch schritt, fragte er die Themeranerin: "Ihr habt dem Pferd einen Namen gegeben?" Sie stellte die Fläschchen vor ihn hin und verneinte: "Der Hengst verriet ihn mir selbst. Vergesst nicht, ich besitze die Gabe des Sehens und Fühlens in tierische Seelen genauso wie Ihr."
Der Kraji nahm ein Fläschchen und musterte neugierig die Etiketten. "Was ist darin enthalten? Ich kann die Schriften nicht lesen."
"Kräuter aus meinem Garten, Herzblut von gefallenen Seelen, Traum-Elixier, je nachdem, was Ihr braucht", antwortete die Medinerin, die als Einzige nach dem Gemetzel an den einstigen Dorfbewohnern vor einiger Zeit geblieben war und von den Katzenmenschen geduldet wurde, weil ihre Heilkunst weithin bekannt und sie gebraucht worden war.
Skeptisch sah er sie an. "Ihr erwartet von mir, dass ich etwas aus den Händen einer Themeranerin entgegennehme, von dem ich nicht weiß, was es enthält? Gute Frau, ich fürchte, das ist ein bisschen viel verlangt."
Saba lächelte gleichmütig. "Habe ich die Kriegswunden Eurer Brüder nicht gut versorgt? Oder Euer gebrochenes Bein, mit dem man Euch vor zwei Monden zu mir gebracht hat? Habe ich Euch jemals enttäuscht?"
Nachdenklich blickte er vor sich hin und schüttelte dann seinen Kopf. "Nein, sonst wärt Ihr nicht hier!"
"Eben." Die Alma Shiferi trat an eine vertikale Rundluke in der Wand und bat den Befehlshaber der Hauptwache zu sich. Er stand auf und stellte sich neben sie. Gemeinsam musterten sie das schwarze Pferd, das im Raum nebenan untergebracht worden war. Shaytan drehte den Kopf und sah die beiden unterschiedlichen Wesen ruhig mit seinen onyxfarbenen Augen an. Cyr erschauderte. "Mir ist, als sähe er mir auf den Grund meiner Seele."
"Oh, glaubt mir, das tut er", antwortete Saba. "In Nifaya gibt es noch mehr Pferde der gleichen Rasse, doch er hebt sich von allen ab. Es verwundert mich sehr, wie dieser schwarze Hengst in Eure Hände kam."
"Es war, als hätte er mich gesucht", berichtete der Kraji. "Er brach die Wand unserer Wachstube ein, stand plötzlich vor meinem Schreibtisch und blickte mich an, als bräuchte er meine Hilfe. Danach führte er mich wie von selbst zu seinem Herrn. Ohne das Pferd hätte ich nicht gewusst, wer da jetzt vor mir steht."
"Ihr habt mit der Verhaftung des Prinzen einen Fehler gemacht", erwiderte die Heilerin ernst. "Er hat nichts Böses getan." Sie erzählte ihm von ihrer Vision, die ihr gezeigt hatte, was auf dem Hügel geschehen war, doch Cyr glaubte ihr nicht. "Auch wenn Ihr meinen Stammesgenossen viel Gutes getan habt, so seid Ihr immer noch eine Landsmännin von unseren Häschern. Deshalb wäre es mir lieb, Ihr würdet jegliche Einmischung in unsere Strategien, wie wir mit unsere Feinden verfahren, und in unsere Politik unterlassen."
Saba seufzte und bewegte sich in die Mitte des Raums. Der Kraji folgte ihr und nahm seinen Helm vom Tisch. "Gebt mir das Pferd und das Mittel, damit ich es weiter gesund pflegen kann, dann seid Ihr mich wieder los."
Sie gab ihm zwei Fläschchen. "Die beiden sind für das Pferd. Mit dem grünen versorgt Ihr seine Wunden zwei Mal am Tag, und das weiße Fläschchen ist ein Pulver, das Ihr ihm morgens ins Futter mischt." Sie fügte noch ein mit roten Runen beschriftetes und vergoldetes Fässchen hinzu. "Das ist für Euch. Erhitzt es und atmet es ein, und Alshaytan al' Aswad zeigt Euch die Wahrheit in einem Traum. Tut es bald, denn die Zeit ist sehr knapp."
Cyr lachte ungläubig auf. "Was will mir ein Tier zeigen, was ich nicht schon weiß? Ich glaube nicht an den Wahrheitsgehalt von Träumen bei Nacht."
"Dann träumt bei Tag und denkt daran, wie der Hengst Euch geführt hat. Er hat Euch vertraut, und Ihr habt ihn enttäuscht. Macht zumindest das wieder gut, die Chance bekommt Ihr nur einmal."
"Eure Worte sind mir ein Rätsel. Sagt mir doch einfach, was Ihr wisst und spart uns den ganzen Humbug." Mit heftigen Bewegungen setzte der Katzenmann seinen Helm auf und zurrte ihn fest. "Ich habe das Tier zu Euch gebracht, damit Ihr es heilt und nicht, damit Ihr es für die Zwecke Nifayas missbraucht." Er ging zur Tür. "Kommt, bringt mich zu dem Pferd."
Saba folgte ihm und führte ihn in den Stall. Shaytan drehte sich mit dem Kopf zu ihnen, schnupperte an Cyrs Ledergewand und prustete ihm ins Gesicht. Widerwillig verzog der Kraji sein Gesicht zu einem Grinsen. "Er scheint mich zu mögen."
"Ihr seid die gleiche Natur, deshalb kam er zu Euch", sprach sie, drückte Cyr noch einmal das Traumelixier in die Hand und ließ ihn mit Alshaytan al' Aswad allein.
***
In Windeseile sprach es sich unter den wenigen im Ort verbliebenen Katzenmenschen herum, was auf dem Höhenrücken bei Themera passiert war. Noch immer ging der Großteil der Kraji davon aus, dass es die bharyanischen Mahari auf Geheiß von Prinz Jadar gewesen waren, die das heimtückische Verbrechen verübten. Nur die beiden Kraji Ilwash und Elwash kannten die Wahrheit.
Währenddessen saßen Jadar und Ak'kir in einem dunklen Verlies, in dem Ratten über den Boden huschten, in dem es nach Tod und Fäkalien stank, abgeschirmt von allem hinter rostigen, doch starken Gittern.
Sethos' Kurier Rsmes wurde von einer Patrouille mit herausgeschnittener Zunge zwischen den Dünen gefunden. Sein Kamel lag erstochen daneben.
Dreißig Neubürger Themeras kraxelten im Lauf des Tages hinauf auf den Jabal at Them und suchten ihre gemeuchelten Brüder. Seen von Blut und unzählige verschossene Pfeile wiesen auf das nächtliche Geschehen hin. Einige der Glücklicheren, da sie entkamen, hielten sich schwer verletzt in Felsnischen und kleineren Höhlen auf. Mit vereinten Kräften wurden die Überlebenden zu Tal gebracht, gemeinsam mit Abanos' zerschmettertem Körper und einer zerrissenen Peitsche. Daran klebte Shaytans blutiges Fell und schwarze Haare aus seinem Schweif.
***
Der ehemalige Leibwächter OkParas diente als Asservat und wurde ein toter, aber wichtiger Zeuge. Abanos' Leichnam wurde in einer alten Ruine verwahrt und von Saba haltbar gemacht.
Anschließend holte Cyr gemeinsam mit vier Kraji-Wächtern den Prinzen aus seinem Verlies und führte ihn in den späten Nachmittagsstunden an dessen Lagerstatt. Er entblößte das Antlitz des Toten und fragte: "Kennt Ihr den Mann?" Jadar betrachtete ihn eindringlich und nickte. "Er war in OkParas Gefolge, als dieser auf der letzten Audienz in Bharya war, um uns zu holen." Cyr fragte weiter: "Ihr gebt also zu, dass Eure Streitmacht auf Geheiß Nifayas vor unseren Toren steht?"
Der Prinz nestelte an seinen im Rücken gebundenen Fesseln und starrte den Befehlshaber der Hauptwache angestrengt an. Von einem seiner Bewacher erhielt er einen Tritt. "Lasst das gefälligst, Ihr entkommt uns nicht. Antwortet auf seine Frage!"
Mit schmerzverzerrtem Gesicht wirbelte Jadar herum und hob sein Bein, um zurückzutreten, doch im Gegenzug landete er rücklings auf dem lehmigen Boden. Wütend schrie er: "Ihr werdet Eurem Ruf mehr als gerecht!"
"Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil, wie es heißt", erwiderte Cyr. "Noch einmal: Hat der Statthalter von Nifaya nach Euch geschickt, gebt Ihr das zu?"
Aus seiner Liegeposition heraus funkelte Jadar den Kraji hasserfüllt an. "Ja, und was ist mit meinem Pferd?" Mit eingezogenen Krallen boxte ihm der Bewacher, der auf seinem Brustkorb saß, ins Gesicht. "Ihr habt hier keine Fragen zu stellen!"
"Lasst ihn!", fuhr Cyr den Wächter an. "Herunter!" Der Mann gehorchte. "Ihr seid der Boss!", erwiderte er widerwillig.
"Ganz genau!" Der Befehlshaber trat an den Prinzen heran und reichte ihm seine Klaue. "Wir tun Euch nichts, wenn Ihr kooperiert. Uns ist nichts daran gelegen, Euch Unrechtes anzulasten, doch nur wenn wir fragen, erhalten wir auch Kenntnis über die Wahrheit. Bevor wir nicht wissen, was da oben wirklich geschah, können wir Euch nicht freilassen. Ich bitte um Euer Verständnis. Und um Eure Frage zu beantworten: Dem Pferd geht es gut!" Jadar stand auf, ohne die Hand Cyrs zu ergreifen. Überrascht sah er ihn an. "Welch Töne!", höhnte er spöttisch. "Welchen Umstand habe ich diese plötzliche Freundlichkeit von Eurer Seite zu verdanken?"
Der Kraji sah ihn ernst an. "Von meiner Seite aus meine Intuition, die mir sagt, dass Ihr Eurem eigenen Pferd keinen Schmerz zufügen würdet. Aber ich bin auch nur ein kleines Licht, das versucht, im Dunkeln zu leuchten. Es werden andere aus meinem Volk zu überzeugen sein müssen."
Auf seine Worte hin verzog einer der Wächter sein Antlitz zu einem bösartigen Grinsen und mahlte grimmig mit seinen Zähnen. Cyr warf einen strengen Blick zu ihm hin und ließ dessen Miene versteinern. Der Wächter blickte betreten zu Boden und trat von einem Bein auf das Andere.
Der Befehlshaber wandte sich wieder an Jadar: "Gestattet mir, weitere Fragen zu stellen. Es ist zu Eurem Vorteil, wenn Ihr mir nach bestem Gewissen Rede und Antwort steht."
"Ich sehe, ich habe sowieso keine Wahl", erwiderte der Prinz, doch muss es ausgerechnet hier sein?" Er warf einen Blick zu dem Toten. "Ich hatte mit dem Mann weder im Leben zu tun noch in seinem Tod."
"Wenn Ihr beim Leben Eures Vaters schwört, keine weiteren Dummheiten zu machen, die uns zu Gewalttätigkeiten zwingen würden, verlegen wir unser Gespräch an einen anderen Ort", gestand Cyr ihm zu.
Jadar musterte den Kraji mit einem schwer zu deutenden Blick. "Beim Leben meines Vaters kann ich nicht schwören, weil ich nicht weiß, ob er noch lebt. Mir wurde Kunde gebracht, er wäre in den Händen Eures Stammes."
"Ja, das hatte mir schon Ak'kir erzählt, dass Euch das jemand weismachen wollte." Offen sah der Befehlshaber in Jadars Gesicht. "Doch unser Stammesältester hat Euch nicht belogen, als er sagte, dass das nicht stimmt."
Cyr wandte sich zum Gehen ab. "Bringt ihn zu mir in meine Unterkunft", befahl er den Wachen.
"Herr", begann einer von ihnen zu murren, "wisst Ihr auch, was Ihr da tut?"
"Seid dessen gewiss, dass ich das weiß", fuhr der Kraji ihn aufgebracht an. "Und nun ab mit Euch ohne Widerspruch."
***
Jadar wurde ins Gesindehaus der Kraji-Wachen verbracht. Dort wurde er von deren Befehlshaber bereits ungeduldig erwartet. Im Verlauf der nächsten Stunde tauschten die beiden Männer unter anfangs angespannter Atmosphäre ihre Erkenntnisse aus.
Cyr erzählte dem Prinzen, wie Shaytan in seine Hände gekommen war und zeigte ihm unter Bewachung dessen Unterkunft in einem ehemaligen Ochsenstall.
"Ihr erhaltet ihn wieder zurück, wenn es sich herausstellt, dass Ihr unschuldig an den Geschehnissen auf dem Jabal at Them seid." Sie betraten gemeinsam den Raum. Cyr hieß Jadars Wachen, draußen zu warten und führte den Prinzen zu Shaytan.
Das Pferd stand in einem weitläufigen Korral, der ringsum mit bis zur Decke reichenden Eisenstangen umgittert war. Raufe und Tränke waren gut gefüllt, wie Jadar anerkennend bemerkte.
"Erklärt mir, was mit ihm geschehen war", bat er den Katzenmann. "Das letzte, was ich weiß, ist, dass ich ihn angebunden hatte, bevor ich zu Fuß in Euer Dorf kam. Und woher kommen seine Wunden?" Er deutete auf dessen Flanken, wo das Gewebe allmählich vernarbte.
Cyr nickte vor sich hin. "Ihr wisst wirklich nichts?", murmelte er nachdenklich und mehr für sich. "Nun, als Euer Pferd durch das Dorf galoppierte, trug er einen von uns auf seinem Rücken. Unser Stammesgenosse hat ihm diese Wunden zugefügt, doch ohne sein Wissen. Wie ich Euch schon bei Eurer Verhaftung gezeigt hatte, war er auf ...", er stockte, "wie heißt Euer Pferd?"
"Shaytan", antwortete Jadar, "doch bitte fahrt fort." Er rieb sich seine wunden Handgelenke, wo bis vor Kurzem noch die Fesseln der Kraji-Wächter gewesen und von Cyr abgenommen worden waren.
"Er war auf Shaytan gebunden worden", erzählte der Kraji, "aber da war er schon tot. Jeder von uns, der Euer vor Schmerz wild gewordenes Pferd in der Nacht gesehen hatte, lastete Euch diesen Toten an. So wie auch ich."
Er sah dem Prinzen fest in die Augen und suchte in dessen Gesicht nach einer Regung, die ihn doch noch als Mörder entlarvte, doch er wurde nicht fündig. Zufrieden lächelte Cyr. "Ich bin gespannt, wohin mich meine Intuition Euch betreffend führt."
Shaytan trabte ans Gitter, steckte seinen Kopf hindurch und knabberte am Nackenfell des Katzenmanns. Cyr drehte sich um. "Die Heilerin in unserem Dorf sagte mir Sonderbares über Euer Pferd", sprach er zu Jadar. "Sie sagte, er stünde weit über allem und sei etwas Besonderes." Er blickte dem Tier in die Augen. "Manchmal kommt es mir so vor, als ob er mir etwas Wichtiges sagen will. Als ob er eine Geschichte in seinem Herzen trägt."
Jadar trat neben ihn und legte eine Hand auf Shaytans Nüstern. "Alshaytan al' Aswad - Schwarzer Teufel. Als ich ihn sah, wurde mir klar, dass er zu mir gehört. Er kam in Euer Dorf und hat mich gesucht."
Eine Träne schimmerte in seinen schwarzen Wimpern bei der Vorstellung, was das Tier durchgemacht hatte, bis es in Cyrs Hände geraten war. Überrascht fuhr dieser herum. "Wie habt Ihr ihn genannt?"
"Alshaytan al' Aswad ist sein voller Name", erwiderte Jadar. "Er passt zu ihm." Verwundert sah er den Kraji an. "Weshalb seid Ihr so erstaunt?"
"Saba las seinen vollen Namen in seinem Herzen. Eine Legende unseres Stammes sagt, derjenige, der einem Tier den richtigen Namen gibt, sei mit ihm verbunden bis über den Tod hinaus. Ich wünschte, ich wäre derjenige gewesen, doch nun ..."
Mit bewegter Miene trat Cyr vor den Prinzen hin. "Mein Herz sagt mir, dass Euer Pferd zu Euch zurückkehren muss."
***
Ein Ruf von draußen unterbrach das Gespräch. Einer der Wächter streckte den Kopf durch das doppelflügelige Holztor und meldete, dass zwei ihrer Kameraden nach Cyr verlangten. Mit einem skeptischen Blick streifte der Kraji den entfesselten Jadar, schüttelte jedoch nur verständnislos sein riesiges Löwenhaupt. 'Am besten laden wir unsere Feinde künftig direkt an unseren Tisch', dachte Quasshie missmutig. 'Wir legen unsere Säbel dazu, damit sie uns besser zerlegen können.'
"Was gibt es denn?" Cyr drehte sich stirnrunzelnd um. "Unser Geschwisterpärchen - Ihr wisst schon - Ilwash und Elwash. Sie suchen Euch und sind ganz aufgelöst", erklärte der Kraji-Wächter.
"Schickt sie rein", befahl Cyr. Kurz darauf betraten beide den Stall und streiften den Prinzen mit einem neugierigen Blick. Elwash sprach den Befehlshaber an: "Herr, wir können Euch etwas erzählen, was Euch bestimmt interessiert."
Cyr wandte sich zuerst an Jadar. "Verzeiht, wenn ich Euch wieder fesseln muss. Ich hoffe, Ihr macht mir keine Probleme."
Erheitert beobachtete Quasshie, wie sich der Prinz widerstandslos binden ließ. Der Wächter behielt noch für ein Weilchen den Kopf in der Tür, doch Cyr fuhr ihn an: "Habt Ihr nichts Besseres zu tun als hier zu glotzen?" Blitzschnell zog er sich zurück.
"Gehen wir an einen ruhigeren Ort", wandte sich der Befehlshaber an seine drei Gegenüber. "Seid mein Gast in meiner bescheidenen Kammer." Dabei blickte er Jadar an. "Zumindest vorläufig, bis alle Fragen geklärt sind."
"Ist das der Prinz aus Bharya?", fragte Ilwash, während sie den Stall durchquerten. Cyr nickte bestätigend, öffnete das quietschende Tor und unterfasste seinen Gefangenen am Arm. "Gestattet, besser ich führe Euch als dass Ihr meine Milizen im Rücken habt. Wie heißt das bei Euch? Mahari?"
Jadar grinste und nickte. "Ja, Mahari." Allmählich machte ihm die Show Spaß, die der Katzenmann abzog. "Ihr habt Euch mir übrigens noch gar nicht vorgestellt."
Mit dem Prinzen in der Mitte schritten die drei Kraji über den Hof. Zögernd folgten die anderen vier, die bis dahin Jadars Aufpasser waren." Ihr könnt gehen", warf ihnen ihr Oberster über die Schulter zu. "Wir kriegen das schon geregelt." Danach nuschelte er leise: "Ich heiße Cyr, und das sind Ilwash und Elwash."
Quasshie eilte dem Quartett hinterher. "Herr", rief er, "Ihr schickt uns fort ohne Befehle? Sagt, was sollen wir tun?"
Cyr wandte sich um. "Holt Ak'kir aus dem Verlies und bringt ihn zu mir. Und danach kümmert Euch um den toten ...Mahari ...", er streifte den Prinzen mit einem nach Beifall heischenden Seitenblick, doch der stand still wie vom Donner gerührt. "Was habt Ihr mir verschwiegen?", fragte er aufgebracht.
"Ich erkläre es Euch, aber nicht hier." Cyr dirigierte Ilwash, Jadar und Elwash in Richtung Gesindehaus.
***
Kurz vor der Abendsonne saßen die vier unterschiedlichen Wesen um einen runden Tisch vor dem riesigen Steinklotz, in dem Cyr gemeinsam mit den anderen Wachen Themeras lebte. Der Gastgeber schenkte in tönernen Bechern Palmwein aus und reichte Fladenbrot zu gedörrtem Kamellendenfleisch. "Mir ist daran gelegen, Euch vorurteilslos gegenüber zu treten", erklärte er Jadar auf dessen verwunderten Blick. "Bevor wir uns jedoch über unseren heutigen Fund unterhalten, bitte ich Euch, mir zu gestatten, meinen beiden Milizen ...", er blickte zu Elwash und Ilwash und räusperte sich, "Gehör zu schenken."
"Wenn es der Aufklärung und Verbesserung der Beziehung zwischen Eurem Stamm, Bharya und Nifaya dienlich ist, interessiert es auch mich, was sie zu sagen haben", erwiderte Jadar.
"Das trifft sich gut", erhob Elwash das Wort, "denn wir haben Euren Späher kennengelernt." Kurz umrissen und abwechselnd gaben die beiden Brüder wider, was sie von Aron erfahren hatten. Anschließend öffnete Ilwash einen großen Lederbeutel und schüttete dessen Inhalt aus. "Nur damit Ihr uns glaubt!", fuhr er fort. "Die Krieger auf dem Jabal at Them waren Bogenschützen, dunkel gekleidet und von Kopf bis Fuß vermummt."
Er blickte seinen Befehlshaber an. "Wenn Ihr mir gestattet, ein Urteil abzugeben ..."
Cyr nickte. "Fahrt fort!" Mit aufmerksam aufgestellten Spitzohren lauschte er den Worten des Kraji und nippte an seinem Palmwein.
"Ich denke, dass der Statthalter von Nifaya seine Hände im Spiel gehabt hat."
Ilwash spießte einen Streifen Dörrfleisch auf zwei Krallen und führte ihn sich zu Gemüt.
Elwash ergänzte: "Wenn wir nicht selbst gesehen hätten, dass die dunklen Gestalten auf dem Hügel Aron verfolgten und töten wollten ..." Er blickte den Prinzen an. "Der Anschlag von diesen Todeskriegern galt Euch. Einer von ihnen rief Euren Namen."
"Auch zwei unserer Gefährten kamen durch die Pfeile zu Tode", schaltete sich Ilwash ein und senkte in Trauer sein Haupt. "Vor unseren Augen. Wir hatten Glück." Er lehnte sich schutzsuchend an seinen Bruder, der ihn mit seinen felligen Armen umschlang.
"Wo befindet sich mein Späher derzeit?", wollte Jadar von ihnen wissen. "Mittlerweile dürfte er wieder in Eurem Lager sein", vermutete Elwash. "Jedenfalls war er wohlauf, als wir ihn in den frühen Morgenstunden verließen."
"Bis dahin befanden wir uns unter Beschuss und mussten uns zusammen verstecken", erklärte Ilwash und blickte Jadar an. "So hatten wir Euren Späher kennengelernt." Er griff nach seinem Becher und drehte ihn sinnierend zwischen seinen riesigen Pranken.
"Ich hoffe, dass Euch das überzeugt", wandte sich Jadar an Cyr. "Mit dem Tod Eurer Krieger hat Bharya nichts zu tun. Doch nun erzählt, was Ihr mir verschwiegen habt."
"Zwischen Themera und Eurem Lager fanden wir einen toten Kurier", erklärte der Befehlshaber der Kraji-Hauptwache. "Er wurde grausam gefoltert, und ihm fehlt die Zunge." Cyr stand auf und verschwand im Innenbereich des großen, quaderförmigen Gebäudes. Als er zurückkehrte, legte er ein verblichenes Fragment Pergament auf den Tisch. "Das haben wir bei ihm gefunden."
Jadar griff danach und blickte ihn fragend an. "Es ist nicht zu entziffern."
Der Kraji zuckte mit den Schultern. "Wir können Eure Runen ohnehin nicht lesen, deshalb dachte ich mir nichts dabei. Doch daran erkannte ich, dass der gefundene Tote ein Bote war."
Bharyas Thronfolger schaute noch einmal genauer hin. "Erlau ...", buchstabierte er schwerfällig, "mehr gibt es nicht preis." Nachdenklich starrte er vor sich hin.
Schließlich zog er vorsichtig ein erstes Fazit. "Es könnte eine Depesche sein." Er drehte es um und erkannte das Siegel des Königshauses Bharya. "Es ist von uns."
"Was hat das zu bedeuten?", fragte Cyr. Jadar ließ seine Ausbildung bei Sethos Revue passieren. Im Fach "Diplomatie" hatte der Prinz nicht sehr gut aufgepasst. Vor Allem fragte er sich, an wen die Depesche gerichtet gewesen war: An Themera oder an ihn. Er schaute das zerrissene Papyros noch einmal an, doch es blieb dabei: Mehr als die erste Zeile war nicht zu erkennen. Resigniert zuckte er mit den Schultern und gab das Pergament zurück. "Bedaure, dass auch ich nichts damit anfangen kann. Ich hoffe, dass nichts mit meinem Vater ist. Ich sollte mich sofort auf den Weg nach Bharya machen." Fragend sah er Cyr an: "Würdet Ihr mich ziehen lassen?"
"Wenn ich das täte, kostet mich das meinen eigenen Kopf", antwortete dieser. "Fast alle jüngeren Dorfbewohner wurden da oben hingerichtet wie Vieh." Er wies in Richtung des themeranischen Höhenrückens und fuhr fort: "Ihr habt doch bestimmt gemerkt, wie sehr meine Männer darauf aus sind, Euch an den Kragen zu gehen. Lasse ich Euch ziehen, geschehen mehrere Dinge." Er prognostizierte: "Aufmüpfige aus unserem Stamm würden mich dafür bestrafen und Euch anschließend jagen."
"Da frage ich mich, wie es um Eure militärische Disziplin bestellt ist", erwiderte Jadar. "Soviel ich mitgekriegt habe, müsstet Ihr doch etwas zu sagen haben."
"Ich bin nur Wachhaber innerhalb der Dorfgemeinschaft und habe meine Leute, die mir dabei helfen." Cyr blickte zu Elwash und Ilwash. "Die beiden gehören dazu."
"Und wenn ich flöhe?", fragte der Prinz bissig.
"Dann wäre ich dazu verpflichtet, Euch daran zu hindern. Und alle, die von Eurer Flucht Kenntnis haben und Euch dabei helfen, würden bestraft." Ernst sah der Oberst ihn an: "Könnt Ihr das vor Euch selbst verantworten, mindestens drei unschuldige Leben zu zerstören?"
"Ich befinde mich in einer prekären Situation", erklärte Jadar. "Von Gesetzes wegen wäre ich dazu verpflichtet, alles daran zu setzen, um Themera von Eurer Anwesenheit zu befreien. Durch Zufall erhielt das Königshaus Kenntnis von den Machenschaften OkParas, und dadurch ändert sich alles. Unglücklicherweise gehört der Ort zu Nifayas Einzugsgebiet."
"Das hieße für uns, Ihr seid unser Feind von Haus aus", warf Elwash ein und nickte bekräftigend. "Das macht es uns schwierig, Euch vorbehaltlos und fair zu behandeln."
"Für mich hieße das wiederum, dass mich das Leben eines Kraji nicht zu scheren hat", fuhr Jadar hoch. "Doch ist das nicht mein Bestreben, sinn - und grundlos zu töten."
***
Wenig später traf Ak'kir in Begleitung von Quasshie und einem weiteren Wächter ein. Dieser bemerkte: "Herr, Eure Verhörmethoden werden etwas sehr unorthodox. Wir wären lieber zugegen, wenn Ihr diese Vorgehensweise künftig vorziehen solltet."
Cyr streifte Jadar mit einem verschwörerischen Blick, als ob er sagen wolle: "Seht Ihr?" Ein Seufzer hob seinen Brustkorb. Laut sagte er: "Wie Ihr seht, sind wir nicht allein. Unsere Wachstube ist nicht mehr zu gebrauchen seit gestern Nacht."
"Nun, Ihr werdet schon wissen, was Ihr tut", antwortete Queb versöhnlich. "Quasshie und ich haben Euch Ak'kir gebracht, wie von Euch gewünscht. Unsere zwei Gefährten haben die Leiche des Boten zu der anderen gebracht. Was wird mit den beiden geschehen?"
Cyr erwiderte: "Sie werden vorläufig dort aufbewahrt, wo sie jetzt sind. Alles Weitere werden wir sehen." Mit einem Wink forderte er Ak'kir auf, sich zu ihnen zu setzen und schickte Quasshie und Queb wieder fort. Mit rebellischer Miene entfernten sie sich. "Ich brauche Euren Rat", wandte sich der Befehlshaber an Ak'kir, als dieser saß. In kurzen Sätzen erzählte er dem Stammesältesten, was er von Ilwash und Elwash erfahren hatte.
Der alte Kraji hörte sich alles ruhig an. Anschließend wandte er sich an Jadar. "Wie ich sehe, seid Ihr so gut wie in Freiheit. Darüber hinaus befindet Ihr Euch in Gefahr. In unseren Händen wäret Ihr sicher und könntet zudem dazu beitragen, dass sich einiges zwischen unseren Völkern zum Guten wendet, ohne dass wir uns bekriegen."
Jadar warf ein: "Wie stellt Ihr Euch das vor? Dass ich mich freiwillig als Geisel in Eure Hände begebe und nicht mucke und murre, während ich weder weiß, was mit meinem Vater ist noch meine Mahari befehligen kann? Was, wenn diese unruhig werden und dann genau das tun, was ich verhindern will, nämlich einen Angriff auf Euch?"
Cyr hakte nach: "Eine Frage, Prinz: Hätten wir uns nicht unter diesen etwas sonderbaren Umständen kennengelernt, was wäre geschehen? Hättet Ihr nicht sogar unwissentlich OkParas Ränke unterstützt und wäret ihm irgendwann selbst in die Falle getappt? Er trachtet Euch nach dem Leben, falls Ihr das noch nicht bemerkt haben solltet!"
***
Die fünf Männer saßen noch bis kurz vor Einbruch der Nacht. Jadar erfuhr immer mehr über die Kraji und wie es zum Zerwürfnis mit Nifaya kam. Schließlich bat Ak'kir um eine Unterredung mit Cyr unter vier Augen. Die Beiden begaben sich in die Kaserne.
Als sie zurückkehrten, unterbreitete der Befehlshaber der Hauptwache dem Prinzen ihre Idee: "Betrachtet Euch nicht als unsere Geisel, sondern als Gast. Es gibt noch ein paar Räume in diesem Gebäude, die noch nicht von uns benutzt worden sind. Hier hättet Ihr ein bisschen mehr Komfort als dort, wo Ihr bisher untergebracht wart."
Elwash und Ilwash verabschiedeten sich. "Wir möchten noch einmal nach Aron schauen", erklärte der ältere Bruder. "Als wir ihn verließen, hat er geschlafen wie ein Stein."
"Habt Ihr nicht gesagt, er sei wieder im Lager?", wunderte sich Jadar.
"Nun, wir gingen davon aus, dass er sich in der Zwischenzeit wieder dort befindet. Aber wir wollen uns doch lieber davon vergewissern, dass sein Versteck nicht entdeckt worden ist." Mit einem verabschiedenden Wink verließen sie das Gelände.
Cyr schaute ihnen mit nachdenklichem Blick hinterher. "Wenn meine anderen Männer noch ein paar Mal hier auftauchen und nach uns sehen, kann ich für nichts garantieren", ließ er seinen Gedanken freien Lauf. "Deshalb wird es Zeit, dass wir uns einig werden." Er schenkte Jadar noch einmal Palmwein nach. "Es gibt nur die zwei Optionen: Seid unser Gast ... oder unsere Geisel."
"Erklärt mir, was Ihr damit bezwecken wollt!"
"Als Gast kann ich Euch schützen, als Geisel ...", Cyr schüttelte bedauernd den Kopf: "Nicht!"
Der Prinz ließ ein bitteres Lachen erklingen. "Sehe ich so aus, als bräuchte ich Schutz?" Er erhob sich. "Machen wir die Probe aufs Exempel. Ich kehre jetzt in mein Lager zurück, und Ihr versucht, mich daran zu hindern."
Ak'kir hieb mit seinem Stock auf den Tisch. "Seid vernünftig. Überall im Dorf würdet Ihr einem von den Wächtern begegnen, und außer uns betrachtet Euch jeder als Feind. So schnell könntet Ihr gar nicht rennen, um uns zu entkommen!"
Jadar setzte sich wieder hin. "Und wenn ich bleibe, wie geht es dann weiter?"
Ihr wäret nach wie vor unter Verschluss, doch Ak'kir würde Euch Gesellschaft leisten. Freiwillig!", erklärte Cyr. "Ihr bekommt zusammen einen eigenen Raum und werdet nur von Eingeweihten bewacht. Darüber hinaus Essen und Trinken wie alle von uns."
"Der Nutzen ist mir noch nicht ganz klar." Jadar lehnte sich gegen die Wand. "Zudem wäre es nett, wenn Ihr mich über die Dauer Eurer ...", er lächelte spöttisch, "Gastfreundschaft in Kenntnis setzen könntet."
Cyr packte aus. "Wir spielen ein bisschen Theater, um zum Einen meine Wächter gefügig zu halten und eine Rebellion zu vermeiden, und zum Anderen wiegen wir OkPara in Sicherheit. Möglicherweise schlägt er dann noch einmal zu und lässt sich erwischen."
Ak'kir erhob sich und flüsterte dem Prinzen ins Ohr: "Denkt an die beiden toten Wächter hinter meinem Haus. Spielt Ihr mit, dann ... lasten wir diese OkPara und seinen Männern an."
Jadar zog seinen Kopf weg und funkelte den Stammesältesten der Kraji belustigt an. "Wollt Ihr mich erpressen?", fragte er ebenso leise zurück. 'Altes Schlitzohr', dachte er insgeheim.
"Ich bin der Einzige, der davon weiß", raunte Ak'kir und warf einen Blick zu Cyr, um sich zu vergewissern, dass der nichts hörte.
Jadar schüttelte fassungslos seinen Kopf. Ich weiß nicht, was ich nun von Euch halten soll. Ihr meint das ernst!"
"Was dachtet Ihr, dass ich scherze?", fragte der Alte und fügte hinzu: "Bleibt Ihr als Gast, dann habt Ihr allen Komfort und geht unbescholten wieder aus unserem Dorf, wenn alles vorbei ist. Entscheidet Ihr Euch dagegen, entscheidet der Ältestenrat über Euer weiteres Schicksal. Auch wir haben Gesetze, und Ihr habt gegen einige davon verstoßen. Das würde genügen, um Euch entweder ins Jenseits zu schicken oder in unseren Verliesen verschimmeln zu lassen."
"Schau an, schau an", erwiderte Jadar. "Ihr vergesst dabei nur Euren eigenen Anteil: Ihr begabt Euch freiwillig in meine Hände und spieltet mit bei der Befreiung unserer Späher. Mehr noch: Es war Eure Idee. Wie würden Eure Stammesgenossen diesen Umstand auffassen? Immerhin hat Euch Cyr genau aus diesem Grund mit mir zusammen eingelocht."
Die Stimme des Prinzen wurde lauter und lauter. Ak'kirs Blick wurde panisch, als er bemerkte, dass Cyr zu ihnen herüber schaute. "Sprecht leiser!", bat er.
Waffengeklirr kündigte die Ankunft einer Patrouille an. Cyr sprang auf und trat zu Ak'kir und Jadar. "Ich kann keine Rücksicht mehr darauf nehmen, wie Ihr Euch entscheidet. Folgt mir! Beide!"
Er fesselte Ak'kirs Handgelenke wieder zusammen, zog seinen Säbel und bohrte dessen Spitze dem Prinzen ins Kreuz. "Tut mir Leid, Ihr lasst mir keine Wahl. Erhebt Euch!" Cyr sprach extra laut, damit die Wachen es hörten. Diese betraten soeben den Hof.
Quasshie trat hinzu. "Was geht hier vor?", fragte er. "Die beiden Gefangenen werden bei uns in der Kaserne bleiben", erklärte Cyr entschieden. "Dort sind sie besser bewacht." Quasshie und Queb fassten Prinz Jadar el Hadary unter den Achseln und zogen ihn hoch. "Nun, Ihr habt es gehört. Leistet keinen Widerstand und kommt mit uns!", fuhr Quasshie ihn an. Die beiden anderen Wächter führten Ak'kir in das Innere des Gebäudes. Hinter der Tür warteten sie auf Cyr. "Wohin mit ihm?"
Der Befehlshaber nestelte einen großen Schlüsselbund aus einer Tasche seiner ledernen Uniform. "Kommt mit!" Er führte die Wächter einen langen Gang entlang und öffnete an dessen Ende eine starke Eisentür. "Hier hinein! Beide!"
***
Das Elixier
In der Nacht lag Cyr lange wach. Er wälzte sich auf seinem Polster von einer Seite zur anderen und sah immer wieder das Gesicht des Prinzen vor sich. Schließlich fiel er in einen bleiernen Schlaf, schreckte jedoch sogleich wieder hoch, als das Wiehern Shaytans ihn weckte.
Er dachte an die Worte von Saba und an das Mittel, das sie ihm gab. Der Kraji erhob sich von seinem Lager, zog sich an und nahm das Fässchen an sich. "Traum-Elixier", murmelte er. Als Shaytans Wiehern sich wiederholte, wurde ihm klar, dass er nicht träumte.
Plötzlich vernahm er ein ohrenbetäubendes Poltern, das von weiter her zu kommen schien. 'Ein Gewitter', mutmaßte Cyr. Er verließ sein Gemach und trat aus dem Inneren der Kaserne ins Freie. Suchend starrte der Katzenmann hinauf in den samtschwarzen Himmel. Die halbe Sichel des Mondes stand im Zenith, begleitet von zigtausend Sternen. Keine einzige Wolke war zu sehen, doch das Donnern blieb.
Er lauschte. 'Das ist kein Gewitter', schlussfolgerte er. Shaytans Hufe donnerten blechern gegen das Gitter. Noch einmal schrie er, und es klang, als riefe er seinen Namen. Dem Kraji stellten sich alle Haare zu Berge.
Er schaute das Fässchen an. Sabas Stimme mahnte in seiner Seele: "Das Pferd zeigt dir die Wahrheit."
Cyr fasste einen Entschluss. Zugleich zog ihn eine unsichtbare Macht in die Kaserne zurück. Er durchquerte einen langen Gang und öffnete die schwere Eisentür an dessen Ende mit seinem Schlüssel.
Jadar und Ak'kir teilten sich ein großes Polsterbett und hatten es sichtlich bequem. Nachdenklich musterte der Kraji die beiden schlafenden Wesen.
Schließlich tat er, was sein Geist ihm befahl. Er öffnete das kleine Fässchen und hielt es Jadar unter die Nase. Ein silberner Dunst stieg daraus auf.
Als Ak'kir erwachte, wagte er nicht, sich zu rühren. Aus halb geschlossenen Augenlidern beobachtete er Cyrs Tat an dem Prinzen. Jadar regte sich schlaftrunken und versuchte, sich dem filigranen Nebel zu entziehen, doch statt dass er erwachte, wurde sein Schlaf immer tiefer. Schließlich fiel er in Ohnmacht.
Als das kleine Fässchen ganz leer war, verließ Cyr wieder den Raum und begab sich auf den Weg in den Stall.
***
Kurz vorher
OkPara und Abbas standen an einer versteckten Stelle zwischen den Dünen und musterten das schwarze Bündel, das mit Büschen und Zweigen bedeckt vor ihnen lag. Ein leises Röcheln drang an ihre Ohren. "Offenbar ist der Prinz in Ungnade gefallen", höhnte OkPara. "Oder wir haben ihn gestern doch noch erwischt."
Das Röcheln wurde zu einem Schnarchen. "Irrtum, Herr, der Knabe ist äußerst lebendig und schläft."
Abbas zückte seinen Dolch und trat an das dürftige Versteck heran, noch immer davon ausgehend, dass Prinz Jadar vor ihnen lag.
OkParas scharfer Ruf stoppte ihn. "Lasst ihn! Lebendig und frei ist er uns nützlicher als tot."
"Mit Verlaub, Herr, gestern Nacht noch habt Ihr Euch diebisch über seine vermeintliche Gefangennahme vonseiten der Krajis gefreut, und jetzt wollt Ihr ihn schonen?" Abbas steckte seinen Dolch wieder weg und entfernte sich.
"Denkt nach, Abbas!" OkPara rückte seine dunkle Kopfbedeckung zurecht. Eisgraue Augen funkelten seinen Leibwächter an. "Gestern nacht dachte ich, mein Plan wäre bereits erfolgreich gewesen, doch nun ..." Nifayas Statthalter ging ein paar Schritte hinter die Düne und stieg auf sein Pferd. "Kommt! Reden wir unterwegs."
Während sie ritten, erklärte OkPara seinem Verbündeten: "Heute bringen wir die Kraji-Leichen in das Lager der bharyanischen Streitmacht. Gestern wurde unser Vorhaben durch die Freiheit des Prinzen vereitelt, doch länger können wir nicht mehr warten. Wenn der Mond voll am Himmel steht, kommen die Ochsengespanne mit ihrer Fracht."
"Wenn der Prinz lebt, könnte er Euch dabei entdecken", gab Abbas zu denken.
"Und wenn schon. Er wird nicht lange genug darüber reden können. Überall wird es heißen, es gab einen Angriff der Kraji als Rache für das Gemetzel auf dem Jabal at Them." Voller Vorfreude rieb sich OkPara die Hände und fiel dabei beinahe von seinem Pferd.
"Trotzdem leuchtet mir noch nicht ein, weshalb seine jetzige Freiheit von Nutzen sein kann", kritisierte Abbas und gab seinem schwarzen Ross die Sporen, um zu ihm aufzurücken.
"Ich will nicht nur die Krajis vernichten. Ich will den Thron! Wenn ganz Medina erfährt, dass ein Mitglied des Königshauses Bharya ein Schlächter ist, der unbewaffnete Kreaturen metzelt, dann ist der Weg frei." OkParas Stimme klang triumphierend.
"Ah verstehe. Und wäre Prinz Jadar in Gefangenschaft, kann er es ja nicht gewesen sein. Das leuchtet ein." Die beiden Männer verschwanden zwischen den Dünen.
***
Aron, Ilwash und Elwash lagen bäuchlings im Sand und feixten. Sie hatten jedes Wort mit angehört. Neugierig blickte der Späher über den Dünenrand und lachte auf, als sich ein schwarzes Borstenschwein von dem Geflecht aus Büschen und Zweigen befreite und grunzend von dannen stob. "Irrtum, Herr, der Knabe ist äußerst lebendig und schläft nur", äffte er Abbas nach.
Die beiden Krajibrüder krochen neben ihn und lugten ebenfalls nach dem Grund seiner Erheiterung. Johlend winkten sie mit ihren samtfelligen Krallenhänden den beiden Davonreitenden hinterher. OkPara und Abbas waren jedoch schon zu weit entfernt, um sie zu hören.
Übermütig juchzend warfen sich die drei jungen Männer in den Dünensand und rutschten auf dem Hintern hinunter. Unten angekommen, purzelten sie übereinander und gröhlten vor Lachen.
Nach einer Weile beruhigten sie sich und setzten sich im Kreis in den Sand. "Wir müssen reden", sprach Aron. "Habt Ihr mir Neuigkeiten über den Prinzen?"
"Ja, in der Tat", erwiderte Elwash. "Unser Oberst scheint ihm sehr zugetan. Wenn ich das richtig mitbekam, handelt er mit Jadar und Ak'kir etwas aus, um diese beiden Schurken zu täuschen." Er wies in die Richtung, in der OkPara und Abbas verschwunden waren.
"Ihr konntet Euren Befehlshaber also von unserer Unschuld überzeugen?", hakte Aron nach.
"Ihn ja, aber es gibt durchaus noch mehr Hürden zu überwinden", antwortete Ilwash. "Die Stimmung zwischen den Wächtern ist knapp vor dem Siedepunkt, und außer Cyr, Ak'kir und uns steht niemand auf Eurer Seite."
"Erzählt mir, wie es im Dorf gerade aussieht. Wie viele kamen da oben ums Leben? Hat überhaupt jemand von Euch überlebt?" Aron setzte sich bequemer zurecht.
"Ein paar konnten sich vor den Jägern verstecken, doch es gibt ausnahmslos niemanden, der nicht verwundet wurde. Themera besteht derzeit nur aus Kindern, alten Männern und dreißig Wächtern, die nur Glück gehabt hatten, weil sie außerorts waren."
Elwash schnippte sich eine Träne aus seinen Schnurrhaaren. "Was gedenkt Ihr nun zu tun?"
"Auf jeden Fall versuche ich, zumindest OkParas Vorhaben zu vereiteln, uns die Toten unterzujubeln." Fragend sah Aron seine Gefährten an. "Helft Ihr mir dabei?" Elwash und Ilwash nickten, und die drei klatschten sich ab.
***
Shaytan und der Schattenprinz
Cyr war nicht sonderlich überrascht, als er ihn im glimmenden Licht einer Fackel erblickte. "Da seid Ihr", sprach er zu dem dunklen Schatten, der neben ihm hochwuchs.
"Ich danke Euch für Euer Vertrauen", erwiderte die bereits bekannte Stimme, die nun seltsam hohl klang. "Wohin geht die Reise?"
"Das überlassen wir ihm", antwortete Cyr und wies auf das Pferd, das nun ruhig und gelassen hinter den Gittern stand und sie beobachtete. "Doch zu zweit können wir ihn nicht reiten."
Das Schattenwesen trat vor den großen Pferch und flüsterte den Namen des Tiers. Shaytan trabte ans Gitter und schnaubte.
Eine beinahe transparente Hand legte sich auf seine Nüstern und begann, sie zu massieren. Als das Pferd seinen Kopf durch die Stäbe steckte, flüsterte die Silhouette ihm etwas ins Ohr, das Cyr nicht verstand.
Shaytans Kopf fuhr ein paar Mal auf und nieder, worauf das Traumwesen zu dem Katzenmann sagte: "Ihr dürft es reiten. Wir vertrauen Euch."
"Und ... Ihr?", wagte der Kraji zu fragen. Ein leises Lachen antwortete ihm. "Ich bin ein Traum und reite, was auch immer ich will. Seht!" Mit einem Fingerschnipsen löste sich die bläulich schimmernde Aura von Shaytan, bäumte sich auf und wieherte laut. "Das ist mein Pferd!"
Die Frage, in wessen Traum er sich befand, stellte sich der Kraji erst gar nicht. Dunkel erinnerte er sich, dass nicht er es war, der Sabas Traumelixier verabreicht bekam. Cyr öffnete das Gitter, betrat den Korral und legte vorsichtig seine samtenen Pfoten auf Shaytans Rücken. Wie in Trance strich er ihm durch sein weiches Fell. Die Nerven seiner Hände begannen zu kribbeln, als würden sie einschlafen. Er zog sie zurück und hielt sie sich mit etwas Abstand vor die Augen. Cyr schloss und öffnete sie mehrmals, um das seltsame Gefühl, das ihn durchfuhr, zu schmälern.
"Es fühlt sich an, als würde der Körper bei Berührung einschlafen. Trotzdem spüre ich, dass ich wirklich hier bin, genauso wie Shaytan." Er blickte den Schattenmann an. "Wie ist es mit Euch?" Er versuchte, ihn zu berühren, doch Jadar wich vor ihm zurück.
"Ich bin ebenso wirklich wie Ihr. Schließlich habt Ihr mich gerufen", erwiderte er. "Sagt mir, warum."
"Um die Wahrheit zu suchen", antwortete Cyr und führte Shaytan hinaus. "Und um Euch zu helfen. Unsere Heilerin gab mir den Rat und den Schlüssel zu Euren Träumen."
***
Jadars Pferd trottete dem schwarzen Hengst hinterher. Mit einem weiteren Fingerschnipsen des Prinzen bekam es Zaumzeug und Zügel.
Zärtlich tätschelte er die bläulich schimmernde Traumgestalt. "Du heißt Juniya und bist eine Stute."
Vor dem Steinwall Themeras saßen sie auf. "Juniya - die Traumfee", wiederholte Cyr seine Worte. "Der Name ist passend. Wir wandeln in Träumen auf den Pfaden der Wahrheit. Nur Alshaytan al'Aswad weiß, wohin er uns führt." Mit einem bewundernden Blick streifte er die zierliche Stute. "Offenbar verfügt Ihr über Stil", bemerkte er beiläufig.
"Vielleicht befinden wir uns auch in Eurer eigenen Wirklichkeit", flüsterte der Schattenprinz vor sich hin. "Ihr gabt mir ein seltsames Gift, und seitdem bin ich hier."
"Das ist die Frage", erwiderte Cyr, "doch ist nicht die Zeit, darüber zu sprechen."
Stumm ritten die beiden Männer durch die sternklare Nacht. Die Sichel des Mondes stand nun auf halb und war auf dem Weg in den Osten. Bald würde er wieder der Sonne begegnen und mit ihr tanzen, doch wieder schlug die Magische Zeitfalle zu. Er blieb im Zenith und zeigte den Nachtwanderern ihren weiteren Weg.
Shaytan setzte seine Hufe leise in den Sand und wandte sich schließlich nach links. Der leuchtende Trabant färbte sein Fell in reinstes Silber, während Juniya zu schweben schien. Jadars Antlitz war fast transparent. Cyr überlief ein Schaudern der Angst.
Sein traumhafter Begleiter schien es zu spüren. "Wovor fürchtet Ihr Euch? Vor mir?"
"Ich fürchte mich vor dem Ende der Nacht und was uns erwartet", erwiderte der Kraji leise. "Dennoch ist es erfüllend."
Plötzlich stellte der Hengst seine Ohren und blieb stehen. Mit den Augen rollend warf er den Kopf in den Nacken und rührte sich nicht mehr von der Stelle. Juniya drängte sich ängstlich an seine Seite. "Wir sind am Ziel angelangt", orakelte Jadar el Hadary, der Schattenprinz.
***
Ungefähr zur gleichen Zeit, in der Cyr den Prinzen in seiner mehr oder weniger freiwilligen Unterkunft in der Kaserne aufgesucht und ihm Sabas Traumelixier verabreicht hatte, trafen sich Elwash, Ilwash und Aron am verabredeten Ort. Ihr Plan war, OkParas Vorhaben, den bharyanischen Mahari die Leichen der Kraji unterzujubeln, zu vereiteln. Das hieß, sie würden das Militärlager hinter den Dünen aufsuchen und alle warnen müssen.
Was genau OkPara geplant hatte, wusste niemand von den drei Gefährten. Alles, was sie hatten, waren die Informationen aus dem mitgehörten Gespräch in den frühen Abendstunden zwischen ihm und Abbas, seinem Leibwächter, der zugleich sein Komplize war.
Der Späher und die beiden Kraji hatten sich mit Dolchen und kurzen Säbeln bewaffnet. Auf Schilde hatten sie verzichtet, um beweglich zu sein.
Gemeinsam erklommen sie die große Düne und richteten an deren Spitze ihren Blick gen Osten, wo das Lager der Mahari aufgebaut war. "Alles ist ruhig", bemerkte Aron. "Ich höre nicht einmal Stimmen."
"Vielleicht sind wir zu früh?", fragte Elwash.
Aron warf einen Blick in den Himmel. "Der Statthalter von Nifaya hatte gesagt, wenn der Mond voll am Himmel steht, kämen die Ochsenkarren mit ihrer Fracht. Ich frage mich, weshalb sie diese nicht schon gestern abluden."
"Nun, mir ist das klar", warf Ilwash ein. "Er dachte, Ihr seid der Prinz und somit wäre Jadar auf freiem Fuß. Ich denke, nur deshalb hat er gewartet. Um nicht gesehen zu werden."
In der Ferne hörte Aron das Muhen von Ochsen. "Ich glaube, sie kommen." Er tat ein paar Schritte die Düne hinab, worauf die beiden Krajibrüder ihm folgten. "Seid vorsichtig", mahnte Elwash eindringlich. "Wir sollten ihnen nicht in die Finger fallen. Vermutlich sind sie in Überzahl."
Der Späher wies in Richtung Lager. "Dort sind knapp fünf Einheiten unserer Streitmacht versammelt. Ich denke, wir hätten ihnen durchaus etwas entgegenzusetzen. Wir sind nicht allein."
Ilwash bemerkte: "Diese Ruhe in Eurem Lager ist fast schon gespenstisch. Alles ist dunkel. Habt Ihr schon Ruhezeit?"
"Normalerweise sollten zumindest die Wachfeuer brennen", erwiderte Aron. "Ihr habt recht, etwas ist seltsam." Gemeinsam wanderten sie zwanzig Fuß durch die Dünen und betraten die ersten Barrieren der Wagenburg. "Ab sofort sollten wir leise sein. Vielleicht ist schon jemand von OkParas Begleitern da", mahnte Aron flüsternd. Er kroch unter eine der Deichseln und arbeitete sich bis zum nächsten Karren vor. Elwash und Ilwash folgten.
Unter dem dritten Proviantkarren blieb er im Sand liegen und winkte sie zu sich heran. "Seht!", flüsterte er. Aron wies mit dem Zeigefinger nach links. "Sie waren schon da." Vor einem Zelt lag ein toter Kraji mit einem Speer in seinem Rücken.
Entrüstet atmete Elwash aus. "Ein Speer. Sagtet Ihr nicht, sie schossen mit Pfeil und Bogen?"
"Ja, ich habe Euch nicht belogen", erwiderte Aron. "Wie es aussieht, hat OkPara an alles gedacht. Aber weit können sie noch nicht weg sein. Ich höre noch immer die Räder und das Muhen der Tiere."
"Wie wollt Ihr sie verfolgen? Zu Fuß?", fragte Ilwash.
"Dort drüben haben wir unsere Kamele." Der Späher wies nach links ans andere Ende des Lagers. "Dort werden wir uns drei Reittiere holen. Vorher wecke ich noch meine Kameraden, denn so, wie es aussieht, schlafen sie schon."
"Mir kommt das eher vor wie ein Totenfeld", bemerkte Elwash. "Am besten machen wir uns erst einmal ein Bild von dem, was hier geschah."
Aron nickte bestätigend und kroch unter den nächsten Wagen. So arbeiteten sie sich rund durch das Lager und entdeckten noch mehr. "Sie haben auch einige von uns umgebracht", stöhnte der Späher schmerzerfüllt auf, als er zwei tote Mahari neben einem Wachfeuer liegend erblickte. "Diese ... Bestie!"
Es hielt ihn nichts mehr. Er kam unter dem Wagen hervor, erhob sich und vergaß alles um sich herum. Er rannte von Feuer zu Feuer, von denen ein jedes erloschen war. Bei jedem einzelnen Wachposten lagen tote Mahari und unweit von ihnen die Leichen von Krajis.
"Wartet!", hörte er eine Stimme und drehte sich um. Elwash und Ilwash rannten ihm hinterher. "Macht das nicht allein mit Euch aus! Wie wäre es, wenn wir Verstärkung aus Themera holen?"
"Wer würde uns glauben?" Tränen liefen Aron über die Wangen. "Sagtet Ihr nicht selbst, dass nur Euer Oberst, Ak'kir und Ihr beide mir glaubt? Ich bringe diesen Teufel zur Strecke. Und wenn es sein muss, mache ich das allein."
***
Noch in derselben Nacht - nur unwesentlich später - kam Sethos mit seinen Mahari an und fand das gleiche grauenvolle Bild vor wie die drei Freunde.
Nachdem er es kaum fassen hatte können, wie es passieren konnte, dass niemand von den Überlebenden etwas gehört haben wollte, kam er bald zu einem genaueren Bild. Mehr und mehr Männer kamen aus ihren Zelten, erblickten das Schrecknis und berichteten ihm von seltsamen dunklen Gestalten, die sie wie im Traum heimgesucht hatten. "Ich war wie betäubt", erzählte ihm Bennu. "Einer kam zu mir an meine Ruhestatt und drückte mir einen nassen Schwamm ins Gesicht. Was danach geschah, davon weiß ich nichts."
Etliche Mahari berichteten von derselben Erfahrung und waren äußerst erschüttert, dass hinter ihrem Rücken solch grausige Taten vollbracht worden waren.
"Was ist mit den toten Kraji?", fragte SeKani. "Wie kommen sie vor unsere Zelte?"
Sethos schüttelte seinen Kopf und umklammerte die Münze, die er bei Ramos, einem erdolchten Mahari, gefunden hatte. "Wenn Ihr es nicht wisst", erwiderte er, "weiß ich es erst recht nicht." Er nahm sein Kamel und führte es zwischen den Toten hindurch. Ab und an blieb er stehen, berührte die noch warmen Körper und drehte sie um. Jadar war nicht dabei.
Am Rand des Lagers blickte er gedankenverloren hinaus in die Ferne und sah drei Reiter auf ihren Kamelen. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte er ihren Weg. Sie ritten schnell und zogen eine gigantische Staubwolke hinter sich her. Waren diese drei gar die Mörder?
Dass hier eine Schlacht stattgefunden hatte, schloss Sethos aus. Alles deutete auf einen heimtückischen Hinterhalt hin.
Nur die toten Kraji: Die passten überhaupt nicht ins Bild. Kam der Überfall sogar aus Themera? Seine Intuition sagte ihm jedoch etwas anderes.
"OkPara!", murmelte er noch einmal und starrte die Münze an. Entschlossen schwang er sich auf sein Kamel. "Wer reitet mit mir?", schrie er in die Nacht hinein. "Wer auch immer das war: Er wird dafür bezahlen."
"Männer, auf die Kamele", befahl nun auch SeKani. "Die Mörder sind noch nicht weit." Auch er hatte die drei Reiter erblickt. "Dort!" brüllte er lauthals. "Dort reiten sie."
Kurz darauf war das Lager in Aufruhr. Offiziere und Mahari rüsteten sich mit Krummschwert und Dolch und stürmten aufgeheizt zu den Stallunterkünften.
Sethos gab vor Abritt Anweisung an die Fußeinheiten: "Ihr haltet die Stellung. Alle! Und dass sich ja niemand noch einmal übertölpeln lässt. Ich habe Euch zu Elitesoldaten ausgebildet, also verhaltet Euch gefälligst auch so."
***
Das blaue Einhorn
Aron, Ilwash und Elwash ritten seitlich der ausgehärteten Fahrrinnen, die, durch ständigen Gebrauch entstanden, kreuz und quer den Sand der Wüste durchzogen und die Städte und Dörfer Medinas untereinander verbanden.
Sobald sie das Ende der Karawane, die hauptsächlich aus Ochsengespannen bestand und rechterhand von einigen dunklen Gestalten auf Pferden begleitet wurde, erblickten, vermieden sie jedes Geräusch. Es mussten so an die fünfzig Karren gewesen sein.
Der bharyanische Mahari zog eine aus Gold gefertigte Röhre mit einem hauchdünn geschliffenen und kompliziert eingearbeiteten Diamanten aus seiner Tasche und spähte den Anfang der Karawane aus. Zwei vermummte Reiter auf schwarzen Pferden führten sie an. "Das muss OkPara sein", sprach Aron seine Vermutung aus. "Neben ihm reitet der andere Schurke." Die drei Gefährten verringerten ihre Geschwindigkeit und hielten Abstand. Um nicht entdeckt zu werden, blieben sie im Schatten der Dünen und begleiteten die Gespanne parallel zur linken Reihe.
"Was habt Ihr da für ein Gerät?", fragte Elwash und deutete auf das einfach gefertigte Einauge in Arons Hand. "Das ist zum Durchgucken", erklärte er leise. "Ich habe es im Offizierszelt gefunden und nahm es mit."
"Darf ich mal?", fragte Elwash und trieb sein Kamel an Arons Seite. Fordernd streckte er seine Hand aus, und der bharyanische Späher reichte es ihm.
Neugierig hob der Kraji das Ding vor sein Auge und spähte quer durch die Gegend. Als er übergroß das Firmament vor sich sah, zuckte er erschrocken zusammen. "Hilfe! Mit diesem Ding holt Ihr ja die Sterne vom Himmel. Das ist ja richtiggehend gespenstisch!"
Er drehte den Kopf und konzentrierte sich auf die Karawane. "So deutlich, als wären sie neben uns." Elwash war versucht, die Hand auszustrecken und nach allem zu greifen, was er erblickte. "Wie kommt Ihr an solches Teufelswerk?"
"Das ist kein Teufelswerk. Unser Alchemist in Bharya stellt diese Geräte aus Gold und zu Linsen geschliffenen Diamanten her. Wir nennen sie Einauge." Die Nacht verschluckte ihre Gespräche, und so unterhielten sie sich flüsternd weiter.
Dicht an dicht aneinander gedrängt schritten ihre drei Kamele mit erhobenen Häuptern und gemächlich mahlenden Kiefern durch den tiefen Wüstensand und gehorchten jedem einzelnen Befehl ihrer Reiter. Der Mond warf sein Licht direkt auf die Karawane, als wäre er mit Aron, Ilwash und Elwash verbündet und schiene ganz allein nur für sie. Der ältere Krajibruder war fasziniert von seinem neuen Spielzeug und ließ seine Augen kreisen.
Plötzlich stieß er einen weiteren Überraschungsschrei aus und gab dem Mahari das Einauge zurück. "Schaut mal nach links!", machte er ihn auf das entdeckte Objekt aufmerksam.
Aron nahm es entgegen und blickte in die ihm gewiesene Richtung. Er konnte kaum fassen, was er zu sehen bekam.
***
Ak'kir: Kurz vorher in der Kaserne
Nachdem Cyr ihre Zelle verlassen hatte, blieb Ak'kir stumm liegen und dachte verzweifelt darüber nach, was er zu tun gedachte. Was hatte der Befehlshaber der Wachen dem Prinzen angetan? Was hatte er ihm verabreicht?
Er tastete an Jadars Herzgegend entlang, überprüfte Herzschlag, Körpertemperatur, Atmung und Puls und stellte erleichtert fest, dass alles normal war. Der Prinz befand sich lediglich in einem sehr tiefen Schlaf, und Ak'kir vermutete, dass er betäubt worden war. Vage erinnerte er sich daran, dass Cyr öfter bei Saba, der Heilerin war, und vielleicht hatte sie ihm etwas gegeben.
Er legte eine Hand auf Jadars Arm und rüttelte diesen sanft. "Wacht auf!", flüsterte er, doch der Prinz reagierte nur mit einer leichten Regung seines Körpers, drehte sich auf die andere Seite und begann, etwas zu murmeln.
Plötzlich erfüllte ein bläuliches Leuchten den Raum. Ak'kir beobachtete fassungslos, wie es Form annahm und den Prinzen umhüllte. Sein Körper wurde transparent und schillerte silbern. Ein dunkler Schatten erhob sich von Jadars Ruhestatt.
Das blaue Licht waberte und veränderte ständig seine Konturen. "Ich bin ein Traum und reite, was auch immer ich will", vernahm Ak'kir eine Stimme, die sehr nach Jadar klang. Und plötzlich formte sich das Leuchten zur Silhouette von einem Pferd. Der Schatten des Prinzen trat hinzu, schwang sich auf dessen Rücken und lenkte es quer durch den Raum.
Ak'kir zwickte sich in den Arm und fragte sich, ob er den Verstand verlor. Er schloss die Augen, riss sie wieder auf und wiederholte das mehrmals. Seine Hände tasteten sich immer wieder am Körper des schlafenden Prinzen entlang und fühlte, wie dieser zu entgleiten begann. Sein gesamter Leib war von Licht umhüllt.
"Du heißt Juniya und bist eine Stute", erklang Jadars schlaftrunkene Stimme noch einmal. Ak'kir beobachtete, wie Reiter und Pferd mit der Wand der Kammer verschmolzen.
***
Shaytan und Juniya: Vor Themera
Alshaytan al' Aswad hatte seine Artgenossen gewittert, doch spürte er auch eine unbestimmte Gefahr. Der Angstschweiß der dampfenden Pferdeleiber biss sich ihm regelrecht in seine Nüstern, und er roch die Reiter.
Der schwarze Hengst hatte genug Zeit in den Reitställen Nifayas verbracht, um zu ahnen, dass es nicht erstrebenswert war, dort noch einmal hinzugelangen. Am Liebsten hätte er auf den Hufen gewendet und wäre in die andere Richtung geflohen, doch die Anwesenheit seines Herrn hielt ihn davon ab. Er vertraute auf ihn, dass er ihn beschützte.
Er hatte ihm auch vor dem Verlassen seines Geheges vertraut und trug jetzt genau ein solches Wesen auf seinem Rücken, dessen Krallen er eigentlich fürchten müsste. Sein Herr hatte ihm jedoch gesagt, dass er das nicht müsse, und er solle ihn tragen. Also ließ er es zu.
Ein leiser Klagelaut drang an seine Ohren. Er spürte einen kühlen Leib an seinen Flanken und senkte den Kopf. Liebevoll stupste Shaytan die zierliche blaue Stute an und signalisierte ihr in Gedanken, dass sie keine Angst haben müsse, solange ER bei ihr war. Er teilte ihr mit, dass ihr Herr sie genauso lieben würde wie ihn, wenn sie ihm nur gehorche, denn immerhin sei Juniya aus seinem Schatten geboren und von diesem erschaffen worden. Sie waren eins!
***
"Wir sind am Ziel angelangt", vernahm Cyr Jadars Stimme. Er wagte nicht, Shaytan weiterzuführen und klammerte sich am Knauf seines Sattels fest. Mit einem Blick neben sich nahm er wahr, dass die Silhouette des Prinzen sich zu verändern begann und mit Juniyas Konturen verschmolz. Beide - sowohl Pferd als auch Reiter - waren nun von diesem bläulichen Leuchten erfüllt und erhellten die Nacht in den Dünen.
Jadar hob einen Arm und murmelte etwas in seiner Sprache. Ein Lichtstrahl schoss aus seinen leuchtenden Fingern hervor und formte sich zu einem langen Schwert. Der Schattenprinz schwang es, und ein Pfeifen klang durch die Luft. Dann gab er Juniya die Sporen. "Ich wünsch mir ein Einhorn", drang das Echo seiner jungen Stimme an die Ohren des Kraji.
Mit großen Augen beobachtete er, wie die Konturen Juniyas zu wabern begannen und sich verformten. Ihre Silhouette formte sich neu. Ein Horn aus kunstvoll ineinander verschlungenen Spiralen wuchs in Zeitlupe aus ihrer Stirn und funkelte wie reinstes Gold.
"Juniya soll Shaytans Gefährtin sein", flüsterte Jadar. "Aus seinem Schatten geboren soll sie uns fortan immer begleiten. Wie die Sterne wird sie auf immer funkeln und weist uns den Weg. In Gefahr steht sie uns bei und ist unbesiegbar."
Der inbrünstige Jubelschrei des Prinzen schallte weithin durch die Luft, als die Geburt seines Einhorns vollendet war.
Nichtsahnend, welch Unheil sich über seinem Kopf zusammenbraute, führte OkPara seine Männer nach getaner Arbeit nach Hause. Er war zufrieden mit sich: Schadenfroh malte er sich die gewünschten Folgen seiner bisherigen Schandtaten aus und wähnte sich schon als sicheren König Medinas. Konsequenzen aus seinen perfiden Intrigen hatte er seiner Meinung nach nicht zu fürchten, seine Strategie war perfekt.
Es würde die letzte Nacht sein, die er unter dem Halbmond Themeras verbrachte. Seine nächste Anlaufstelle würde Nifaya sein, wo seine Heimat war. In seinem Rücken rollten leere Ochsenkarren durch den Wüstensand und wurden von hundert Reitern begleitet.
Allesamt, die ihm folgten, waren ihm treu ergeben, der eine aus Furcht, der andere aus Loyalität oder aber aus Eigennutz, weil ein jeder von ihnen wusste, dass es sich in OkParas Fahrwasser am profitabelsten schwamm. Doch wie schwarz war seine Seele ...
Einen seiner beiden Leibwächter hatte er eine Nacht vorher verloren. Abanos war so dumm gewesen, unter die Hufe dieses Mistviehs zu geraten, das sie zu dritt für seine Pläne missbraucht und geschändet hatten.
Abbas war ihm geblieben und ritt nun neben ihm her. Gemeinsam bildeten sie ein Duo der Nacht, mit ihren alles verhüllenden Trachten und den Pferden wirkten sie gemeinsam mit ihrem Tross wie eine Truppe von schwarzen Teufeln. Vom Militärlager Bharyas aus, wo sie ihre tödliche Fracht hingebracht hatten, reisten sie in einem größeren Bogen von ungefähr zehn Wagenlängen Entfernung am Ortsrand von Themera vorbei. Der Blick auf den Ort selbst war ihnen durch die rundum liegenden Dünen verwehrt und gewährte auch ihnen die Deckung, die sie so dringend brauchten, doch OkPara fühlte sich sicher. Seiner Meinung nach hatte der Statthalter Nifayas den richtigen Zeitpunkt für seine Verbrechen gewählt. ... Wie sehr er sich irrte!
***
Zwischen den Dünen
Aron und Elwash waren noch ganz gefangen von dem wundersamen Leuchten zwischen den Dünen. Das blaue Licht veränderte ständig seine Konturen und schien sich zu bewegen. Der Späher reichte sein Einauge an Ilwash weiter. "Seht! Wüsste ich nicht, dass ich nicht schlafe, dann würde ich glauben, ich träume."
Der jüngere Krajibruder nahm es ihm ab und schaute hindurch. "Ich sehe Cyr", fügte er hinzu. "Er sitzt auf einem Pferd. Das Schwarze, das zu uns kam."
Aus seiner magischen Wunderwelt herausgerissen fragte Aron: "Seht Ihr kein Licht? Es war ganz deutlich zu sehen. Oder war das eine Fata Morgana bei Nacht?"
Elwash lachte. "Fata Morganas wandeln am Liebsten des Tages im Sonnenschein. Die Nacht macht ihnen Angst. Gib mir das Auge, Bruder."
Ilwash reichte es ihm, und Elwash spähte noch einmal hindurch. "Hmmm, seltsam. Nun ist es weg, aber Cyr sehe ich auch. Aron, wir sollten ihn warnen und ihm alles erzählen, was sich in Eurem Lager ereignet hat." Er übergab dem Späher das Teleskop und wartete auf seine Entscheidung. "Ich möchte OkPara nicht aus den Augen verlieren", erwiderte Aron. "Wenn einer von Euch das übernehmen würde, wäre das gut. Am Besten, er kommt zu uns. Sonst wird er noch von den Schurken entdeckt."
Der Anfang der Karawane war bereits kurz vor der Kreuzung nach Themera, und er wollte sich nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn die Dunkelmahari den Kraji in die Hände bekämen. "Cyr wäre verloren, wenn sie ihn entdecken", argumentierte er und wies auf die Reiter, welche den Tross eskortierten.
Ilwash erklärte sich bereit, zu Cyr zu reiten und ihn zu holen. "Aber seid vorsichtig", warnte Aron, "und noch besser leise. Ich möchte nicht, dass unsere Deckung auffliegt."
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Kurz darauf zuckte der junge Mahari erschrocken zusammen. In seinem Rücken war lautes Geschrei und Hufgedonner. Er drehte sich um und schaute in die entsprechende Richtung.
"Wartet!", warnte er Elwash. "Die bharyanische Streitmacht rückt aus. Wir müssen verhindern, dass sie zu schnell sind."
Ohne die Antwort des Krajis abzuwarten, trieb er sein Kamel an und galoppierte den Mahari entgegen. SeKani sah den schwarz gekleideten Reiter, der ihnen in hoher Geschwindigkeit entgegen kam, als Erstes.
"Das ist wahrscheinlich der Prinz!", rief er Sethos nach. "Ihr urteilt zu schnell."
Der bharyanische Oberbefehlshaber verlangsamte sein Kamel, hob seinen Arm und stoppte mit einem knappen Ruf seine Eskorte. Danach ritt er noch einmal an und trabte Aron allein entgegen. "Was zum Teufel ...", rief er aus, als er ihn erreicht hatte. Er musterte sein Gegenüber. "Weshalb tragt Ihr die Gewänder des Prinzen?"
"Später", erwiderte der Späher mit ernstem Gesicht. "Wir haben nicht viel Zeit zum Reden, aber es gibt viel zu berichten. Vorerst ist nur wichtig, dass Ihr eines wisst: OkPara lockte die Kraji und uns in einen Hinterhalt. Die Folgen dessen habt Ihr vermutlich erblickt."
Sethos machte eine skeptische Miene. "Das klingt recht abenteuerlich. Wo ist Prinz Jadar?", fragte er und schaute sich suchend um.
"Vorerst in Sicherheit", antwortete Aron und wies mit dem Zeigefinger geradeaus. "Da vorn ist OkPara mit einer ganzen Truppe übelster Schurken. Zusammen richteten sie in unserem Lager und auf dem Jabal at Them ein Blutbad an. Es ist gut, dass Ihr kommt."
Mittlerweile stieß auch Elwash hinzu. "Mein Bruder ist zu Cyr geritten, wie Ihr es sagtet", gab er Aron Bescheid. "Sie müssten gleich bei uns sein."
Sethos musterte den Neuankömmling. "Und wer seid Ihr?", fragte er misstrauisch.
"Ein Freund. Einer, den Ihr gebrauchen könnt", erwiderte Elwash trocken. "Und wie Ihr bestimmt schon bemerkt habt: Ein Kraji. Mein Name ist Elwash, und in Kürze lernt Ihr noch meinen Bruder kennen."
Sethos verneigte sich knapp. "Ich bin Sethos und Oberbefehlshaber der Königlichen Streitmacht Bharyas. Könnt Ihr bestätigen, was er uns erzählt?" Er wies mit einem kurzen Kopfnicken zu Aron.
Gemeinsam ritten sie zu seiner Reitereskorte. "Ich weiß nicht, was Ihr schon alles wisst", erwiderte Elwash. "Doch eines ist sicher: Aron, Ilwash und ich haben alles, was passiert ist, mit eigenen Augen gesehen. Insofern könnt Ihr davon ausgehen, dass er nicht lügt."
Auf dem Weg zu den Mahari berichteten Elwash und Aron in knappen Worten, was sich in der Zwischenzeit alles ereignet hatte. Sethos gab sich entsetzt, als er von dem gesamten Ausmaß des Massakers an den Kraji erfuhr. "Unbewaffnet!!!", rief er aus. "Hinterrücks niedergemetzelt! Was für ein feiges Schwein!"
Elwash setzte ihn nunmehr darüber in Kenntnis, dass Jadar in der Kaserne von Themera war. "Cyr kann Euch gleich mehr dazu sagen." Er drehte sich um und schaute nach links. "Da kommt er schon mit meinem Bruder." Der Kraji setzte sich ab und ritt ihnen entgegen, um sie auf Sethos vorzubereiten. Genau in diesem Moment schob sich ein Schatten vor den silbernen Mond, und er sah es wieder!
***
Jadar und Cyr
"Was gedenkt Ihr nun zu tun?", fragte Cyr, nachdem Juniyas letzte Metamorphose vollendet war. Er warf einen besorgten Blick neben sich. Der blau leuchtende Körper des Prinzen und seines Schatteneinhorns war weithin sichtbar. Ihm war durchaus bewusst, dass der Tross, der die Karawanenroute nach Nifaya passierte, besser nicht auf sie aufmerksam wurde.
Der Kraji erinnerte sich an die letzte Warnung von Saba, die ihn in seiner Traumvision heimgesucht hatte: "Wenn Euer Geist sich erhebt und zu wandeln beginnt, dann ist eines wichtig: Ihr müsst zurück in Eurem Körper sein, bevor die Nacht dem Ende zugeht. Sonst verliert Ihr Euch zwischen den Welten, und es gibt keine Rückkehr."
"Ich kümmere mich um OkPara", erwiderte Jadar und unterbrach seinen Gedankengang. "Doch beantwortet mir eine Frage: Was habt Ihr mir gegeben?"
"Es ist gut, dass Ihr fragt." Cyr erzählte ihm von Saba, der Heilerin. "Sie machte Euren Hengst wieder gesund und gab mir ein Inhalat. Sie nannte es 'Traumelixier'. Doch ich hätte nicht gedacht, was es möglich macht." Er gab ihre Warnung weiter und mahnte: "Wenn Ihr sie nicht befolgt, dann ist das Euer Tod."
"Bin ich verwundbar?", wollte Jadar wissen. "Kann mich außer Euch jemand sehen? Und was passiert, wenn ich den Rückweg in meinen Körper nicht finde?"
"Die Frage, ob Eure Aura verwundbar ist, kann ich nicht beantworten. Ebenso wenig, ob Euch jemand sieht. Was die Rückkehr in Euren Leib betrifft: Da müsst Ihr mir vertrauen, dass ich Euch führen kann. Wir müssen nur rechtzeitig wieder in der Kaserne sein. Verliere ich Euch aus den Augen, dann kann ich Euch nicht mehr retten."
Der Kraji hörte das Schnauben eines Kamels in seinem Rücken und drehte sich um. "Da kommt einer von uns", machte er den Prinzen auf den Neuankömmling aufmerksam, doch der war verschwunden!
Elwash ritt auf ihn zu und gesellte sich neben ihn. "Ich soll Euch holen", sprach er. "Der Oberbefehlshaber von Bharya ist angekommen und hat eine Eskorte dabei. Sie bereiten sich auf einen Angriff vor, und Ihr solltet bei uns sein. Dann seid Ihr geschützt."
Cyr fragte: "Habt Ihr ihm schon alles erzählt?" Er trieb Shaytan an und hoffte, dass er sich auch ohne Jadars Anwesenheit führen ließ. Als er in Elwashs Gesicht sah, bemerkte er eine gewisse Verwirrung. "Was ist mit Euch? Ihr macht so einen geistesabwesenden Eindruck."
"Heute ist eine seltsame Nacht", erwiderte Elwash und überlegte, ob er Cyr nach dem blauen Licht, das er gesehen hatte, fragen sollte. Er entschied sich dagegen und setzte ihn stattdessen über die Geschehnisse im bharyanischen Militärlager in Kenntnis. "OkPara und seinen Tross habt Ihr gesehen?", fragte er.
Cyr nickte. "Ich dachte mir schon, dass das keine normale Handelskarawane sein kann. Um mehr zu erkennen, war ich jedoch zu weit weg."
Die beiden Kraji ritten den Mahari entgegen. "Ich hoffe, dass sich der Mond noch einmal zeigt. Es ist stockdunkel", bemerkte Elwash mit rot funkelnden Augen. Die vorderen Reihen von Sethos' Eskorte zündeten mit Zunder und Feuerstein Fackeln an.
Aron trieb sein Kamel neben sie. "Da seid Ihr", begrüßte er Cyr und stellte sich vor. "Wir hatten noch nicht das Vergnügen, doch mir wurde gesagt, Ihr seid uns freundlich gesinnt. Das Pferd des Prinzen scheint das genauso zu sehen, wie es aussieht." Er wies auf den Hengst. Alshaytan al'Aswad prustete, als würde er seine Worte verstehen.
***
Im Schattenland
Als sich der Mond verdunkelte, überlief OkPara ein Schauder. Er spürte die Unruhe in seinem Rücken und die Angst der Tiere aus seinem Tross. Peitschenknallen verriet ihm, dass die Treiber versuchten, ihre bockigen Ochsen weiterzutreiben. Der Statthalter drehte seinen Kopf und starrte nach hinten. Verzweifelt versuchte er, etwas im diffusen Licht der Sterne zu erkennen, doch es war vergeblich. OkPara rang seine Hände. "Zündet Fackeln an, Ihr Hornochsen", schrie er hysterisch.
Er hörte das Zischen von Flammen, doch das von ihm geforderte Ergebnis war nicht wie gewünscht. Windböen zerrten an ihren Gewändern und den glimmenden Fackeln und pusteten sie sofort wieder aus.
Abbas trieb sein Pferd blindlings in die vermutete Richtung ihrer Reitereskorte und war plötzlich in einem Wust scheuender Tiere gefangen. Ein lautes Knurren kam aus dem Dunkel und versetzte ihn in Angst und Schrecken. Schweiß trat ihm auf die Stirn.
Mit gehetztem Blick sah er sich um. Die Karawane war von Unmengen glühender Augenpaare umzingelt. "Raubkatzen!", schrie er. "Oder die Kraji!"
Geistesgegenwärtig ließ Abbas sich fallen, gab seinem Pferd einen Klaps auf den Hintern und robbte geschmeidig unter den stampfenden Läufen der verängstigten Tiere hindurch. Kriechend kämpfte er sich durch das Chaos, erhob sich und floh hinaus in die Nacht, ohne sich umzudrehen.
***
Die Legende erzählt: Im Kampf gegen das Böse kehrt die Katzengöttin nach Athyria zurück und gestattet ihren Geschöpfen die Rückkehr in ihre Urgestalt. So war das Gebirge, das die medinische Wüste im Osten begrenzte, alsbald von einer Horde Schwarzer Panther besiedelt. Es hieß, dort warteten sie auf die alles entscheidende Schlacht. Weiterhin wurde erzählt: Befänden sich ihre Verwandten - die Katzenmenschen - in ernster Gefahr, sammeln sie sich in den Nächten des Dunkelmonds und kämpfen mit ihnen Seite an Seite.
Auch Sethos und den bharyanischen Mahari blieb nicht verborgen, dass etwas anders war. OkParas Tross war ungefähr fünfzig Wagenlängen von ihnen entfernt, und mittlerweile waren alle darüber in Kenntnis gesetzt, was im Schein des Athyrianischen Sichelmonds in den Reihen der Kraji begann und in der darauffolgenden Nacht im Lager der Königlichen Streitmacht eine tragische Fortsetzung fand. Die Herzen der Krieger schrien nach Rache.
Den Wächtern Themeras war das gesamte Ausmaß der Katastrophe noch nicht bewusst, doch das, was den Katzenmenschen bekannt war, lasteten sie nach wie vor Jadar und der bharyanischen Streitmacht an. Nur Cyr, Ak'Kir, Elwash und Ilwash wussten Bescheid und taten alles, um den Prinzen vor ihren verbliebenen Stammesgenossen zu schützen. Gemeinsam mit dem Dorfältesten der Kraji befand er sich unter Verschluss, und nur Cyr hatte den Schlüssel zu seinem Verlies.
Durch Saba, eine Alma Shiferi, erhielt der Befehlshaber der Krajiwächter auch den Schlüssel zu Jadars Träumen. Mithilfe ihres Magischen Traumelixiers hatte er es dem Prinzen möglich gemacht, mit ihm gemeinsam auf die Suche nach der Wahrheit zu gehen. Somit ruhte Jadars Leib in der Kaserne, und seine Seele befand sich auf Reisen.
Der im Schatten der Nacht wandelnde Prinz schuf aus Shaytans Aura ein nachtblaues Einhorn und gab der Stute den Namen Juniya. Noch wusste er die magischen Energien, die ihm durch das Traumelixier verliehen worden waren, nicht richtig zu nutzen, doch sie gaben ihm Kraft und sie machten ihn unsichtbar. Nur jenen, die ihn sehen sollten, weil er ihnen vertraute, gab er sich zu erkennen. Seine Aura verschmolz mit der von Juniya, und Jadar führte ein besonderes Schwert aus dem Licht der Sterne gemacht.
***
Duelle im Nichts
Cyr hatte den Prinzen gewarnt, sich nicht von ihm zu entfernen, um den Rückweg in seinen Körper nicht zu verlieren, doch seine Warnung kam etwas zu spät. Unbedacht, wie der junge Thronfolger Bharyas im Leben war, stürmte er auf dem Rücken Juniyas seinem Erzfeind OkPara entgegen und stellte sich ihm. Der Statthalter Nifayas war noch ganz gebannt in seiner Angst vor der Dunkelheit, die ihn umgab, als ein blauer Schatten über ihn kam und ihm einen glühenden Streich am Oberschenkel versetzte, der ihn aus dem Sattel seines schwarzen Pferdes enthob. Verdattert lag er im Sand und starrte hinauf in den Himmel, der nach wie vor dunkel war. Nur der Schwarze Mond war umrandet von einem leuchtenden Ring, zumindest bildete er sich das ein.
Als das blaue Licht jedoch die Konturen eines Menschen annahm, begann er zu begreifen, dass die unsichtbare Bedrohung irdisch war.
Ungläubig glotzte OkPara für einen Moment und erblickte die Silhouette eines seltsamen Tieres mit einem Horn. Darauf ritt der Leibhaftige selbst, wie es ihm schien. Mit einem Schrei sprang er auf und griff nach seinem Dolch, doch ein blauer Lichtstrahl traf seine Hand und entriss ihm die Waffe. "Du wirst bezahlen", hörte OkPara eine zischende Stimme. Kurz darauf fühlte er einen brennenden Schmerz an seinem Arm und verfolgte voller Entsetzen mit seinen Augen den rotierenden Lichtstrahl, der ihm einen Streich nach dem anderen versetzte.
Wo auch immer das kalte Feuer ihn traf, sprang die Haut auf, und Blut floss in Strömen. Zugleich vernahm der intrigante Statthalter von Nifaya das donnernde Getrappel von Hufen, das einmal hinter, ein andermal vor ihm oder neben ihm war. Nur sehen ... konnte er nichts! OkPara war jedoch weit entfernt davon, sich geschlagen zu geben. Die Schwertstreiche des Schattenprinzen waren nicht sehr präzise und hatten keine tödlichen Wunden geschlagen. Der verwundete Almadin zog sein Chepesch und begann, sich erbittert gegen seinen unsichtbaren Gegner zu wehren.
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Im Licht der Fackeln führte Sethos seine Eskorte zum Ort des Getümmels. Schon von Weitem drang das hysterische Geschrei verängstigter Tiere an sein Gehör. "Reitet an, Männer!", schrie er. "Und haltet Eure Waffen bereit."
Cyr war nicht mehr dabei. Er hatte sich auf den Rückweg nach Themera begeben, um seine eigenen Leute über die Geschehnisse in Kenntnis zu setzen und sie zu rekrutieren. Aron war in seiner Begleitung, weil Sethos dem Kraji vorgeschlagen hatte, seine Wächter im Militärlager Bharyas mit besseren Waffen zu rüsten. Der Späher sollte ihn dabei beraten und darüber hinaus dafür sorgen, dass ihm und seinen Männern nichts geschähe, wenn sie sich in die Reihen des im Lager verbliebenen Fußvolks begaben.
Elwash und Ilwash ritten mit Sethos. Auch sie waren kampfbereit. Dennoch gemahnten sie den Bharyaner zur Umsicht, denn sie hatten die Fährte einer fremden Bedrohung gewittert. "Ich fürchte, der Tross ist von Raubkatzen umzingelt", hatte Elwash auf Höhe der Dünen gewarnt, von wo aus Aron die Karawane beobachtet hatte. "Mein Rat wäre, hier zu warten und sich ruhig zu verhalten, bis Cyr mit unserem Stamm zu uns stößt."
"Wenn wir geduldig sind, erledigt sich das Ärgernis OkPara und seine Schurkenbande vielleicht auch ganz von selbst", fügte Ilwash hinzu und setzte ein boshaftes Grinsen auf. "Es müssen Unmengen sein. Ich rieche die Ausdünstung hungriger Katzen bis hier."
Es war nicht einfach für Sethos, die nach Rache dürstenden Mahari in seiner Begleitung davon abzuhalten, sich kopflos auf die Karawane zu stürzen und dort zu metzeln. Die vorherrschende Dunkelheit überzeugte seine Eskorte jedoch, von einem Kampf vorläufig abzusehen. "Wir warten auf den Befehlshaber der Kraji", bestimmte er und fragte Elwash: "Wie soll er uns finden?"
"Seid dessen gewiss, dass er weiß, wo wir sind", erwiderte dieser. "Wir Kraji - wie Ihr uns nennt - finden einander immer."
Mit einer halb eingezogenen Kralle tippte Elwash sich selbst auf die Nase. "Das haben wir Euch Medinern voraus."
***
Quilon, einer der Ochsentreiber, war einer der wenigen, der die Nerven behielt, als der Mond im Schatten von Athyria verschwand. Trotz der Dunkelheit schaffte er es, seine beiden Ochsen von den Deichseln ihres Gespanns zu befreien und sie in die Wildnis zu jagen. Einige von OkParas Männern, die es mitbekamen, eiferten ihm nach und retteten dadurch nicht nur ihren Tieren das Leben. Die verlassenen Karren boten einigen wenigen der Bauern, die dem Statthalter Nifayas Geleit gewährt hatten, Schutz vor dem Angriff der Schwarzen Panther. OkParas Dunkelmaharis jedoch schienen verloren.
Im Lichtschein von Fackeln beobachteten Sethos, Elwash und Ilwash die Umzingelung der Karawane. Dem Befehlshaber der Königlichen Streitmacht fiel auf, dass kein Angriff erfolgte. Auf eine entsprechende Bemerkung, die er Elwash gegenüber machte, erzählte dieser ihm von der Legende und wies auf ihre Verwandtschaft hin. "Wenn Raubkatzen sich sammeln, dann nur im Überlebenskampf", argumentierte er. "Heute hingegen, in der Nacht des Schwarzen Monds, erfüllt sich eine Prophezeiung. Die Katzengöttin selbst kommt hernieder und uns zu Hilfe. Sie rächt OkParas Schandtat an uns. Nur jene, die es verdienen, finden in den Nächten der Legenden den Tod."
"Und daran glaubt Ihr?", fragte Sethos neugierig. Elwash zuckte die Schultern. "Es spielt keine Rolle, ob wir es glauben. Die Fakten sprechen für sich."
Plötzlich schossen aus den hintersten Reihen fünf Mahari mit ihren Kamelen an Sethos und den beiden Krajibrüdern vorbei. "OkPara, den schnappen wir uns", schrie der erste und trieb sein Reittier mit einer Gerte an.
Fluchend setzte Sethos hinterher. "Bleibt stehen!", donnerte er. "Ihr rennt in Euer Verderben." Hintereinander galoppierten die Ungehorsamen zwischen zwei Dünen durch, doch noch bevor sie die in Bedrängnis geratene Karawane erreichten, geschah etwas, was ihn an seinem Verstand zweifeln ließ. Verblüfft rieb er sich die Augen.
***
Zwischen den Welten
Tefnut und Uadjit, zwei junge Mahari, hatten ein paar andere aufgewiegelt, sich über Sethos' Befehl, auf eine Einheit der Kraji zu warten, hinwegzusetzen. Stattdessen übten sie sich in Heldenmut.
Mit wildem Kriegsgeschrei schwangen sie ihre Krummsäbel über ihren Köpfen und preschten an den disziplinierteren ihrer Kameraden vorbei. Die Worte des bharyanischen Oberbefehlshabers, stehen zu bleiben, verhallten im Nichts.
Mit Gertenhieben peitschten sie ihre Kamele zur Raserei und galoppierten durch die Gassen aus Fackeln, die auf Geheiß von SeKani ringsum aufgestellt worden waren und überall brannten.
Tefnut, der Wagemutigste von allen, stieß einen triumphierenden Ruf aus, doch noch bevor er die Kreuzung queren und sich mit seinen Begleitern in die Schlacht stürzen konnte, fühlte er sich aus dem Sattel gehoben und nach hinten geschleudert wie ein kleiner Ball. Er landete im Sand und beobachtete geschockt, wie seinen Kameraden das Gleiche geschah.
Ihre Kamele stolperten übereinander und fielen zappelnd und schreiend zu Boden.
Fluchend trieb Sethos sein Kamel an und kam gleichzeitig mit SeKani hinzu. Beim Anblick der gefallenen Vierbeiner schüttelte Letzterer wütend den Kopf. "Wenn das so weiter geht, haben wir bald keine Kamele mehr", bemerkte der Offizier bitter. "Wir haben schon viele bei der letzten Überquerung der Brücke bei Faryfra verloren."
Mit Tränen in den Augen trat Sethos an eines der sich im Sand windenden Tiere heran. Ihr schmerzerfülltes Röhren schnitt sich tief in sein Herz.
Er zog seinen Dolch und erlöste das Kamel von seinem Leid. SeKani führte fort, was Sethos begann. Nur zwei der fünf Tiere rappelten sich von selbst wieder auf, schleppten sich lahmend davon und wurden von einigen Maharis in den hinteren Reihen der Eskorte empfangen.
Voller Zorn schnappte Sethos den nächsten der dümmlich glotzenden Rebellen am Kragen und zog ihn nach oben. "Was habt Ihr Euch dabei gedacht? Und überhaupt, was ist da passiert?"
"Ich weiß es nicht, Herr!", erwiderte der Angesprochene kleinlaut. "Es war, als liefe ich gegen eine Wand."
"Euch hat wohl die Hitze das Gehirn verbrannt", grollte Sethos und stieß den jungen Mann angewidert von sich. "Gebt doch einfach zu, dass Ihr nicht reiten könnt!"
"Nein, Herr, so war es nicht." Auch die anderen vier Mahari beteuerten, dass ihnen das Gleiche geschah. "Es gab kein Durchkommen."
Tefnut stand auf und klopfte sich den Sand aus seinen Gewändern. "Es tut mir leid, Sethos. Ich nehme das auf meine Kappe und bedaure den Verlust der Kamele." Zerknirscht starrte der Mahari zu Boden. "Aber versteht, dass ich es als unsere Aufgabe sah, die Schurkenbande Nifayas zu stellen."
"Ach, und denkt Ihr, Eure Gefährten seien dazu zu feige, weil sie mir gehorchen? Guter Mann, was ficht Euch an?", knurrte Sethos. "Normalerweise gehört Euch der Prozess gemacht wegen Meuterei." Tefnut trat der Schweiß auf die Stirn. "Ich habe nicht nachgedacht und hatte nicht die Absicht, etwas anzuzetteln, bitte glaubt mir." Der junge Mahari wusste nur zu genau, was ihm blühte, wenn Sethos seine Drohung wahr machen würde. Er hatte keinerlei Ambitionen, bis zum Kopf im Sand verbuddelt und von Roten Ameisen zerfressen zu werden.
Glücklicherweise wurde der Oberbefehlshaber der Königlichen Streitmacht von dem Sünderlein abgelenkt. SeKani trat neben ihn und sprach ihn an: "Was haltet Ihr von dieser abenteuerlichen Version, was sie über ihren Sturz erzählen?"
"Nicht viel, aber nichtsdestotrotz schauen wir uns das genauer an." Sethos führte sein Kamel an die Seite und bat ihn um seine Begleitung. Gemeinsam schritten sie denselben Weg ab wie die Maharis.
Ungefähr auf Höhe des Orts ihres Sturzes fiel SeKani ein seltsames Flimmern auf. Es lag quer vor seinen Augen und spannte sich von Düne zu Düne. "Eine Fata Morgana", flüsterte er, doch Sethos lachte ihn aus. "Das ist doch Quatsch! Wir haben Nacht."
Gerade, als er sich abwenden wollte, kam ein durchgegangenes Pferd in furiosem Tempo auf ihn zu. Er warf sich gegen SeKani und stieß ihn zur Seite. "Vorsicht!", schrie Sethos den Mahari aus seiner Eskorte entgegen und wandte seinen Blick wieder nach vorn.
Das Tier wurde immer schneller. Übergroß sah er die rollenden Augen des verängstigten Pferds und den weißen Schaum auf den Flanken und wartete im Sand sitzend, dass es ihn passierte, doch es geschah ... nichts!
Obwohl Hufgetrappel an seine Ohren drang und der schwarze Hengst klar zu erkennen war, konnte dieser nicht zu ihnen gelangen. Das Flimmern der vermeintlichen Fata Morgana wurde stärker und stärker und wurde bläulich. Das Tier bäumte sich auf und schien mit seinen Hufen gegen einen unsichtbaren Widerstand zu trommeln. Eine Abfolge von Donnergeräuschen klang zu ihnen herüber.
Elwash und Ilwash hatten den Aufruhr rechterhand der vor ihnen liegenden Dünen bemerkt und galoppierten zu Sethos. Sie fixierten ihre Kamele an der Seite, stiegen ab und halfen den beiden Männern hoch.
Die Brüder traten vor die unsichtbare Barriere, legten ihre Pfoten dagegen und berührten sie. SeKani sah, wie die beiden Kraji durchsichtig wurden, in dem Schillern verschwanden und kurz darauf auf der anderen Seite wieder zu sehen waren.
Gemeinsam brachten sie den schwarzen Hengst dazu, sich zu beruhigen und führten ihn am Zügel zu den Mahari.
***
Sethos war kaum zu beruhigen. Unruhig lief er von einer Seite zur anderen und murmelte unentwegt vor sich hin. "Das gibt es nicht! Das gibt es einfach nicht!", kam es ein um das andere Mal über seine Lippen. Hektisch drehte er sich zu Elwash um und fuhr ihn an: "Wie auch immer! Könnt Ihr mir das erklären?"
SeKani irrte zwischen den Dünen entlang und erkundete das, was soeben ihr Weltbild sprengte. Elwash verschränkte die Arme, beobachtete ihn und erwiderte beiläufig: "Ich habe es Euch doch schon erklärt. Es ist die Nacht der Legenden. Basth, unsere Göttin, weilt unter uns, um geschehenes Unrecht zu sühnen."
Auf der anderen Seite der Magischen Wand gesellten sich Krajis zu ihren Verwandten und verwandelten sich vor den Augen der mittlerweile zwischen den Dünen versammelten Mahari in ihre Tiergestalt. Auch bei Elwash und Ilwash trat eine Wandlung ein. "Wir müssen gehen!", verabschiedete sich der jüngere Bruder, bevor sie vollendet war. "Wer sich Basth widersetzt, ist des Todes."
"Auch uns geschah Unrecht!", schrie Sethos wutentbrannt den zwei großen Geparden hinterher, bevor sie auf der anderen Seite verschwanden. "Auch wir haben das Recht, uns zu rächen."
"Das erledigt Prinz Jadar für Euch!", sprach ihn eine fauchend klingende Stimme von hinten an. Sethos drehte sich um. "Cyr!!! Ihr auch? Beteiligt Ihr Euch auch an dieser Menschenjagd?"
"Wer kein Krajiblut an seinen Händen hat, braucht uns nicht zu fürchten", erwiderte Cyr. "Und auch den Tieren wird nichts geschehen."
Bekümmert verzog er sein Tigergesicht. "Ich hoffe, danach können wir Freunde sein." Der Befehlshaber der Kraji verneigte sich und blickte neben sich. "Auch wir müssen gehen", sprach er. Cyr hatte einen alten Löwen mit grauer Mähne in seiner Begleitung. "Es wird sein letzter Kampf."
***
Im Bann der Katzengöttin
Manchmal gewährt das Schicksal die Gnade, dem Schrecken des Todes nicht ins Auge blicken zu müssen. In jenen Momenten entzieht sich das Grauen dem Blick. So war es auch in der Nacht des Schwarzen Mondes, als es galt, OkPara und seine kaltherzigen Dunkelmahari zu stellen. Nachdem Ak'kir und Cyr in ihrer Tiergestalt Sethos verlassen hatten, zog ein Wind durch die Wüste und ließ alle Fackeln verlöschen. Nur das Leuchten der Magischen Wand war geblieben und zog sich bis hinauf in den Himmel. Kein Einziger außer den Krajis war in der Lage, den Bann der Katzengöttin zu brechen. Einzig Prinz Jadar und seinem Pferd wurde der Zutritt zum Kampfplatz gewährt. Alle anderen scheiterten in allen Himmelsrichtungen und von innen wie außen an dieser schillernden Wand, die eine Konsistenz hatte wie Gelatine.
Aron war wieder bei seinen Kameraden angelangt und schilderte Sethos rückblickend, was auf dem Rückweg nach Themera alles geschehen war.
Cyr hatte dem bhariyanischen Späher alles berichtet: Über das Traumelixier, über den Ritt mit dem Prinzen in dessen Traumgestalt, aber auch über die Angst, die er gehabt hatte, ihn zu verlieren, nachdem Jadar verschwunden war.
Nach seiner Erzählung hatte sich der Kraji von Aron getrennt und war mit Shaytan zwischen den Dünen verschwunden. "Ich muss ihn suchen", erklärte er ihm. "Wartet auf mich."
Bei seiner Rückkehr kam Cyr zu Fuß aus der anderen Richtung und war allein. "Wo ist Prinz Jadar?", hatte Aron gefragt. "Habt Ihr ihn gefunden?"
"Shaytan hat mich zu ihm geführt", erklärte Cyr ihm erleichtert und erzählte ihm von dem leuchtenden Einhorn. "OkPara ist tot", fügte er an.
"Was ist aus dem Einhorn geworden?", hakte Aron nach.
"Nach Rückführung des Prinzen in seinen Leib wurde Juniya wieder zu dem, was sie war", erwiderte Cyr. "Zu Shaytans Schatten." Einige Atemzüge später hörten sie Hufgeräusche in ihrem Rücken, und Jadar gesellte sich mit seinem Schwarzen Teufel zu ihnen. Er hatte Cyrs letzte Worte gehört. "Ich kämpfe weiter mit Euch", sprach er in feierlichem Tonfall. "Wenn der letzte der Mörder an Eurem Volk sein Leben aushaucht, kehrt Juniya zurück. Dann seht Ihr sie als Sternbild am Himmel." Der Prinz blickte hinter sich. "Ich habe noch jemanden mitgebracht."
Ak'kir humpelte mit seinem Stock hinterher. Als Cyr stehenblieb, um auf ihn zu warten, trat er hinzu und schwor pathetisch: "Auch ich ziehe als Stammesältester mit Euch in diese Schlacht. Gewährt mir, dass ich Euch begleite."
***
Die Legende der Kraji neigt sich dem Ende entgegen, viel zu berichten gibt es nicht mehr. Basth senkte Finsternis alldieweit über die Wüste Medin und versetzte die bharyanischen Mahari in Schlaf.
Ihre Geschöpfe hingegen, die Kraji, nahmen gemeinsam mit Prinz Jadar auf seinem Streitross und den Schwarzen Panthern Rache an den Meuchelmördern der Katzenmenschen und der Bharyaner.
Wie der Befehlshaber der Hauptwache Themeras dem Feldherrn Sethos versprochen hatte, wurden nur diejenigen gerichtet, die Schuld auf sich luden. Die Treiber der Ochsengespanne und deren Tiere wurden verschont und kehrten nach Hause zurück, als alles vorbei war. Der Thronfolger Bharyas führte die Pferde der gefallenen Dunkelmahari der eigenen Streitmacht zu.
Als der Mond sich von Athyrias Schatten befreite, schien er silbern über Meere von Blut. Die Magische Wand brach in sich zusammen, und die Katzenmenschen zogen sich mit ihren Verwandten in die Berge zurück. Themera war nunmehr ein Geisterdorf. In einer Höhle auf dem Jabal at Them hingegen ruhte der Leichnam von Ak'kir. In jener Schwarzmondnacht verlor er sein Leben.
Es heißt, der Dunkle Prinz habe den Kraji ein Versprechen gegeben: Er verbürgte sich gemeinsam mit Sethos für die Befreiung ihrer Frauen aus Nifaya und deren Rückkehr zu ihrem Stamm. Als Bedingung stellte er, dass nicht noch mehr Blut fließen dürfe.
Alle dachten, es wäre vorbei, doch ein weiteres Unheil brach über das Lager der Mahari herein. Niemand hatte bemerkt, dass Abbas entkam. Er nahm bittere Rache dafür, dass er der Letzte war!
Zwischen ihm und dem Prinzen kam es in einer weiteren Nacht zwischen den Dünen zu einem Duell, das der ehemalige Leibwächter OkParas verlor. Wie Jadar es zuvor versprochen hatte, kehrte Juniya zurück, nachdem Abbas seinen letzten Atemzug tat. Als das Einhorn über den Himmel ritt, wusste ein jeder: Die Schuld ist nun getilgt!
***
Ende Teil eins
Überarbeitung
Fortsetzung folgt
***
Anmerkung: Alle weiteren Kapitel sind noch nicht verbindlich. Deshalb: Weiterlesen auf eigene Gefahr. :-)
Die Waisen Nifayas
Sethos hatte vom König den Auftrag erhalten, Prinz Jadar nach Hause zu bringen, doch dieser hatte sich schlicht geweigert. Er berief sich dabei auf ein Versprechen, das er Cyr gegeben hatte und betonte, dass er dafür seinen Kopf hingehalten habe, um die Frauen der Kraji aus den Fängen der Nifayaner zu befreien. Daraufhin gab sich Sethos geschlagen.
Der Oberausbilder Bharyas und sein einstiger Kadett kamen überein, gemeinsam gen Nifaya zu reisen, um den Wunsch Cyrs zu erfüllen und sich zudem ein Bild von der aktuellen Lage in der in Not geratenen Handelsstadt zu machen. Vor ihrer Abreise aus dem Militärlager bei Themera statteten sie ihre Eskorten mit Pferden und neuer Bewaffnung aus, die aus der Beute des von den Katzenmenschen gegen OkPara und seine Banditenbande geführten Kampfs stammten.
SeKani blieb mit einer Einheit in Themera und machte sich mit seinen Männern auf Sethos' Geheiß an den notwendigen Wiederaufbau des kleinen Orts, das Fußvolk Bharyas wurde mit drei Offizieren nach Hause geschickt. Danach brachen auch Jadar und Sethos ihre Zelte ab. Mit einer Eskorte von einhundert Reitern und mehreren Ochsengespannen in ihrer Begleitung machten sie sich auf den Weg.
Jadar gab sich erleichtert. „Sethos, ich bin froh, dass Ihr hier seid. Mein Vater wollte Nifaya ebenfalls einen Besuch abstatten. Am Tag unserer Abreise war er über das, was er erfahren hatte, äußerst besorgt." Er streifte seinen älteren Begleiter mit einem Blick und fragte dann leise: "Doch nun sagt mir: Wie geht es ihm? Was ist mit ihm passiert?" Sethos machte eine bekümmerte Miene. "Der König hat sich augenscheinlich in der Wüste verirrt und wurde von einer Karawane nach Hause gebracht. Diese wurde von Euch geschickt, hieß es. Ist das wahr?"
Jadar überlegte. "Hatten sie Skorpionpanzer dabei?", fragte er. "Ich habe tatsächlich jemanden nach Bharya geschickt mit äußerst wertvoller Fracht."
Der Ausbilder rang sich ein Lächeln ab. "Ihr mit Euren Ideen. Ja, in der Tat. Riesige goldene Panzer. Ich beglückwünsche Euch zu Eurem gelungenen Schachzug in Faryfra. Bisher hatte nur ein einziges Auge diese legendären Monster erblickt, und nun auch Ihr."
"Es gibt sie nicht mehr. Aber nun fahrt bitte fort mit dem Bericht über meinen Vater." Jadar gab Shaytan einen liebevollen Klaps auf die Stirn, als dieser an den Flanken von Sethos' Stute zu schnuppern begann. "Benimm dich." Er trieb sein Pferd etwas weiter nach rechts.
"Der Körper Eures Vaters verfällt mehr und mehr", erklärte der Befehlshaber Bharyas mit leiser Stimme. Viel Kummer und Liebe zu seinem König sprach aus seinen Worten. "Die Heiler sagen, es sei Skorpiongift, was ihm zu schaffen macht. Er wurde in der Wüste gestochen. Die meisten Alma Shiferis gaben bereits die Hoffnung auf, dass er überhaupt überlebt."
"Aber er lebt?", hakte Jadar nach.
"Ja. Eine junge Tempelpriesterin übernahm seine Pflege, und seitdem geht es ihm besser."
"Wenn wir nach Hause zurückkehren, erinnert mich daran, dass wir sie fürstlich entlohnen werden, wenn sie meinen Vater wieder gesund macht." Mit grimmiger Miene gab Jadar seinem Pferd die Sporen und galoppierte davon, sich wünschend, für einen Moment allein zu sein. 'Wir haben die besten Heiler', überlegte er, 'und wenn selbst diese die Hoffnung aufgeben ...' Tränen traten ihm in die Augen. Sein Vater und er hatten sich nie sonderlich nahe gestanden, der Prinz war mehr in der Kaserne bei Sethos gewesen als im Palast. Familiäre Bindungen waren ihm fremd. Umso mehr bekümmerte ihn nun der Gedanke, dass er Khnemu, kaum dass sie sich angenähert hatten, wieder verlor.
"Das darf nicht sein!", schrie er in den Wind und beschwor die Götter, ihn zu beschützen. Hinter sich hörte er das Stakkato von Hufen und warf einen Blick über die Schulter. Das besorgte Gesicht von Sethos brachte ihn wieder zu sich. Er verlangsamte sein Tempo, ritt zur Seite und hielt an, um auf ihn zu warten. "Verzeiht", entschuldigte er sich, als er zu ihm stieß. "Ich wollte nachdenken."
"Konzentriert Euch auf unseren Auftrag, wenn ich Euch einen Rat geben darf", erwiderte Sethos. "Das hilft nicht nur uns, sondern auch Euch."
Jadar ritt wieder an und blickte die Route nach Nifaya entlang. Am Horizont waren bereits die ersten Außenmauern zu sehen. "Ihr habt Recht. Um die Miliz muss es erbärmlich bestellt sein, wenn man bedenkt, dass OkPara Mahari aus Bharya anfordern wollte."
„Mit Eurer Erlaubnis. Es handelt sich bei Nifaya um eine Stadt von Schwächlingen. Das Einzige, was sie wirklich können, ist Handel betreiben“, erwiderte Sethos abwertend. "Und wie man jetzt gesehen hat, auch noch betrügen." Mit grimmiger Miene blickte er seinen ehemaligen Schützling an. "Ich bin gespannt, was uns dort noch alles erwartet!"
Jadar berichtete, auf welche Missstände er gestoßen war. "OkPara hatte eine Geheimmiliz um sich geschart. Wie groß der Umfang dieser Einheiten insgesamt war, darüber ist mir nichts bekannt. Es kann durchaus möglich sein, dass noch ein Rest seiner Dunkelmahari noch irgendwo ist und auf Rache sinnt." Er wandte sein Gesicht Sethos zu. "Wir sollten unsere Proviantwägen und unsere Eskorte vor der Stadt lagern lassen. Besser noch, auch wir zwei agieren unentdeckt. Bestimmt erfahren wir auf diese Weise mehr als im Auftrag des Königs."
"Was genau schlagt Ihr vor?", fragte Sethos und hielt sein Pferd an. Nachdenklich betrachtete er Prinz Jadar von oben bis unten. Er schien ihm um einiges reifer geworden zu sein, und der Feldherr gestand sich ein, dass ihm diese Entwicklung gefiel. Jadars Einfallsreichtum hatte ihn überrascht.
Sein ehemaliger Kadett stellte seine Kreativität erneut unter Beweis. Mit zusammengekniffenen Augen begutachtete der Prinz ein paar armselig gekleidete Händler, die ihn und Sethos mit voll beladenen Schubkarren passierten und Richtung Nifaya zogen. "Was einmal erfolgreich war, müsste erneut funktionieren", murmelte er vor sich hin. Er stieg von seinem Pferd und übergab seinem Lehrer die Zügel. "Kümmert Euch darum, dass unsere Mahari ihr Lager aufschlagen und dass Shaytan gut versorgt wird", sprach Jadar mit fester Stimme. "Ich habe eine Idee."
Mit einer Hand griff er in seine Satteltasche und holte einen kleinen Lederbeutel heraus. Demonstrativ hielt er ihn nach oben und schüttelte ihn, so dass ein zartes Klimpern erklang. "Was habt Ihr nun wieder vor?", fragte ein junger Bursche aus der Reiterstaffel. Gespannt hatte Mersad das Gespräch zwischen Sethos und dem Prinzen verfolgt. Jadar grinste ihn unverschämt an. "Von mir könnt Ihr lernen. Sethos und ich spielen Verkleiden."
"Wassss?", schrie Besagter. "Hat Euch die Sonne das Gehirn verbrannt? Und sagt mir, als was."
"Nichts leichter als das", erwiderte der junge Prinz. Er deutete auf die armselige Kleidung der Bauern, die zum Handeln Nifaya betraten. "Sie brachten mich auf die Idee, aber deren zerrupfte Lumpen taugen zu nichts. Wir warten, bis eine Karawane kommt, und ich besorge uns das, was wir brauchen. Wir verkleiden uns als reiche Händler."
Argwöhnisch spähte der Oberausbilder Bharyas die Handelsroute entlang. In der Tat kam ein Tross beladene Kamele mit reich geschmückten Ochsengespannen in ihrem Gefolge auf Nifaya zu. Der Anführer der Karawane war edel gewandet. Es musste ein Statthalter sein.
"Seht!", wies er mit dem Finger nach links. "Dort kommt jemand." Mit triumphierender Miene schlich Jadar davon.
***
Wie ein Geist tauchte er wenig später vor dem Statthalter von Baqua auf. Sein Gesicht hatte er gut verhüllt, so dass ihn niemand erkannte. Jadar zog noch einmal seine Börse hervor und hielt sie gut sichtbar vor sich in die Höhe.
"He, Ihr da, ich will mit Euch handeln", rief er forsch den Händlern in dessen Gefolge zu. Mit einem prüfenden Blick musterte er ihre Kleidung. Was er sah, gefiel ihm ganz gut. 'Ja, das könnte was taugen', dachte der Prinz und hielt Ausschau nach der passenden Größe. Schließlich schritt er hoch erhobenen Hauptes in die Mitte der Karawane und trat auf zwei nebeneinander her reitende Männer zu. Mit begehrlichem Blick starrten sie auf den kleinen Lederbeutel in seiner Hand. "Was wünscht Ihr von uns?", ergriff der Größere schließlich das Wort.
"Ihr habt den Wohlklang von meinem Gold also gehört, das bedeutet, Eure Ohren sind noch nicht taub", erwiderte Jadar mit rauer Stimme. "Mein Anliegen mag Euch ungewöhnlich erscheinen, aber dafür zahle ich gut." Er warf dem Sprecher seine Börse entgegen. "Die könnt Ihr Euch teilen. Gebt mir dafür Eure Gewänder!"
Die Männer blickten ihn verdutzt an. "Ihr wollt unsere Kleidung, Herr? Das ist doch wohl nicht Euer Ernst." Misstrauisch beäugte der ältere Händler den Unbekannten in dunkler Vermummung. "Wer seid Ihr eigentlich, dass Ihr uns so entgegen tretet?"
"Das tut nichts zur Sache", fuhr Jadar ihn an. Er zog einen Dolch aus den Falten seines schwarzen Ledergewands und demonstrierte spielerisch das Funkeln der Klinge. "Ich kann Euch Eure Tadyas auch direkt vom Körper schneiden, doch Ihr habt die Münzen. Wie heißt es so schön? Der Kunde ist König? Also behandelt mich wie einen König!"
Der Anführer der Karawane trat hinzu und schaltete sich in die hitzig geführte Debatte ein. Er musterte den vermummten Prinzen von oben bis unten und stieß einen überraschten Schrei aus. "Aber ... Ihr seid doch der Prinz von Bharya. Was wünscht Ihr von diesen Männern? Ihr haltet unsere Reise auf, und Zeit ist Geld."
"Schweigt!", donnerte Jadar. "Und besser, Ihr behaltet Eure Kenntnis für Euch, wenn Ihr in Nifaya seid, sonst seid Ihr des Todes." Seinerseits schaute er nun sein Gegenüber an. "Ich kenne Euch. Ihr seid der Statthalter von Baqua." Dieser bejahte. "Ich war bei der Frühlingsaudienz des Königs, vermutlich habt Ihr mich da gesehen."
"In der Tat. Aber nun haltet mich nicht länger auf", fuhr Jadar fort. Er wandte sich wieder den beiden Händlern auf ihren Kamelen zu. "Nun? Ist meine Börse nicht gut genug gefüllt für Eure Gefügigkeit?" Er griff erneut in seine Tasche. "Da ist noch mehr drin für Euch, aber dafür brauche ich auch noch Eure Kamele."
"Herr!" Ein Glitzern trat in die Augen des Jüngeren, als er Jadars Gold sah. "Mit Verlaub, aber wir werden uns hier nicht entkleiden." Er wies mit einem Finger nach hinten. "Dort hinten sind unsere Waren. Zufällig haben wir Kleidung dabei, und da ist bestimmt was für Euch."
"Gut, wenn Ihr das sagt, dann verlasse ich mich auf Euer Wort." Hoheitsvoll nickte der Prinz. "Also geleitet mich zu Euren Karren und gebt mir, was Ihr für mich habt."
Mit einem lauten Pfiff und dem Ruf "Sethos!" bestellte Jadar el Hadary den Feldherrn Bharyas an seine Seite. Mit leichter Entrüstung eilte dieser herbei und rügte ihn leise: "Was ist das nur wieder für ein Gebaren? Das habt Ihr bestimmt nicht von mir gelernt."
"Der Zweck heiligt die Mittel, und mein Plan hat funktioniert." Der Prinz übergab Sethos sein Gewand. "Zieht dies an, ich denke, es ist Eure Größe."
Er saß auf einem Kamel. Sein eigenes hatte er bereits übergestreift und die Tracht des Königshauses Bharya in der Satteltasche seines Reittiers verwahrt.
"Erklärt mir, was Ihr genau vorhabt", fragte Sethos gedämpft von unten herauf. Die Männer der Karawane sahen die beiden Gefährten neugierig an. "Wir schließen uns diesen Händlern an", erwiderte Jadar und überreichte seinem ehemaligen Ausbilder den Zügel eines Kamels. "Das ist Euer Reittier."
Sethos seufzte. "Nun, ihr habt Recht. Euer Vorhaben könnte erfolgreich sein. Aber werden die Männer nicht plaudern? Bestimmt wurdet Ihr schon erkannt."
"Sie werden sich hüten, uns zu verraten. Der Anführer der Karawane ist der Almadin von Baqua, und der weiß, was ihm blüht, wenn er nicht schweigt." Jadar trieb sein Kamel an den Anfang des Trosses. "Folgt mir", bat er, "wenn Ihr soweit seid." Ohne lange zu fackeln, übernahm er die Führung, die der Statthalter von Baqua ihm überließ.
***
Unter der rotglühenden Nachmittagssonne durchritt die Karawane die ersten Säulen der Stadt. Jadar und Sethos hatten sich an die Spitze gesetzt, der Almadin von Baqua ritt hintenan. Leise unterhielten sie sich.
"Wir müssen in Erfahrung bringen, wo OkPara seine Sklaven untergebracht hat", merkte Jadar gegenüber seinem Feldherrn an. "Bevor er starb, legte er ein umfassendes Geständnis ab, dass sich die Frauen der Kraji unter ihnen befinden."
Sethos musterte die quaderförmigen Sandsteingebäude am Saum des Stadteingangs. Die meisten von ihnen bestanden - ähnlich wie der Palast von Bharya - aus drei Terrassen, die sich nach oben verjüngten. Kleine Bogenfenster, die sich auf kunstvoll verarbeitete Säulen stützten, durchzogen ringsum die Wände.
"Das ist das Viertel des Adels, hier hat er bestimmt irgendwo gelebt", vermutete er mit kritischem Unterton.
Der Prinz wendete sein Kamel und trieb es an die Seite des Anführers der Karawane. Er fragte ihn, ob er schon öfter in Nifaya gewesen sei und was er über die Stadtherren wisse. Kazem bejahte seine Frage und klärte ihn auf. "Meines Wissens hatte der Statthalter Nifayas einen breiten Beraterstab." Er zögerte. "Und so wie ich hörte, nicht nur dies. Aber das wisst Ihr ja ohnehin."
Der Almadin von Baqua bezog sich dabei auf die Eliteeinheiten der geheimen Miliz, die OkPara bei der einen oder anderen Räuberei unterstützt hatten. Mit vorsichtigen Worten gab er sein Wissen preis.
Jadar lauschte ihm nachdenklich und ließ ihn zu Ende sprechen, ehe er erneut ansetzte und fragte: "Wisst Ihr denn, wo sein Haus steht?"
Bekräftigend nickte der Mann. "Natürlich, das weiß ein jeder. OkParas Haushalt forderte unsere Waren frei Haus. Er war sich zu fein, um selbst zum Marktplatz zu gehen und mit unseren Händlern zu feilschen. Wer sich weigerte, wurde gefoltert und im schlimmsten Fall sogar geköpft." Mit grimmiger Miene sah Kazem dem Prinzen fest in die Augen. "Es widerstrebt mir, diese Stadt zu betreten, doch leider bleibt mir nichts Andres übrig."
Jadar blickte auf, als sich Sethos zu ihnen gesellte. "Ich erfahre viel Neues", erklärte er ihm, bevor er sich wieder Kazem zuwandte und ihn aufforderte, ihm das zu erläutern.
***
Hatte des Königs Sohn seit dem Gemetzel auf dem Jabal at Them schon genug Gräuel vonseiten des Almadins von Nifaya erlebt, so verschlug ihm Kazems weiterer Bericht schlichtweg die Sprache. Viele Provinzen Medinas waren einem Tribut an die Stadt unterworfen. Wer sich weigerte, war in der Vergangenheit Opfer von OkPara und seinen Schergen geworden. Nur an die nähere Umgebung Bharyas hatte er sich nicht getraut.
Des Weiteren hatten Handelsreisende an den Grenzen Nifayas Zoll zu entrichten, und das nicht nur in Gold. Das eine oder andere wertvolle Geschmeide wechselte auf diese Art öfter mal den Besitzer.
"Vermutlich ist die geheime Schatzkammer OkParas prallvoll gefüllt", betonte Kazem. "Am heutigen Tag ist der Tribut wieder fällig, und deshalb bin ich hier."
Stumm lauschte auch Sethos der Erzählung des älteren Almadins. Seine gebräunte Stirn furchte sich ärgerlich. Stück für Stück setzte er in seinem Gehirn ein Puzzle zusammen, das ihm nicht gefiel. Seine Hände ballten sich zu großen Fäusten und klammerten sich an den Sattelknauf seines Kamels.
Mit einem Blick über die Schulter ritt er näher an Jadar heran. "Mein Vorschlag: Als Händler machen wir uns erst einmal kundig, verlassen die Stadt und kehren mit unserer Eskorte wieder zurück." Er wiederholte die Frage des Prinzen: "Wo ist das Haus von OkPara?"
Kazem deutete rücklings zu einem abseits stehenden Ziegelgebäude im Adelsviertel. Es war noch prunkvoller als die Häuser, die es umgaben. Nachbildungen der Suren standen ringsum in einem gepflasterten Hof. Wie ein königlicher Palast ragte es über die Stadt. "OkParas Villa ist auf einem künstlichen Hügel gebaut", erklärte der Mann. "Es ist das einzige Haus, das aus Ziegeln gebaut worden ist. Wie ich hörte, wurden sie nach einer großen Schwemme vor vielen Jahren aus dem Schlamm des Hayas gebrannt."
Die drei Männer verfielen in brütendes Schweigen. Hinter ihnen murmelten leise Stimmen der Händler. Dass sich der Prinz und sein Feldherr unter ihnen befand, sprach sich allmählich herum.
Schließlich erhob der Statthalter von Baqua noch einmal das Wort: "Wenn Ihr OkParas Haus betreten wollt, werdet Ihr eine Einladung brauchen. Es ist gut bewacht."
Jadar lächelte süffisant. "Nun, ich denke, mit meinem Namen komme ich überall durch." Er tätschelte den Hals seines Kamels und fügte die Frage an: "Wisst Ihr, wer alles in OkParas Haushalt lebt?"
"Sein Sohn Sham verwaltet OkParas Geschäfte, wenn er auf Reisen ist", erwiderte Kazem. "Er ist nun der Stadtherr Nifayas...", er zögerte und fuhr leise fort: "Nun, nach dem Tod seines Vaters, wird er es vermutlich auch bleiben."
***
Je weiter die Karawane ins Innere der Stadt vordrang, umso so schlimmer wurde das Bild. Der Kontrast zwischen dem edelsten Viertel der Stadt und den armseligen Behausungen der restlichen Bürger Nifayas tat sich jedem einzelnen Auge der Handelsreisenden so offenkundig auf, als wären sie von einem Lidschlag zum Anderen vom Licht ins Dunkel geraten.
Ebenso abrupt verstummten die vorher noch frohgemuten Stimmen der Händler. Mit mürrischen Gesichtern trieben sie ihre Kamele auf der breiten Straße zum Marktplatz voran. Die Karawane war wie ein Geisterzug oder wie ein Tross, der einen zum Tode Verurteilten zu seinem Richtplatz geleitete. Die bunten Farben ihrer Gewänder schienen regelrecht zu verblassen.
Jadar nahm es wahr mit Erschrecken. Schreiende Kinder liefen neben den Kamelleibern her und streckten den Männern bettelnd ihre Hände entgegen. Ab und an geriet eines unter die Hufe, doch niemanden schien es zu scheren. Kleine Leichen lagen am Wegesrand.
Mit einem Blick zu Sethos gewahrte er das Entsetzen auf dessen Gesicht. Sein Herz lag so schwer in seiner Brust, dass er befürchtete, es bliebe stehen.
Wie aus einer fernen Welt drang eine fragende Stimme an sein Gehör. Er verstand ihre Worte nicht, und ihr Klang war ihm so unerträglich, dass er versucht war, seinen Dolch dazu zu verwenden, dass sie verstummt. Es war die Stimme des Almadins.
Mit leerem Blick wandte Jadar ihm sein Gesicht zu. "Oh bitte schweigt", raunte er. "Um aller Götter Willen, haltet das Maul!", schrie er plötzlich auf.
Mechanisch griff seine Hand in die Falten seines Gewands. Sethos sah es und reagierte augenblicklich. Er gab seinem Kamel einen Klaps, so dass es erschrocken zur Seite sprang, in Richtung des Prinzen. Die Leiber der beiden Tiere prallten zusammen.
Jadar schreckte auf und kehrte wieder ins Leben zurück. Mit zarter Hand versuchte er, sein Tier zu beruhigen und griff zugleich nach dem Zügel von Sethos' Kamel, um zu verhindern, dass es zu Boden fiel.
Der kurze Aufruhr brachte die Karawane ins Stocken. Sethos benutzte die kurze Pause und mahnte seinen einstigen Schützling: "Es dürfte besser sein, wir trennen uns jetzt von diesen Männern. Und reißt Euch zusammen! Hattet Ihr wirklich im Sinn, einen Mord zu begehen?" Mit grimmiger Miene übernahm er wieder die Führung über sein Kamel und trieb es zur Seite. Die Hufe des Tiers versanken in Schlamm, doch der erfahrene Feldherr nahm es kaum wahr. Auch er war noch immer von diesen Bildern des Schreckens gefangen.
Verwirrt strich sich Jadar eine schwarze Locke aus seinem Gesicht. "Bitte verzeiht", wandte er sich an Kazem. "Ich war nicht bei mir."
Der Statthalter von Baqua nickte und legte ihm eine Hand auf den Arm. "Es sei Euch vergeben. Ich wünsche Euch alles Glück für Euer Tun, was auch immer Ihr vorhabt. Doch verratet mir Eines: Habt Ihr OkPara gestellt oder ist das nur ein Gerücht?"
Jadar erzählte ihm das Notwendigste, was es zu wissen gab. "Ja, es ist wahr. Er hat lange genug sein Unwesen getrieben und griff uns an, und dafür zahlte er mit seinem Leben. Themera ist nun eine Geisterstadt, die Krajis leben nun in den Bergen. Und ich rate Euch, sie dort zu belassen und sie nicht mehr zu verfolgen, falls Ihr das jemals tatet."
***
Wenig später hatten die beiden Männer die Karawane verlassen und bewegten sich zu Fuß durch die Stadt. Ihre Kamele befanden sich wieder bei ihren Besitzern. Mit scharfem Blick beobachteten sie ihr Umfeld und machten sich auf in Richtung Marktplatz in der Hoffnung, dort mehr zu erfahren.
Sie hatten den richtigen Zeitpunkt erwischt: Es war der große Wochenbazar, den fast jede größere Stadt nutzte, um zu repräsentieren.
In Nifaya geriet er zur Farce. Nichts konnte die Wahrheit verschleiern, dass es eine Stadt von Ausbeutern war. Von Straßen war hier nicht zu reden. Nicht einmal der Sand war gewalzt, wie es in Städten üblich war. Die Handkarren der Bauern blieben des Öfteren stecken, und nicht selten verloren sie dabei ihre Fracht.
Oft war es alles, was sie noch hatten, und anschließend standen sie dann mit leeren Händen da, wohlwissend, dass nun auch das letzte Hemd noch verloren war. Zu Hause warteten dann ihre Frauen und ihre hungernden Kinder, und nicht selten fand man Letztere schließlich am Wegesrand, die Schädel zertrümmert von den Hufen eines Kamels. Doch von all diesem wussten Jadar und Sethos nichts.
Der Prinz war gekommen, um einen Eid zu erfüllen, doch sein feierliches Versprechen an Cyr verschwand immer mehr in den Tiefen seiner Seele bei alldem, was er sah. Bekümmert zog er seinen Begleiter am Arm und wies in eine Gasse. Ein alter Mann saß am Boden vor einer Hütte aus Lehm und erging sich im Suff. Scherben von Tonbechern lagen um ihn herum.
Weitere zerlumpte Gestalten drückten sich in den Nischen der Häuser, deren Beschaffenheit kurz vor Zerfall zu sein schienen. Entgegen der Gebäude des Adels waren diese nicht viel mehr als langgezogene Hütten aus Lehm und Stroh und waren ebenerdig gebaut.
Je weiter sie dem Marktplatz entgegen kamen, um so erbärmlicher wurde das Bild. Abwasserrinnen mit dunkler Kloake durchliefen mittig die Gassen, domestizierte Dingos plantschten in ihnen herum.
Alles erinnerte die beiden Männer sehr an Themera, doch selbst dieses Dorf, das von den Kämpfen zwischen den Krajis und der geheimen Miliz OkParas zerstört worden war, bot kein solch erbärmliches Bild wie diese Handelsstadt. Jadars Antlitz wirkte entschlossen, als er zu Sethos sprach: "Das lassen wir nicht auf uns beruhen." In seinem Herzen brodelte es, und er fragte: "Ihr habt das alles gewusst, und mein Vater hat nichts unternommen?"
"Wir haben das alles viel zu spät erfahren", verteidigte der Feldherr Bharyas seinen König. "Wir wurden viel zu lange belogen."
Der Zorn brach aus dem Prinzen hervor wie ein Vulkan. "Ihr sagt das so leicht und so lapidar", zischte er und drehte sich um. "Seht!" Er wies mit dem Arm auf OkParas Haus am Rande der Stadt. "Sie wagten es, den Bau des Königlichen Palastes nachzuahmen und so zu tun, als wären sie selbst ihre eigenen Könige hier. Und das Volk hungert!"
"Glaubt Ihr, dass dies das erste Mal in der Geschichte ist? Da, wo Macht und Reichtum ist, muss auch Armut sein, denn sonst gäbe es nichts zu beherrschen." Sethos' Miene versteinerte bei dieser Rüge, doch er wusste, dass sie berechtigt war. Er selbst hatte sich das schon viel zu lange gefragt, doch würde er den Teufel tun und ihm das gestehen. Ohne Auftrag des Königs wären ihm ohnehin die Hände gebunden gewesen, und nun ...
Er wagte es kaum, in die Zukunft Bharyas zu sehen, nun, wo der König darnieder lag. Fraglich schien ihm, dass er jemals wieder erstarkte, und was kam dann? Sein König hatte seiner Meinung nach immer gerecht geherrscht, viele seiner Maßnahmen hatte Sethos selbst bewundert. Schlachten hatte es nicht viele gegeben, die unter Khnemus Regentschaft zu schlagen waren, nur einmal hatte es einer gewagt, die Hände nach der Macht auszustrecken. Und nun auch OkPara, doch diese Gefahr war für immer gebannt.
***
Erneut gab sich der Prinz kämpferisch. "Wir sagen der Armut den Kampf an", sprach er zu Sethos. "Und die Ungerechtigkeiten in Nifaya werden ein Ende haben. Doch erst will ich erfahren, was mit den Frauen der Kraji ist und wo sie sich befinden."
"Ich schlage vor, wir nehmen auch den Handel auf dem Marktplatz etwas mehr unter die Lupe. Erfahrungsgemäß treffen sich an Bazartagen sämtliche Schichten im Zentrum, und der eine oder andere Tratsch könnte uns zu Ohren kommen. Doch halten wir selbst uns bedeckt."
Jadar gab seinem Ausbilder recht. Nebeneinander her flanierend schlossen sie sich dem Mob an, der zum Marktplatz strömte. Stimmengewirr vermischte sich mit dem Klang einer Darbukka.
Der Trommler führte einen Zug von armselig gekleideten Frauen an. Jede von ihnen trug eine schnatternde Gans unter dem Arm.
Die letzte streifte den Prinzen mit einem Blick. Plötzlich trat sie aus der Menge heraus und kam auf die beiden Männer zu. Mit erstaunt geweiteten Augen legte sie eine Hand auf Jadars Arm. "Herr, Ihr hier? Und das im Händlergewand? Sagt, was hat das zu bedeuten?" Sie drückte dem erstaunten Sethos ihre Gans in die Hände und bat ihn, diese zu halten.
Anschließend sank sie zu Boden und kniete sich in den Sand. "Ihr habt mir einst Gutes getan, Herr." Mit Tränen in den Augen berührte sie Jadars Lederstiefel.
Vorsichtig wich dieser etwas zurück. "Erhebt Euch, Frau! Ihr erzeugt Aufsehen", mahnte er halblaut. "Sagt mir, wer Ihr seid." Er bückte sich etwas herab und reichte ihr eine helfende Hand. Die Bäuerin nahm sie ergriffen an und erhob sich. "Verzeiht!", gab sie sich zerknirscht. "Ich wollte Euch nicht in Verlegenheit bringen."
Sie führte die beiden Männer zur Seite. "Es kommt mir gelegen, dass ich Euch treffe. OkPara hat meine Tochter!"
***
Der Fluch des Almadins
Wie Phönix aus der Asche erhob sich der Statthalter von Nifaya vor dem Inneren Auge des Prinzen und versetzte ihn in Entsetzen. Wo auch immer er ging und stand, stieß er auf den Namen OkPara. Wieviel Schuld hatte dieser alte Mann auf sich geladen? Weshalb war er, ein unerfahrener Königssohn, dazu verdammt worden, den Gräueltaten eines Toten entgegenzutreten und diese zu ahnden?
Skeptisch beäugte er die unbekannte Frau, die vor ihm stand. Noch immer fragte er sich, woher sie ihn kannte. Mehr noch: Weshalb beschuldigte sie einen Mann, der nicht mehr lebte? Konnte es sein, dass in dieser Elendsstadt sogar Kinder verschwanden?
Schaudernd dachte er an die kleinen Körper am Straßenrand, die er beim Einritt gesehen hatte. Er dachte an die bettelnden Hände, die sich ihm entgegen gestreckt hatten, an die matt glänzenden Augen, an die nackten Füße, versengt vom heißen Wüstensand.
Das hektische Flügelschlagen der lautstark schnatternden Gans in Sethos' Armen lenkte seine Aufmerksamkeit wieder zurück auf das aktuelle Geschehen. Mit fester Stimme fasste Prinz Jadar el Hadary seine Zweifel in Worte: "Das scheint mir unmöglich. OkPara ist tot."
Verzweiflung trat in die braunen Augen der Frau, deren halbes Gesicht sich hinter einem grob gewebten Schleier aus Wolltuch verbarg. "Und doch ist es so", erwiderte sie. "Ramira wurde meinen Händen entrissen, und niemand außer ihm hatte dazu einen Grund."
"Habt Ihr für Eure Behauptung irgendeinen Beweis? Habt Ihr jemals in seinem Gefolge oder in seiner Begleitung Euer Mädchen gesehen? Weshalb, sagt mir, sollte ein Mann aus den obersten Rängen Nifayas ein Risiko eingehen und eine solche Schandtat begehen, indem er ein Kind entführt? Wie alt ist Eure Tochter?"
Wie Pfeile schoss er seine Fragen auf die Frau ab, die vor ihm zu schrumpfen schien. Enttäuschung sprach aus ihrer Stimme: "Ich hatte gehofft, dass Ihr mir glaubt!"
Sethos übergab der Bäuerin ihre Gans, nahm Jadar zur Seite und legte begütigend eine Hand auf dessen Arm. "Es ist gut möglich, dass er sie in seiner Villa gefangen hält. Wie ich es einschätze, müssen sich ja auch irgendwo die Frauen der Krajis befinden", gab er zu bedenken. Er trat wieder auf sie zu und fragte sie: "Nennt mir Euren Namen und was Euch mit dem Prinzen verbindet."
Die Bäuerin stellte sich als Esilia vor und erzählte von ihrer Begegnung am Tag der Audienz. Dabei sah sie den jungen Königssohn unverwandt an. "Ich stand vor dem Thron des Königs und habe Euch damals erzählt, wie es um Nifaya und unseren Statthalter bestellt ist. Ihm kam das zu Ohren, und er hat sich gerächt. Sagt, werdet Ihr mir nun helfen, mein Kind zu befreien?"
Jadar erwiderte: "Wenn dem so ist, helfen wir Euch natürlich. Doch bitte ich Euch, unsere Anwesenheit hier zu verschweigen. Niemand darf wissen, wer wir sind."
Kummervoll leuchteten ihre sanften Augen auf. "Ich hoffe, Ihr wurdet durch meine Schuld noch nicht erkannt. Die Freude hat mich übermannt, als ich Euch sah." Esilia umklammerte mit einer Hand den Schnabel der Gans und umfasste mit festem Griff ihren sich sträubenden Leib. "Bestimmt wollt auch Ihr zum Bazar."
Zu dritt mischten sie sich erneut unter die Menge und ließen sich treiben. Während schwitzende, stinkende Menschen sie stießen und drängten, erzählte die Bäuerin, wie ihre Tochter aus dem Schlaf heraus geraubt worden war. Das Grauen jener Nacht stand ihr in den Augen und übertrug sich auf ihre Begleiter.
"Versteht Ihr", sprach sie, "ich hatte nicht den leisesten Hauch einer Chance, sie zu beschützen. Fünf schwarze Gestalten standen an meiner Schlafstatt und starrten mich an. Noch ehe ich begriff, wie mir geschah, wurde ich ohnmächtig und erwachte ohne mein Mädchen in meinen Armen. Seit ich erfuhr, was bei Themera passierte, bin ich mir sicher, dass dies im Auftrag OkParas geschah!"
***
Nachdem Sethos, Jadar und Esilia am Marktplatz angelangt waren, trennten sich ihre Wege. Der Prinz und sein Feldherr gaben sich als Einkäufer für ein Land jenseits der Meere und begutachteten mit geübtem Blick die feilgebotenen Waren an den Ständen der Händler.
Auch hier auf dem Wochenbazar fiel ihnen das eine oder andere auf. Mittig des Platzes ragte eine Steinstatue mit OkParas Abbild hoch über den Köpfen der Menschen auf. Der Platz war gewalzt und durch eine Mauer mit Durchgang in zwei Teile geteilt. Linkerhand flanierte der Adel, rechterhand ... Entrüstet machte Jadar seinen einstigen Ausbilder darauf aufmerksam: "Die Herren scheinen sich zu fein zu sein und erheben sich über die Bauern." Er lehnte sich gegen die Mauer, verschränkte die Arme und sah dem Treiben eine Weile lang zu.
Sein Eindruck wurde verstärkt. In edelste Stoffe gekleidete Männer und Frauen bewegten sich mit gezierten Schritten durch die Reihen der auswärtigen Händler, die mit Pelzen, Gewürzen, Geschmeiden und etlichen anderen wertvollen Waren aufwarten konnten. Prallvoll gefüllte Börsen wechselten blitzschnell ihren Besitzer.
Voller Wut löste er sich aus seiner Position, passierte den Durchgang und wandte sich der rechten Seite des Platzes zu. Im Gegensatz zu der anderen Seite wurde hier mit Waren getauscht. Immer mal wieder drangen entrüstete Schreie an sein Gehör.
Sethos stellte sich neben ihn. "Ihr habt es also bemerkt", sprach er zu ihm. "Die Unarten Nifayas dringen vor bis nach Bharya." Er zupfte Jadar am Arm. "Kommt! Ich zeige Euch mehr!" Gemeinsam schlenderten sie über den Platz. Bei einem Gewürzhändler blieben sie am Seitenrand stehen und lauschten den Feilschgesprächen.
Nachdem eine Matrone zwei Börsen Gold liegen ließ, hatte der Prinz schließlich genug. Die dicke Dame hatte seines Erachtens nicht viel dafür erhalten, doch offenbar war sie ganz zufrieden mit dem, was sie bekam. Mit triumphierender Miene packte sie vier kleine Stoffbeutel in ihren Korb und wandte sich lächelnd zum Gehen.
Eine Hand zupfte den Prinzen hinten an seinem Rockschoß. Er drehte sich um und sah sich erneut dem Statthalter von Baqua gegenüber. Warnend zog er seine Augenbrauen nach oben und legte einen Finger auf seine Lippen. Mit den Augen signalisierte ihm Kazem, dass er verstanden hatte.
Jadar zog den Mann hinter den Gewürzstand. "Es trifft sich gut, dass ich Euch noch einmal sehe. Ich habe ein paar Fragen an Euch in Bezug Handel."
"Ich habe Euch auch etwas zu sagen, das Ihr unbedingt wissen solltet. Doch sprecht, womit ich Euch behilflich sein kann." Kazem blickte den Prinzen offen an. Dieser fragte: "Erzählt mir etwas zu den Gepflogenheiten in dieser Stadt. Mir kam zu Ohren, dass in immer mehr Städten die Preise nach oben gehen und dass die Bauern beim Handel betrogen werden."
Kazem klärte ihn auf. "Herr, wir bestimmen die Preise für unsere Waren nicht. Vielmehr ist es so, dass zumindest die Händler aus Baqua sich auch auf Tauschgeschäfte in Naturalien einlassen und sich nicht alles mit barer Münze entgelten lassen. Einzig und allein der Stadtadel zahlt noch mit Gold, und das nicht zu knapp."
"Dass es so abläuft, ist mir bewusst", erwiderte Jadar und fühlte sich etwas belehrt. "Ich habe allein am heutigen Tag schon genug gesehen."
Der Statthalter von Baqua hob an zu seiner Klage: "Unsere Händler sind schon lange nicht mehr Herr über sich selbst. Ich kann nur für unsere Stadt sprechen, doch was ich weiß, ist ..." Seine Miene verschloss sich, während seine Stimme verstummte.
Fragend sah Jadar ihn an. "Nun spuckt es schon aus." Mit vorsichtigem Blick spähte Kazem nach Lauschern. "Mir ist zu Ohren gekommen, dass manche Händler dafür bezahlt worden sind, dass sie ihre Waren teuer in den Städten anbieten, und vor Allem auch in Bharya. Ich weiß nicht von wem oder warum, das schwöre ich." Verlegen knetete er seine Hände und starrte zu Boden.
Sethos kam um die Ecke und hatte die letzten Worte des Almadins noch gehört. Er schaltete sich ins Gespräch und hakte nach, woher er sein Wissen habe. Bedrückt erzählte Kazem ihnen, dass auch die Händler aus Baqua unter Druck gesetzt worden waren mit Bedrohung ihres Lebens, wenn sie aus der Reihe tanzen würden. Er betonte, er hätte auch nur durch Zufall davon gehört, weil sich einer von ihnen an ihn gewandt hatte mit der Frage um Rat.
Die drei Männer unterhielten sich noch eine Weile über das Thema, dann verabschiedeten sie sich voneinander. Kazem bot an, den Prinzen und seinen Feldherrn zu gegebener Zeit zum Haushalt OkParas zu begleiten, doch sie lehnten ab. "Wenn wir das Haus aufsuchen, sollten wir unbelastet sein. Es könnte gefährlich werden", erklärte Jadar seine Absage.
Kazem zuckte die Achseln. "Ich hätte Euch gern noch weiter geholfen. Kein anständiger Mensch kann wollen, was hier geschieht, und ich sehe mich als solchen an."
Tröstend legte ihm Sethos eine Hand auf den Arm. "Wir kümmern uns um das Problem, und wir finden die Wahrheit heraus. Bald wird im Land wieder alles so sein, wie es soll." Mit seinen Worten im Ohr gingen sie auseinander.
Im Viertel der Reichen flezte sich ein junger Mann phlegmatisch in einen Sessel und starrte gegen die Wand. Vor noch nicht allzu langer Zeit hatte er Botschaft erhalten vom Tod seines Vaters. Dass er nun der Herr über Nifaya sein sollte, wurde Sham erst in diesen Augenblicken bewusst. Ob er bereit dazu war? Das wusste er nicht.
Um ihn herum flanierten Mädchen jungen Alters und bemühten sich, ihm zu gefallen, doch er beachtete sie kaum. Es waren die Sünden OkParas, und sie gefielen ihm nicht. Bisher hatte er sich keine Meinung zu dessen Schwächen erlaubt, es hatte ihn nie viel interessiert. Sein Leben war gut und sorglos gewesen bis zu diesem Moment.
***
Das Wiehern eines Pferdes kündigte das Ankommen eines Kuriers an. Sham ergriff eine kleine Glocke und klingelte nach seinem Diener. Der Mann betrat den opulenten Saal in der Villa OkParas und schaute ihn fragend an. Das Wort zu erheben wagte er nicht, der Sklave wartete - wie gewohnt - auf seinen Befehl. Dieser kam prompt: "Sagt dem Boten, er soll auf mich warten."
Ächzend erhob er sich und durchschritt behäbig die Pforte. Schwerfällig hielt er sich beim Betreten der Marmortreppe zur Wandelhalle hinab an einem kunstvoll gedrechselten Geländer aus Ebenholz fest, seine Fettleibigkeit machte ihm gewaltig zu schaffen. Von einem geschmeidigen, mutigen Krieger war er sehr weit entfernt, dafür hatte sein Vater gesorgt. Ein zu gutes Leben ...
Während er sich auf dem Gang nach unten befand, verkniff Sham sich weitere bittere Gedanken. Es schien ihm nicht recht, einem Verblichenen lange Vorwürfe zu machen, zudem kosteten schlechte Schwingungen ihn zu viel Energie. Er hatte sich Zeit seines jungen Lebens - immerhin erst dreißig Jahre - an die Leichtigkeit seiner Existenz im Reichtum gewöhnt, und er gedachte, sich auch in der Zukunft daran zu halten.
Die Hoffnung, nicht noch einmal eine Hiobsbotschaft zu erhalten, erfüllte sich nicht. Sham trat dem Kurier in der Halle entgegen und sah ihn erwartungsvoll an. "Keine gute Nachricht, Herr!", sprach der Bote mit einer Verbeugung. "Vor den Toren unserer Stadt stehen fremde Mahari."
***
Nicht ahnend, dass ihre Eskorte entdeckt worden war, hatten sich Jadar und Sethos ungefähr zur gleichen Zeit wieder unter die Menge gemischt und hatten ihre Ohren und Augen überall.
Die beiden gutgekleideten Männer schienen dem einen oder anderen Blick wohlgefällig zu sein, immer mal wieder strichen hübsche Mädchen und Knaben verdächtig eng an ihnen vorbei oder rieben sich gar an ihrem Leib.
Unwirsch wehrte der Prinz allzu aufdringliche Berührungen ab und scherte sich nicht um die Enttäuschung in den Gesichtern, die er hinterließ. Unter den spöttischen Blicken seines Feldherrns stürmte er mit erzürnter Miene voran und zischte: "Was für ein Sündenpfuhl!"
Ein Gemischtwarenhändler am anderen Ende des Marktplatzes bekam seinen Ärger zu spüren. Sethos und Jadar machten sich auf zu einem Feldversuch am eigenen Leib und kauften ein. Zwar hatte der Prinz in Sachen Preisverhandlung noch nicht viel Erfahrung, doch Sethos kannte sich aus. Er führte für beide das Feilschgespräch und stellte sie vor als Vater und Sohn.
Gut sichtbar hatten beide mehrere Börsen gezückt und hielten sie vor sich hin. Jedes der Ledersäckel war prallvoll gefüllt mit goldenen Münzen, ein heiß begehrtes Gut - nicht zuletzt nur unter Händlern.
Gelegentlich ließ Jadar das melodische Klingeln hören, welches für jedes hellhörige Ohr nach Wohlstand klang. Der Besitzer des Standes wandte kein Aug' von ihm ab und bekam schnell einen unterwürfigen Blick. "Meine Herren, was kann ich für Euch tun?", fistelte er mit sich überschlagender Stimme und rieb sich den Bauch.
Hochmütig deutete Jadar dahin und dorthin, tastete feuchtglänzende Fischleiber ab und beäugte kritisch eine hochwertige Karaffe mit Wein. An der Seite des Standes hingen verschiedene Körbe. Knapp bellte er: "Gebt mir erst einmal einen von denen da!", und deutete in die entsprechende Richtung.
Der Händler eilte, um ihm gefällig zu sein. Katzbuckelnd überreichte er dem jungen Einkäufer von jenseits des Meeres - wie er vermeinte - einen besonders großen mit fest verflochtenen Henkeln aus Bast und fügte hinzu: "Das ist mein bester, eigenhändig geflochten von meiner Gemahlin. Es passt auch recht viel von meinen erlesenen Waren hinein, und Ihr habt es zum Tragen bequem."
"Mi Abati", wandte sich Jadar an Sethos und deutete auf ein Regal. "Was denkt Ihr, wieviel Wein verträgt man in Amhara?" Triumphierend spitzte der Händler die Ohren. "Braucht Ihr viel, schicke ich auch gern meine Karawane zu Eurem Schiff. Ich bin davon überzeugt, dass dieses Göttergetränk aus den Höhen Faryfras Euch mundet. Der Wein wurde aus wilden Yutamaris gepresst, von denen es heißt, dass sie einst von Monstern bewacht worden sind. In Fässern aus Zeder gärte er tief unter der Erde."
'Oh ja, die Monster Faryfras sind mir bekannt', dachte Jadar und verkniff sich ein Grinsen. Laut sprach er aus mit strafendem Blick: "Von Yutamaris habe ich noch niemals gehört. Ihr haltet mich wohl zum Besten!"
Sethos griff ein. "Kredenzt uns eine Karaffe Wein zur Verkostung, dann kommen wir vielleicht ins Geschäft." Er spielte unauffällig mit einer Börse und knetete sie in seiner Faust. Die Augen des Mannes schweiften zum vermeintlichen Vater des jungen Kunden. Der Händler griff zu einem sauberen Tuch und fuhr damit unter die Theke. Als er sie wieder nach oben führte, lag eine Staude herzförmiger, saftigroter Früchte darauf. "Das sind Yutamaris", erklärte er. "Sie werden nur alle zehn Jahre von zarten Händen geerntet. Nur eine Jungfrau darf sie bei Vollmond berühren. Sie wachsen in Höhlen an Ranken."
***
Sham
OkParas Sohn starrte seinen Kurier entgeistert an. Vielerlei Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Fremde Miliz vor Nifaya? "Feind oder Freund?", fragte Sham knapp und kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf.
"Herr, die Frage erübrigt sich", gab der Bote zur Antwort. "Es ist Gebot in jedem Hoheitsgebiet, dass unangekündigtes Militär vor den Toren der Stadt ein diplomatischer Affront ist. Euer Herr Vater - den Göttern sei es geklagt - gäbe bestimmt die entsprechende Antwort darauf, weilte er unter uns." Betreten senkte er seinen Blick zu Boden. "Verzeiht! Ich schoss übers Ziel hinaus. Meine Meinung sollte für Euch nicht maßgeblich sein."
"Schon gut." Sham winkte ab. "Wir haben nicht genug Miliz für eine Antwort. Ich regle das etwas anders. Folgt mir in meine Gemächer. Ich schreibe eine Depesche, die Ihr dann auf schnellstem Weg überbringt."
Die beiden Männer verließen die Wandelhalle und begaben sich eine Etage nach oben. Sham trat unsicher vor dem Boten durch ein Bogenportal, durchstrebte eine kleine Obsidianhalle und führte ihn in einen Raum, in dessen Zentrum ein großes Pult stand.
Ein Tintenfass befand sich an der oberen Schräge, darin eine vergoldete Feder. Sham nahm eine Rolle Pergament aus den unteren Fächern, kratzte sich noch einmal am Kopf und fing dann wortlos zu schreiben an. Immer mal wieder schaute er auf und sah den vor ihm stehenden Kurier mit leeren Blicken an, als frage er sich, was dieser denke.
***
Unwesentlich später schoss ein weißer Schimmel die Rampe hinab, auf der OkParas Wohnhaus stand. Die Hufe des Pferdes peitschten den geplätteten Sand, bunte Kiesel stoben zu beiden Seiten hinweg.
Winzigkleine Vögel flatterten erschrocken links und rechts in Volieren, ein Adler stieß einen empörten Schrei aus und bearbeitete mit seinem scharfen Schnabel die Gitterstäbe von seinem Käfig. Der nifayanische Kurier auf dem Rücken des Schimmels hatte kein Auge dafür und starrte mit zusammengekniffenen Lidern geradeaus. Sein geschmeidiger Körper war an den Hals seines Reittiers geschmiegt, als sei er mit diesem verschmolzen.
Unten angekommen, bog der Bote scharf nach rechts ab, zügelte seinen Schimmel und ritt gemessen eine begrünte Senke hinab. Zwischen Palmen versteckt erblickte er sitzende Krieger, ihre Pferde standen abseits. Rauch stieg von ihrem Lagerplatz auf, ein wohlfeiler, harziger Geruch stieg ihm in die Nase. Die Männer grillten dort in aller Ruhe, es war ein reines Idyll.
Empörung stieg in ihm hoch. Sie benahmen sich, als wären sie die Herren von dieser Stadt.
Als er näher kam, bemerkte er sandfarbene Tunikas, diese sauber bestickt. Ein Verdacht bemächtigte sich seiner, doch noch bestätigte sich dieser nicht.
Der Kurier hielt sich zwischen Palmen und einer halbhohen Mauer versteckt und spähte angestrengt zu ihnen hinüber. Mehrere Gänse drehten sich auf einem Rundspieß und schmorten in ihrem Saft.
Er fragte sich, woher diese kamen. Waren diese nicht möglicherweise sogar geraubt? Es schien ihm naheliegend, wusste er doch, dass die Bauersfrauen Nifayas regelmäßig ihr Federvieh zum Bazar brachten und die Stelle passierten. Mit einem erstickten Entrüstungsschrei auf seinen Lippen verließ er seine provisorische Deckung und ritt auf sie zu.
~ Auf dem Wochenbazar ~
Ob Jadar und Sethos am heutigen Tage noch enttarnt würden, sollte sich weisen. Der Gemischtwarenhändler ging nach wie vor davon aus, es mit reichen Händlern von jenseits des westlichen Salzmeers zu tun zu haben und sah sich bereits als wohlhabend an.
Mittlerweile hatten sich immer mehr Menschen um seinen Stand geschart, seine beiden Kunden erregten Aufsehen mit ihrem Auftritt.
Neben dem Prinzen stand ein ärmlich gekleideter Bauer und hatte einen Karren voll saftiger Feigen dabei. Mit glänzenden Augen bat dieser den Händler, ihm dafür drei Laibe Brot zu verkaufen, doch dieser würdigte ihn keines Blickes. Hochmütig wandte er seinen Kopf ab und redete weiter mit Sethos.
"Herr", quäkte die Stimme des Bauern eindringlich durch das Stimmengewirr. "Die Feigen sind frisch gepflückt von meinem einzigen Baum. Seht doch nur, wie saftig sie sind."
***
Ärger lag in der Luft. Mit verschränkten Armen stellte sich Jadar abseits und ließ das Bild auf sich wirken. Seine Intuition sagte ihm, dass hier einiges nicht ganz richtig sei. Zornfunkelnden Blickes hörte er zu.
Der Besitzer des Standes versuchte noch immer, Sethos eine größere Ladung Wein aufzuschwatzen. Eine Weinprobe lehnte er ab mit dem Argument, dass das Aroma seines köstlichen Göttergetränks verflöge, wenn die Karaffen geöffnet würden. Stattdessen reichte der Händler das Tuch in seinen Händen über die Theke. "Versucht eine der Yutamaris, und Ihr werdet überzeugt davon sein, dass aus einem solch edlen Gewächs nichts Schlechtes hervor kommen kann", bot er ihm an.
Das Männlein mit den Feigen begann wieder zu quengeln. Tränen flossen ihm übers Gesicht, als er dem Händler entgegen rief: "Herr, meine Kinder brauchen etwas zu essen, und Ihr seid der einzige, der Brot verkauft. Seid um aller Götter Willen nicht hartherzig und geht den Handel, den ich Euch vorschlug, mit mir ein!"
Hofrecht trat Jadar hinter die Theke und stellte sich hinter den Besitzer des Standes. Er neigte seinen Kopf und raunte diesem ins Ohr: "Weshalb gebt Ihr diesem Menschen nicht das, was er verlangt?"
"Herr", antwortete der Mann, "Ihr seid mit den Gepflogenheiten Nifayas nicht sehr vertraut. Tauschgeschäfte machen wir nicht, hier zählt nur harte Währung. Gold, wenn Ihr so wollt! Wer sich unsere Waren nicht leisten kann, der soll dahin gehen, wo er hingehört." Der Händler deutete auf die rechte Seite des Platzes, wo der Pöbel seine Waren anbot. "Dort wird getauscht", fuhr er fort. "Es treffen sich Huren, Bauern und Diebe und sonstiges Grobzeugs und bringen ihr armseliges Hab und Gut unter das Volk."
Gut sichtbar legte Jadar zwei Börsen Gold vor ihn hin. "Nun, wenn dem so sei, dann gebt diesem Bauern sein Brot. Was sich in diesen beiden Beuteln befindet, dürfte genug sein, um ganz Nifaya damit zu versorgen."
Der Händler wand sich verlegen. "So gern ich Euer Angebot annehmen würde, das kann ich nicht. Wenn herauskommt, dass ich den Pöbel bediene, verliere ich meinen Ruf im ganzen Land."
Unauffällig trat der Prinz einen Schritt rückwärts und griff in die Falten seines Gewands. Als er seine Hand wieder hervorzog, hielt er seinen Dolch darin. Er schlang dem Mann einen Arm um den Hals und hielt ihm seine Klinge von hinten gegen die Kehle. Kreidebleich stieß der Bedrohte hervor: "Was ficht Euch an? Wollt Ihr mich nun berauben?" Angstschweiß brach dem Gemischtwarenhändler aus allen Poren hervor. "Lasst ab von mir!"
"Tut genau das, was ich Euch sage", zischte Jadar, "und schreibt Euch zugleich ein paar meiner Worte hinter die Ohren. Ihr werdet diesen Mann nun bedienen, zu genau den Bedingungen, die er sich leisten kann. Das heißt, Ihr nehmt ihm seine Feigen ab, und dafür gebt Ihr ihm Brot." Zur Bekräftigung drückte er dem Mann die Spitze seines Dolchs ins Fleisch, so dass Blut floss. "Darüber hinaus ergeht per königlichem Dekret demnächst ein neues Gesetz, das sehr einfach zu verstehen sein wird: Regionale Waren sind künftig nur noch per Tausch zu verhandeln."
Der Mann kreischte auf. "Ihr habt mich verletzt!" Seine Hände schnellten nach oben und umklammerten die Arme des Prinzen. Mit angstgeweiteten Augen starrte er Sethos an. "So tut doch etwas!", flehte er. "Ihr seid doch der Vater!"
***
Der Gemeine Mob
Angezogen von Gelächter und Gepöbel auf der anderen Seite, lugten einige der Gänseweiber über die Mauer. Die Marketenderinnen fingen das Schnattern an und verbreiteten in Windeseile dies, was sie sahen. Schadenfreude zeichnete sich auf dem einen oder anderen Gesicht ab beim Anblick des Tumults bei den goldgeilen Böcken, die sie so sehr hassten.
Der laute Ruf "Kommt, das schauen wir uns aus der Nähe an!" entfesselte den reinsten Flächenbrand. Rechterhand leerte sich der Bazar. Hunderte von Menschenleibern drängelten sich unter Geschrei und Gejohle durch den schmalen Durchlass und strebten zur Seite der Karawansereien hinüber.
Schnell machten sie aus, wo es zur Sache ging und mehr noch: Wo es etwas zu holen gab. Geeint zwischen Gier und dem Wunsch, einem der Ihren zur Seite zu stehen, stürzte sich die Menge auf den Stand des Gemischtwarenhändlers und bildete einen engen Ring um die bereits vorhandenen Gaffer herum. Sethos war nunmehr eingekeilt.
Jadar war vollständig auf sein Opfer fixiert. Mit Argusaugen achtete er darauf, dass sein Wunsch sich erfüllte und der Bauer sein Brot bekam. Er hatte den Mann zur Seite beordert, dort nahm dieser das Gewünschte unter empörtem Zetern des geschädigten Händlers entgegen. Dankbar sank der Bauer zu Boden und ergriff die Hände des Prinzen. "Herr, ich weiß nicht, wie ich Euch danken soll", stammelte er hingerissen.
"Hilfe, ich wurde beraubt", schrie der Besitzer des Standes in die spöttischen Gesichter der Armen. Bedrohlich zog sich der Ring enger um seine Auslage herum. "Geschieht Euch ganz recht", schrie ein großer, zottliger Bursche und ruderte mit seiner Faust.
"Wir haben von Euch Ausbeutern endgültig genug", rief eine Frauenstimme. "Dem Adel pustet Ihr edelste Waren in die verfetteten Ärsche, und an uns weigert Ihr Euch, schimmliges Brot zu verkaufen."
Zwischen Auslage und Zeltwand fiel der Karren Feigen, den der Bauer zum Tauschen dabei gehabt hatte, zur Seite. Zerlumpte, schmutzige kleine Gestalten wuselten durch die Beine der Erwachsenen hindurch und stürzten sich auf die saftigen Früchte im Sand. Ihre Gesichter waren so zerfurcht wie die von Gnomen. Der Hunger und die Not sprach ihnen direkt aus den Augen und traf Jadar mitten ins Herz. Kleine Finger zerrten an seinem Gewand, und der Bauer klammerte sich noch immer an seine Hände.
Als die Kinder kamen, fiel der Mann mit dem Gesicht nach vorn in den Dreck. Nackte kleine Füße stolperten über seinen Körper hinweg. Zierliche Leiber purzelten übereinander und formten sich zu einem Knäuel aus zappelnden Gliedmaßen und Köpfen im Gang.
Die zarten Wesen stießen unartikulierte Schreie aus und stritten sich um jede einzelne Feige. Sie zappelten und balgten sich auf dem Boden herum, kratzten und bissen, keiften und kreischten. Sethos sah die Bedrängnis, in welcher der Prinz sich befand. Verzweifelt versuchte er, sich von dem drückenden Pulk hinter und neben ihm zu befreien, doch es war sinnlos!
Zwei starke Burschen stießen ihm in die Rippen, rechts und links klammerten sich mehrere Frauen an seine Arme, selbst an seinen Fußknöcheln fühlte er sich blockiert.
***
Entsetzt begriff Jadar, dass Sethos fiel. Ihm kam es vor, als stürze ein Baum. Wo soeben noch die dunklen Augen seines Ausbilders streng auf ihn gerichtet gewesen waren, sah er nur noch eine breiige Masse von dunklen Gesichtern. Inmitten dieser Menge gähnte für einen Wimpernschlag lang ein schwarzes Loch, das sich gleich wieder schloss. Einige Männer und Frauen warfen sich auf die offene Auslage des Händlerstands und rafften an sich, was sie bekamen. Sethos war unter all diesen Menschen begraben. Ohrenbetäubendes Geschrei überall auf dem Platz, der Mob geriet außer Rand und Band. Von hinten trommelten Fäuste gegen die Zeltwand, Beleidigungen drangen an des Gemischtwarenhändlers Gehör, der damit beschäftigt war, zu retten, was noch zu retten war.
Keifend stürzte er sich über die ineinander verkeilten Körper der Kinder, raffte Brot, Feigen und allerlei in sämtliche Richtungen kullernden Krimskrams an sich und schob, was er bekam, in Sicherheit.
"Tunichtgut, Elendiger!", schrie er Jadar in dessen vor Schreck erbleichtes Gesicht. Dieser wich vor dessen Zorn und dem Ansturm des Mobs ein paar Schritte zurück und prallte mit dem Rücken gegen ein Glockenspiel, das vom Dach des Verkaufszelts hing.
Lautes Bimmeln mischte sich in die Kakaphonie. Mit wildem Blick starrte Jadar um sich und suchte nach etwas, das geeignet war, um sich zu befreien. An einem Holzregal hing eine Gerte. Er griff danach.
Im selben Moment schnellte eine kleine Hand an ihm vorbei, schnappte nach den Münzbeuteln, die noch immer auf der Theke des Händlers lagen, und kurz darauf witschte eine Gestalt durch einen Riss in der Zeltwand davon.
***
Der schwarze Teufel
Shaytan spitzte die Ohren. Witternd blähten seine Nüstern sich auf, und er begann, mit den Hufen zu scharren. Mit rollenden Augen registrierte er den Reiter und dessen Pferd. Ein vertrauter Geruch, der ihm nicht gefiel, ging von ihnen aus. Im Innersten seiner tierischen Seele rührten sich Erinnerungen an einen Ort und an eine Zeit, die ihm mehr als Pein beschert hatten. Sein Unterbewusstsein signalisierte ihm, dass er sich am Ausgangspunkt all seiner vergangenen Leiden befand.
Die Tiere um ihn herum waren aus dem gleichen Gestüt, doch im Gegensatz zu dem großen Schimmel, dessen er ansichtig wurde, machten sie ihm keine Angst. Er spürte: Sie hatten sein Schicksal mit ihm geteilt und hatten wie er Glück gehabt. Dank seinem neuen Herrn war er seiner von Menschen vorgesehenen Bestimmung entflohen.
Aufgeregt begannen seine muskulösen Flanken zu zittern. Mit einem trompetenden Wiehern bäumte sich Alshaytan al'Aswad seinem Rivalen entgegen, schnaubte furios und machte sich kampfbereit.
Als von dem weißen Hengst eine Antwort kam, explodierte seine Seele, und er stürmte los. Kurz darauf kollidierten die beiden Pferde, und der nifayanische Kurier schoss mit einem langgezogenen Schrei ins Gelände hinaus.
***
Den Männern aus der Eskorte Bharyas triefte die fettige Brühe der Gänse übers Gesicht, und sie lachten und schwatzten. Die Gunst der Stunde, etwas Deftiges zur Überbrückung der Wartezeit als Mahl zu bekommen, hatte ihnen geschlagen, als eine Bäuerin - Esilia - dem Prinzen begegnet war.
Zum Dank dafür, dass er gekommen war, um Nifaya von den letzten Spuren OkParas und ihr Kind zu befreien, hatte sie seine Männer gemeinsam mit ein paar anderer Frauen (die sie eingeweiht hatte) mit den Tieren versorgt, die zum Tausch auf dem Bazar vorgedacht waren. Somit war zumindest in dem kleinen Kreis Gänseweiber, die davon wussten, Jadars und Sethos' Maskerade enttarnt. Umso mehr Spaß hatte es ihnen gemacht, einen der Karawanenhändler in deren Fängen zu wissen.
Die fünf Frauen waren überein gekommen, das Geheimnis zu wahren und die Farce zu genießen, versorgten die Mahari mit etwas Gutem und kehrten daraufhin mit leeren Händen auf den Marktplatz zurück. Dort mischten sie sich erneut unter die Menge und bekamen aus erster Hand mit, was Sethos und dem Prinzen geschah.
Den beiden Männern zu Hilfe zu eilen, war jedoch keiner der Frauen vergönnt. Sie befanden sich in der Mitte des Mobs und kamen weder vorwärts noch rückwärts.
"Sobald eine von uns sich befreien kann, geben wir den Begleitern des Prinzen Bescheid", sprach Esilia zu ihrer Schwägerin, die sich ebenso wie sie mit ringsum rotierenden Armen gegen die Boxhiebe, die sie erhielt, zu wehren hatte. Sie bekam nur ein Schnaufen zur Antwort, was nicht sehr hoffnungsvoll klang.
Von der anderen Seite traf sie ein strafender Blick. "Ich frage mich, wie Ihr das bewerkstelligen wollt!", sprach die Vertraute und stieß kurz darauf einen derben Fluch aus, als ein frecher Kerl sie von hinten umschlang.
Esilia drehte sich um und fuhr ihm mit scharfen Krallen in dessen Gesicht. "Lasst sie in Ruhe!", fauchte sie. Zugleich bekam der Mann von der Vierten einen Korb über den Schädel gezogen und gehorchte verdutzt.
Währenddessen befanden sich vor Nifaya zwei starke Hengste vor den entsetzten Blicken der bharyanischen Eskorte in einem erbitterten Kampf.
Knusprige Gänsekeulen und Flügel und zarte Bruststückchen erstarrten in großen Händen. Einige Krieger hielten mit weit aufgerissenen Mündern und tellergroßen Augen Maulaffen feil. Ein hörbares Raunen ging durch den kleinen Kreis um die sich drehenden Spieße, auf denen sich noch immer zwei halbgare Leiber von Gänsen befanden. Linkerhand lag ein bewusstloser Mann.
Keiner wagte es, sich zu erheben und dazwischen zu gehen. Hochaufgerichtet keilten die beiden Tiere aufeinander ein und schrien ohrenbetäubend. Ein dünnes Blutrinnsal floss dem Schimmel an der riesigen Brust herab und bildete ein Mal wie eine Rose im Schnee.
Trotzdem war er im Vorteil, weil er der Ältere war. Und er kannte den Gegner! Einst trat er in einer Arena gegen ihn an und hatte gegen Shaytan gekämpft.
Nur der Umstand, dass Jadars schwarzer Hengst damals fast noch ein Fohlen gewesen war, rettete diesem das Leben. Der Weiße hatte den frechen Rivalen Mores gelehrt und verließ den Kampfplatz als Sieger.
Diesmal war es ein Kampf der Titanen. Während Shaytans Lebenskraft sich in voller Blüte befand, waren die ruhmreichen Siegeszeiten für den Schimmel vorbei. Nur seiner Schnelligkeit war es zu verdanken gewesen, dass er kein Fall für den Abdecker war. Rasul Alsama' - wie sein einstiger Kampfname war - wurde das Pferd eines Boten.
***
Beim Händlerstand
Jadar hatte den Raub der beiden Börsen bemerkt, doch er stand mit dem Rücken zur Wand. Halt gab ihm diese nicht, weil es nur eine Zeltplane war. Dahinter fühlte er die Wärme verschwitzter Körper, die sich gegen seinen Rücken drückten. Eine Faust traf ihn von außen am Kopf, nur unwesentlich abgedämpft durch das derbe Leinen. Die Welt begann sich um ihn zu drehen, und die Gerte rutschte ihm aus der Hand. Die Stimme des schreienden Mobs wurde erst schriller, dann versanken alle Geräusche im Nebel der ihm drohenden Ohnmacht.
Halb besinnungslos stemmte er seine Beine in den sandigen Boden und wehrte sich kraftlos gegen den Sog, der ihn unbarmherzig nach unten zog. Zigtausend Ameisen kribbelten an seinem Körper entlang, dass es Hände waren, registrierte er kaum. Eine süße Stimme schien ihn zu locken und rufen, blaue Augen ...
Ein Tagtraum hielt ihn umschlungen, und der junge Prinz gab ihm nach. Schwer lastete eine Vielzahl von Körpern auf ihm, doch ein Zauber gaukelte ihm vor, es sei ein Frauenleib. Eine blauäugige Dschinnya hielt ihn umfasst. Halb zog sie ihn, halb sank er hin ...
Und ward nicht mehr gesehen. Gnomgesichtige Kinder stürzten sich auf den ohnmächtigen Thronfolger Bharyas und beraubten ihn des Seidengewands, das er einem Karawanenhändler abgeluchst hatte.
Als Jadar erwachte, lag er rücklings und nur noch mit einer schwarzen Pluderhose bekleidet unter der blauweißen Plane des Zelts. An seinem linken Fuß baumelte der Rest eines Stiefels, selbst diese waren nicht sicher gewesen vor diebischen Fingern.
Sein Kopf schmerzte, Sandkörner mahlten in seinem Mund und brannten ihm zwischen den Lidern. Um ihn herum war es dunkel. Ihm schien, als läge er in einem Wald unter riesigen Wurzeln von Bäumen begraben, doch hörte er Stimmen. Er tastete um sich, seine Hände fühlten warmes Fleisch unter sich. Lebendiges Fleisch, das nachgab, wenn er es berührte. Es war glitschig und nass, es stank ganz erbärmlich, woraufhin Jadar Ekel ergriff. Er versuchte, zu würgen, doch sein Hals war wie zugeschnürt.
Panisch rang er nach Luft und ruderte mit seinen Armen. Seine Finger stießen gegen Baumstämme, die ebenso nachgiebig waren wie dieses ... Fleisch.
Er stieß die Fäuste nach oben und stemmte sich gegen das Gewicht auf seiner Brust, und er begriff: 'Ich bin nicht in einem Wald, sondern unter Menschenleibern begraben.'
***
Im Zentrum der Handelsstadt stand kein Stein mehr auf dem Anderen. Der Pöbel Nifayas war komplett außer Kontrolle geraten. Arm und Reich waren vereint, wenn auch nur im Kampf um ein kleines Stück Brot oder um Feigen, um Münzen und Schmuck oder auch nur um ein paar Fetzen Stoff, die irgendjemand am Leibe trug.
Seite an Seite wurde gestritten, gebalgt, gestoßen, getreten, gebissen. Die Feinde, welche die Bürger Nifayas bekämpften, waren keine gefährlichen Gegner, die Leib und Leben bedrohten, sondern sie selbst.
Unter der Maßlosigkeit eines rasenden Mobs stürzte die trennende Mauer ein, die zwar nicht hoch, doch trotzdem eine Grenze gewesen war. Ziegel flogen unter Gebrüll über den Platz, zertrümmerten die Auslagen der Händler oder wurden zu Geschossen, die Leben nahmen.
Handwerksburschen zogen sich aus, erklommen nackt das Denkmal OkParas und verrichteten ihre Notdurft von oben, grölten und warfen mit fauligem Obst. Die Stände der Karawanenhändler wurden gestürmt, deren Besitzer gefesselt und durch die Stadt geschleift. "Die Ausbeuter werden gesteinigt", ging ein Schlachtruf durch die Menge und verbreitete sich von Mund zu Mund.
Ein Zug wandte sich in Richtung Stadteingang zu den Adelsvierteln, lauthals skandierend. Sie drohten, Sham zu holen und ihn zu vernichten. "Er ist der Sohn des Teufels, der die Armut in unsere Stadt gebracht hat", wiegelte der Anführer die Menschen auf. "Von dieser Sippe ist nichts Gutes mehr zu erwarten, töten wir ihn!"
Der neue Statthalter Nifayas hörte sie kommen. Sham studierte gerade die Dokumente seines Vaters über die Handelsbeziehungen der Stadt. Hastig sprang er von seinem Sitzkissen auf, trat an einen der kleinen Säulenbögen auf der dritten Terasse und blickte hinaus. Eine Horde von Menschen - bestimmt an die hundert - zog die breite Straße zur Villa hinauf, alle bewaffnet mit Knüppeln, Forken und Peitschen. Ängstlich wich er vom Fenster zurück. Wehklagen erhob sich im Haus, trappelnde Schritte drangen an sein Gehör.
Sein dienstältester Sklave - ein blauhäutiger Mann von jenseits des Meeres - betrat eilig den Raum und schrie panisch: "Herr, wir müssen fliehen. Ein Aufstand ist in der Stadt. Diese Verbrecher wollen Euch hinrichten lassen!"
***
Auch an anderer Stelle brach Panik aus. Shaytan und Rasul lieferten sich unter den Augen der erschrockenen Eskorte von Jadar und Sethos einen erbitterten Kampf. Hoch aufgerichtet keilten sie aufeinander ein, bissen und traten und fügten einander bösartige Wunden zu. Schließlich gerieten auch die Tiere, die bei Sonnenaufgang noch brav ihre Reiter trugen, in Aufruhr und wurden zu hysterischen Bestien. Zirka zwanzig Pferde umkreisten schrill wiehernd die beiden kämpfenden Hengste wie ein wildgewordenes Karussell.
Staubwolken nahmen den Maharis die Sicht. Aus ihrer bis dahin gemütlichen Rast in der kleinen Oase vor Nifaya wurde ein Alptraum. Eiligst ließen die Männer alles fallen, was sie in Händen hielten, erhoben sich hastig und flüchteten in eine nahegelegene Holzhütte, die gut geschützt zwischen mehreren Palmen stand.
Nefrat - Shams Kurier - erwachte aus seiner Ohnmacht. Benommen fragte er sich, wie es kam, dass er auf dem Boden lag. Beim Anblick der rasenden Herde wurde er jedoch schlagartig wach. Hastig sprang er auf und folgte Bharyas Mahari, ohne auch nur einen Lidschlag lang an seinen Auftrag zu denken. Hinter ihnen betrat er den kleinen Unterschlupf, der nicht viel mehr als ein Bretterverschlag war, vermutlich für Tiere. Nefrat setzte sich auf einen Trog und musterte die Männer, die den Raum mit ihm teilten. Aron, der mit Sethos und Jadar mitgeritten war, sprach ihn schließlich an: "Ihr seid verletzt!" Er riss einen Fetzen Stoff aus seinem Gewand und trat auf ihn zu. "Lasst mich Euch verbinden, Eure Kopfwunde sieht übel aus."
Verwirrt griff sich der nifayanische Bote an seine Stirn und starrte entgeistert auf seine blutigen Hände. "Was ist passiert?", fragte er fassungslos.
"Ihr seid vom Pferd gefallen", antwortete Aron, während er Anstalten machte, ihn zu verarzten. "Ihr könnt von Glück sagen, dass Ihr noch lebt."
"Ich frage mich, was in Rasul gefahren ist", rätselte Nefrat. "Ich konnte mich bisher immer auf ihn verlassen."
"Rasul?", hakte Aron neugierig nach und fixierte die provisorische Kopfbinde, indem er sie verknotete. Besorgt lauschte er nach draußen. Der Boden bebte vom Gestampfe der scheuenden Tiere. In ihr panisches Geschrei mischte sich Brüllen von Ochsen. "Um aller Götter Willen", entfuhr es ihm. "Jetzt werden auch noch die Ochsen wild."
"Rasul Alsama', mein Pferd. Es stammt aus dem nifayanischen Reitstall", erwiderte der Kurier auf Arons erste Frage. Er begriff noch immer nicht, was hier geschah. "Was ist das für ein Schwarzer, der meinen braven Hengst angriff? Er stürmte plötzlich wie ein Berserker auf uns zu und rammte ihn."
"Das Pferd des Prinzen", erwiderte Aron. "Wenn dem Tier was passiert, dann ..." Er sprach den Satz nicht zu Ende. Schrecknisse aller Art schossen ihm durch den Kopf, was der unbeherrschte Thronfolger alles mit ihnen anstellen konnte, wenn er der Meinung sein würde, die Mahari hätten versagt. Er hoffte das Beste, doch einzugreifen in den Kampf hatte bisher keiner der Männer gewagt.
Als sich Peitschengeknalle in die Kakaphonie im Freien mischte, stürzte er entgeistert zur zweigeteilten Tür der Hütte und lugte vorsichtig durch die obere Hälfte hinaus. Er schrak zurück, als ihm eine Shanna - eine Art überdimensionale Wüstenspringmaus mit dem Aussehen eines winzigen Kängurus - fast ins Gesicht sprang.
"Bei allen Totengeistern des Hayas", fluchte er vor sich hin. Er rückte seinen verrutschten Turban wieder zurecht und versuchte erneut, einen Blick zu erhaschen. Entsetzt schrie er auf. Fünf Männer stürzten zu ihm und umringten ihn. Stimmengewirr erhob sich, und er hielt sich die Ohren zu. "Ich werde verrückt!", brüllte Aron los. "Drei Ochsentreiber prügeln wie wild mit der Peitsche auf die Pferde ein."
Die Männer verstummten und lauschten. Zwei Mahari versuchten, ihn zur Seite zu schieben, um sich zu vergewissern, was draußen passierte.
Die Stampede der Tiere kam näher, worauf die Bohlen des Stalls zu zittern anfingen. Panisch begannen alle zu schreien. "Wir sind verloren!", stellte Nefrat tonlos fest.
***
Sethos
Ohne zu wissen, wo er war oder wie er hierher gelangt war, starrte der gefallene Feldherr Bharyas nach oben und sah nur ein grauschwarzes Dunkel. Es war ihm so übel von dem bestialischen Gestank überall. Er fragte sich, was das für ein Geruch war und wo seine Erinnerung blieb.
Das Wehklagen und Stöhnen um sich herum raubte ihm fast den Verstand. Von irgendwo her vernahm er ein gleichmäßiges Stampfen. Es erinnerte ihn an das Marschieren von Fußsoldaten: Nicht an das Normale während eines gewöhnlichen Marschs durch die Wüste, sondern an das zeremonielle Tack-Tack-Tack bei einem Bankett. Fast erwartete er noch Getrommel von Speerspitzen auf Schilde, was jedoch ausblieb.
Stöhnend versuchte Sethos, sich zu bewegen. Ein immenses Gewicht lag auf seiner Brust. Er drehte den Kopf zur Seite und sog gierig das bisschen Sauerstoff ein, was ihm zur Verfügung stand. Es war nicht viel, über Allem lag dieser Dunst, den er nun erkannte: Es war der Brodem von Blut und Gewalt, der stinkende Atem des Totenreichs.
Nun erinnerte er sich auch an eine Vielzahl von Händen, die ihn mit sich schliffen, an Füße, die ihn getreten hatten, an Fäuste, die ihn bearbeitet hatten wie eine Trommel. Der Grund, warum sie ihn schlugen, blieb ihm unverständlich, wahrscheinlich war er ein Opfer von vielen.
Für einen Moment blieb er ruhig liegen und versuchte, seine Gedanken zu koordinieren. Was war mit Jadar? Ging es ihm gut? Warum hatte der Prinz ihm nicht geholfen, als die Menge ihn mitriss?
Er tastete um sich in der Hoffnung, dass er sich in seiner Nähe befand und flüsterte: "Jadar?" Statt einer Antwort vernahm er nur schmerzvolles Gestöhn aus vielen Kehlen. Von weit weg kam infernalisches Gerumpel und Schreie. Er fragte sich entsetzt, was hier geschah.
Erneut ergriff ihn die Schwärze. Das Gewicht, das auf ihm lag, drohte ihm die Brust zu zersprengen. Kurz war er versucht, sich dem zu ergeben, doch dann hörte er ein zartes Geräusch und lauschte ihm nach. Erstickt drang leises Wimmern eines Kindes zu ihm durch. Sethos erstarrte.
***
"Umi ..." Pause.
"Umi ..." Pause, diesmal ein bisschen länger. Verzweifelt hoffte er, dass es sich wiederholte, doch außer seinem eigenen Atem hörte er nur noch das rauschende Blut in seinen Adern. Adrenalin schoss durch ihn hindurch und pochte wild auf seiner Stirn. Ein Kind ...
Unwillkürlich dachte er an seine eigene Tochter, die vor langer Zeit von Unbekannten entführt worden war. Damals war Sethos noch normaler Mahari gewesen unter der Knute des Königs, kaum der Jugend entwachsen und bereits Vater. Seiner jungen Frau hatte die Trauer um die verlorene Tochter das Leben geraubt und ihm die einzige Liebe, die er je hatte. Seitdem war er nur noch Soldat.
Als er sich dessen bewusst wurde, durchbrauste ihn der Zorn, den er sein Leben lang unter Kontrolle hielt. 'Ein Kind liegt hier irgendwo', dachte er indifferenziert. 'Mein Kind, mein Mädchen ...' Sethos befürchtete, den Verstand zu verlieren. "Es reicht!" Er schrie es heraus. Es klang so dumpf, als riefe er in einem Grab.
Mit fast übermenschlicher Kraft stemmte er seine Arme gegen das Gewicht über ihm. Ein massiger Körper plumpste zu Boden. Hoffnung durchpulste ihn, und Sethos drückte noch einmal. Nach einer Weile war er soweit befreit, dass er sich auf die Knie rollen konnte.
Danach ging es schnell! In gebückter Position lauschte er in die Richtung, aus der er das Wimmern vernommen hatte. Sein Herz raste laut, doch ansonsten war nur Stille die Antwort, die er bekam.
Sethos machte einen Katzenbuckel und warf den Rest Gewicht von sich ab. Tageslicht blendete ihn, als er nach oben kam. Mit einer Hand schützte er seine Augen und blinzelte gegen die Sonne. Schwarze Schatten flirrten kreisförmig um ihn herum und lockten ihn zurück in das Totenreich. Er wischte sie fort.
Mit beiden Armen machte er Bewegungen, als würde er schwimmen und robbte kniend voran. Ein Meer von Schmerz war um ihn herum. Reglose Leiber lagen am Boden und hinderten ihn daran, sich zu bewegen. Es war, als würden ihm die Geister der Toten sein Recht auf Leben verweigern.
***
"Du kriegst mich nicht", flüsterte Sethos. Seine Gewänder waren zerrissen, sein Antlitz blutverschmiert. Für einen Moment sog er erleichtert den Atem der Freiheit ein. Ihm war, als hätte er unter Felsen geruht.
Sein Blick glitt zur Seite zu zwei toten Frauen, lieblos hingeworfen wie ein Bündel alter Kleidung, halb bedeckt von Geröll. Wieder erreichte ihn dieses Wimmern. "Umi, Umi", eindringlich diesmal, mit Aussetzern dazwischen, dumpf und erstickt.
Erneut zerschnitt es ihm das Herz. Schmerzvoll brüllte er auf. "Wo ... bist du?", schrie er in den Himmel und versuchte stöhnend, sich ganz zu erheben.
Zwei Hände umklammerten seinen Arm. "Herr", ächzte eine männliche Stimme, "Ihr lebt, helft mir!" Sethos beachtete ihn nicht und versuchte, den Griff abzuschütteln. Als es ihm nicht gelang, tastete er nach seinem Stiefel, zog seinen Dolch heraus und stach blindlings zu.
Ein lauter Schrei sprengte ihm fast das Trommelfell, doch nun war er frei. Sethos erhob sich und starrte mit halb irrem Blick um sich, im Ohr noch immer dieses verzweifelte Weinen. "Wo ... ist ... dieses Kind?", flehte er.
Ein Gebet richtete sich in seinem Herzen an alle medinischen Götter und vor Allem die Göttin des Lebens. Voller Wut begann er mit seinen Händen zu schaufeln und schleuderte halbtote Körper von sich, als wären sie Puppen. Er schrie wie von Sinnen, und als Männer in Uniform kamen, um ihn an seinem martialischen Tun zu hindern, stach Sethos mit seinem Dolch auf sie ein. Er war wie im Rausch.
***
Fawlik
Jadar hörte Rascheln von Stoff, das Geschrei um ihn herum wurde leiser, die Stimmen gedämpfter. Er versuchte, zu filtern und sie zu erkennen, doch es waren zu viele. Es war das erste Mal in seinem jungen Leben, dass er erfahren musste, was es heißt, hilflos zu sein.
"Verschwindet", befahl eine helle Stimme. "Haut ab, solange Ihr könnt. Für Euch gibt's hier nichts mehr zu holen!" Eine Kinderstimme erwiderte dem Sprechenden Worte in einer Sprache, die der Prinz nicht verstand, doch er spürte den Zorn, die daraus sprach.
Das Rascheln der Zeltplane wurde lauter, trippelnde Schritte knirschten im Sand, und kurz darauf waren zwei schwarze Augen auf ihn gerichtet. Es war ein sehr junges Gesicht, das über ihm schwebte, und Jadar fragte sich, woher er es kannte.
Schwerfällig stützte er sich auf seine Ellen und richtete seinen Oberkörper stöhnend nach oben. Seine Beine waren noch immer beschwert. Probeweise wackelte er mit den Zehen und bemerkte, dass es funktionierte.
"Was ist passiert?", fragte er sein Gegenüber. Jadar fühlte sich, als hätte er hundert Jahre geschlafen.
"Ihr habt einen Schlag abbekommen und wurdet ausgeraubt", antwortete der Junge. Verlegen wandte er seinen Blick ab.
"Wer bist du?", fragte der Prinz. "Und warum liege ich unter Linnen? Was ist mit meinen Beinen? Ich kann sie nicht bewegen." Verwirrt griff er sich an den Kopf.
"So viele Fragen", sprach der Junge. "Ich heiße Fawlik. Mehr weiß ich nicht." Ein sanftes Grinsen legte sich auf das schlammverschmierte Gesicht. Fawlik wandte den Kopf und sprach jemanden an, den Jadar nicht sah. "Helft mir, den Mann zu befreien."
Erleichtert spürte der Prinz, wie sich mehrere Hände an ihm zu schaffen machten und seinen Unterkörper von Lasten befreiten. Zwei Männer zogen ihn an den Armen unter der Plane hervor, und kurz darauf stand er auf seinen zwei Beinen.
Fassungslos musterte er den Schauplatz, an dem er sich befand. "Was ist hier geschehen?", stieß er hervor. Der Junge trat neben ihn und reichte Jadar seine zwei Börsen. "Hier, das gehört Euch." Leichte Schamesröte überzog sein Gesicht, und der Prinz fragte sich, warum.
"Wie es aussieht, wart Ihr lange besinnungslos", fuhr Fawlik nach einer kleinen Gedenkpause fort. "Es mag für Euch besser sein. Es hat eine Revolte gegeben, und an manchen Orten in der Stadt tobt sie noch immer."
Der Stand des Gemischtwarenhändlers war aus unersichtlichen Gründen über ihm eingestürzt, wurde ihm klar. Jadar blickte um sich und sah die Menschen, die sich in seinem Umfeld befanden. Stöhnend stand der eine oder andere auf und schüttelte ebenso wie er die Plane von sich. Ein paar Schritte von ihm entfernt lag der Händler, der versucht hatte, ihn übers Ohr zu hauen.
Der Prinz eilte zu dem zusammengebrochenen Tisch, auf dem sich dessen Waren ursprünglich befanden und nun am Boden lagen. Er beugte sich über ihn und musterte das eingefallene Gesicht. Der Mann war offenbar tot.
Das Zeltgestänge war verbogen und teilweise fehlte es ganz. Das blauweiß gestreifte Leinendach hing halb über den Opfern, die ihr Leben verloren. Überall lagen riesige Steine. Mit stumm fragendem Blick wandte Jadar sich um und richtete diesen auf Fawlik, der ihm gefolgt war. Lapidar zog der Junge seine Schultern hoch. "Ein Werk der nifayanischen Stadtwache. Sie haben mit Katapulten in die Menge geschossen."
Der Thronfolger Bharyas erbleichte. Schweiß trat ihm auf die Stirn bei dem Gedanken, dass er noch lebte. Die Götter mussten ihn lieben, doch was war mit Sethos?
Jadar umrundete die zerstörte Auslage, wo er ihn als Letztes gesehen hatte. Auch dort lagen Tote.
Einen um den anderen Körper drehte er um und starrte den Gefallenen lang ins Gesicht. Als er auf eine Frau stieß, die überlebt hatte, reichte er ihr die Hand. Es war Esilia.
***
Die Stadtwache Nifayas
Woher Sethos die Kraft nahm, sich gegen seine Angreifer zu wehren, wusste er nicht. Er fragte auch nicht danach, alles, was für ihn zählte, war dieses Kind, das seine Hilfe brauchte. Stammelnd versuchte er, es den Männern, die ihn umzingelten, klar zu machen, doch als er in ihre gleichgültigen Gesichter sah, gab er es auf.
"Dann bleibt von mir fern", warnte er sie. Die zehn Männer trugen die Uniform der Miliz von Nifaya. Stoisch wateten sie durch Unrat und Leichen und rückten ihm beängstigend dicht auf den Leib.
Sethos ging rückwärts und stolperte über einen großen Findling. "Ich komme im Auftrag des Königs", schrie er. Fest umklammerte der starke Hüne den Griff seiner Klinge, als wäre sie der letzte seidene Faden, der ihn am Leben hielt. Nifayas Mahari ließ seine Warnung offenbar unbeeindruckt. Unablässig rückten sie weiter vor und achteten auch nicht auf die Opfer des Bürgeraufstands, die überall lagen und bettelten, dass man ihnen half.
Sethos' Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Unbändiger Hass kochte in ihm hoch, während ihm dämmerte, dass er die Verantwortlichen für das zurückliegende Gemetzel vor sich sah.
Als ihn zwei Männer von hinten angriffen, keilte er mit einem Bein aus wie ein Gaul, wirbelte herum und stach blitzschnell zu. Ein Schrei sagte ihm, dass sein Dolch das Ziel erreicht hatte, und von da an war er nicht mehr zu bremsen. Dem zweiten nahm er sein Chepesch ab; seinen eigenen Krummsäbel hatte er zwischen Händlerzelt und seinem jetzigen Standort verloren.
Seine Augen verschleierten sich. Wie ein Roboter arbeitete Sethos sich vor; das beschlagnahmte Chepesch wirbelte wie ein Propeller. Zwei weiteren Stadtwachen schlug er die Köpfe zusammen, sie lagen bewusstlos am Boden. Möglicherweise war das ihr Glück, denn die restlichen Angreifer verloren auf recht unschöne Art und Weise ihr Leben.
Als er wieder klar denken konnte, warf Sethos seine blutverschmierte Waffe von sich und suchte weiter, als sei nichts gewesen. Unter einem Geröllhaufen wurde er fündig. Eine Frau lag darunter mit gebrochenem Blick. In ihren Armen hielt sie ein kleines Mädchen. Körper und Kleidung waren befleckt mit geronnenem Blut, der Brustkorb eingedrückt. Das Kind war noch keine zehn Sommer alt!
***
Während seiner gesamten militärischen Laufbahn hatte Sethos als hart und besonnen gegolten, doch an jenem Tag stieß er an seine Grenzen.
Mit Tränen in den Augen bückte er sich und untersuchte das Kind. Nichts ... kein Atmen ... kein Puls ...
Er war zu spät gekommen! Sethos schrie all seine Wut und seine Trauer mit einem urhaften Brüllen in den Himmel hinauf. Danach kniete er sich über das Mädchen, strich ihr zärtlich die verkrusteten Haare aus dem Gesicht, löste es sanft aus dem schützenden Griff der toten Frau und hob es auf seine Arme. Summend begann er es zu wiegen ...
Von jeher war es im Lande Medina so üblich gewesen, dass die Ämter des Vaters auf den ältesten Sohn übergingen bei dessen Tod. Sham war OkParas einziger legitimer Sohn, und so gab es keinen Zweifel daran, was dessen Aufgabe war. Er wurde der Statthalter jener Stadt, die den Regeln des Königreichs trotzte.
Anarchie und Ausbeutung herrschten fast während der gesamten Amtszeit OkParas, was sich weit bis in die daran angeschlossenen Provinzen auswirkte. Ein Paradebeispiel war der Fall von Themera, nunmehr eine Geisterstadt. Das kleine Dorf war eines der vielen Opfer, die erbracht werden mussten, um die dunklen Begierden des Almadins von Nifaya zu stillen. OkPara teilte diese mit nahezu all jenen, deren Gebäude sich prunkvoll am Ortsrand der Hauptstadt erstreckten.
Wer es verstanden hatte, sich gut mit ihm zu stellen, hatte stets gut gelebt. Wer nicht, ging unter und zahlte mit seinem Leben. Somit dürfte nicht verwunderlich sein, dass König Khnemu nie von dessen Intrigen erfuhr.
Weitere Leidtragende waren OkParas Familie, die nicht sehr groß war. Seine Frau - Shams Mutter - nahm sich das Leben, kurz nachdem der Junge geboren war.
Schon damals, vor nunmehr dreißig Jahren, war Zahraj der von ihren Eltern aufgezwungene Gemahl unheimlich geworden, so dass sie bevorzugte, die Welt zu verlassen, die ihr nicht gefiel. Der Junge wurde daraufhin von einer Amme erzogen, weit weg von seinem Vater. Erst als dieser vermeinte, dass es Zeit war, ihn zu sich zu holen, kam Sham nach Nifaya. Seinerzeit war er in Narmars Alter gewesen, verschüchtert und leicht zu formen und erschrocken über den Reichtum, in dem er sich plötzlich befand.
Obwohl der Junge nunmehr im selben Haushalt wie OkPara lebte, wuchs er weiterhin vaterlos auf. Um das Kind kümmerte sich eine vielfältige Dienerschar, er bekam Privatlehrer und durfte das Haus nur selten verlassen. Sein Vater war viel auf Reisen, er bekam ihn kaum zu Gesicht. Da Sham auch ansonsten keine liebevolle Bezugsperson hatte, blieb er für sich und lernte irgendwann sein dekadentes Umfeld zu schätzen.
Wie der Wohlstand OkParas zustande kam, hatte ihn nicht zu interessieren. Sham hatte beizeiten gelernt, ihm nicht allzuviele Fragen zu stellen. In der palastähnlichen Villa am Stadtrand von Nifaya herrschte die Grausamkeit!
***
Die Folgen
Am Tag der Revolte kam Sham das erste Mal mit den Folgen seiner lieblosen Kindheit und seines Amts in Berührung. Es war noch nicht allzulange her, dass er vom Tod seines Vaters erfuhr, und auch wer ihn zur Strecke gebracht hatte, war ihm bekannt.
Dass ausgerechnet OkParas Vollstrecker - der Prinz von Bharya - die Glut, die seit Langem in der Stadt schwelte, zum Brand entfacht hatte, wusste er nicht. Ebenso wenig ahnte er dessen Aufenthalt oder kannte die unguten Beziehungen von seinem Vater. Zum ersten Mal wurde ihm an jenem Tag bewusst, dass in dessen Leben einiges im Argen lag. Das Ausmaß überkam ihn wie eine Sintflut oder (um es mit dem Volksmund Medinas zu halten) wie die wiederkehrende Schwemme des Hayas. Während diese jedoch den Tälern um die Residenzstadt Bharya herum Fruchtbarkeit bringt, erwartete Sham für die Sünden des Vaters der Tod oder - noch schlimmer - grausamste Folter durch diejenigen, die unter OkPara am Meisten gelitten hatten: Der Pöbel, wie es dieser in seinen Kreisen oft verächtlich benannte, ungeachtet dessen, dass die Armut die Ernte des aufgegangenen Samens war, den er selbst säte. Davon wusste Sham - der Sohn - jedoch nichts!
***
M'Bulo
Zum Staatsschatz Nifayas gehörten außer Geschmeiden, Gold und wertvollen exotischen Tieren aus fernen Ländern auch Sklaven. Letztere tummelten sich in den Haushalten des Stadtadels und waren ein offenes Geheimnis in höchsten Kreisen.
Einige wenige kamen aus anderen Stämmen Medinas und waren geraubt, wie zum Beispiel die Frauen der Krajis. Andere wiederum waren eingeschifft worden und waren Geschenke an den Statthalter selbst.
Zwei Mal im Jahr fand im Geheimen ein Sklavenmarkt statt, jedes Mal an einem anderen Ort, denn Sklavenhaltung war laut den Gesetzen Bharyas verboten. Im Haushalt OkParas waren allein zwanzig Sklaven beschäftigt, und einer davon war M'Bulo.
Unter der Dienerschar des toten Almadins hatte er den höchsten Stellenwert. M'Bulo war edlen Geblüts und Sohn eines Häuptlings. Vor Jahrzehnten war er das Geschenk eines Königs gewesen und kam von einem anderen Kontinent. Als er in den Besitz von OkPara überging, war er fast noch ein Kind. Zum Zeitpunkt der Unruhen in Nifaya war er ungefähr im selben Alter wie Sethos und fünfzehn Jahre jünger als der Vater von Sham.
M'Bulo war ein stattlicher Mann, auch jetzt noch im mittleren Alter. Die Haut war glatt, das Gesicht gut geschnitten mit hohen Wangenknochen, dunklen Augen, die alles sahen und einem schmalen Mund, der es verstand, zu befehlen und zu koordinieren.
Sein Körper jedoch war von Narben entstellt, entstanden in nicht endenwollenden Jahren der Knechtschaft, durch unzählige Peitschenhiebe, die dazu gedacht gewesen waren, den Stolz in ihm zu brechen und es doch nie vermochten. Er war einer der wenigen, die keine Furcht vor OkPara empfanden und dennoch in seinem Dunstkreis gefangen waren: All seine bisherigen Fluchtversuche wurden vereitelt.
***
Am Tag der Revolte
In den Tagen des aktuellen Zeitgeschehens fühlte M'Bulo sich zum Fliehen zu alt. Er hatte auch eine Frau und zwei Kinder, die ebenfalls zum Haushalt OkParas gehörten. Selbst wenn er hoffen durfte, dass Sham ihn freigeben würde, hieß das noch lange nicht, dass außerhalb der Villa ein Auskommen für ihn und seine Familie möglich war. Seine Haut war zu blau, seine Ohren zu spitz, und überall gälte er nur als Exot.
Seine Abstammung, sein Alter und seine Familie waren für ihn Gründe genug, nun dem Sohn von OkPara die Treue zu halten und darauf zu hoffen, dass unter dessen Herrschaft besser zu leben war. Allerdings hätte M'Bulo niemals erwartet, dass seine vielen gescheiterten Fluchtversuche ihm eines Tages zu Nutzen sein könnten. Seine Erfahrung rettete einige Leben.
Es war der Tag des Bürgeraufstands. Ein aufgebrachter Mob stieg den künstlich angelegten Hügel zur Villa hinauf, fest entschlossen, dem Sohn OkParas den Garaus zu machen. An die hundert Männer und Frauen mussten es gewesen sein, bewaffnet bis an die Zähne. Als M'Bulo den Zug entdeckte, waren sie fast schon da.
Eiligst suchte er Sham und gab ihm Bescheid. Danach befahl er einer Hausdienerin, die ihm entgegenkam, alle im Haus zusammenzutrommeln und vor dem großen Schreibsaal auf ihn zu warten. Mit großen Augen sah ihn die Sklavin an: "Müssen wir jetzt alle sterben?"
"Hier wird nicht gestorben", brauste er auf. "Behaltet nur alle Eure Köpfe, bewaffnet Euch mit allem, was Ihr tragen könnt und dann wartet auf mich."
M'Bulo wandte sich ab und rief Sham hinterher: "Herr, beruhigt Euch. Ihr braucht Eure Nerven und Euren Verstand." Er warf einen flüchtigen Blick durchs nächste Fenster. Drohend schritten die Menschen mit knallenden Peitschen den Hügel hinauf. Aus den anderen Häusern im Adelsviertel erklang lautes Geschrei. Undeutlich sah er, wie aus den Eingängen einige der Reichen gezerrt worden waren und sich vehement wehrten.
M'Bulo wurde bewusst, was ihnen blühte, wenn sein Plan versagte. Eiligst wich er zurück und war im Begriff, der blindlings flüchtenden Dienerschar hinterher zu eilen, als sich die Geräuschkulisse im Freien zu verändern schien.
Mit wild pochendem Herzen stellte er sich hinter einen Pfeiler und lauschte. Was hatte das zu bedeuten? Kam ihnen die Stadtwache zu Hilfe?
Bleich trat Sham in seinen Schatten und legte M'Bulo eine Hand auf die Schulter. "Pferde!" Auch er hatte das Donnern der Hufe gehört.
Der Sklave zuckte zusammen und drehte sich um. "Das könnte die Stadtwache sein." Er lauschte erneut. Ans Fenster zu treten, wagte keiner der beiden.
Das Geschrei der Meute wurde lauter und lauter und paarte sich mit dem Wiehern von Pferden. "Wie dem auch sei, wir sollten hier keine Wurzeln schlagen." M'Bulo durchquerte den Raum und winkte Sham. "Kommt! Wir sollten uns nicht auf Hilfe verlassen und selbst schauen, wie wir unsere Haut retten. Ich kenne einen geheimen Gang, durch den ich uns alle aus der Stadt führen kann."
***
Wenn das Schicksal spricht ...
Die blutgierige Meute sollte ihr Ziel nicht mehr erreichen. Kurz bevor die großmäuligsten Aufwiegler das Grundstück OkParas betraten, brauste das Schicksal in Form von Pferden durch die Menge hindurch.
M'Bulos Hoffnung, dass die Stadtwache Nifayas ihnen zu Hilfe kommen würde, erfüllte sich nicht. Die Miliz war jenertags an anderen Stellen damit beschäftigt, den Bürgeraufstand niederzuschlagen.
Dennoch war das Glück Sham und ihm hold: Der Kampf von Rasul und Shaytan verlagerte sich nach Nifaya. Die mitgeführte Pferdeherde der Reiterei von Bharya war durch Hiebe mit Bullenpeitschen von mehreren Männern aufgebracht worden und ging scheuend durch. Etliche der Tiere flohen in die nahegelegene Stadt und irrten dort tagelang durch die Gassen.
Die Überlebenden des Bürgeraufstands berichteten noch Jahre danach, sie hätten an jenem Tag Rapnet gesehen, den medinischen Pferdegott. Die einen behaupteten, er wäre ihnen in Form eines schwarzen Hengstes erschienen, andere sagten, Rapnet sei weiß. Einige erzählten von stierköpfigen Dämonen, die auf ihm ritten.
Am Ende des Tages flanierte der Prinz durch die Stadt, fassungslos über das Elend am Wegesrand. Shaytan und er hatten einander wie durch ein Wunder wieder gefunden. Sethos war in seiner Begleitung.
Am Zügel führte der Feldherr ein weißes Pferd, auf dem ein kleiner Junge saß. Der Knabe war Fawlik. Er hatte Jadar gefunden, als dieser verschüttet war.
Zwei Ochsentreiber kamen im Maharilager vor Nifaya ums Leben. Sie waren von Rasul und Shaytan erschlagen worden, als sie versucht hatten, die beiden kämpfenden Hengste mit Peitschen zu trennen.
Die bharyanische Eskorte und der nifayanische Kurier kamen mit dem Schrecken davon. In der Stadt selbst hingegen gab es tausende Tote. Viele davon wurden Opfer von Katapulten, mit denen die Miliz in die Menge am Marktplatz schoss, als die Revolte begann.
Einige kamen unter die Hufe von scheuenden Tieren, sehr viele wurden in der allgemein vorherrschenden Panik von der Meute zerdrückt. Zehn Händler, die mit Karawanen in die Stadt gekommen waren, um dort zu handeln, wurden gesteinigt, Adelshäuser geplündert und deren Bewohner teils gefoltert, teils grausamst ums Leben gebracht. M'Bulo, ein Sklave elfischer Abstammung im Haushalt OkParas, führte dessen Sohn Sham und seine Dienerschar durch einen unterirdischen Tunnel vor die Tore der Stadt. Mit seiner Erfahrung rettete der Diener diesen Menschen das Leben, doch in dem Labyrinth der Gänge entdeckten sie schreckliche Geheimnisse des toten Almadins von Nifaya.
***
Der Prinz und der Bettelknabe
Drei Tage später war die Ordnung in der Stadt wieder so weit hergestellt, dass die Gassen und Straßen von den Opfern der Aufstände befreit worden waren. Zu verdanken war das nicht etwa den Nifayanern, sondern der Eskorte Bharyas unter Sethos' Befehl.
Jadar und seine Männer hatten ihr Lager wieder in die Senke vor Nifaya verlegt. Die Tiere, die eingefangen werden konnten, wurden im Stall untergebracht sowie Jadar und Sethos im Offizierszelt.
Fawlik wich dem Prinzen nicht mehr von der Seite und schlief des Nächtens auf dem Boden vor dessen Pritsche. Längst schon hatte der vierzehnjährige Junge in Erfahrung gebracht, dass der von ihm Gerettete kein Händler war, sondern vielmehr ein Königssohn.
Am Tag der Revolte schienen beide sich gleich, denn Jadar wurde bis auf die Unterkleidung seines opulenten Gewandes beraubt. Außer den beiden Goldbörsen, die sich aus unerfindlichen Gründen in Fawliks Händen befunden hatten, war ihm nichts geblieben. Somit lernte der Thronfolger Bharyas am eigenen Leib kennen, was es heißt, nicht jederzeit aus dem Vollen schöpfen zu können, wie er es gewohnt war. Er nutzte die Zeit seines nicht sehr befriedigenden Aufenthalts in der verwüsteten Stadt, um mehr über die Bewohner und vor Allem die Machenschaften OkParas in Erfahrung zu bringen.
Nach der dritten Lagernacht suchte Kazem ihn auf und überbrachte ihm besorgniserregende Botschaft. Der Statthalter von Baqua hatte als Gast in einem der höher gelegenen Adelshäuser die Schreckenszeit überlebt, doch die Händler der Karawane, die er angeführt hatte, mussten einige Verluste vermelden.
Auch dies teilte er kummervoll dem Prinzen mit, doch er kam dann sofort zur Sache: "Herr, Nifayas neuer Almadin ist mitsamt seinen Dienern und deren Familien spurlos verschwunden. Das Haus OkParas ist leer." Kazems Blick glitt neugierig zu dem schmuddligen Jungen, der auf dem Boden saß und hungrig Fladen aus Gerste verschlang. Kleine Steinchen knirschten ihm zwischen den Zähnen. Ungeniert spuckte Fawlik sie ihm vor die Füße.
Die beiden Männer ignorierten das flegelhafte Benehmen. Jadar zog vielsagend die Augenbrauen hoch, wies auf einen Sessel aus Ebenholz und bot dem Statthalter von Baqua Platz an.
Danach rief er nach Sethos. "Seltsame Neuigkeiten habe ich soeben erhalten", begrüßte er ihn, als dieser durch den mit Kamelfell verhängten Eingang das Zelt betrat. Jadar stand auf, ging zu einer Reisetruhe am anderen Ende des geräumigen Schlafraums und holte mehrere Tonbecher und eine Weinkaraffe heraus. "Seid unser Gast, während wir reden", lud er Kazem ein. "Glücklicherweise waren wir vorbereitet." Geschäftig durcheilte er den Raum. "Fawlik, komm hilf mir", rief er den Jungen. Zusammen stellten sie einen runden Tisch vor Kazems Stuhl und rückten zwei weitere Sessel herbei. Sethos und er nahmen Platz, und Fawlik setzte sich nach einem Wink des Prinzen auf ein großes Kissen aus dunklem Leder.
"Sham ist also verschwunden, sagt Ihr", eröffnete der Prinz das Gespräch, während er Wein einschenkte. " Woher wisst Ihr das?" Gedankenverloren starrte er in seinen Becher und nippte daran. "Vielleicht ist er tot", mutmaßte er mit sarkastischem Unterton. "Mir wurde zugetragen, dass die Bürger der Stadt ziemlich verärgert sind."
"Das ist ja wohl leicht untertrieben", mischte Sethos sich ein. "Wir kamen beide knapp mit dem Leben davon." Er prostete Jadar und Kazem zu. "Ein Hoch auf die Götter, die uns wohlgesonnen gewesen sind."
Jadars Blick glitt zu Fawlik. "Ohne den Kleinen säße ich heute nicht hier. Ich trinke auf ihn." Er leerte den Becher und schenkte sich noch einmal nach. "Erzählt!", forderte er den Statthalter von Baqua auf und nickte ihm zu.
"Ich war Gast in der Nachbarschaft, als die Meute den Berg herauf kam", berichtete Kazem. "Später hätte ich noch eine Verabredung mit Sham gehabt, aber das hat sich zerschlagen. Wir hatten uns in einem Gewölbe versteckt, als die Menge von Pferden zerstreut worden ist. Am nächsten Morgen erst haben wir uns wieder heraus getraut. Wir sahen, dass Shams Gebäude unversehrt war und dachten, ihm sei nichts passiert. Als wir uns vergewissern wollten, stießen wir nur auf ein leeres Haus."
"Habt Ihr alles durchsucht?", fragte Sethos. "Vielleicht haben sich die Bewohner ja auch versteckt." Der Feldherr stand auf und trat an die Truhe mit dem Proviant. Er machte sich daran zu schaffen und stellte einen Teller Datteln auf den Tisch, an dem alle saßen. Großzügig bediente er sich.
"Zugegeben, unser Aufenthalt in dem Gebäude war eher oberflächlicher Natur. Meine Gastgeber und ich haben aber in alle Räume geschaut. Es war auch totenstill", erwiderte Kazem und griff herzhaft zu.
"Fiel Euch nichts auf?", fragte Jadar, nickte Sethos dankbar entgegen und knabberte an einer Dattel. Der Almadin schüttelte den Kopf und zuckte die Achseln. "Nein, Herr! Sonst nichts!"
Fawlik bekam einen hungrigen Blick, traute sich jedoch nicht, sich zu bedienen. Still hörte er zu. Nach einer Weile erhob er sich von seinem Kissen und zupfte den Prinzen am Ärmel. "Ich denke, ich muss Euch demnächst etwas erzählen und vielleicht zeigen."
Jadar drehte sich zu ihm um und rümpfte die Nase. "Junge, du brauchst ein Bad. Vorher gehe ich mit dir nirgendwo hin."
Ungläubig sah Fawlik ihn an. "Wo soll ich jetzt Wasser hernehmen, um zu baden?", fragte er unter dem Gelächter der anderen zwei Männer. Brüllend schlug Sethos sich auf die Schenkel. "Draußen im Freien natürlich, so wie wir auch." Mit kritisch zusammengekniffenen Augen musterte er ihn. "Du bist in der Tat ein richtiges Schmuddelkind. Hast du keine Kleidung?"
"Nein, Herr, nur das, was ich am Leib tragen kann. Mehr habe ich bis jetzt nicht gebraucht." Fawlik errötete über und über. "Ist das denn wesentlich? Bisher hat sich daran niemand gestört." Unsicher glitt sein Blick zum Prinzen, der mittlerweile wieder in der dunklen Tracht des Königshauses Bharya auftrat. Fawlik zupfte an dem Strick, der seine dunkelbraune Bauernhose zusammen hielt. Eine von Sayaris Dienerinnen hatte sie aus einem Jutesack zusammen genäht, nachdem er zerlumpt und hungrig in den Katakomben angelangt war.
Kazem erhob sich und verneigte sich vor den beiden Männern. "Ich verlasse Euch nun", verabschiedete er sich. "Dringende Geschäfte erwarten mich in meiner Stadt. Was ich weiß, habe ich Euch erzählt."
Jadar und Sethos begleiteten den Statthalter von Baqua zum Eingang. Draußen griff ihn der Prinz am Arm. "Ich bin Euch zu Dank verpflichtet", sprach er. "Ohne Eure Ratschläge wüsste ich nicht, wie ich mit der Situation in Nifaya umgehen soll. Doch nun weiß ich es." Ernst blickte er dem Mann in die Augen. "Ich möchte Euch ein Geschenk machen, als Entschädigung für Eure Verluste. Folgt mir!"
***
Sehr zu Kazems Überraschung führte Jadar ihn quer durch das Lager. Sie passierten ein mit Stricken abgegrenztes Stück Land, auf dem Ochsen weideten. Quer neben der Absperrung reihten sich Proviantwagen auf. Dazwischen lagen oder saßen mehrere Männer und aßen. Verwundert blieb der Almadin stehen und musterte das Szenario, das sich ihm darbot.
"Ihr habt nicht übertrieben, als Ihr sagtet, ihr seiet auf alles vorbereitet gewesen." Er verschränkte seine Hände hinter dem Rücken und ließ das Bild auf sich wirken.
"Ein glücklicher Zufall", erwiderte Jadar mit gespielter Bescheidenheit. Den Stolz in seiner Stimme konnte er nicht mehr verbergen, während er fortfuhr: "Wir hatten schon vor Themera ein gut ausgerüstetes Maharilager gehabt. Das ist nur ein kleiner Teil." Er legte Kazem eine Hand unter die Elle und führte ihn mit sanftem Druck weiter. "Das ist gleichwohl nicht das, was ich Euch zeigen will."
"Aber ... Warum?" Während sie nebeneinander hergingen, streifte der ältere Mann den jungen Prinzen mit einem fragenden Blick.
Jadar verstand, was er meinte. "Um auf alles vorbereitet zu sein", erwiderte er mit einem verlegenen Lächeln. Er blieb stehen und blickte nachdenklich zu Boden.
"Ihr müsst verstehen", fuhr er nach einem kurzen Moment fort, hob den Blick und sah Kazem ernst an. "Nach dem, was in Themera passierte, ließ uns OkPara keine andere Wahl. Wir sind keine Mörder ... wie er einer war."
Der Mann wand sich verlegen. "Ich maße mir über andere Menschen kein Urteil an. Es hat mich nur verwundert, weshalb Ihr vor Nifaya mit einem solchen Aufwand aufmarschiert." Er deutete auf die Gespanne und die Zelte im Hintergrund. "In jeder Stadt stieße das auf Befremden. Was sagt Euer Vater dazu?"
"Ich bin in Eigenverantwortung hier", erwiderte Jadar. "Und weil ich ein Ehrenwort gab, das ich einlösen will. Mein Vater ist bedauerlicherweise erkrankt."
Er schlenderte weiter und hielt auf den Stall zu. Dort waren die Pferde der Reiterei untergebracht. Kazem folgte ihm. "Und was genau habt Ihr vor?", fragte er.
"Nach dem jetzigen Stand der Dinge muss der Marktplatz so schnell wie möglich wieder intakt sein. Danach werden die Bürger der Stadt mit Vorräten versorgt. Dabei könnt Ihr mir helfen." Der Prinz hielt vor der Tierunterkunft und öffnete die beiden Verschläge. "Tretet ein!", forderte er Kazem auf. Die beiden Männer betraten den sauber mit gehäckselten Palmwedeln aufgeschütteten Innenraum. Links und rechts standen zwei Reihen Tröge, die alle mit frischem Futter und Wasser gefüllt waren. Der Raum war in einzelne Verschläge aufgeteilt worden.
Jede Box war für zwei Pferde gedacht. In der ersten ganz links streckte Alshaytan Al'Aswad den Kopf heraus und begrüßte die beiden Eindringlinge mit einem Wiehern. Er war allein.
Bewundernd musterte Kazem den Schwarzen Teufel. "Ihr wisst, wie man Euch nennt?", fragte er Jadar. Dieser schüttelte verneinend den Kopf.
Der Almadin sagte es ihm: "Euer Ruf eilt Euch voraus. In vielen Städten seid Ihr 'Der Dunkle Prinz'. Wenn ich Euren stattlichen Hengst sehe, weiß ich, warum." Er sah sich um. "Habt Ihr den Stall selbst herrichten lassen?"
Stolz trat auf Jadars Gesicht. "Ja. Innerhalb eines Tages war es passiert. Vierzig Paar Hände haben mir dabei geholfen." Er grinste. "Aber sagt mir: Wer nennt mich so, wie Ihr sagtet? Heißt das, ich bin berühmt?"
"Eher berüchtigt", frozzelte Kazem. "Ich stieß das erste Mal in der Oase Faryfra auf Euren Titel. Danach in Miah, in Shallalah, in Baqua und in Quatar."
Jadar erschrak. "Quatar liegt nah bei Bharya. Mir ist nicht ganz klar, mit was ich diese Art Berühmtheit verdiene, und ich fürchte, meinem Vater wäre das gar nicht recht." Plötzlich wirkte er wieder sehr jung und fühlte sich hilflos. Ihm wurde bewusst, wie sehr er sich über den Willen des Königs hinweg gesetzt hatte. Doch dann beruhigte er sich selbst mit dem Gedanken: 'Hatte ich eine andere Wahl?'
***
Der Statthalter von Baqua bemerkte die veränderte Stimmung bei dem jungen Prinzen. Eine Welle der Zuneigung schoss durch sein Herz.
'Er könnte mein Sohn sein, fast schon mein Enkel', sagte er sich. 'Wäre er es, dann hätte ich ihn vor allen Widernissen des Lebens bewahrt.'
Er selbst hatte nur sieben Töchter, denen er nichtsdestotrotz versuchte, ein guter Vater zu sein. Sie waren seine Augensterne, und seine liebreizende Gemahlin Rejnata war der Mond, der sich um seine Welt drehte. Familie war für ihn alles.
"Sagt, mit was ich Euch helfen kann", forderte Kazem den Prinzen auf, um ihn von seinem offensichtlichen Kummer abzulenken. "Ihr hattet da was erwähnt."
Jadar führte den Mann ans andere Ende des Stalls und wies auf eine Box. "Das ist mein Geschenk für Euch!", erwiderte er.
Ein weißer Schimmel wich erschreckt ans andere Ende der kleinen Kammer zurück. Blutige Striemen durchzogen sein Fell, und eine riesige Brustwunde verunzierte das herrliche Tier. Sie war frisch vernäht.
Kazem erkannte ihn. "Das ist das Pferd des Kuriers von Nifaya. Weshalb ist es so verunstaltet, und wie kommt es in Euren Besitz?" Misstrauisch sah er den Prinzen an. Hatte er sich in ihm getäuscht? War er ein Pferdedieb?
Jadar zerstreute seine Bedenken. "Der Bote hat ihn mir überlassen, als Entschädigung für das Chaos, das Rasul Alsama' und er bei ihrer Ankunft im Lager und in der Stadt hinterlassen haben. Ich schenke ihn Euch, denn ich habe sehr zu meinem Bedauern keine Verwendung für ihn." Der Prinz klagte, dass Shaytan und Rasul nicht miteinander auskämen und dass er ihn deshalb schweren Herzens abgeben würde.
"Vielleicht hätte ich den Hengst gar nicht erst annehmen sollen", gab er zerknirscht zu. "Mir kam jedoch einiges zu Ohren über seine Geschichte, und außerdem wurde auch Shaytan übel zugerichtet. Da war es mir nur recht und billig, den Kurier auf die Art zu bestrafen, indem ich mich schadlos halte. OkPara hatte genügend andere Pferde im Stall, da hat der Bote schnell wieder Ersatz. Doch dieses edle Tier hat was Besseres verdient, als bei rohen Menschen zu leben. Ich weiß mittlerweile, dass in Nifaya Pferdekämpfe veranstaltet wurden. Shaytan und Rasul haben in Arenen gekämpft, und so wie sich das für mich darstellt, sogar schon einmal gegeneinander."
Kazem deutete auf die Brustwunde. "Entstand die bei einem Kampf?" Jadar bejahte. "Sethos hat sie genäht. Hoch lebe der bharyanische Feldherr, der was von Pferden versteht." Er grinste verlegen.
"Nun erzähle ich Euch aber, was Ihr für mich tun könnt. Dafür ist ein schnelles Pferd nützlich." Der Prinz betrat die Box und streckte Rasul seinen Handrücken zu. Das Pferd kam auf ihn zu und beschnüffelte ihn.
"Seht Ihr, der Hengst ist ganz zahm, wenn man versteht, ihn zu nehmen", sprach er.
"Woher kommen die Striemen?", fragte der Almadin und folgte dem jungen Mann vorsichtig in die Kammer, in der Rasul stand. Der Hengst schrak zwar etwas zurück, blieb jedoch relativ ruhig. Jadar erklärte geduldig: "Das waren ein paar dumme Ochsentreiber, die meinten, zwei kämpfende Pferde mit Peitschenhieben trennen zu können. Das Schicksal hat zwei von ihnen mit dem Tod bestraft, der Andere wurde davon gejagt."
Der Statthalter verließ die Box. "Mir ist nicht ganz wohl dabei, ein solch wertvolles Geschenk von Euch anzunehmen. Wenn ich Euch jedoch im Gegenzug dienen kann, nehme ich es gern an. Nifaya ist meines Wissens bisher die einzige Stadt, die Pferde hält. In Baqua fange nun also ich damit an."
"Und ich in Bharya." Jadar lachte auf. "Das würde OkPara gar nicht gefallen. Der Schuft würde platzen." Er wurde gleich wieder ernst. "Also zu meiner Bitte an Euch. Wie ich schon erwähnte, will ich die Bürger von Nifaya mit Lebensmitteln versorgen."
Er tätschelte den Hengst und schloss die Tür. Mit einem Blick in Kazems ratloses Gesicht fuhr er unbeirrt fort: "Unser Reiseproviant allein reicht dafür nicht, wir haben schon drei Karren voll an die ersten Haushalte verteilt. Ein größeres Pensum lässt sich nur durch Nachschub und über den Marktplatz verwalten. Deshalb bin ich auch darauf erpicht, dass dieser als Erstes wieder instand gesetzt wird. Dafür brauche ich Männer und Lebensmittel."
"Was wäre mein Part in Eurem Plan?", fragte der Almadin. Jadar erwiderte: "Ihr könntet sie mir beschaffen!"
***
Die ersten Schritte
In den Tagen in Nifaya hatte Jadar genügend gesehen, um sich Gedanken über die Zukunft der Stadt zu machen. Auch hatte er die Befürchtung, dass die entdeckten Missstände sich wie ein Flächenbrand durch das ganze Land ziehen konnten, was er auch schon mit Sethos besprochen hatte. Nun sah er seine Chance, um zu handeln. Kazem sollte sein Werkzeug sein, denn Sethos und seine eigenen Männer brauchte er in der Stadt.
"Wenn Ihr züchten wollt, gebe ich Euch als Dreingabe noch zwei Stuten dazu", machte er dem Statthalter von Baqua seine künftige Aufgabe schmackhaft. "Ich lasse Sham suchen, und wenn wir ihn gefunden haben, verhandle ich mit ihm bezüglich weiterer Pferde für den bharyanischen Reitstall. Ich hoffe, dass er nicht allzusehr unter dem gefährlichen Einfluss von seinem Vater stand."
"Ich denke, wenn Ihr ihn findet, lässt er mit sich reden. Ich hatte zwar noch nicht allzu oft mit ihm als Almadin der Stadt das Vergnügen. Bisher hatte er immer nur seinen Vater vertreten, wenn dieser auf Reisen war." Kazem sah ihn ernst an. "Ich fürchte, der Sohn von OkPara hat nicht viel Ahnung von dessen Tyrannei gegenüber dem armen Volk und dessen Geklüngel mit seinen Anhängern. Wenn es wahr ist, was es so heißt, waren seine Machenschaften allesamt gegen Bharya gerichtet."
"Dann war er dumm. Wenn OkPara meinte, dass es so leicht ist, einen König zu stürzen, wäre das in der Historie von Medina schon lange geschehen." Jadar stieß seine Worte heftig und mit grimmiger Miene hervor. Erregt eilte er durch den Stall und trat ins Freie.
Als Kazem, der kaum Schritt halten konnte, wieder hinter ihm stand, drehte er sich zu ihm um. "Wenn Ihr mit meinem Vorschlag einverstanden seid, lasse ich sofort alles Nötige veranlassen, dass die Tiere in Euren Besitz übergehen. In unserem derzeitigen Bestand befinden sich zehn Stuten, unter denen Ihr auswählen könnt." Er lächelte erfreut über dessen überraschtes Gesicht. "Ja, Ihr hört richtig: Ihr habt die Wahl." Der Prinz streckte dem Almadin fordernd die rechte Hand zum Einschlag entgegen. "Kommen wir nun ins Geschäft?"
Kazem zögerte noch. "Ich bin mir nicht sicher, dass ich Euren Auftrag annehmen kann. Baqua braucht regelmäßig meinen Aufenthalt, denn ich habe nur Töchter, die ich nur ungern mit Staatsaufgaben behelligen will."
"Ihr könnt über die Pferde verfügen, so wie Ihr wollt. Es wären drei Botengänge, um die ich Euch bitte, und selbstverständlich könnt Ihr sie auch delegieren."
Kazem schlug ein. "Wenn das so ist, kann ich mich meiner Mission nicht mehr entziehen. Sagt mir also, was Ihr von mir braucht."
Die beiden Männer schüttelten einander die Hände. Jadar führte den Statthalter von Baqua noch einmal zurück in den Stall. "Und nun sucht Euch Eure zwei Stuten aus."
***
Am nächsten Tag machten sich zwei Mahari mit zwei Füchsinnen auf den Weg nach Baqua, um sie zu überbringen. Rasul Alsama' war schon unterwegs. Der Almadin hatte es sich nicht nehmen lassen, ihn selbst zu reiten. Dafür war der nifayanische Stall in der Stadt um ein Kamel reicher, das er zurücklassen musste.
Jadar hatte Kazem beauftragt, zuerst nach Themera zu reiten. Da es kein großer Umweg war, nahm er den Auftrag selbst und als Erstes in Angriff. Seine Aufgabe war, SeKani zu suchen und von ihm zwanzig Mahari und zehn Ochsengespanne mit Lebensmitteln zu fordern. Seines Wissens lebten die Männer in einem Militärlager vor Themera und waren beauftragt, den verlassenen Ort neu aufzubauen. Darüber hinaus war dem Prinzen daran gelegen gewesen, die Heilerin, die als Einzige noch in dem Dorf lebte, nach Nifaya zu bringen. Somit wären die beiden ersten Missionen demnächst erledigt.
Den nächsten Auftrag würde er delegieren, sobald er in Baqua angelangt war. Der Prinz hatte Kazem zudem in die Residenzstadt des Königs geschickt, um eine Hundertschaft Miliz nach Nifaya zu ordern. Für diesen Zweck hatte er eine versiegelte Depesche erhalten, deren Inhalt im Detail ihm nicht bekannt war. Diese überbrächte dann sein Kurier, während er sich seiner Stadt widmen könnte. Es war viel Arbeit liegengeblieben, während er in Nifaya war.
Kazem dachte an die Verhandlungen, die er versäumt hatte. Das erste Mal war ein Unterhändler jenseits der Küste von Shallalah Hafen an ihn herangetreten mit einem verlockenden Angebot.
Baqua hätte von den Anteilen an einem Sumpf, aus dem Salz gewonnen werden konnte, profitieren können, doch die Neuverhandlungen über die Konditionen bezüglich innerstädtischem Handels hatten nach dem Tod OkParas keinen Aufschub geduldet. Er ärgerte sich sehr über das entgangene Geschäft, umso mehr, dass er mit leeren Händen wieder nach Hause kam.
Auch das Problem mit Nifayas Tributforderungen war noch nicht gelöst. 'Doch vielleicht ...', überlegte Kazem, 'wende ich mich damit an den König. Rechtsungültige Absprachen zu widerrufen, dürfte diesem ein Leichtes sein.'
Fawlik starrte ins Dunkle. Vor seinen Augen lag ein Abgrund, der jeden mit sich in die Tiefe riss, der es wagte, den vertikalen Schacht zu betreten und dort zu straucheln. Hin und wieder tröpfelte Wasser von den schwitzenden Wänden herab.
Im Fackelschein schälten sich silbrig glänzend und undeutlich die Konturen von niedrigen und brüchigen Steinstufen, die direkt ins Nichts zu führen schienen, aus der Finsternis. Die Flammen warfen dämonisch anmutende Schatten auf die Gesichter der Männer, die ihn umstanden. "Wir müssen dort hinunter", sprach er zu Jadar. Der Junge trat einen Schritt zur Seite und übergab ihm die Führung.
***
Jahre zuvor ...
Die Sonne schien ihm ins Gesicht, als Fawlik erwachte. Die Hitze des Sommers stand in der Luft. Er erhob sich von seiner Matte und streckte sich ausgiebig mit einem Gähnen. Behende kletterte er die Stiege hinab und ging dem Duft nach, der aus der Küche kam. Sie befand sich in einem Anbau von seinem Elternhaus.
Der kleine Junge hatte die Nacht auf dem Dach verbracht. Bevor er eingeschlafen war, hatte er die Sterne gezählt, mit dem Mond geredet und von Abenteuern geträumt wie jedes Kind.
An jenem Tag war seine Welt noch in Ordnung gewesen! Wie jeden Morgen hatte sein Vater ihm die Haare verstrubbelt und ihn angelacht, bevor er das Haus verließ. Seine Mutter buk Brot. "Vater, bringst du mir etwas mit?", hatte Fawlik noch gefragt, bevor sich die Tür hinter ihm schloss. "Mal sehen", antwortete der. "Wenn du schön brav bist und deiner Mutter im Garten hilfst."
Danach ging er zur Arbeit, und Fawlik war mit seiner Mutter allein. Er setzte sich auf einen Hocker am Küchentisch. „Das riecht aber gut, Mutter. Ich hätte gerne etwas von dem frischen Brot.“
„Das braucht noch ein bisschen, mein Sohn. Außerdem haben wir auch noch eines von gestern. Das muss auch gegessen werden. Getreide wird immer knapper, und ich weiß schon bald nicht mehr, wie ich uns noch ernähren soll", jammerte sie vorwurfsvoll.
Fawlik zog eine trotzige Miene, doch als er die Brandblasen an ihren Armen sah und wie sie sich mit dem Mahlen von Hirse abmühte, bekam er ein schlechtes Gewissen und gab sich mit dem Fladenbrot vom Vortag zufrieden. "Warum ist Getreide knapp?"
"Die Kornspeicher sind leer, und dein Vater sagt, drei Schiffsladungen voll seien beim letzten Unwetter verloren gegangen", hatte seine Mutter dem kleinen Jungen erklärt. "Aber ich glaube, davon verstehen wir beide sowieso nichts."
***
Fawliks Vater war Verwalter und Schreiber in der Stadt Nifaya. Seine Hauptaufgabe war, die staatlichen Kornspeicher zu überwachen und den Außenhandel mit Getreide zu dokumentieren.
In Trockenzeiten war das gesamte Land darauf angewiesen, Korn von jenseits des Meeres zu importieren. In den Anfangsjahren der Schiffsfahrt wurden noch Bodenschätze, von denen reichlich zu finden waren, dagegen eingetauscht.
Als das nicht mehr genügte, begann Bharya damit, Gold zu Münzen zu prägen und sie an die Statthalter aller Hauptstädte treuhänderisch auszuzahlen.
Die Währungsreform Medinas war streng: Goldmünzen waren nur für den marinen Handel von Exportwaren bestimmt. Import und Export liefen über Shallalah Hafen. Dort wurden Ladungen aus aller Herren Länder gelöscht und mit Karawanen an die Handelsstädte Medinas verteilt.
***
Tayar
Ein aufregender Tag stand dem kleinen Fawlik bevor. Mit Hängen und Würgen hatte er seiner Mutter die Erlaubnis abgetrotzt, das Haus zu verlassen, statt ihr zu helfen. Nach dem mehr als dürftigen Frühstück schnappte er sich sein neuestes Spielzeug, das ihm seine Mutter aus Leder genäht hatte. Es war eine Art Ball und sah aus wie ein Ei. Noch wusste er nicht, was er damit anfangen sollte, doch er war ganz begierig darauf, sich ein paar Freunde zu suchen und damit zu spielen.
Mit einem Jubelschrei auf den Lippen verließ er das Haus und stürzte sich in das Getümmel der Stadt. Seinen Ball hatte er sich unter den linken Arm geklemmt.
Bereits vor der Haustür hörte er die Marktschreier rufen. Aufgeregt spähte er in die Vorhöfe der kleinen Sandsteingebäude hinein und suchte nach Nachbarskindern. Als er niemanden fand, zog er enttäuscht weiter und entfernte sich immer weiter von seinem Elternhaus. Es war ein Markttag. Menschen wimmelten durch sämtliche Gassen, drückten sich an ihm vorbei oder rempelten Fawlik die Ellenbogen gegen die Schulter.
Er hielt seinen Ball fest umklammert und wuselte flink durch die Menge hindurch. Nachdem er um einige Ecken gebogen war, stieß er auf eine Gasse, in der es ruhiger zuging. Die Häuser standen so eng beieinander, dass kaum Licht bis zu ihm durchdrang. Wasser plätscherte mittig durch Rohre aus Holz und ergoss sich in den nächsten Kanalisationsabschnitt. Links von ihm lag ebenerdig eine flache Zisterne, die randvoll gefüllt war.
Übermütig platschte Fawlik hinein. Dabei verlor er seinen ellypsenförmigen Lederball. Ohne zu zögern, sprang er hinterher und fischte ihn wieder heraus.
Mit klitschnassen Hosen und einem Lied auf den Lippen hüpfte der Junge weiter. Vor einem dunklen Hauseingang blieb er stocksteif stehen. Beine ragten unter einer Decke hervor. Neugierig näherte er sich und musterte die nackten Füße. Sie waren schmutzig und groß.
Fawlik war sich unschlüssig, ob er unter die Decke schauen wollte, was sich darunter befand. Schließlich siegte die Neugier, und er hob sie an.
„AHHH!“, schrie er mit weit aufgerissenen Augen. Erschrocken stolperte er ein paar Schritte zurück und fiel auf den Hosenboden. Unter der Decke lag ein toter Mann!
***
Stimmen erklangen von fern. Wie ferngesteuert wandte er seinen Kopf und sah ein paar große Jungs am Ende der Gasse. Sie kamen direkt auf ihn zu. "Was gibt es denn?", fragte einer von ihnen, als sie neben ihm standen. „Da... da… da…“, stammelte Fawlik und deutete mit seinem Zeigefinger mehrmals auf den toten Körper.
"Ach, das!" Derjenige, der gesprochen hatte, trat an die Leiche heran und verdeckte sie wieder. Danach legte er eine Hand auf die Schulter des zitternden Kinds. „Hey, beruhige dich. Das wird dir mittlerweile hier noch öfter passieren. Die Stadtverwaltung ist einfach nur dumm."
"Was ... was ... was ... meinst du damit?", fragte Fawlik. Der Junge gab ihm die Hand und half ihm auf. "Hungersnot! Wer nichts hat, stirbt", erwiderte er und zuckte die Achseln.
***
So hatte er Tayar kennengelernt. Sein Gesicht war leicht staubig, genau wie seine Kleidung. Seine schwarzen kurzen Haare waren zerzaust, als wären sie lange nicht mehr gekämmt worden. An jenem Tag erfuhr er auch, dass es Kinder gab, die keine Eltern hatten.
Fawlik hatte die Jungen, die allesamt älter als er waren, bis zum Abend begleitet. Gemeinsam spielten sie Ball, und sie vergaßen die Zeit. Im Laufe des Tages fiel öfter der Name "Sayari".
Von Tayar erfuhr er, dass Kinder ohne Eltern in einem Waisenhaus aufwachsen, doch wenn niemand da ist, der das bezahlt, leben sie auf der Straße. Die Jungen sprachen von Sayari, als wäre sie ihre Mutter, und untereinander seien sie Brüder. Erst viel später hatte Fawlik verstanden, was sie damit meinten. Alle waren sie arm, und alle lebten sie ohne Eltern. Im Geiste waren sie Brüder!
Am Abend war der kleine Junge voller neuer Eindrücke nach Hause zurückgekehrt. Sein Vater war am Küchentisch gesessen und hatte Münzen aus Kupfer gezählt. "Das sind die Letzten", hatte er zu Fawliks Mutter gesagt, und der Junge hatte es hinter der Ecke gehört. "Wir müssen die Stadt verlassen. Ich verlor heute die Arbeit."
Geschockt und traurig schlich er in seine kleine Kammer, die sich am Eingang des Hauses befand. Fawlik wagte es nicht, seine Eltern zu stören, dabei hätte er so viele Fragen gehabt. Sorgfältig packte er seinen Ball in eine Truhe und deckte ihn zu. Würde er je wieder damit spielen können? Sähe er Tayar und seine Brüder jemals wieder? Waren auch seine Eltern nun arm?
Auf einem Schemel saß eine große Puppe aus Stoff. Es war ein Junge, und auch diese hatte ihm seine Mutter genäht. Leise schluchzend drückte er sie an sich. "Bin ich schuld, dass wir nun arm sind?", fragte er.
Ausdruckslose Augen starrten ihn an. In Fawlik reifte ein tragischer Entschluss.
Unter dem vorwurfsvollen Blick des Stoffjungen ging er zur Truhe und holte einen Lederbeutel heraus. Er packte ein paar Dinge zusammen und nahm die Puppe am Arm. "Wenn ich gehe, müssen sie nicht mehr hungern und können bleiben", flüsterte er ihr ins Ohr. "Aber dich nehm ich mit."
***
Die Suche nach Sham
Fawliks Reise in die Vergangenheit endete am Abend, bevor er den Männern aus Bharya die Welt zeigte, in der Tayar zu Hause war. Noch immer war er ein Kind, doch seine Seele war alt. Die Schuld begleitete ihn nun schon drei Jahre und machte auch aus heißen Sommern die Kälte des Winters, von dem er bisher nur aus den Erzählungen der Albabh erfuhr. Diese hatten die ganze Welt schon gesehen und fuhren zur See.
Es hatte Tage und Nächte gegeben, da wünschte er sich weit fort. Wenn die Bilder, wie seine Eltern im Treibsand verschwanden, ihn quälten, wünschte er sich, er wäre tot. Noch heute hatte er ihre Rufe im Ohr, doch verstockt, wie er an jenem Tag als kleiner Junge gewesen war, gab es für ihn keine Rückkehr. Fawlik war blindlings davongerannt, als wäre der Teufel hinter ihm her.
Wieder fand er sich in der Wüste. Dort war er gestrauchelt und sah, wie es geschah! "Komm sofort zurück!", hatte sein Vater mit strenger Stimme gerufen. Die Mutter stand neben ihm und spähte wie er in die Ferne. "Wir wissen, dass du hier irgendwo bist", schrie sie und weinte.
***
"Woher haben sie es gewusst?", fragte Jadar, als Fawlik seine Geschichte erzählte. Sie saßen im Freien am Feuer und hielten Wache.
Der Junge senkte den Blick. "Vermutlich sind sie meinen Spuren gefolgt." Als er wieder hochschaute, lag Qual in seinen Augen. "Das war auch alles, was mir von ihnen blieb." Gedankenverloren kritzelte er etwas mit den Fingern in der Asche rings um die Feuerstelle herum.
Sethos schaute ihm dabei zu. Im Schein der Flammen erkannte er Füße.
Wieder wurde ihm schwer ums Herz, wie bei dem kleinen Mädchen, das am Tag der Revolte in seinen Armen lag. 'Ein weiteres Opfer der Armut', dachte er zornig. 'Ein Opfer OkParas!' Mitleidig legte er dem Jungen eine Hand auf die Schulter und drückte sie stumm. Dankbar blickte Fawlik ihn an. "Ich danke Euch!", sprach er mit einer Stimme, die sehr erwachsen klang. Sein Antlitz wirkte verkantet und schmal, so als wäre er der älteste Mann dieser Welt.
"Fawlik, ich muss dich was fragen." Jadars Stimme klang sanft. Der Prinz wartete, bis er die volle Aufmerksamkeit des Jungen hatte und fuhr dann fort: "Woher hattest du meine zwei Börsen?"
"Ich hatte Hunger", erklärte er schlicht auf die Frage. Betretenes Schweigen trat ein.
Nachdenklich blickte Jadar ihn an. "Und warum hast du sie wieder zurück gebracht?", fragte er nach einem kleinen Moment, in dem nur das Knistern der Flammen zu hören war. Fawlik zuckte die Schultern. Jadar ließ es dabei bewenden, erhob sich und ging in sein Zelt.
Als er wieder zurück kam, warf er dem Jungen ein Paar Beinkleider und eine saubere Tadya hin. "Wir gehen baden, Kleiner!", sprach er. "Morgen haben wir mit dir etwas vor."
***
Am nächsten Tag war Fawlik ein neuer Mensch. Jadar hatte ihm sogar den Umgang mit einem Rasiermesser gezeigt, und so fiel sein erster Flaum diesem zum Opfer. Stolz spiegelte er sich in einer Scherbe.
Im Laufe des Vormittags, den er mit den bharyanischen Mahari verbrachte, fand Fawlik heraus, dass der Prinz im selben Alter wie Tayar war und somit nur etwas älter als er. "Nun, Söhnchen", sprach Jadar ihn dann auch an und Fawlik musste darüber lachen. "Wolltest du mir nicht noch etwas erzählen? Du kennst dich doch bestimmt besser hier aus." Der Prinz erzählte ihm von Shams Verschwinden und fragte ihn, was er davon halte. Fawlik legte den Zeigefinger an die Nase und überlegte. "Die Adelsviertel sind untertunnelt, wusstet Ihr das?" Der Junge nahm einen Stock und begann wie am Vorabend zu zeichnen.
Als er damit fertig war, befand sich eine Skizze im Sand. Sie zeigte den Aufbau der Stadt. "Hier links ist ein künstlicher Hügel", erklärte Fawlik. "Der letzte Statthalter war so vermessen, ihn nach sich selbst zu benennen: Dschabal OkPara."
Er grinste verwegen und zeigte auf dessen Spitze. "Dort steht sein Haus." Fawlik malte weitere Gebäude dazu. "Links und rechts sind die Häuser des Adels. Sie sind nach den Rängen der Bewohner gebaut."
Erstaunt sah Jadar ihn an und setzte sich neben ihn. "Nach Rängen?", hakte er nach.
"Ja." Fawlik deutete auf das erste Haus unten am Berg. "Man könnte sagen, das ist der Ärmste. Je weiter es hinauf geht, umso besser lässt sich auf Status und Wohlstand schließen. Logischerweise steht OkPara dann an der Spitze. Die Straße, die dort hinauf geht, ist auch die einzige, die regelmäßig gepflegt wird."
"Woher weißt du das alles?" Misstrauisch sah Jadar ihn an. Der Junge klang wie ein Gelehrter.
"Jeder von Sayaris Kindern weiß darüber Bescheid", erwiderte Fawlik. "Wir mussten es lernen."
"Und was hat es mit den Tunnels auf sich?", fragte der Prinz. Fawlik zeichnete ein paar wirre Linien in den Berg hinein. "Der Dschabal OkPara ist der höchste Punkt dieser Stadt. So wie Sayari uns lehrte, ist er von Menschenhand. Im Inneren verbirgt sich ein weit verzweigtes Höhlensystem, das angeblich sogar bis nach Shallalah Hafen reicht."
Im späten Abendrot desselben Tages führte Fawlik zwölf Männer zum Haus von OkPara. Er vermutete, dass Sham mitsamt seinem Hausstand am Tag der Aufstände durch einen Geheimgang geflüchtet war.
Beim Anblick der Menagerie, die sich der Almadin auf seinem Gelände anlegen ließ, verzog Jadar sein Gesicht zu einer verächtlichen Fratze. "Nicht genug, dass er sein Volk in den Ruin und zudem in den Wahnsinn treibt, nein, er braucht auch noch teure Exoten." Die Tiere befanden sich mittlerweile in einem erbärmlichen Zustand.
Sethos nickte besonnen. "OkPara war viel zu lang Herr dieser Stadt." Er streifte den Prinzen mit einem Seitenblick. "Darum können wir uns aber nicht kümmern. Wir haben genug mit den Menschen zu tun."
"Und ob wir das können!", brauste der junge Thronfolger auf. "Männer!", schrie er, "öffnet die Türen und lasst sie frei!"
***
Jadars Befehl wurde ausgeführt. Ein riesiger Schwarm Vögel stob tschilpend gen Himmel und glitzerte wenig später bunt vor der rotgoldenen Sonne am Horizont. Für einen Moment war das letzte Licht des Abends verdunkelt. Die Mahari zündeten Fackeln an.
Fawlik trat an die geöffneten Volieren. "An Freiheit können sie sich nicht mehr gewöhnen", sagte er kummervoll und deutete auf die verbliebenen Tiere, die mit hängendem Gefieder auf ihren Stangen saßen. Kleine schwarze Augen starrten stumm vor sich hin.
Sethos trat hinter ihn und griff den Jungen an beiden Schultern. "Ihre Flügel wurden gestutzt, ohne dass sie es wussten. Diese Vögel haben das Leben in Freiheit nie kennengelernt." Er führte ihn weg und übergab Fawlik der Obhut von Aron. "Was ich jetzt tue, ist nicht für seine Augen bestimmt", raunte er diesem ins Ohr.
Wenig später war der Boden in den Käfigen übersät von kleinen Vogelleichen. "OkParas gefiederte Sklaven", flüsterte Jadar und bekam eine Gänsehaut. Sein Blick glitt zu einer großen Voliere in Pagodenform. Sie stand etwas abseits und war noch verschlossen.
Er querte den Platz und trat vor sie hin. Ein riesiger Adler breitete seine Flügel aus und stieß einen heiseren Schrei aus. Langsam griff Jadar zum Riegel, der die Türen verschloss, und schob ihn beiseite.
Das Tier sprang auf seine Schulter und schrie erneut. Wie in Zeitlupe hob der Prinz seinen Arm. "Flieg!", raunte er, doch der Adler kletterte nur auf seine Hand.
"Passt auf, dass er Euch nicht verletzt", warnte Mersun, ein Mahari, der alles sah. Jadar schüttelte mit dem Kopf. "Das wird er nicht, und wenn, dann halte ich das auch aus."
***
Überarbeitungsphase
Fortsetzung folgt
Die Stadt Nifaya
Nachdem die Schlacht gegen die Kraji vorüber war, stellte Jadar eintausend Männer ab um in dem Dorf Ordnung zu schaffen und die Überbleibsel der Schlacht wegzuschaffen. Der Rest der Männer schickte Jadar wieder zurück in die Hauptstadt. Er und Sethos jedoch begaben sich in Richtung Nifaya.
„Sethos, ich bin froh, dass Ihr hier seid. Mein Vater wollte Nifaya noch einen Besuch abstatten. Er hält es für nicht tragbar, dass die Stadt mit den Kraji nicht alleine fertig wurde“, sagte er in Sethos Richtung, während sie auf ihren Kamelen auf die Stadt zuritten.
„Mit deiner Erlaubnis. Es handelt sich bei Nifaya um eine Stadt von Schwächlingen. Das einzige, was sie wirklich können ist Handel betreiben“, erwiderte Sethos abwertend.
„Wenn es wirklich so ist, dann sollte man darüber nachdenken Nifaya zu stärken. Immerhin hat es die Grenzen der Wüste zu verteidigen“, erwiderte Jadar nachdenklich.
Jadar und Sethos kamen auf die Stadtmauer zu. Sie sahen aus der Ferne einige Menschen, die mit gefüllten Karren, in die Stadt fuhren.
„Vermutlich hattet Ihr nicht ganz unrecht mit dem Handel in dieser Stadt“, sagte Jadar und grinste vor sich hin.
Die beiden näherten sich der Stadt und durchschritten mit ihren Kamelen das Tor zur Stadt. Dort erwartete sie ein seltsamer Anblick.
Die Menschen folgten alle der Hauptstraße und die Sandsteinbauten an der Straße waren auch gut erhalten. Wenn ihr Blick jedoch in die Gassen führte, erkannten sie allerhand Müll und auch die Häuser sahen dreckig und alt aus. In manchen Gassen saßen sogar Menschen an den Wänden die ihre Köpfe gesenkt hielten und eine Flasche in den Händen hielten.
„Was ist denn hier los? Wie kann es sein, dass Menschen in den Gassen zwischen dem Müll sitzen?“, fragte Jadar entsetzt.
„Das liegt vermutlich daran, dass die Händler immer reicher werden“, kam es kurz und knapp zurück.
„Ich muss dringend mit dem jetzigen Herrscher der Stadt sprechen.“
Als sie die lange Hauptstraße durchschritten hatten, gelangten sie an einen mehr als großen Marktplatz, auf dessen Mitte ein Brunnen aufgestellt wurde, auf dem eine Statue von Okpara in jüngeren Jahren stand. Die Statue blickte stolz und erhaben über den Platz. Soweit das Auge reichte, konnten die beiden bunte Händlerstände erblicken. Der Platz war voll mit Menschen, die sich an den Ständen drängten. Es war ein Wunder, dass niemand niedergetrampelt wurde. Jadar und Sethos stiegen von ihren Kamelen und griffen nach den Zügeln um sie langsam durch die Menschenmenge zu führen. In den Städten war es üblich, dass die Häuser der Stadtverwalter und die Gebäude der reicheren Familien gegenüber der Haupttore erbaut wurden. Hinter dem Marktplatz angekommen, führte eine breite Straße sie weiter. Nach einem kurzen Fußmarsch wurden die Gebäude größer und größer. Die Gebäude wurden gepflegter und an manchen Hauswänden konnte man grazile Verschnörkelungen in Form von Mustern ausmachen. Mit Erstaunen betrachtete Jadar die Hauswände, während sie daran vorbei gingen. Aus einer Gasse kam plötzlich ein Schatten herausgeschossen und versuchte aus Jadar seiner Tasche, die am Kamel hing, etwas heraus zu fischen. Sethos wandte sich geistesgegenwärtig dem Schatten zu und ergriff diesen. Jadar wand sich rasch herum und musterte den Jungen, der vielleicht gerade einmal zehn Jahre alt war. Der Junge hatte schwarzes durchgewuscheltes Haar und dunkel braune Augen. Sowohl seine Kleidung, als auch der Rest von ihm hätten ein dringendes Bad nötig gehabt.
„Was geht denn hier vor?“, fragte Jadar empört.
Der Junge, der von Sethos seinen großen Händen festgehalten wurde, versuchte sich aus seinem Griff mit allen Mitteln zu befreien. Als er bemerkte, dass dies keinen Sinn machte, senkte er den Kopf.
„Herr, ich hatte gehofft ihr habt Münzen, denn ich habe Hunger“, sagte der Junge leise.
„Wie heißt du, Junge?“, fragte Jadar daraufhin.
„Fawlik und ich bin allein, habe nur meinen großen Bruder und seine Freunde.“
Jadar nickte auf die Ausführungen des Jungen hin. Er blickte zu Sethos hinüber.
„So etwas darf es hier nicht geben. Fawlik, wenn du möchtest kannst du mit mir kommen und mir mehr erzählen. Dafür würde ich dir etwas zu essen geben. Sehe es als Bezahlung.“
Fawlik nickte mehrfach schnell nacheinander Jadar entgegen. Sethos löste daraufhin seinen Griff und blickte Fawlik mit einem scharfen Blick an.
„Danke Herr. Was wollt ihr denn wissen?“, fragte er neugierig.
„Ich denke, dass du dich sicher hier in der Stadt gut auskennst und kannst mir sicher sagen, was hier in der Stadt vorgeht,“ antwortete Jadar, während er sein Kamel an Sethos reichte.
„Ja. Das kann ich, aber erst will ich was zu essen haben,“ sagte Fawlik. Jadar fuhr ein Grinsen über das Gesicht und deutete Sethos an zu warten. Jadar wandte sich um und ging in Richtung des Marktes los. Fawlik blickte kurz zu Sethos, ehe er sich schnell umdrehte und Jadar folgte. Die beiden gingen gemeinsam auf den Markt. Jadar trat an einen Stand heran hinter dem ein korpulenter, bunt gekleideter Mann stand. Er besorgte Fawlik Brot und mehrere Granatäpfel bei dem Verkäufer. Fawlik machte große Augen, als er das Essen entgegennahm.
„Danke, Herr“, sagte er voller Freude in der Stimme.
Jadar wandte sich wieder zurück, um in die Richtung von Sethos zu gehen. Fawlik folgte ihm und biss dabei genüsslich in das Brot hinein.
„Ich hoffe es schmeckt dir. Kannst du mir sagen, was hier in der Stadt vorgeht? Ich habe einige gesehen die mir sehr arm erscheinen und dann dich, der sich sein Essen stehlen muss. Ich kann dies nicht verstehen, da es anscheinend hier doch genug Menschen mit ausreichend Münzen gibt,“ sagte Jadar.
„Nun… jam… Die Händler sind egoistisch und denken nur an sich… Als meine Eltern starben, waren mein Bruder und ich allen egal… Es gibt viele die zum Überleben stehlen müssen … Aber Sayari kümmert sich um uns und wenn wir ihr viele Münzen bringen, dann bekommen wir viel essen“, erklärte er mit einem schmatzen.
'Sayari ist also die Person, die hier den Untergrund kontrolliert. Dass es so etwas gibt, hätte ich mir denken können bei dieser Kluft zwischen Arm und Reich. Es wird Zeit mit dem amtierenden Herrscher zu reden', dachte Jadar.
„Fawlik, ich möchte, dass du mit uns zum Stadtverwalter kommst und ihm auch das sagst, was du mir gerade gesagt hast.“
„Aber der weiß das doch bereits… Er macht nichts gegen den Hunger…“, erwiderte Fawlik mit einem seufzen. Jadar sein Blick spiegelte ein leichtes Entsetzen wieder, als er die Worte von Fawlik vernahm. Als sie bei Sethos ankamen, deutete Jadar ihm an, dass er ihm folgen soll. Die drei marschierten die Straße entlang, grade Wegs auf das größte Gebäude der Stadt zu. Das Gebäude ähnelte dem Königspalast in seiner protzigen Gestalt. Umrandet wurde es von einer Sandsteinmauer. Die drei traten zu dem Metallgitter, wo zwei eher magere Gestalten Wache standen. Die beiden blickten die drei Personen an und hoben ihnen eine Hand entgegen.
„Halt, wer seid ihr und was wollt ihr hier?“, fragte einer der beiden.
„Ich bin Jadar El Hadary, Thronfolger des Königs Khnemu und zurzeit König der Medin Wüste bis mein ehrenwerter Vater gesundet ist“, verkündete er.
Die beiden Wachen vielen vor ihm auf die Knie und drückten ihre Stirn in den Sand.
„Es tut uns leid, dass wir euch nicht erkannt haben“, sagte einer von ihnen.
„Steht auf und öffnet das Tor. Ich will mit mit dem amtierenden Stadtherrscher sprechen um diese Stadt zu retten.“
„Herr, Okpara ist von dem Treffen mit eurem Vater nicht zurückgekehrt. Sein Sohn Sham hat nun solange Okpara nicht wiederkehrt das sagen.“
Die Wachen öffneten das Tor und ließen die drei hindurch. Sethos brachte die Kamele in Richtung Stallungen. Er übergab die Kamele dem Stalljungen um dann zu den anderen am Haupteingang zurückzukehren.
Jadar klopfte an der Türe und nach wenigen Augenblicken öffnete eine Kraji die Türe und blickte hinaus. Sowohl Jadar, als auch Sethos begaben sich spontan in Kampfposition. Fawlik stand hinter den beiden und aß genüsslich eine der Granatäpfel.
„Was kann ich für euch tun?“, fragte die Kraji mit einem gebrochenen Medinisch. Jadar und Sethos blickten sich kurz fragend an.
„Ihr seid unser Feind!“, brüllte Sethos, ehe Jadar etwas antworten konnte.
„Nun, Herr, wir dienen Okpara und zurzeit seinem Sohn Sham. Wir sind keine Gefahr für euch. Seht selbst“, sagte die Kraji, bevor sie ihre behaarten Hände vorstreckte, woran die Krallen so kurzgehalten wurden, dass sie kaum noch zu sehen waren. Ebenfalls trug die Kraji ein Halsband aus Metall um den Hals. Jadar und Sethos entspannten sich ein wenig und nickten.
„Ich bin Jadar El Hadary, Thronfolger des Königs Khnemu und ich möchte umgehend mit Sham reden.“
Die Kraji nickte kurz und öffnete die Türe komplett, damit die drei eintreten konnten. Sie kamen in eine Eingangshalle, die geschmückt war mit prunkvollen Seidenteppichen und Gemälden. Es gingen mehrere Kraji durch die Halle, als sie hindurchtraten, um der Kraji zu folgen. Jadar blickte etwas verdutzt, als er nur weibliche Dienerinnen erspähte.
„Gibt es hier nur weibliche Kraji?“, fragte er.
„Ja unser Herr hat eines unserer Dörfer überfallen lassen, als unsere Männer auf der Jagd waren. Sie haben die alten umgebracht und uns Frauen gefangen genommen. Seitdem sind wir hier und dienen unserem Herrn“, erklärte sie mit einem leicht frustrierten, aber auch traurigem Unterton. Sie führte die Gäste in eine Art Besprechungsraum. In der Mitte stand ein Tisch mit mehreren Stühlen und auf ihm ein Krug gefüllt mit Wasser. An den Wänden standen mehrere Bücherregale, gefüllt mit den unterschiedlichsten Niederschriften.
„Setzt euch, Sham wird in Kürze bei euch sein.“ Die Kraji wandte sich um, schloss die Türe und verließ den Raum.
Jadar, Sethos und Fawlik setzten sich an den Tisch und warteten ab.
„Vermutlich haben die Kraji deshalb das Dorf eingenommen. Sie wollten ihre Frauen zurückholen“, sagte Sethos in Jadar seine Richtung. Jadar schien kurz nachdenklich, ehe er auf die Worte von Sethos nickte.
„Ich glaube, dass wir hier etwas länger benötigen werden, als ich dachte. Sethos kümmert euch bitte nach unserem Gespräch darum, dass ein Bote nach Bariya geschickt wird. Der soll dort meinem Bruder ausrichten, dass ich etwas länger unterwegs sein werde, da es hier die Umstände erfordern.“
Sethos nickte. Daraufhin öffnete sich die Türe und ein Herr trat ein der ein Lächeln auf den Lippen trug. Der Herr war etwas rundlicher und trug recht auffällig bunte Kleidung. Er hatte sich ein paar Glöckchen in die Kleidung nähen lassen, die bei jedem seiner Schritte erklangen. Die drei beobachteten, wie er durch den Raum ging und sich auf einem Stuhl niederließ.
„Ich bin Sham und vertrete meinen Vater bis er wieder zurückkommt. Was kann ich für den Prinzen tun?“, fragte er mit einer etwas belustigten Stimme.
„Zuerst einmal, glaube ich nicht, dass euer ehrenwerter Vater zurückkommen wird und das tut mir leid. Es bleibt jedoch keine Zeit für Trauer eure Stadt braucht euch und hier muss sich einiges ändern! Es geht nicht, dass die Leute Hungern und in den Gassen sitzen und sich mit Alkohol betrinken. Die Kluft in eurer Stadt zwischen arm und reich ist viel zu gewaltig! Und ihr lauft rum wie jemand der andere bespaßen will. Dies gehört sich nicht für einen Verwalter! Und Soldaten habe ich hier in der Stadt noch gar nicht gesehen. Eure Torwachen sind jämmerlich! Meine Soldaten und ich haben Euer Dorf von den Kraji befreit, wobei ich glaube, dass die nur gekommen sind, weil Ihr deren Frauen als Sklaven genommen habt! Aus diesem Grund werden wir die Kraji wieder freigeben und sie sollen aus unserer Wüste verschwinden!“, Jadar schlug mit der Faust auf den Tisch und Sham entglitt sein Gesicht, das Lächeln verschwand und Schweiß trat auf seiner Stirn zum Vorschein.
„Euer Vater weiß von den Sklaven…“, erwiderte er leise.
Nun konnte Jadar seine ernste Miene nicht behalten und seine Augen verrieten einen kurzen Schmerz in seinem Herzen.
„Nun, unter diesen Umständen, wird das mit den Sklaven vorerst beibehalten. Die anderen Themen werden dennoch in Angriff genommen! Ich werde euch dabei unterstützen! Und als aller erstes geht und zieht euch etwas Vernünftiges an. Schickt mit bitte einen Boten und eine eurer Dienerinnen, einer von uns dreien braucht dringend ein Bad und neue Kleidung.“
Fawlik verzog kurz sein Gesicht und blickte Jadar mit einem vernichtenden Blick an. Sham nickte knapp und erhob sich rasch, um den Raum schnellstmöglich zu verlassen. Er rannte nahezu zur Türe und öffnete diese und rief seine Dienerinnen zu sich während er die Türe hinter sich schloss. Kaum war die Türe ins Schloss gefallen, wurde sie auch bereits wieder geöffnet. Eine verschleierte Dame trat in den Raum hinein und nickte den Anwesenden kurz zu.
„Ich habe gehört, dass hier jemand gebadet und neu eingekleidet werden soll“, sagte sie mit einem schon fast freudigen Unterton.
Jadar und Sethos deuteten beide auf Fawlik, der die Arme vor der Brust verschränkte. Die Dame nickte knapp und ein leises Kichern war zu vernehmen, ehe sie sich zu Fawlik hinunter beugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte, was für die anderen unhörbar war. Fawlik riss die Augen auf und nickt dann, er erhob sich rasch von seinem Stuhl, um der Dame aus dem Raum zu folgen.
„Was hat sie ihm wohl gesagt?“, warf Sethos in den Raum.
„Vielleicht hat sie ihm gesagt, dass sie mit ihm baden gehen wird“, erwiderte Jadar.
„Dann würde ich auch gerne baden gehen!“ Sethos und Jadar grinsten beide vor sich hin, ehe die Tür sich erneut öffnete und der Bote eintrat um seine Nachricht für Bariya entgegen zu nehmen.
Einige Zeit später kam Sham zurück in den Raum mit einer ansehnlich dunkelblauen Seidenrobe und setzte sich Sethos und Jadar gegenüber.
„Wunderbar, so sieht das ganze schon besser aus und nun können wir beginnen. Zu aller erst möchte ich wissen, wo eure Soldaten und Wachen ausgebildet werden und von wem“, sagte Jadar.
„Nun Herr, wir hatten zwar mal ein Übungsplatz, aber nachdem hier so viel Handel betrieben wird, wurde der Platz nicht mehr benutzt, da wir kaum jemanden mehr rekrutieren konnten und einen wirklichen Ausbilder gibt es hier auch nicht mehr,“ erklärte Sham. Jadar traten beinahe die Augen aus ihren Höhlen.
„Was!? Das ist doch wohl die Höhe! Wir sind die Söhne der Sonne und mussten immer um unser Überleben kämpfen! Das kann man nur, wenn man stark ist und nicht, wie ein Händler, der sich nur bereichern will!“ Jadar wandte sich Sethos zu.
„Ich möchte, dass Ihr hier in dieser Stadt vernünftige Soldaten findet und ausbildet.“ Sethos nickte und hob leicht einen Mundwinkel.
„Sehr gerne, ich werde diese verweichlichten Wüstensöhne schon zu harten Männern machen.“ Daraufhin erhob sich Sethos und trat aus dem Raum heraus, um sich gleich ans Werk zu machen.
„Damit haben wir das mit den Wachen schon einmal abgehakt und Sethos wird sich darum kümmern. Ich nehme an ihr wisst von Sayari?“
„Nun Herr, ich habe den Namen schon von meinem Vater gehört, aber was es genau damit auf sich hat kann ich nicht sagen.“
„Ihr wisst nicht einmal, was in eurer Stadt vorgeht! Ich bin erst heute hier angekommen und weiß bereits mehr als ihr! Sayari ist die Person, die Euren Untergrund anführt, wenn man es so ausdrücken kann. Das heißt wir müssen zu ihr und Verhandlungen aufnehmen. Und ihr müsst ihr etwas anbieten, damit die Armen in eurer Stadt vernünftig leben können. Das wird aber eure Aufgabe sein! Also denkt darüber nach und ich werde mich um ein Treffen mit Sayari bemühen. Aber zuvor gehe ich mit euch durch eure Stadt, denn Ihr sollt selbst sehen, wie Euer Volk lebt!“ Sham bekam große Augen und schluckte auf die Worte hin schwer, nickte aber. Die beiden Männer erhoben sich von ihren Plätzen und öffneten gerade die Türe des Raumes, als Fawlik vor ihnen stand.
„Nun sieht man wenigstens dein Gesicht und deine Kleidung ist angemessen“, kam es von Jadar. Fawlik verzog kurz das Gesicht.
„Ich bin sowas weiches nicht gewohnt…“, erwiderte er.
„Du wirst dich daran gewöhnen, aber gut das du da bist. Ich will Sham nun seine eigene Stadt zeigen und ich möchte, dass du uns führst du kennst dich am besten aus und weißt, wo du uns zeigen kannst, wie manch einer hier lebt.“
Fawlik nickte ihm entgegen. Jadar ging mit Fawlik voraus und Sham folgte ihnen zögernden Schrittes.
Die drei traten hinaus in die Stadt und Fawlik ging mit ihnen abseits der Hauptstraße durch die Gassen. Je weiter sie Richtung Stadttore gelangten, desto dreckiger und stickiger wurden die Gassen. Erst war es nur Müll, dann wurden es Ratten und zu guter Schluss, Menschen, die teilweise in ihrem eigenen Erbrochenen lagen. Sham musste sich stark zusammenreißen, damit er sich nicht selbst übergeben musste. Aber es waren nicht nur die Gassen, die herunter gekommener wirkten, sondern auch die Gebäude. Manche hatten nicht einmal mehr eine Tür und dennoch hörte man Menschen darin. Jadar schüttelte ungläubig den Kopf.
„Siehst du nun, wie heruntergekommen deine Stadt ist? Diese Menschen können sich kaum etwas kaufen, weil eure Händler die Preise so hochtreiben, dass es sich niemand mehr leisten kann“, erklärte Jadar. Sham senkte leicht sein Haupt und nickte knapp.
„Aber, was soll ich dagegen tun?“
„Führe Gesetze ein die eine Höchstgrenze für die Produkte der Händler festsetzen. Die Händler werden sich wehren, da sie weniger verdienen, aber die Armen werden es dir danken, da sie sich etwas leisten können, aber dazu musst du zuvor jedem Armen einen bestimmten Betrag zugestehen, womit er anfangen kann wieder auf die Beine zu kommen. Verstehst du?“
„Ja Herr, ich verstehe.“
„Und er sollte darüber nachdenken ein Haus für Waisen in der Stadt aufzumachen!“, rief Fawlik.
Jadar schmunzelte kurz und nickte zu seinen Worten.
„Weise Worte mein Junge. Sham, wie oft bekommt ihr Warenlieferungen aus Tadiry die euch mit den Grundnahrungsmitteln versorgen?“, fragte Jadar.
„Alle drei Tage Herr.“
„Gut, dann schicke einen Boten nach Tadiry. Sie sollen mit der nächsten Lieferung, dass doppelte oder Dreifache an euch liefern und ihr habt dann die Aufgabe, die Lieferung an die Armen zu verteilen.“ Sham seine Augen wurden groß.
„Ich soll es umsonst abgeben?“
„Willst du das dein Volk und deine Stadt überlebt? Wenn ja dann tust du, was ich dir sage.“
Sham nickte unterwürfig und folgte Jadar weiter. Die drei gingen noch eine Weile durch Gassen. Sie stießen, auf bereits verhungerte, die niemand beachtete. Jadars blick wurde traurig bei dem Anblick.
'Wie kann es sein, dass man eine Stadt so verkommen lässt. Nun müssen wir zusehen, dass wir hier etwas Neues entstehen lassen.'
Die Gruppe verließ die Gassen, nachdem Fawlik ihnen alles gezeigt hatte. Sie zogen sich in Sham sein Verwaltungsgebäude zurück, wo die Dienerschaft für die Gäste bereits Zimmer eingerichtet hatten.
Der Sonnenuntergang näherte sich und Jadar, Sethos, Fawlik und Sham saßen an einer großen Tafel um das Abendessen zu sich zu nehmen. Es gab alles, was man sich nur vorstellen konnte. Schweine- und Rindfleisch, eine Gans, Wachteln, Brot und verschiedenste Obstsorten. Alle griffen zu und genossen das Mahl.
„Sham du hast heute gesehen, wie es um deine Stadt steht. Wie gedenkst du das Ganze zu lösen?“, fragte Jadar.
„Nun, ich werde das mit der Nahrungslieferung so organisieren wie ihr es vorgeschlagen habt. Ich denke, dass wir versuchen sollten Familien in das von euch befreite Dorf umzusiedeln und ich werde eure Vorschläge von Gesetzen umsetzen“, antwortete Sham.
„Das mit dem umsiedeln ist eine gute Idee und wie gedenkt ihr dies umzusetzen?“ Sham zuckte nur mit den Achseln auf diese Frage hin und Jadar konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, er wandte sich an Sethos.
„Und wie ist es um die Mahari bestellt?“
„Nicht sonderlich. Es sind alles Schwächlinge. Es wird eine ganze Zeit dauern aus ihnen richtige Mahari zu machen, aber zuvor müssen wir den Trainingsplatz säubern und neu einrichten.“ Jadar nickte auf die Ausführungen hin.
„Sofern es länger dauert, würde ich dich bitten hier zu bleiben bis ordentliche Mahari ausgebildet sind und im Anschluss deinen Nachfolger zu wählen, damit du mit den Männern, die das Dorf reinigen, gemeinsam nach Hause kommen kannst. Zuvor sollten wir sie nicht abziehen, da es zu gefährlich wäre.“ Sethos nickt und schiebt sich daraufhin ein Stück Fleisch in den Mund. Jadar drehte sich in die Richtung von Fawlik.
„Nun brauche ich deine Hilfe. Ich möchte, dass du zu Sayari gehst und mit ihr ein Treffen mit uns ausmachst. Traust du dir das zu?“ Fawlik der gerade den Mund voll hatte, schluckte schwer alles hinunter und hustete kurz auf, bevor er einen Schluck trank.
„Ja, ich traue es mir zu und werde euch nicht enttäuschen!“, sagte er stolz darauf. Jadar nickte ihm entgegen.
„Ich werde mich auf dich verlassen“, ermunterte ihn Jadar. Nachdem sie ihre Teller geleert hatten, gingen sie auf ihre Zimmer und ließen den Abend ausklingen. Jadar lag in seinem Bett und blickte zur Raumdecke.
'Ich hoffe, dass mein Vater auf mich stolz sein wird und das hier alles funktionieren wird. Denn wenn nicht, dann kann ich mich vor meinem Vater nicht mehr blicken lassen…'
Als seine Gedanken langsam abflachten, schloss er die Augen und schlief ein.
Am nächsten Morgen, saßen sie zu dritt beim Frühstück, da Fawlik bereits vor Sonnenaufgang das Haus verlassen hatte um seine Aufgabe zu erfüllen. Es war wie gewohnt wieder ein sehr füllendes Festmahl. „Es ist falsch…“, sagte Jadar und die anderen beiden blickten ihn fragend an.
„Es ist falsch, dass wir uns hier den Bauch vollschlagen, während andere in dieser Stadt den Hungertod sterben.“ Sham blickte Jadar mit einem schamvollen Ausdruck an.
„Aber das wird sich auch wieder ändern. Ich weiß, dass ihr ein gütiges Herz habt und am liebsten sofort alles ändern wollt“, erwiderte Sethos darauf hin. Jadar nickte mit einem tiefen seufzen.
Jahr 22, Sommer bis Winter, Athyrianischer Zeitrechnung
Der Junge Fawlik
Fawlik erwachte in seinem Elternhaus in Nifaya. Die Sonnenstrahlen schienen durch sein Fenster und die Wärme stand in der Luft. Er erhob sich aus seinem Bett und streckte sich ausgiebig mit einem Gähnen. Fawlik trat aus seinem Zimmer heraus und marschierte die Treppe hinunter. Sein Vater war gerade auf dem Weg aus der Türe hinaus.
„Guten Morgen Vater und viel Erfolg bei der Arbeit!“, rief er ihm noch hinterher.
„Dir auch einen guten Morgen mein Sohn“, antwortete der Vater ihm, bevor er seinen Kopf wandte um ihn anzulächeln. Der Vater schloss die Haustüre. Fawlik ging zu seiner rechten durch den Wohnraum in die Küche hinein, wo seine Mutter stand und gerade frisches Brot backte.
„Das riecht aber gut, Mutter. Ich hätte gerne etwas von dem frischen Brot.“
„Das braucht noch ein bisschen mein Sohn. Außerdem haben wir auch noch Brot von gestern und das muss auch gegessen werden, vor allem da die Preise immer höher steigen und ich bald nicht einmal mehr weiß, wie ich noch Brot backen soll“, erklärte die Mutter.
Fawliks Blick wurde trotzig, aber dieser Ausdruck verflog schnell wieder. Er setzte sich an den Esstisch, worauf sich bereits das Brot vom Vortag befand. Er schnappte sich das Brot und begann zu essen.
Nachdem er genug gegessen hatte, blieb er noch einige Minuten sitzen.
„Mama? Ist es in Ordnung, wenn ich raus gehe zum Spielen?“ Seine Mutter blickte ihn kurz an ehe sie nickte.
„Sei aber wieder daheim bevor es dunkel wird.“ Fawlik legte ein Lächeln auf die Lippen und nickte ihr entgegen. Er stand auf und lief hinaus.
Fawliks Familienhaus lag recht nahe der Hauptstraße und er konnte bereits vor der Haustüre das Geschrei der Marktschreier vernehmen. Dies interessierte ihn recht wenig und er durchstreifte die Gassen der Stadt auf der Suche nach Spielkameraden. Nachdem er um einige Ecken gebogen ist sah er in einer Gasse Beine unter einer Decke herausragen. Voller Neugier ging er darauf zu und musterte die Beine. Er war sich unschlüssig, ob er darunter schauen wollte, aber seine Neugier siegte und er hob die Decke an. Darunter lag ein abgemagerter männlicher Körper mit aufgerissenen leeren Augen und offenstehendem Mund.
„AHHH!“, rief Fawlik und stolperte ein paar Schritte zurück und viel auf den Hosenboden. Nach seinem Aufschrei konnte er Stimmen auf sich zukommen hören. Sie klangen nicht erwachsen, aber auch nicht so jung wie er. Er war durch den Anblick immer noch erstarrt und kurze Zeit später standen fünf Jugendliche Jungs um ihn herum die in etwa fünf bis sechs Jahre älter waren als Fawlik.
„Da... da… da…“, stammelte Fawlik. Einer der Jungen trat an die Leiche heran und verdeckte diese wieder. Er begab sich neben Fawlik in die Hocke und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Hey, beruhige dich. Das wird dir mittlerweile hier öfters passieren, da der Stadtverwalter und die Händler einfach nur dumm sind“, erklärte der Junge. Fawlik blickte den jungen an der ihn anlächelte. Sein Gesicht leicht staubig, genau wie seine Kleidung. Seine schwarzen kurzen Haare waren zerzaust, als wären sie lange nicht mehr gekämmt worden.
„Ich bin Tayar und die anderen sind meine Brüder,“ lächelte er und hielt Fawlik eine Hand hin um ihm aufzuhelfen.
„Ich bin Fawlik“, erwiderte er und ließ sich aufhelfen.
„Jungs, das ist Fawlik. Ich werde mich nun ein wenig um ihn kümmern und ihr macht weiter, so wie Sayari es gesagt hat.“
Die Jungen nickten und wandten sich von Fawlik und Tayar ab. Sie gingen die Gasse entlang und verschwanden zwischen den Gebäuden.
„Wer ist diese Sayari?“, fragte Fawlik neugierig.
„Sie ist so etwas wie unsere Mutter. Sie sorgt dafür, dass wir was zu essen bekommen und dafür übernehmen wir Aufgaben für sie. Du musst wissen, dass wir alle kein wirkliches Zuhause mehr haben.“
„Wie kann man denn kein Zuhause haben? Was ist mit euren Eltern?“
„Wir haben keine Eltern. Wir haben nur Sayari. Wir sind in einem Waisenhaus aufgewachsen, aber dieses existiert nicht mehr, da man die Münzen dafür nicht mehr hatte.“
Fawlik blickte ihn mit großen Augen an.
„Magst du mit mir etwas spielen? Verstecken? Oder ich habe einen Ball zuhause den ich holen könnte.“
Tayar blickte Fawlik kurz nachdenklich an.
„Ich habe aber nicht so viel Zeit, da ich auch noch etwas erledigen muss“, erwiderte er.
„Oh … Na gut, also du spielst mit mir eine Weile und dafür helfe ich dir bei deiner Aufgabe?“, fragte Fawlik freudig heraus, als er seine Hände hinter dem Kopf grinsend verschränkte.
Tayar grinste kurz ehe er Fawlik durch das Haar strobelte und nickte.
Fawlik machte sich mit Tayar zusammen auf den Weg zurück zu seinem Elternhaus und holte einen Ball heraus mit dem die beiden gemeinsam spielen konnten. Tayar blickte das Gebäude von außen abschätzend an. Als Fawlik mit dem Ball vor ihm stand legte sich eine lächelnde Mine auf Tayars Gesicht.
„Dann mal los und zeig mir was du kannst kleiner!“, rief Tayar und nahm den Ball um ihn herum zu kicken. Fawlik stand kurz mit offenem Mund da, bevor er dann lachend hinterherlief und versuchte ihm den Ball abzunehmen.
Nach einigen Stunden, als die Sonne bereits tief stand, erstarrte Tayar mit dem Blick zum Himmel.
„Verdammt, ich habe die Zeit vergessen. Es tut mir leid kleiner, aber ich muss weg.“ Tayar drehte sich um und lief los.
„Ich komme morgen wieder bei dir vorbei“, rief er noch in Richtung Fawlik, als er sich weiter entfernte.
„Aber ich wollte dir doch helfen…“, murmelte Fawlik leise vor sich hin. Er wandte sich herum, sammelte den Ball ein und begab sich nach Hause. Als er zur Türe rein trat, hörte er seine Eltern in der Küche die sich unterhielten.
„Aber was sollen wir machen?“, fragte die Mutter.
„Ich weiß es nicht, jedenfalls kann es so nicht weiter gehen und wir haben auch kaum noch Münzen über. Wir könnten die Stadt verlassen“, antwortete der Vater.
Es wurde daraufhin still in der Küche und Fawlik der noch wie angewurzelt bei der Haustüre stand, schloss diese und bewegte sich in Richtung Küche. Als seine Eltern ihn erblickten lächelten sie ihn an.
„Wie war dein Tag mein Sohn?“, fragte sein Vater ihn. Fawlik zögerte einen Moment.
„Ich habe einen neuen Jungen kennengelernt und mit ihm Ball gespielt den ganzen Tag lang!“, erwiderte er vor Freude strahlend.
Seine Eltern blickten sich kurz an und ihre Gesichter wurden ernster.
„Mein Sohn, wir müssen mit dir über etwas reden. Deine Mutter und ich haben uns überlegt, dass wir die Stadt verlassen und uns ein neues Zuhause suchen sollten, denn hier werde ich nicht mehr genug Münzen nach Haus bringen können, damit wir genug zu essen haben“, erklärte der Vater ihm.
„Aber, was ist mit meinen ganzen Sachen? Und meinen neuen Freunden?“, fragte Fawlik.
„Nun mein Sohn, du kannst so viel mitnehmen, wie du tragen kannst, aber deine Freunde, werden wohl hierbleiben. Aber du wirst sicher ganz schnell neue Freunde finden, da bin ich mir sicher.“ Der Vater legte ihm eine Hand auf die Schulter, als Fawlik seinen Kopf hängen ließ und leise seufzte.
„Und wann müssen wir aus der Stadt gehen?“, fragte er seufzend.
„Übermorgen, da wir morgen noch einige Dinge klären müssen“, antwortete die Mutter.
Fawlik hob den Kopf schockiert und ohne ein Wort verschwand er in sein Zimmer und sprang auf sein Bett und vergrub darin sein Gesicht. Die Tränen traten ihm in die Augen und seine Gedanken drehten sich.
>> Und was wird aus Tayar und seinen Freunden? Ich habe gerade neue Freunde und nun soll ich die schon zurücklassen? Ich war in letzter Zeit immer allein und jetzt, wo ich wen habe, muss ich gehen. Das ist nicht fair! <<
Die Sonne senkte sich hinterm Horizont und es wurde dunkel. Fawlik schlief geschafft vom weinen recht schnell ein, doch es war keine angenehme Nacht. Er träumte von dem Toten, den er gesehen hatte und von Tayar und den anderen Jungen, die ihn nicht aus der Stadt gehen lassen wollten. Er wälzte sich viel hin und her in seinem Bett. Zwischendurch wachte er auf und war durchgeschwitzt. Obwohl er Angst hatte, wegen der Träume, wollte er nicht zu seinen Eltern gehen. Er wünschte sich in diesem Moment, dass sie einfach für immer Weg wären.
Die Abreise stand vor der Tür und Tayar war leider am Vortag nicht gekommen. Fawlik hatte alles Wichtige gepackt, auch wenn das nicht viel gewesen ist. Lediglich eine Tasche hatte er gefüllt mit seinem liebsten Spielzeug. Seine Eltern standen auch bereits mit Sack und Pack an der Haustüre und warteten auf Fawlik. Er ging langsam die Treppe hinunter und blickte dann seine Eltern mit traurigem Blick an.
„Es wird nicht so schlimm. Du wirst neue Freunde finden und wir werden ein besseres Leben haben als hier. Also Kopf hoch, stell dir vor es ist ein großes Abenteuer“, sagte der Vater.
„Ein Abenteuer?“, kam es neugierig von Fawlik.
„Ja natürlich, wir werden lange durch die Wüste wandern und Oasen sehen. Ohne eine Menschenseele in der Nähe. Vielleicht finden wir sogar einen Schatz auf unserem Weg“, frohlockte der Vater. Fawliks Miene verzog sich zu einer gespannten und hoffnungsvollen Miene. Er wurde leicht hibbelig und wollte nun doch endlich los. Er trat an seinen Eltern vorbei und ging als erstes zur Haustüre raus.
„Na los! Nun kommt schon! Ich will einen Schatz finden!“, rief er seinen Eltern fröhlich entgegen.
Die Eltern sahen sich kurz mit einem entspannten Lächeln an. Sie traten durch die Haustüre hinaus zu ihm und machten sich mit ihm auf den Weg zur Hauptstraße. Die Hauptstraße war gefüllt mit Menschen in bunter Kleidung, die mit beladenen Karren in Richtung des Marktplatzes von Nifaya fuhren. Fawlik und seine Eltern liefen gegen den Strom um aus der Stadt heraus zu kommen. Sie wurden angerempelt und die Händler warfen ihnen Dinge vor den Kopf wie, „Ihr geht in die falsche Richtung ihr Kamele!“ oder „Nehmt eine andere Straße, diese hier ist für den Handel gedacht!“. Fawlik fühlte sich unbehaglich, da er es nicht gewohnt war von so vielen Menschen umgeben zu sein. Zudem war er auch noch kleiner als die Menschen und sah meistens nur Bäuche vor sich. Er konnte nicht einmal erahnen, wo er gerade wirklich hinging. Nach einer Weile lichtete sich das Feld voller Bäuche und die Familie stand nach dem durchschreiten eines Torganges vor der Stadt in der Wüste.
„Ab jetzt solltet ihr eure Gesichter verdecken, damit ihr besser geschützt seid“, riet der Vater. Fawlik und seine Mutter nickten und verdeckten ihre Gesichter mit Stoff. Das einzige, was nun noch unbedeckt war, waren die Augen. Fawlik blickte sich um und sah die Dünen, die ihre Familie überschreiten mussten und durch den Wind aufgewirbelte Sandkörner. Seine Augen wurden groß und er schreckte leicht zurück.
„Das ist aber viel Sand und man sieht ausschließlich Sand, wie sollen wir das schaffen?“, fragte Fawlik.
„Ich habe einen Kompass und weiß in welche Richtung wir gehen müssen, mein Sohn“, antwortete sein Vater ihm und legte ihm eine Hand beruhigend auf die Schulter. Fawlik nickte kurz und blickte seinen Vater an, der einen Kompass in der freien Hand hielt. Er blickte darauf und deutete dann in eine Richtung.
„Dort müssen wir entlang.“ Vater und Mutter übernahmen die Führung und gingen voraus. Fawlik folgte ihnen durch den heißen Sand. Fawlik versuchte mit seinen Eltern Schritt zu halten. Sie liefen Dünen hinauf und wieder hinunter, bis sie in der Ferne eine Oase entdeckten. Fawlik wollte seine Eltern stolz machen. Er sagte nichts, obwohl ihm seine Beine und Füße mittlerweile weh taten.
„Bis dahin müssen wir noch, dann können wir rasten!“, sagte der Vater. Fawlik nickte stumm auf diese Worte und ging mit seinen Eltern weiter bis zu der Oase - ohne ein Wort.
In der Mitte der Oase befand sich ein Teich, worauf Fawlik direkt zu marschierte und Wasser trank. Als er den Kopf anhob sah er Palmen und Grasflächen die sich um den Teich herum erstreckten, bevor der Wüstensand wieder alles vereinnahmte. Er hatte so eine Oase bisher nie wirklich gesehen und bewegte sich langsam zu den Grünflächen und begutachtete alles ganz genau. Er begann zu grinsen und hüpfte sorglos durch das Grün. Seine Eltern richteten ein kleines Lager ein und entfachten ein Feuer, damit sie das Essen vorbereiten konnten.
„Mama, Papa! Es ist wundervoll hier!“, rief Fawlik seinen Eltern mit einem Lachen auf den Lippen zu. Er begab sich nach einer Weile dann in deren Richtung um sich zum Essen niederzulassen. Er wippte hin und her, während die Sonne langsam auf dem Weg hinter den Horizont war und die Luft abkühlte. Sein Vater hatte inzwischen das Zelt fertig aufgestellt und die Familie konnte ihr Abendessen zu sich nehmen. Als sie fertig waren gingen sie in ihr Zelt und ruhten.
Nachdem am nächsten Morgen die Sonne aufgegangen war und die Familie gegessen hatte, begannen sie ihre Reise fortzusetzen.
„Wann erreichen wir denn die nächste Oase? Meine Füße haben mir gestern schon so weh getan...“, sagte Fawlik. Sein Vater drehte sich zu ihm um und nickte knapp, während er weiter ging.
„Es wird leider eine ganze…“, begann er den Satz, bevor Mutter und Vater beide lauthals aufschrien. Ihre Körper verschwanden plötzlich vor den Augen von Fawlik im Sandboden. Er starrte geschockt an die Stelle, wo sie gerade noch vor ihm hergingen. Eine Sandfontäne, schoss hinauf in Richtung Himmel. Der Sandboden glättete sich, als sei nichts passiert. Die Fußspuren seiner Eltern führten ins Leere.
„Mama? Papa?!“, stieß Fawlik aus. Er ging auf die Knie und krabbelte vorsichtig in die Richtung, wo die Fußspuren endeten, während sich in seinen Augen tränen sammelte. Er streckte eine Hand nach vorn und legte sie langsam auf den Sand, als er fester drückte versank die Hand.
„NEIN! MAMA! PAPA!“, schrie er lauthals. Aus der krabbelnden Position fiel er auf die Seite, krümmte sich am Boden und weinte.
Die Sonne erreichte langsam ihren Höchststand, als Fawlik sich etwas beruhigte und aus dem Sand aufstand. Seine Kleidung war durch einige Windböen beinah komplett mit Sand überdeckt. Er drehte sich herum und ging geradewegs zurück zur Oase. Zum Glück waren sie noch nicht sehr weit davon entfernt und er fand den Weg dorthin ohne Probleme. Dort angelangt, begab er sich erst einmal zum Teich um etwas von dem Wasser zu trinken. Er blickte in seine Spiegelung im Wasser und sah, wie seine Augen komplett verquollen vom weinen waren und Sand unter diesen klebte. Er nahm den Stoff vom Kopf und vor dem Gesicht ab. Er wusch sich den Sand aus dem Gesicht heraus und guckte kurz zum Himmel.
>> Was mach ich denn jetzt? Wenn ich nun versuche zur Stadt zu laufen, werde ich nicht vor der Nacht ankommen, aber hierbleiben? Was bringt mir das? Warum ist denn niemand hier der mir helfen kann? Vor ein paar Tagen wollte ich noch das sie verschwinden, aber doch nicht so…<<, dachte er und ihm stiegen wieder Tränen in die Augen. Er saß dort und starrte eine Weile vor sich hin ehe er das Röhren eines Kamels vernahm. Fawlik blickte in die Richtung und erspähte einen Kamelreiter, der in seine Richtung kam. Er führte das Kamel zum See und sein Blick fiel auf Fawlik. Kurz blickte der Reiter sich um, ehe eine fragende Mine auf seinem Gesicht lag.
„Was machst du denn hier? Bist du alleine hier? Wo sind deine Eltern?“
„Meine Eltern… Ich… habe mich verlaufen. Ich muss zurück nach Nifaya. Dort sind auch meine Eltern“, antwortete er.
„Dann hast du Glück, mein kleiner. Ich bin gerade auf dem Weg nach Nifaya. Ich kann dich auf meinem Kamel mitnehmen. Es braucht nur eine kurze Rast um sich zu stärken. Wie lange bist du denn schon hier?“
„Erst seit heute Morgen, aber es kommt mir vor wie eine Ewigkeit.“ Der Reiter nickte ihm entgegen und warf einen Blick zu seinem Kamel. Das Kamel stand seelenruhig am See und steckte die Schnauze ins Wasser um sich mit Wasser zu füllen. Fawlik blickte ebenfalls zu dem Kamel hinüber.
„Wie lange trinkt das denn?“, fragte er verwundert.
„Das dauert schon einen Moment, da es sehr viel trinkt um lange ohne Wasser auszukommen.“
Fawlik nickte und trat langsam in Richtung des Kamels um es anzufassen. Er streckte seine Hand nach dem Fell am Bauch aus und kicherte leise, als er es berührte.
„Das ist ja schön weich.“ Der Reiter nickte knapp und grinste, als das Kamel seinen Kopf vom Wasser erhob.
„Wie es aussieht können wir los, kleiner.“ Der Reiter hob Fawlik auf das Kamel und schwang sich dahinter.
„Und jetzt gut festhalten!“ Fawlik suchte mit seinen Händen hielt am Höcker des Kamels und schon ging die Reise los in Richtung Nifaya. Das Kamel wurde schnell vorangetrieben und kurz nachdem die Sonne beinahe hinterm Horizont verschwunden war erreichten sie Nifaya. Fawlik wurde hinter den Stadttoren abgesetzt. Der Kamelreiter folgte der Hauptstraße weiter und verschwand aus Fawliks Blickfeld.
Nun stand Fawlik dort alleine und verlassen. Er bewegte sich als erstes in die Richtung, wo sein Familienhaus stand, denn er wusste nicht, wo er sonst hätte hingehen sollen. Dort angelangt stand die Türe offen. Er ging hinein und bemerkte, dass Möbel umgeschmissen wurden und fast alles, was irgendeinen Wert zu haben schien, verschwunden war. Als er sich umsah sah er in seiner Fantasie, wie seine Mutter in der Küche stand und das Essen zubereitete, wie sein Vater am Tisch saß und aß. Er konnte erneut seine Tränen nicht zurückhalten und er lief nach oben zu seinem Zimmer, wo zum Glück sein Bett unberührt stand. Er warf sich darauf und vergrub sein Gesicht im Kissen bis er völlig entkräftet einschlief.
Fawlik wachte in aller Frühe auf und stieg, wie er es gewohnt war aus dem Bett. Er ging die Treppe verschlafen hinunter und wankte in die Küche, wo er seine Mutter erwartete. Als er dort ankam und niemand dort war, traf es ihn wie ein Schlag. Ihm wurde bewusst, dass die letzten Tage kein Traum waren. Er stand reglos einfach in diesem Raum und die Zeit lief weiter. Es klopfte an der Türe, dass Fawlik aus seiner Starre erlöste. Er ging hin und öffnete die Türe. Vor ihm stand Tayar.
„Entschuldige, dass ich heute erst vorbeikomme,“ sagte er. Fawlik blickte Tayar an und viel diesem in die Arme. Tayar blickte etwas verdutzt, drückte den kleinen aber an sich. Fawlik begann wieder zu weinen und schluchzte als er sich an Tayar klammerte.
„Was ist passiert kleiner? Ist alles in Ordnung?“ Fawlik schüttelte nur den Kopf.
„Die Wüste hat meinen Vater und meine Mutter gefressen…“, sagte er leise. Tayars Blick senkte sich zu ihm und er legte sein Kinn auf den Kopf des Kleinen. Seine Hand strich über seinen Rücken.
„Lass es ruhig raus Kleiner. Ich werde mich um dich kümmern, als wärst du mein kleiner Bruder. Wir haben heute den Tag Zeit um dich etwas abzulenken und dann kommst du mit zu Sayari. Die wird dich sicher auch aufnehmen und sich dir Annehmen“, erklärte Tayar. Fawlik nickte und löste sich dann von Tayar um sich über die Augen zu wischen.
„Wo bekomme ich den jetzt etwas zu essen her?“ Tayar begann zu grinsen und nahm ihn bei der Hand um ihn hinter sich her zu ziehen. Die beiden gingen in Richtung des Markts. Dort gab es ein reges Gedränge von Menschen und viele verschiedene Düfte lagen in der Luft. Die Marktstände standen dicht an dicht nebeneinander und schmale Gänge lagen zwischen Ihnen, wo sich die Menschen durchschlängelten. Tayar blickte sich kurz um und zog Fawlik in eine Gasse, neben der ein Brotstand stand.
„Schau der hat dort ganz viel liegen. Du musst nur aufpassen, dass er dich nicht bemerkt, wenn du ihm etwas wegnimmst. Pass auf ich zeige es dir.“ Tayar ging nah an die Ecke heran und linste herum um den Händler ins Auge zu fassen. Als dieser weit hinten am Stand gerade eine Kundin bediente ergriff Tayar die Chance und schlich sich geschwind in geduckter Haltung um die Ecke, um ein Brot vom Stand zu greifen. Anschließend schlich er schnell zurück zu Fawlik der sein tun genau beobachtet hatte.
„Siehst du es ist ganz einfach und dem Händler wird es nicht einmal auffallen, dass ein Brot fehlt.“
„Aber ist das nicht verboten? Und was wäre, wenn er dich doch bemerkt hätte?“
„Wenn er mich entdeckt hätte, dann hätte ich laufen müssen, aber selbst dann kannst du bei den Menschenmengen recht gut entwischen, da du klein bist kommst du besser dadurch, als ein dicker Händler“, antwortete Tayar mit einem Grinsen im Gesicht, bevor er ihm ein Stück von dem Brot reichte.
„Das nächste Mal darfst du es versuchen und nun komm.“ Tayar ging die Gasse entlang und entfernte sich von dem Markt. Fawlik folgte ihm mit dem Stück Brot in der Hand, dass er genüsslich aß.
„Wie du weißt geht es der Stadt immer schlechter und wir schauen für Sayari nach verlassenen Gebäuden. Oft finden wir dabei verstorbene, aber diese müssen wir ignorieren. Wir sammeln alles, was essbar ist, was wertvoll erscheint und das bringen wir Sayari. Dafür haben wir ein Dach über dem Kopf und genug zu essen, damit wir überleben,“ erklärte Tayar. Die beide gingen zusammen durch einige Gassen und Tayar inspizierte die Häuser von außen, an denen sie vorbei gingen. Plötzlich blieb er stehen und begutachtete ein Haus. Er trat nah heran und lauschte, ob er etwas wahrnehmen konnte. Die beiden setzten sich wieder in Bewegung zur Haustüre des Hauses und Tayar klopfte lautstark an.
„Was machst du da?“, fragte Fawlik. Tayar hielt sich einen Finger vor dem Mund und deutete somit an, dass er ruhig sein sollte. Nach einigen Momenten wandte Tayar sich zu Fawlik.
„Ich versuche herauszufinden, ob dort noch jemand wohnt. Gestern schrie dort drin immer ein Baby. Doch heute ist es still.“
„Vielleicht sind sie auf dem Markt?“
„Das ist natürlich eine Möglichkeit. Das heißt wir sollten in der Nähe bleiben und das Haus beobachten, wenn bis Sonnenuntergang niemand hier ist, steht es leer“, erklärte Tayar und blickte sich kurz um.
„Setzen wir uns dort vorne in den Schatten des Hauses.“ Tayar und Fawlik gingen hinüber und setzten sich auf den Boden, den Blick auf das zu beobachtende Haus gerichtet. Die Zeit verging und die Jungs unterhielten sich über die Erlebnisse, die sie bereits in jungen Jahren erlebt hatte. Sie lachten gemeinsam und die Zeit verging wie im Flug. Die Sonne versank langsam ehe sich Tayar erhob.
„Ich denke, dass niemand kommen wird, da der Markt um die Zeit bereits verlassen ist. Wir kommen morgen mit den Jungs wieder her und gehen in das Haus rein. Aber nun bringe ich dich erst einmal zu Sayari, damit du etwas zu essen bekommst.“
Tayar führte Fawlik durch die Gassen bis sie im Adelsviertel an einem zweistöckigen, sehr großen Sandsteinhaus ankamen. Fawlik riss die Augen auf und blickte das Haus an.
„Das ist aber groß und hier wohnt Sayari?“, fragte er.
„Ja hier wohnt Sayari, vorher hat hier wohl mal ein alter Händler gewohnt“, erwiderte er. Tayar ging auf das Haus zu, aber anstatt wie es zu erwarten war in Richtung Haupteingang zu gehen, wandte er sich zur linken Seite. Er ging an der linken Hauswand entlang, neben das Gebäude. Dort befand sich ein in den Wandstein eingelassenes Gitter in das Innere des Hauses. Fawlik folgte ihm und seine Augen wanderten überall entlang, um kein Detail zu vergessen. Das Gitter wurde mit einem Knarren geöffnet.
Die beiden Jungs gingen gemeinsam in das Gebäude hinein und direkt der erste Raum war komplett mit Kissen und ähnlich weichen Stoffen ausgelegt. An manchen Stellen im Raum schliefen bereits andere Jungs, die vom Alter her nicht viel älter waren als Fawlik selbst. Fawlik schwieg und ging Tayar hinterher der sich durch das Zimmer schlängelte bis zum Durchgang auf der gegenüberliegenden Seite. Sie schritten leise durch die Türe und schlossen sie hinter sich. Sie befanden sich nun in einem Eingangsbereich, der zwar etwas staubig war, aber ansonsten sehr sauber. Einige Gemälde und Stoffe zierten die Wände. An jeder Seite der Halle, waren mehrere Türen und eine breite Treppe führte in die oberen Stockwerke. Tayar trat auf eine der Türen zu und klopfte an.
„Ja?“, rief eine Frauenstimme, bevor Tayar mit Fawlik in den Raum eintrat. Der Raum war riesig und in der Mitte stand ein großer Schreibtisch hinter dem eine Dame mittleren Alters saß. Ihr Kleidungsstil passte nicht richtig zu dem Rest. Sie kleidete sich adelig, aber ihr Körper sah für eine Frau sehr muskulös aus. Wenn man genau hinsah, konnte man an ihrem Hals seitlich eine Narbe ausmachen. Ihre Haut schien ansonsten makellos und mittellanges schwarzes Haar fiel über ihre Schulter. Ihre Augen musterten mit einem eiskalten Blick, trotz dass ihre Augen eine warme Braune Farbe hatten, die beiden Jungen.
„Tayar bist du auch wieder da und was hast du da angeschleppt?“, sagte sie mit energischer Stimme.
„Sayari, das ist Fawlik und seine Eltern wurden vom Wüstensand verschluckt. Er hat kein Zuhause mehr und mir heute bereits geholfen, denn wir haben wieder ein leerstehendes Haus aufgetan.“
„Ist das so?“ Sayari blickte die beiden Jungs an und schien kurz nachdenklich ehe sie sich vom Stuhl erhob und auf Fawlik zu trat. Fawlik wurde mulmig, als die Frau um ihn herumtänzelte.
„Ich… ich… werde alles tun, wenn ich was zu essen bekommen kann… und einen Schlafplatz…“, stotterte Fawlik. Sayari blieb vor ihm stehen und blickt zu ihm hinunter.
„Na gut, Tayar ist nun für dich verantwortlich und wird dir alles beibringen, was du können musst. Zeig dem Kleinen, wo er schlafen kann und wenn ihr Hunger habt, stehen die Reste in der Küche.“
Tayar nickte nur stumm und griff nach Fawliks Arm um ihn mit sich aus dem Raum hinaus zu ziehen.
„So nun gehörst du zu uns, kleiner Bruder. Aber bitte sei vorsichtig Sayari kann auch anders, wenn du Mist baust“, flüsterte er Fawlik zu.
Die Zeit verging und Fawlik lernte von Tayar, das Stehlen von Objekten auf Marktständen und sogar wie er unbemerkt Leuten Münzen aus dem Beutel ziehen konnte. Allerdings war Fawlik darin nicht sonderlich begabt und immer öfters kam er mit wenigen Münzen zu Sayari zurück. Diese wollte nach einiger Zeit sich dies nicht mehr anschauen und entschloss sich dazu, dass jedes Mal, wenn Fawlik zu wenig brachte, ihn eine Strafe in Form von körperlicher Züchtigung erwarten würde. Fawlik wurde über das Jahr oft geprügelt, geschlagen und getreten. Nachts weinte er viel, denn so hatte er sich das nicht vorgestellt und er sehnte sich nach seinen Eltern. Oft lag er morgens da und konnte kaum aufstehen vor Schmerzen, aber es half nichts, er musste irgendwie überleben. Tayar wurde für ihn wie ein richtiger Bruder und half ihm, wenn er konnte, um Fawlik vor den Strafen zu schützen. Doch nicht immer hatte Tayar so viele Münzen erbeutet, dass er welche abgeben konnte.
„Tayar?“, sagte Fawlik in einer Winternacht.
„Ja?“
„Wenn ich jemanden finde den ich gut leiden kann, dann werde ich alles dafür tun, dass diese Person mich von hier wegbringt. Würdest du dann eigentlich mitkommen?“
„Ehrlich gesagt, kann ich dir darauf keine Antwort geben, denn egal wie schlimm Sayari manchmal sein kann. Sie ist die erste Person die ich als Mutter betiteln kann. Ich hatte nie jemanden anderes.“
„Das heißt, dass ich dann vermutlich ohne dich gehen würde. Ich kann das hier aber nicht. Ich will nicht jeden Tag neue Blaue Flecken haben. Ich will Abenteuer erleben!“ Tayar konnte sich ein leises Kichern nicht verkneifen.
„Du und Abenteuer erleben? So tollpatschig wie du manchmal bist würdest du dich bei deinem Abenteuer nur in Gefahr bringen und diese nicht trotzen können.“ Fawlik zog einen Schmollmund.
„Das ist gar nicht wahr. Du wirst schon sehen! Wenn ich hier wegkomme, dann werde ich trainieren und stark werden und Abenteuer erleben! Und dann komme ich wieder und erzähle dir davon.“ Fawlik blickte Tayar ernst an.
„Dir ist das wirklich wichtig oder?“ Fawlik nickte ihm entgegen.
„Gut dann glaube ich an dich und werde dich unterstützen. So gut es geht.“ Tayar hielt ihm seine Hand hin und lächelte. Fawlik ergriff diese dankend.
„Du wirst immer mein Bruder sein, Gute Nacht Tayar.“
„Gute Nacht Kleiner.“
Jahr 23, Frühling, Athyrianischer Zeitrechnung
Die Zukunft Themeras
Die Sonne stand hoch am Himmel, und die Luft roch nach Schweiß. Jadar stand am Rand des Trainingsplatzes den Sethos in Nifaya eingerichtet hatte, um Mahari auszubilden. Die Männer wurden von Sethos regelrecht gedrillt, wenn sie zu langsam waren oder Sethos der Meinung war, dass sie es verdient hatten, wurden ihnen Strafen auferlegt. Diese Strafen sahen meistens so aus, dass sie ein Sack voll Sandsteinziegel für mehrere Minuten durch den Sand schleppen durften.
„Schneller ihr Wüstenhunde, sonst verdunstet euer Wasser, bevor ihr es trinken könnt!“, schrie Sethos die Männer an, als diese es seiner Meinung nach verdient hatten. So war es aber schon immer unter ihm gewesen. Niemand konnte es ihm wirklich recht machen.
Jadar blickte hinauf zum Himmel.
>> Ich hoffe dem kleinen ist nichts passiert. Er ist nun schon eine ganze Weile weg. Vielleicht hat er auch gar nicht vor wiederzukommen? Sollte ich ihn dermaßen falsch eingeschätzt haben? <<, fragte sich Jadar.
Er ließ seinen Blick kurz über den Platz schweifen, bevor er sich abwendete und in Richtung Verwaltungshaus ging. Als er beinahe am Tor angekommen war, sah er in der Ferne Fawlik an eine Wand gelehnt sitzen. Fawlik saß dort auf dem Boden die Beine herangezogen. Die Arme darüber verschränkt und den Kopf darin vergraben. Jadar ging auf ihn zu und als er näherkam, bemerkte er, dass der Junge am Schluchzen war.
„Hey, was ist passiert?“, fragte er gefühlvoll. Fawlik hob kurz den Kopf an und schielte mit feuchten Augen hinauf zu ihm. Er hatte ein blaues Veilchen am linken Auge und Jadar hob eine Braue an.
„Sie hat dich geschlagen?“
„Nicht… Nicht… nur das… Sie hat… mich auch… getreten…“, antwortete Fawlik schluchzend. Jadar setzte sich neben Fawlik auf den Boden und blickte vor sich auf den Sand.
„Weißt du, manche Menschen sind nur auf ihren Vorteil bedacht und deshalb tun sie Dinge, die sie irgendwann bereuen.“
„Die nicht! Die ist einfach nur böse!“, keifte Fawlik daraufhin. Jadar wandte den Kopf zu ihm.
„Das hat die schon immer gemacht, wenn etwas passiert ist, was sie nicht wollte! Oder man einfach nicht gut genug stehlen konnte!“, rutschte es ihm raus. Fawlik blickte Jadar wütend, aber auch zu gleich entschuldigend an.
„Ich frage das nun ungern, aber was hat sie wegen dem Treffen gesagt?“
„Sie willigt ein, aber nur unter der Bedingung das du als Prinz alleine zu ihr kommst.“ Jadar blickte kurz nachdenklich. Er sah Fawlik an und nickte.
„Gut, ich werde zu ihr gehen, aber ich möchte, dass du mich begleitest und an dem Gespräch teilnimmst. Zuvor werden wir allerdings mit Sham reden, damit wir ihn ins Bild setzen können“, erklärte Jadar. Als sich Fawlik beruhigt hatte stand er wackelig auf und wandte den Kopf zu Jadar. Dieser blickte zu ihm hinauf, erhob sich und ging in Richtung los. Fawlik folgte ihm mit einem Humpeln. Sie gingen gemeinsam zu Shams Residenz.
Als Jadar mit Fawlik den Besprechungsraum von Shams betraten musterte dieser Fawlik mit nichtssagender Miene. Jadar und Fawlik setzten sich ihm gegenüber.
„Wir sind hier um mit euch das Treffen zu besprechen, da Sayari mich alleine treffen möchte. Ohne euch und ich muss nun wissen, was ich ihr anbieten soll. Sie misshandelt übrigens die Kinder“, führte Jadar aus während er mit seiner linken auf Fawlik deutete.
„Nun, ehrlich gesagt mit dieser neuen Erkenntnis, da frage ich mich wie weitreichend ihr Einfluss ist. Mir war nicht bekannt, dass es sich bei ihrer… ich nenne es mal Bande, ausschließlich um Kinder handelt, denn ich hatte mir überlegt, vielleicht könnte man ihre Autorität im Untergrund dazu nutzen. Sie hätte das Dorf, dass ihr von den Kraji befreit habt, wiederaufleben lassen können“, erklärte er. Jadar blickte ihn mit einem Lächeln an.
„Nun gefallt ihr mir schon besser Sham. Diese Idee hatte ich gestern auch bereits. Ich denke ich werde dorthin gehen und schauen was sich ergibt, vielleicht ist diese Idee ja noch nicht ganz vom Tisch.“
„Ich denke Ihr seid da ein besserer Diplomat als ich, da ich immer etwas Zeit brauche um meine Gedanken zu sortieren. Außerdem bin ich ganz froh, dass ich dieser Frau nicht gegenübertreten muss“, sagte er mit einem Grinsen auf den Lippen. Er blickte die beiden dann nacheinander fragend an.
„Gibt es noch etwas, dass wir besprechen müssen? Wie ich gehört habe ist Sethos bereits fleißig dabei die Männer zu Mahari auszubilden?“ Jadar nickte nur auf diese Frage beiläufig, während er Fawlik ansah der leicht zusammengekauert auf seinem Platz saß und in Richtung Boden blickte.
„Vielleicht sollte ein Alma ihn sich einmal ansehen, bevor ich mit ihm zu Sayari gehe.“ Fawlik hob den Kopf an und blickte zu Jadar.
„Das ist nicht nötig, wirklich nicht. Es geht schon und wird bald wieder besser sein“, sprach er leise und leicht gequält.
„Ich möchte das einfach nur hinter mich bringen…“ Jadar nickte ihm entgegen und wandte den Blick wieder an Sham. Er nickte ihm knapp zu und erhob sich.
„Dann werde ich nach dem Treffen Bericht erstatten und wir planen das weitere Vorgehen.“ Jadar erhob sich von seinem Platz um mit Fawlik die Residenz zu verlassen.
Im Innenhof wandte sich Jadar, Fawlik entgegen.
„Mach dir keine Sorgen, solange du bei mir bist wird sie sich hüten dir irgendwas zu tun.“
„Ihr kennt sie nicht… Sie ist sehr stark und trainiert für eine Frau…“, erwiderte Fawlik. Jadar lächelt Fawlik an.
„Ich denke aber nicht, dass sie sich Jahrelang unter Sethos durch das Mahari Training quälen musste. Du gehst nun voraus und zeigst mir, wo wir hinmüssen.“ Fawlik nickte knapp und humpelte voran bis zu dem Anwesen, in dem er nahezu tagtäglich den Schrecken erlebte. Jadar blickte hinauf zu dem Anwesen und hob eine Braue, als er ein adeliges Anwesen erblickte. Die beiden gingen hinein und Jadar marschierte schnurstracks zur Vordertüre um mit seiner Faust davor zu hämmern. Er stellte sich in eine abwartende Pose vor die Türe und Fawlik versuchte hinter ihm Schutz zu finden. Sie konnten das zuschlagen von Türen im inneren vernehmen und jedes Mal zuckte Fawlik zusammen. Ihnen wurde endlich die Türe geöffnet. Jadar musterte die Frau kurz. Sayari stand vor ihnen in einer Lederaufmachung mit Tunika und Hose.
„Erwartet ihr Feinde?“, fragte Jadar spontan mit einem leichten Grinsen.
„Wer seid ihr und was wollt ihr?“, murrte sie zurück.
„Ich bin Jadar El Hadary, der Prinz der Mahari Wüste.“ Jadar verbeugt sich vor ihr respektvoll. Ihr Mundwinkel zuckte leicht nach oben, als er sich ihr vorstellte.
„Folgt mir bitte hinein. Ich denke, wir haben einiges zu besprechen, denn sonst wärt ihr wohl kaum selbst gekommen. Ach und Fawlik du brauchst dich gar nicht verkriechen. Ich habe dich schon bemerkt.“ Sie wandte sich herum und ließ die Türe offen, damit er eintreten könne. Fawlik folgte ihm hinein und verschloss die Türe. Sie führte sie nach oben, in einen Raum, indem ein Schreibtisch aus Sandstein stand. Einige Bücherregale befanden sich darin und verschiedene Waffen hingen an den Wänden und standen in den Ecken. Fawlik blickte sich interessiert um, als wäre er noch nie dort gewesen. Sayari begab sich hinter den Schreibtisch und deutete Jadar an sich davor niederzulassen. Fawlik betrachtet auch die Waffen mit großer Neugier.
„Nun? Ihr wolltet dieses Treffen, also was kann ich für euch tun?“, fragte sie während sie ihre Beine übereinanderschlug.
„Ich ging davon aus, dass ihr so etwas, wie die Herrscherin des Untergrundes in dieser Stadt seid. Allerdings habe ich vor kurzem gehört ihr seid lediglich an Kinderdienern interessiert um euch zu bereichern.“ Jadar saß ruhig vor ihr und beobachtete sie. Sie verzog bei seinen Ausführungen die Miene kurz, bevor ein Schmunzeln zum Vorschein kam.
„Diener…, dass ich nicht lache… Ich gebe diesen Kindern ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen und ein Zuhause. Wenn ihr hier hin gekommen seid um mich zu reizen dann vergesst es“, sprach sie mit kraftvoller Stimme. Jadar hob beschwichtigend seine Hände.
„Nein, das bin ich nicht. Ich hatte eigentlich vor euch zu fragen, ob ihr nicht daran Interesse hättet das Dorf Themera wiederaufzubauen.“ Fawlik der sich weiterhin umblickte ging hinter den Schreibtisch und befand sich nun im Rücken von Sayari. Dort stand ebenfalls ein Podest mit einem wundervoll verzierten Chepesch, was er ausgiebig musterte.
„Was hätte ich davon, wenn ich das tun würde? Ich lebe hier gut und meine Kinder danken mir, was ich für sie tue sehr.“
„Nun, sie würden eine andere Stellung genießen, als Dorfverwalterin und das würde ihnen Ansehen bei den Menschen einbringen“, erklärte Jadar. Sayari schien kurz nachdenklich. Ohne, dass es einer von beiden bemerkte, schlug plötzlich Fawlik mit der Klinge des Chepesch ihr auf den Kopf. Das Blut spritzte ihm ins Gesicht. Die Klinge war so scharf, dass sie sich seitlich bis zur Hälfte in ihren Kopf bohrte. Ihre Hände sanken schlaff hinunter und Ihr Kopf fiel nach vorne. Fawlik ließ zügig die Klinge los und erstarrte.
„Was?... Was hast du getan?“, sagte Jadar geschockt. Er blickte zu Fawlik hinüber und merkte, dass er in diesem Moment unter Schock stand. Er erhob sich, ging zu ihm hinüber und nahm ihn in den Arm. Er führte ihn so aus dem Raum heraus, dass er das Bild der Toten Sayari nicht mehr sehen musste und schloss die Türe. Er ging vor Fawlik in die Hocke und blickte ihn an. Fawliks Blick war erstarrt.
„Komm zu dir Junge. Es ist vorbei. Sie ist tot“, sagte Jadar zu ihm. Fawlik schien es zu registrieren und in seinen Augen sammelten sich langsam die Tränen. Der Blick änderte sich dabei jedoch nicht. Jadar nahm Fawlik in den Arm und streichelte seinen Rücken ohne ein Wort weiter zu sagen. Nach wenigen Augenblicken senkte Fawlik sein Haupt und vergrub sein Gesicht an Jadars Schulter. Er begann zu weinen und sein Körper zuckte dabei auf. Jadar strich ihm weiter sanft über den Rücken. Als Fawlik sich beruhigt hatte, drückte er sich von Jadar ab und blickte ihn an.
„Danke, aber was machen wir jetzt?“
„Da Sayari weg ist müssen wir uns einen neuen Plan machen. Ich würde dich nun erst einmal darum bitten, dass du alle Kinder, die hier wohnen vor Shams Residenz bringst. Ich rede mit Sham und dann sehen wir weiter.“
„Ja gut, das werde ich machen. Wenn alle da sind sag ich dir Bescheid.“ Er wischte sich kurz mit seinem Ärmel durch sein Gesicht und wandte sich um. Jadar folgte ihm die Treppe hinunter und verließ das Gebäude.
Nach kürzester Zeit erreichte Jadar die Residenz und setzte sich erneut mit Sham zusammen.
„Sayari ist tot. Sie kann uns nicht weiterhelfen. Aber ich habe Fawlik gesagt, dass er alle Kinder, die dort leben hier hinbringen soll, denn ich habe eine Idee.“ Sham blickte ihn neugierig und zu gleich fragend an.
„Wir sagen den Kindern sie sollen alle Menschen die kurz davor sind ihr Heim zu verlassen oder in den Gassen liegen vor der Stadt versammeln. Wir werden diese Familien in das Dorf bringen und ihnen Münzen geben, damit sie sich dort eine neue Existenz aufbauen können und die Mehrbestellung der Nahrung werden dort hingebracht.“ Sham nickte bei Jadars Ausführungen.
„Das hört sich nach einem Plan an. Das ist auch wohl der einzige den wir jetzt noch haben“, erwidert Sham. Er tippte kurz mit seinen Fingern auf seinem Tisch herum ehe er zu Feder und Pergament griff.
„Wer soll das Dorf denn vertreten?“, fragte er neugierig. Jadar blickte ihn achselzuckend an.
„Das kann ich euch noch nicht beantworten. Außer Ihr habt jemanden direkt hier der das übernehmen könnte, ansonsten werde ich die Leute selbst befragen, wen sie haben wollen oder wer sich dafür zur Verfügung stellt.“ Sham nickte und begann sich etwas zu notieren.
„So soll es sein.“ Jadar erhob sich und trat aus dem Besprechungsraum heraus. Er kam gerade in der Eingangshalle an, als die Kraji an der Tür stand und sich mit jemandem unterhielt. Er war neugierig und blickte über ihre Schulter und erblickte dabei Fawlik.
„Ihr könnt gehen Kraji, ab hier übernehme ich.“ Die Kraji deutete ein nicken an und zog sich zurück.
„Und wie sieht es aus?“
„Nun die Jungs wollten diese Nacht darüber schlafen. Ich habe ihnen gesagt das Sayari tot ist und viele waren erleichtert, aber andere auch geschockt, da sie nun vor dem nichts stehen. Ich denke aber, dass sie kommen werden“, erklärte Fawlik. Jadar nickte und rieb sich kurz das Kinn.
„Gut komm erst mal rein.“ Fawlik setzte sich in Bewegung und er ging mit Jadar die Stufen hinauf in Richtung Zimmer.
„Wenn du morgen früh zu ihnen gehst, sag ihnen sie sollen jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in der Stadt suchen. Die es schwer haben zu Leben und diese sollen sie hier hinbringen. Wir wollen die Menschen nach Themera schicken, damit sie sich dort ein neues Leben aufbauen können.“ Fawlik blickte ihn leicht verdutzt an.
„Und was ist mit mir und den anderen Jungs?“
„Nun ich denke, dass einige der Jungs alt genug sind und wir werden die Erwachsenen euch mitgehen lassen. Ihr werdet ein eigenes Haus haben und die Erwachsenen sorgen dafür, dass ihr ausgebildet werdet und euch selbst versorgen könnt. So funktioniert das in einem Dorf.“ Fawliks Blick wurde traurig, aber er nickte. Jadar bemerkte den Blick und hob einen Mundwinkel an.
„Und für dich habe ich eine spezielle Aufgabe. Du wirst mich begleiten in die Hauptstadt. Ich möchte, dass du dort ausgebildet wirst. Danach sehen wir weiter.“ Fawlik begann zu grinsen und sprang vor Freude in die Luft.
„Ich werde alles tun, damit ich euch stolz mache. Ich werde zwar meine Brüder vermissen, aber das wird ein Abenteuer! Und ich werde irgendwann zurückkehren und ihnen berichten.“
Am darauf folgenden Morgen, drangen durch Jadars Fenster mehrere Stimmen, die ihn aus dem Schlaf rissen. Er erhob sich rasch und blickte hinunter in den Hof. Dort standen knapp fünfzehn Personen zwischen zehn und siebzehn Jahren. Alle hatten Kleidung an, die bereits sehr abgenutzt und dreckig schienen. Jadar wandte sich herum um schnell seine Kleidung überzuwerfen. Er trat aus seinem Zimmer und machte sich auf den Weg zum Hauptausgang der Residenz um vor die Jungen zu treten. Diese wandten sich alle samt zur Türe, als sie bemerkten, dass sie geöffnet wurde und schauten ihn neugierig an. Einer der Jungen trat einen Schritt vor.
„Du hast uns also herbestellen lassen, nachdem du Mitschuld an dem Tot von Sayari warst?“ Jadar nickte knapp.
„Ja, ich bin Jadar El Hadary der Prinz der Medin Wüste. Ich habe euch herbestellt, da ich ein Anliegen an euch habe, dass nicht nur mir, sondern auch euch und der ganzen Stadt helfen wird. Ihr sollt durch die Stadt gehen und jeden armen Menschen einsammeln und hierher bitten am morgigen Tag. Heute könnt ihr hier mit mir und dem amtierenden Stadtverwalter Sham essen und auch in der Residenz übernachten. Dies ist mein Angebot!“, sprach er zu den Jungen mit lauter Stimme, damit jeder ihn verstehen konnte. Die Jungen stellten sich in einem großen Kreis auf und begannen zu diskutieren, während Jadar abwartend mit verschränkten Armen vor der Türe stand. Die Jungen wandten sich wieder Jadar zu.
„Wir wollen aber so viel essen dürfen, wie wir wollen! Und auch jetzt wollen wir etwas Essbares haben, da viele seit gestern nichts mehr hatten“, erklärte er.
Jadar drehte sich um und klopfte laut gegen die offenstehende Tür. Die Kraji kam mit schnellen Schritten auf ihn zu.
„Geh bitte in die Küche und besorge eine Kiste Brotlaibe für die Jungs.“ Die Kraji nickte und verschwand wieder im Gebäude.
„Ihr werdet gleich Brotlaibe bekommen, die euch über den Tag reichen sollten, bevor es heute Abend die richtigen Speisen gibt.“ Jadar sah den Jungen an, dass sie sich über diese Worte mehr als freuten.
Hinter Jadar kam die Kraji aus dem Gebäude heraus mit einem Korb, der bis zum Rand gefüllt war mit Brot. Sie blieb vor der Gruppe Jungs stehen.
„Los bedient euch“, sagte sie in einem gebrochenen Medinisch. Die Jungs gingen auf den Korb zu und ein Gedränge entstand, aber jeder bekam etwas ab. Sie wandten sich herum und verschwanden in der Stadt. Jadar beobachtete die Szene mit einem angehobenen Mundwinkel.
„Wisst ihr, wo sich Sham gerade aufhält?“
„Ich weiß, dass er vorhin in den Essraum kam um etwas zu sich zu nehmen. Ich denke, dass er immer noch dort sitzt, Herr“, antwortete die Kraji, bevor sie an Jadar vorbei trat mit dem leeren Korb und in das Innere der Residenz ging. Jadar wandte sich herum, um ihr zu folgen. Er suchte den Speiseraum auf und erblickte Sham beim Frühstück.
„Lass es dir schmecken“, sagte er, bevor er sich auf einem freien Platz niederließ. Sham blickte kurz auf und nickte ihm zu.
„Danke, mein Prinz“, sprach er flüchtig, während er sich ein Stück Brot in den Mund schob.
„Am besten hört ihr nur einfach zu. Ich habe vorhin mit den Jungen draußen gesprochen und sie sind nun in der Stadt unterwegs und treiben alle Armen zusammen, damit wir sie nach Themera bringen können. Ihr müsst allerdings wie besprochen für Nahrung und Münzen sorgen. Solange die Bürger sich nicht entschieden haben, wer über das Dorf wacht, wird einer meiner Mahari dies übernehmen, denn die werden so lange dortbleiben, bis eure Männer fähig genug sind, dass Dorf im Notfall zu verteidigen. Ich wäre dafür, dass ihr dort einen Stützpunkt an der Grenze einrichtet, damit so etwas nicht noch einmal passieren kann.“ Sham nickte.
„Ich werde nach dem Frühstück alles veranlassen, damit dann morgen bereits alles bereitsteht. Die Nahrungslieferung sollte heute ankommen. Der Bote war rechtzeitig da, damit sie mehr senden konnten.“ Jadar nickte ihm entgegen, erhob sich wieder von seinem Platz und wandte sich ab. Bevor er zur Tür raus ging wandte er den Kopf noch einmal herum.
„Ach ja, ich werde den kleinen mitnehmen nach Bariya, denn er ist mir ans Herz gewachsen.“ Sham runzelte kurz die Stirn und zuckte mit den Achseln ohne ein weiteres Wort aß er weiter. Jadar ging zur Tür hinaus. Seine Füße trugen ihn zum Übungsplatz, wo Sethos die Männer bereits wieder trainierte. Er ging über den Platz geraden Weges auf Sethos zu der vor den Männern stand und Anweisungen brüllte. Er wartete kurz ab, damit er Sethos nicht unterbrach.
„Ihr Wüstenratten seid immer noch genau so langsam wie gestern! Strengt euch an!“, schrie Sethos.
„Vielleicht sollten wir ihnen mal zeigen, wie es richtig geht“, brachte er hervor. Sethos wandte den Kopf zu ihm herum und legte die Stirn in Falten.
„Ich glaube nicht, dass du dich seit letztem Jahr groß verbessert hast, aber können wir gerne. Stab gegen Stab?“ Jadar nickte ihm entgegen.
„Pause ihr Ratten und an den Rand des Platzes sofort! Nun zeigen wir euch mal, was aus euch werden kann!“ Sethos begab sich in das Übungswaffenzelt und holte zwei Stangen heraus die in der Länge den Speeren ähnelten. Er reichte einen an Jadar weiter und begab sich in die Mitte des Platzes.
„Nun passt genau auf ihr Ratten!“ Jadar stellte sich ihm gegenüber und ging in Kampfhaltung. Als er sah, dass Sethos sich in Kampfhaltung begab, zögerte er nicht länger und holte aus um den Angriff einzuleiten. Sethos blockte diesen Schlag mit Leichtigkeit ab. Es folgte ein rascher Schlagabtausch zwischen den beiden Kontrahenten und beide schienen sich nichts schenken zu wollen. In einem unachtsamen Moment jedoch passierte es und Sethos gelangte mit seinem Stab an Jadar seine Beine und zog sie unter ihm hinweg. Jadar ging in diesem Moment zu Boden. Er landete hart auf seinem Rücken.
„Verdammt, das gibt es doch nicht“, knurrte er.
„Du bist gut und ich denke, dass du das nächste Mal besser auf deine Lücken achtest. Dann kann es sogar passieren, dass du mich besiegst“, erwiderte Sethos und hielt Jadar eine Hand hin um ihm aufzuhelfen. Danach wandte er sich an seine Schüler.
„Seht ihr, das könnt ihr lernen und dann werdet ihr mit keinem Gegner mehr Probleme haben und könnt das Volk schützen!“ Die Männer standen auf und verneigten sich tief vor Sethos.
„Und jetzt macht ihr Ausdauertraining! Einmal um die Stadt und wieder hier hin!“ Die Männer keuchten laut.
„Los!“, schrie Sethos laut. Die Männer setzten sich in Bewegung und folgten seiner Anweisung. Sethos wandte sich an Jadar und blickte ihn an.
„Ich bin gekommen, weil ich dir sagen wollte, dass ich morgen abreise. Ich werde den Jungen mit nach Bariya nehmen. Ich denke, dass du hier noch mehr als genug zu tun hast“, sagte Jadar missmutig. Sethos nickte ihm entgegen.
„Ja habe ich, aber auch ich werde sicher zurückkommen! Es wird nur etwas dauern, aber ich mache mir da keine Sorgen.“ Sethos ging auf Jadar zu und nahm ihn in den Arm wie ein Vater seinen eigenen Sohn.
„Pass auf der Reise bitte auf dich auf“, flüsterte er ihm zu.
„Das werde ich.“ Jadar wandte sich nachdem die Umarmung gelöst wurde herum und verließ den Übungsplatz. Er ging zurück zur Residenz und auf dem Vorplatz begegnete er Fawlik.
„Ich denke, dass wir von Themera abreisen werden. Morgen kommen die Bürger und die werden wir nach Themera bringen. Sham kümmert sich darum, dass sie alles Nötige erhalten. Du solltest dich schon einmal darauf vorbereiten, dass morgen ein langer Tag wird und es eine lange Reise wird.“ Fawlik legte seine Hände hinter den Kopf und legte den Kopf zur Seite.
„Wir gehen aber nicht zu Fuß durch die Wüste oder?“
„Nein, wir teilen uns ein Kamel und reiten täglich von morgens bis abends. Nachts stelle ich uns ein Zelt auf, dass wird zwar etwas eng, aber es wird reichen für die Reise. Jedes Kamel hat ein Notfallzelt am Sattel, falls man einmal in der Wüste übernachten muss.“
„Und wieso kaufen wir uns kein größeres?“, fragte Fawlik neugierig.
„Wer soll das denn tragen? Es wäre viel zu umständlich.“ Fawlik zuckte mit seinen Achseln. Jadar legte ein sanftes Lächeln auf die Lippen. Anschließend betraten beide die Residenz von Sham.
Am nächsten Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen über dem Horizont erschienen erhob sich Jadar aus dem Bett und zog sich seine Kleidung an. Er trat aus seinem Zimmer heraus und klopfte beim Nebenzimmer, wo Fawlik schlief, an. Er wartete kurz, doch es gab keine Reaktion. Er entschied sich einfach hineinzugehen und öffnete langsam die Türe. Fawlik lag in dem Bett unter einem Berg aus Decken und Kissen. Schmunzelnd entfernte Jadar alles von ihm. Fawlik begann zu murren und sich im Bett zu wälzen.
„Na los raus mit dir wir haben heute viel zu tun.“
„Ich mag aber nicht…“, protestierte Fawlik.
„Soll ich etwa doch ohne dich nach Bariya reiten?“, sagte er grinsend.
„Was?! Nein!“, antwortete er laut ehe er kerzengerade im Bett saß. Er streckte sich kurz und stand auf um sich anzuziehen.
„Ich geh schon Mal zum Frühstück und anschließend reiten wir vor die Stadt“, erklärte Jadar, bevor er das Zimmer verließ und in den Speiseraum ging. Noch nicht einmal Sham war auf den Beinen und Jadar setzte sich alleine an den Tisch, der bereits gedeckt war und nahm sich etwas Brot. Kurz darauf kam Fawlik bereits hinein und setzte sich um es ihm gleich zu tun. Nachdem beide mit dem Frühstück fertig waren begaben sie sich zum Stall um das Kamel abzuholen.
Sie ritten Richtung Stadtausgang und Jadar erwartete eine Überraschung. Es waren mehr Leute, als er dachte. Es war eine Menge, die er spontan nicht hätte in Zahlen fassen können, aber schätzen würde er um die zweitausend Menschen. Jadar ritt das Kamel recht nah heran um alles zu überblicken.
„Bewohner von Nifaya! Ich bin Jadar El Hadary der Prinz der Medin Wüste! Ich weiß, dass ihr hungert und in Not seid! Aus diesem Grund habe ich euch hierher gebeten, denn wie ihr vermutlich wisst, wurde das Dorf Themera überfallen und steht komplett leer! Euer Stadtverwalter Sham hat zugestimmt euch Nahrung und Münzen zu geben, wenn ihr in das Dorf übersiedelt, denn da könnt ihr euch eine neue Existenz aufbauen!“, brachte er laut hervor.
„Und wer soll uns beschützen!?“, warf einer der Bewohner ein, woraufhin andere Bewohner anfingen untereinander zu murmeln. Jadar nickte den Bewohnern kurz zu.
„Hört mir zu! Ich habe eintausend Mahari in dem Dorf positioniert und diese werden euch so lange schützen bis Sham seine eigenen Mahari ausgebildet hat! Ihr entscheidet, wer das Dorf vor Stadthalter Sham vertritt! Bis ihr dies entschieden habt wird einer meiner Mahari euch mit Rat und Tat zur Seite stehen! Und ich bitte euch um noch eine Sache! Die Kinder die keine Eltern mehr haben! Nehmt sie bei euch auf und sorgt euch um sie, damit sie nicht mehr stehlen müssen!“ Die Menge begann erneut zu murmeln.
„Was tun die da?“, fragte Fawlik.
„Sie beraten sich nun, ob sie das tun werden oder nicht“, antwortete Jadar leise. Die Menge wurde wieder ruhig, ein Mann trat vor und stellte sich vor die Menge.
„Wer mit kommt nach Themera der solle nun die Hand heben!“ rief er. Die Hände der Leute gingen langsam nacheinander hoch. Je mehr Hände es wurden, desto schneller hob auch der Rest der Menschen die Hand. Jadars Gesicht wurde von einem Lächeln umspielt. Der Mann drehte sich zu Jadar um.
„Es ist entschieden. Wir werden nach Themera mit euch gehen und neu beginnen, aber wir brauchen ein paar Stunden um unsere wichtigsten Erbstücke und Güter zu holen“, erklärte er. Jadar nickte ihm entgegen und viele Menschen setzten sich in Bewegung.
Als die Sonne fast am höchsten Punkt stand waren alle Bewohner mit Sack und Pack bereit und Jadar begleitete sie nach Themera. Als die Menschenmenge mit Jadar dort eintraf hatten die Mahari die letzten Soldaten bereits aus dem Dorf gebracht und warteten auf eine Botschaft darüber, was sie nun tun sollten. Jadar trat an den erst besten Mahari heran. Die Menschen gingen an ihm vorbei und blickten sich im Dorf um. Ebenfalls wurden die Häuser inspiziert und jeder fand einen Platz.
„Mahari, gib an die anderen weiter, dass ihr hier bleiben werdet bis Truppen aus Nifaya herkommen um das Dorf zu schützen. Dir gebe ich die Verantwortung, denn solange die Menschen nicht gewählt haben wirst du Sie in Nifaya bei Stadtverwalter Sham vertreten“, befahl Jadar. Der Mahari blickte kurz verdutzt ehe er sich verneigte.
„Sehr wohl mein Prinz. Wir haben uns in den Häusern niedergelassen, solange wir auf einen Boten warteten“, sagte der Mahari.
„Das habe ich mir bereits gedacht. Ich habe mit Sham bereits gesprochen. Ich bin der Meinung, dass hier ein Posten gebaut werden sollte für die Mahari. Darum solltest du dich als erstes kümmern. Tritt auch heute noch vor die Leute und stell dich ihnen vor.“ Fawlik blickte sich neugierig um, hielt sich aber aus dem Gespräch raus.
„Wenn du keine weiteren Fragen hast Mahari, dann geh und setze um, was ich dir auftrug.“ Der Mahari verbeugte sich erneut und wandte sich um.
„Ich möchte meinem Bruder zumindest noch lebe Wohl sagen“, sagte Fawlik als er versuchte vom Kamel hinunter zu gelangen. Jadar griff ihm dabei unter die Arme und setzte ihn im Sand ab.
„Dann tue das, aber beeile dich, damit wir heute noch etwas Weg schaffen. Fawlik nickte und rannte in das Dorf. Jadar saß auf dem Kamel und wartete.
>> Ich hoffe, dass hier nun alles gut wird und ich das richtige getan habe… sonst wird mein Vater mich einen Kopf kürzer machen, aber so konnte es nicht bleiben. Nun haben die Menschen wenigstens eine Chance <<, dachte Jadar. Fawlik kam zurück zum Kamel mit feuchten Augen und Jadar blickte ihn an.
„Das ist gar nicht so einfach, wie ich dachte.“
„Abschiede sind nie leicht, aber du wirst ihn irgendwann wiedersehen, dass hast du ihm versprochen.“ Fawlik nickte und bestieg mit Jadars Hilfe das Kamel. Jadar wandte das Kamel herum und die beiden begannen ihre Reise nach Bariya.
Die Rückkehr nach Bariya
Nach Tagen, als Jadar und Fawlik endlich die Mauer von Bariya erblickten, war das enge gemeinsame schlafen in die Ferne gerückt und sie konnten aufatmen.
„Ist es das? Sind wir endlich am Ziel angekommen“, fragte Fawlik, woraufhin Jadar nickte.
„Ja, Bariya die größte Stadt in der Wüste und Sitz des Königs.“
„Dann lass uns endlich weiter. Ich bin es leid, dass du mich jede Nacht weckst, weil ich mich zu viel bewege.“ Grinsend trieb Jadar sein Kamel an und möglichst vor Einbruch der Nacht in der Stadt zu sein. Die Sonne war beinahe unter gegangen, als sie an den Toren ankamen.
„Halt!“, rief eine der Wachen und Jadar stoppte das Kamel. Er zog den Stoff vor dem Gesicht hinunter und blickte die Wache mit erhobener Braue an. Der Wachmann schluckte kurz und verbeugte sich vor ihm.
„Es tut mir leid Herr, ich habe euch nicht sofort erkannt. Wer ist der Knabe bei euch?“
„Das ist Fawlik und er wird mit im Palast wohnen. Er darf sich in der Stadt frei bewegen“, erwiderte Jadar, bevor er das Kamel weiter in die Stadt trieb. Auf den Straßen waren die Händler dabei ihre Stände leer zu räumen und vereinzelt wurde noch um Lebensmittel gehandelt. Fawlik begutachtete die Gebäude, je tiefer sie in die Stadt kamen, desto atemberaubender wurden sie.
„Woa… Ich habe solche Gebäude ja schon gesehen, aber so viele? Manche davon sind so riesig, wie das von dem Stadtherrn“, stellte er fest. Kurz darauf kamen sie vor den Toren des Palastes an, vor dem zwei Mahari Wache hielten. Als sie den Prinzen erblickten sputeten sie sich das Tor zu öffnen und sich vor ihm zu verbeugen. Fawliks Augen wurden groß, als er sich den Palast ansah und seine Kinnlade viel langsam hinunter. Ein Stallbursche kam angerannt und wollte das Kamel holen.
„Fawlik?“ fragte er, da Fawlik stumm und steif vor ihm saß. Er bekam im ersten Moment auch keinerlei Reaktion. Er stupste ihn leicht an und Fawlik zuckte zusammen.
„Wa... Was?“
„Wir sind da. Wir müssen absteigen.“
„Oh, ja ja…“ Fawlik riss sich von dem Anblick des Palastes los und begann abzusteigen. Der Stalljunge half ihm von dem Kamel heile herunter zu kommen. Jadar stieg anschließend ab und nickte dem Stalljungen entgegen. Er verbeugte sich kurzerhand und wandte sich herum um mit dem Kamel in Richtung Ställe zu marschieren.
Jadar ging voran in Richtung der großen doppelten Haupttüre vor dem ebenfalls Wachen standen. Als sie sahen das Jadar auf sie zu kamen, klopften sie bereits. Das Personal öffnete die Türen und Jadar konnte mit Fawlik zusammen einfach von draußen hinein gehen ohne zu stoppen. Jadar wandte sich zu dem Diener der die Türe öffnete.
„Sagt, wie geht es meinem Vater und meinem Bruder?“
„Euer Vater ist wohl auf. Er benötigt noch etwas Hilfe, aber er regiert bereits wieder ordnungsgemäß Herr“, antwortete der Diener ohne Jadar in die Augen zu blicken.
„Gut. Wo finde ich ihn? Richtet bitte ein Zimmer her für meinen Begleiter Fawlik und bringt ihn dort hin, denn er wird erst einmal hierbleiben“, befahl Jadar.
„Euer Vater ist noch in seinem Arbeitszimmer. Den Jungen nehme ich dann mit mir und werde ihm das Zimmer und alle wichtigen Räume zeigen, damit er sich nicht verirrt.“ Jadar nickte dem Diener entgegen und sah zu Fawlik der sich geistesabwesend ein Gemälde, auf dem ein Porträt eingefangen wurde, ansah. Jadar ging zu ihm hinüber.
„Das ist angeblich Zuberi. Der erste König und Herrscher über die Wüste. Ich möchte das du dir gleich alles zeigen lässt und anschließend hast du dir eine erholsame Nacht verdient. Ich werde nun mit meinem Vater sprechen“, erklärte Jadar. Fawlik nickte kurz und wandte sich dem Diener zu. Jadar ging in den nächsten Stock und zum Arbeitszimmer seines Vaters. Er klopfte kurz an die Tür, bevor er eintrat. König Khnemu saß hinter einem Tisch, auf dem einige Papiere lagen, sowie Tinte und Feder bereitstanden. Ihm gegenüber Jadars Bruder Narmar. Beide blickten zur Tür hinüber als Jadar mit neutraler Mine eintrat. Jadar nickte beiden zu ehe er sich auf den zweiten Stuhl vor dem Tisch setzte. Im Arbeitszimmer gab es allerhand edle Seide und ausgestellte Skulpturen, neben den üblichen Bücherregalen und Gemälden.
„Wann bist du angekommen? Und warum hat das so lange gedauert?“, fragte König Khnemu. Jadar blickte kurz hinüber zu seinem Bruder, dem ein Grinsen auf den Lippen lag.
„Ich habe doch einen Boten hier her entsandt um dir zu sagen, dass ich länger brauche.“
„Der ist bei mir nicht angekommen“, entgegnete Khnemu.
„Nun ist auch egal, erzähle was dort vor sich ging und warum du länger weg warst.“
Jadar begann die Geschichte zu erzählen. Der König hörte ihm aufmerksam zu, verzog dabei jedoch keine Miene. Sein Bruder schien eher gelangweilt von seinen Ausführungen und lehnte den Kopf auf seine Hand. Nachdem Jadar zum Ende gekommen war, herrschte einen Moment Stille im Raum und beide Brüder blickten ihren Vater an.
„Du hast dich also als mein Vertreter gesehen, ja? Hast so getan, als wäre es mein Wille?“, sagte er ruhig. Jadar begriff, was sein Vater sagte und ihm wurde mulmig, da sein Vater sich Zeit lies erneut seine Stimme zu erheben.
„Ich bin ziemlich enttäuscht von dir Junge. Du hast gedacht du tust etwas Gutes, was du vielleicht auch hast, aber dennoch bist du nicht der König, sondern ich.“ Seine ruhige Stimme verriet Jadar, dass da mehr hinter stecken würde, als sein Vater ihm sagte.
„Ich werde diese Vorkommnisse nicht dulden und ich sage das nun euch beiden. Jeder im Reich der darüber redet, dem wird mit sofortiger Wirkung die Zunge rausgeschnitten. Es wird keine Aufzeichnungen geben. Dies hat niemals stattgefunden. Ich werde noch heute die Boten losschicken zu Stadthalter Sham und nach Themera“, erklärte er ruhig. Jadars Körper spannte sich leicht an.
>> Was? Wie kann er sowas nur tun? <<, dachte er.
„Des Weiteren kann der Junge erst einmal hierbleiben und wir sprechen uns morgen erneut und dann entscheide ich, wie es weiter geht. Und nun geh, ich habe noch etwas mit deinem Bruder unter vier Augen zu besprechen“, sagte er zu Jadar. Jadars Blick verriet eine leichte Verwirrtheit, aber er hielt sich geschlossen, erhob sich und verließ schweigend den Raum.
>> Irgendwas ist hier doch nicht ganz richtig… << Jadar ging durch den Gang und seine Gedanken kreisten um diese Thematik weiter herum. Ihm blieb jedoch nichts anderes übrig, als auf sein Zimmer zu gehen und sich dort ins Bett zu begeben um mit neuer Kraft einen neuen Tag übersehen zu können.
Am nächsten Morgen hämmerte es an Jadars Tür, wodurch er erwachte.
„Ja? Wer ist da?“, rief er verschlafen.
„Hier ist Fawlik, darf ich reinkommen?“
„Ja, komm ruhig.“
Fawlik öffnete die Tür und trat in den Raum ein. Er ging in Richtung Jadar und grinste, als dieser noch im Bett lag.
„Du musst aufstehen! Ich will die Stadt sehen und Abenteuer erleben!“, sagte er mit erhobener Stimme.
Jadar wälzte sich durch das Bett und wandte den Kopf zu ihm.
„Das können wir gerne machen, aber zuvor müssen wir beide mit meinem Vater sprechen“, erwiderte er, während er sich aus dem Bett erhob um sich anzukleiden. Anschließend ging er mit Fawlik aus dem Zimmer und machte sich auf den Weg zum Arbeitszimmer seines Vaters. Er klopfte kurz an und trat mit Fawlik gemeinsam ein. Khnemu blicke zur Tür auf und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch abwartend. Jadar und Fawlik setzten sich auf die beiden Plätze.
„So Vater, hier bin ich“, begann Jadar die Unterhaltung. Khnemu musterte vor allem Fawlik und schien diesen einen Moment abschätzend zu fixieren, bevor sein Blick zu Jadar fiel.
„Nun, nachdem was du gestern alles berichtet hast. Bin ich zu einer Entscheidung gekommen die dich sicherlich nicht erfreuen wird, aber es ist mein Wille und daran hast du dich zu halten. Du wirst in die Lehre als Todespriester gehen. Du wirst von ihnen lernen, was es heißt König zu sein und den Verlauf des Lebens. Dein Freund darf ebenfalls in diese Lehre gehen. Ihr werdet aus dem Palast ausziehen und im Tempel wohnen, bis die Ausbildung vorüber ist“, erklärte Khnemu. Jadar bekam große Augen und blinzelte. Ihm war in diesem Moment nicht klar, was er darauf erwidern sollte.
„Und ich darf das auch machen?“, fragte Fawlik um sich zu vergewissern. Khnemu blicke ihn kurz an und nickte.
„Aber das kannst du doch nicht machen! Ich dachte immer, dass du uns alles beibringen würdest und was soll ich von Priestern denn groß…“
„Schweig still! Ihr werdet beide heute noch eure Sachen packen und zum Tempel gehen!“, unterbrach Khnemu Jadar. Jadar erhob sich mit zorniger Miene und deutete Fawlik an, dass er folgen solle. Die beiden verließen kommentarlos das Arbeitszimmer. Die beiden gehen durch die Gänge des Palastes.
„Was… Was ist den los?“, sagte Fawlik leise. Jadar schaut ihn nicht an und schwieg einen Moment.
„Das ist doch die Höhe. Was denkt sich mein Vater? Ich habe diese Menschen gerettet und er will jedem der darüber redet die Zunge rausschneiden und mich steckt er in den Tempel? Wozu soll das gut sein?“, murrte Jadar. Fawlik folgte im schweigend durch die Gänge.
„Fawlik, da wir beide nun in den Tempel sollen, pack alles ein, was du bei dir hast und lass dir von einem Diener noch Ersatzkleidung geben. Wir brechen dann sobald wir alles gepackt haben auf.“
Es dauerte nicht lange und die beiden trafen sich vor dem Palast mit Stoffbeuteln, worin sie ihre Kleidung aufbewahrten. Nachdem sie einige Schritte vor gemacht haben, wandte sich Jadar um und blickte den Palast an.
„Ich werde wiederkommen und das als König. Ich werde den Menschen ein guter König sein“, sagt er leise vor sich hin. Fawlik schaut ihn an und lächelt.
„Das bist du für die Menschen in Nifaya und Themera,“ fügte Fawlik an. Jadar hebt einen Mundwinkel verbittert an und wuschelt ihm durch das Haar, bevor die beiden Aufbrechen in Richtung des Tempels, der am östlichen Stadtrand direkt an der Mauer lag. Es war ein windiger Tag und der Sand zwischen den Gebäuden wurde aufgewirbelt wodurch Sandkörner gegen sie peitschten. Sie kamen nach gefühlten Tagen endlich an ihrem Ziel an und standen vor ein Monument der Mediner Baukunst. Dieses Sandsteingebäude war ein Gebilde aus kunstvollen Verschnörkelungen. Beide blickten mit großen Augen das Gebäude an und inspizierten es.
„Das ist wunderschön“, sagte Fawlik und Jadar nickte daraufhin. Die beiden standen noch einen Moment vor den vielen Stufen, die hinauf zum Haupteingang führten, als neben ihnen eine verhüllte Dame trat die einen Korb in den Händen trug der von einem Tuch bedeckt war.
„Ein schönes Gebäude nicht wahr? Aber ihr solltet erst einmal hineinkommen“, hauchte die Dame den beiden entgegen. Jadar und Fawlik wandten synchron den Kopf in Richtung der Dame und musterten sie. Die Dame wandte den Blick nicht vom Gebäude ab und begann die Stufen hoch zu steigen.
Jadar und Fawlik begaben sich auch auf den Weg um den Eingang zu erreichen. Oben angelangt kam ihn bereits die Dame wieder entgegen und blickte die beiden nacheinander an. Jadars Blick traf auf den der Dame und er runzelte nachdenklich die Stirn.
>> Ich kenne dies blauen Augen doch… Aber woher? <<
Nakia Ahid
Jahr 13-23, Athyrianischer Zeitrechnung
In einem kleinen Sandsteinhaus in Bariya stand die acht Jährige Nakia. Eigentlich war sie wie alle anderen Kinder, mit einer Ausnahme. Sie hatte keine dunklen Augen, wie die meisten Menschen, sondern blaue, blau wie der wolkenlose Himmel. Ihr dunkelbraunes Haar war lang und sie lebte allein mit ihrer Mutter, die ihr Geld mit nähen verdiente. Wenn sie auf dem Markt gemeinsam Einkäufe erledigten begannen die Menschen, die Nakias blauen Augen sahen zu tuscheln. „Da schau da ist sie mit ihrer Hexenmutter“, oder „Da ist das Mädchen, dass aus dem Himmel kommt.“ Es war nicht alles negativ, aber dennoch wurde sie gemieden. Dies übertrug sich auch auf die anderen Kinder, aber das störte Nakia nicht, denn sie hatte schließlich noch ihre Mutter. An einem Morgen, als ihre Mutter in der Küche stand, kam Nakia gerade aus dem Bett und ein Mann stand bei ihrer Mutter.
„Wer ist das?“, fragte Nakia neugierig, als sie den Mann musterte. Er trug eine seidene Robe in Dunkelbraun und seine Finger waren verziert mit Ringen. Um den Hals trug er eine Kette, dass ein Zeichen besaß, dass Nakia nicht kannte.
„Das ist Shukran. Er ist Batal des Tempels hier in Bariya“, antwortete ihre Mutter, bevor sie sich zu ihr wandte und vor sie hockte.
„Pass auf Kleine, Batal Shukran ist hier, da er dich mit in den Tempel nehmen möchte. Er glaubst du bist etwas ganz Besonderes, wegen deiner blauen Augen.“ Nakia blickt sie mit großen Augen an.
„Das heißt, ich soll hier weg?“, flüsterte Nakia beinahe. Bei der Mutter begannen sich die Augen mit Tränen zu füllen. Sie nickte Nakia entgegen.
„Ja kleines, aber es ist auch zu deinem Besten. Du weißt, dass die Leute reden und manchmal habe ich echt Angst, dass sie dir versuchen werden etwas anzutun.“ Nakia warf sich in die Arme der Mutter und begann zu weinen. Shukran stellte sich hinter die beiden du beobachtete die Szene, bevor er nach einem Moment die Stimme mit strenger Miene erhob.
„Wir sollten aufbrechen, sobald du gepackt hast.“ Nakia löste sich von ihrer Mutter, wischte sich die Tränen ab und lächelte sie an.
„Mach dir keine Sorgen, ich schaff das schon Mutter.“
Sie wandte sich von den beiden ab und ging in ihr Zimmer um in einem Sack die wichtigsten Habseligkeiten unter zu bringen. Nachdem dies geschehen war, stellte sie den Sack bei der Haustüre ab und ging in die Küche zurück.
„Ich bin fertig zum Aufbrechen.“
Shukran nickte und wandte sich herum um zur Haustüre und hinaus zu treten. Nakia ging noch einmal auf ihre Mutter zu um diese in den Arm zu nehmen. Sie ging zu ihrem Sack um diesen über die Schulter zu werfen und folgte Shukran hinaus. Shukran ging mit langsamen Schritten vorraus, damit Nakia folgen konnte.
„Wir müssen auf dem Weg noch jemanden abholen.“
Nakia blickte kurz verdutzt rein, aber erwiderte nichts auf die Aussage. Sie gingen über den Marktplatz und in eine Gasse hinein. Am Ende der Gasse stand ein Sandsteinhaus, dass aussah, als würde es jeden Moment zusammenfallen. Nakia runzelte die Stirn und blieb einige Meter vor dem Gebäude stehen, als Shukran an die Türe schritt und anklopfte. Aufgemacht wurde ihm von einer Dame, die am liebsten die Türe wieder zu gemacht hätte. Nakia verstand diese Verhaltensweise nicht und beobachtete die Szene. Shukran blieb ruhig und die Mutter ließ ihn in das Haus hinein. Nakia lehnte sich während sie wartete an die Gassenwand und stellte ihren Sack neben sich ab.
>> Ich bin gespannt, wie es im Tempel wird. Ob ich am Ende sehr geachtet werde nach dem ich da wieder rauskomme? <<, fragte sie sich. Die Türe zum Haus öffnete sich und Shukran trat, mit einem etwas rundlicheren Jungen, den er an der Hand hielt heraus. Die Mutter unter Tränen kroch dahinter.
„Lasst mir meinen Sohn!“, rief sie.
Der Junge weinte bitterlich, doch Shukran zog ihn mit sich. Als sie an Nakia vorbeikamen, packe die ihr Gepäck und folgte den beiden. Nachdem sie einige Schritte gegangen sind lies Shukran den Jungen los und dieser gesellte sich neben Nakia.
„Es ist alles gut, so schlimm wird es sicherlich nicht. Ich bin Nakia“, lächelte sie ihm entgegen.
„Anwar… Aber ich wollte das gar nicht und meine Mutter auch nicht… Die haben einfach bestimmt, dass ich in dem Tempel muss und ich will das gar nicht. Ich kenne doch da niemanden“, erwiderte er.
„Das stimmt nicht. Du kennst doch mich und wenn du willst dann passe ich auf dich auf.“
„Ein Mädchen auf mich aufpassen?“ Nun begann er zu lächeln und sah sie an.
„Du kannst ja doch Lächeln.“ Sie kamen am Tempel an und Shukran zeigte ihnen Ihre Räume. Diese waren sehr kahl und kühl eingerichtet. Es gab lediglich einen Schlafplatz, einen Schrank und einen Tisch. Es erinnerte beinah an eine Zelle. Zu ihrem Glück hatten Nakia und Anwar ihre Zimmer direkt nebeneinander.
„Wenn ihr ausgepackt habt, beginnt der Unterricht für euch. Ihr werdet sowohl geistig, als auch körperlich unterrichtet. Wir treffen uns am Eingang des Tempels“, sagte Shukran. Nakia und Anwar entpackten ihre Habseligkeiten und trafen sich anschließend vor den Zimmern.
„Auch fertig? Dann kann es ja losgehen. Ich bin gespannt wie es wird“, entgegnete Nakia ihm. Anwar nickte daraufhin und sie machten sich auf den Weg vor den Tempel, wo Shukran bereits auf die beiden wartete. Die beiden blickten sich kurz verwirrt um.
„Nur wir beide?“, fragte Nakia neugierig. Shukran nickte knapp.
„Glaubst du, dass wir unendlich viele Schüler aufnehmen? Nein. Es werden nur bestimmte Kinder ausgewählt von uns. Und nun! Als erstes werdet ihr heute mit mir den Kampfstil Ta‘tokry kennen lernen. Dies ist ein Stil, mit dem ihr Angriffe des Gegners zu eurem eigenen Vorteil nutzen könnt. Aber zuvor werden wir an eurer Ausdauer arbeiten, wenn ich mir ansehe, wie rundlich der dicke ist. Dazu lauft ihr nun von hier drei Mal zum Markt und zurück“, erklärte Shukran mit kalter Miene. Anwar bekam große Augen, während Nakia nur nickte.
Nakia wandte sich herum um los zu laufen. Nach einigen Schritten bemerkte sie das Anwar noch immer wie angewurzelt dastand. Sie lief zurück und zog ihn einfach mit sich. Sie waren das erste Mal beim Markt angekommen, als Anwar bereits keuchte und schwitzte, als wäre er gerade aus einem Teich gekommen. Nakia sah ihn verständnislos an.
„Du kannst jetzt nicht schlapp machen! Shukran wird sonst bestimmt härtere Maßnahmen bei dir ergreifen. Also reiß dich zusammen und dann machen wir das hier nun zu Ende!“, schrie sie ihn beinahe schon an. Die Menschen auf dem Markt begannen Blicke auf die beiden zu werfen und Anwar der diese Blicke nicht ertrug, wandte sich herum um weiter zu laufen. Shukran hatte sich bei ihrer ersten Rückkehr im Schneidersitz vor den Eingang des Tempels gesetzt und die Augen geschlossen. Nakia und Anwar kamen an den untersten Stufen an.
„Ihr seid zu langsam! Beeilt euch ein bisschen!“, rief Shukran von oben. Nakia stockte kurz, aber lief direkt weiter und zog Anwar hinter sich her der sich immer mehr mitschleifen ließ.
„Verdammt nun reiß dich mal zusammen. Ich kann dich nicht tragen!“, schnauzte sie ihn an.
Anwar hechelte bereits wie ein Hund, bevor er auf dem halben Wege zum Markt in sich zusammensackte und auf dem Boden liegen blieb. Nakia hob eine ihrer Brauen.
„So ein Mist…“, murmelte sie zu sich selbst. Sie kniete sich neben ihn und tätschelte ihm über die Wangen.
„Hey, was ist mit dir? Steh auf“, sagte sie, aber erhielt keine Antwort. Sie entschloss sich ihn über ihre Schulter zu legen und zu tragen. Diese Aktion kostete sie einiges an Kraft, aber sie schaffte es den Körper von Anwar bis zum Tempel zu tragen und nach Shukran zu rufen. Shukran öffnete die Augen und erhob sich um die Treppen hinab zu steigen.
„Was ist passiert?“, fragte er ernst.
„Er ist einfach umgefallen.“ Shukran nahm ihn Nakia ab und brachte ihn die Stufen hinauf.
„Das Training ist für heute beendet. Geh hinein und suche einen Bruder auf, der dir erzählen soll, was es mit Zuberi auf sich hat, dem ersten König der Wüste.“ Nakia nickte und wanderte durch den Tempel auf der Suche nach einem anderen Priester. Sie fand schließlich einen im Hinterhof, den sie ansprach.
„Entschuldigung. Shukran hat mich geschickt um einen Bruder zu suchen, der mir etwas über Zuberi erzählt“, sprach sie ihn vorsichtig an. Der Priester musterte sie mit einem Blick und nickte knapp.
„Nenn mich Sujan. Lass uns hinein gehen und einen ruhigen Platz aufsuchen“, erwiderte er. Er ging voraus zurück in den Tempel hinein und führte sie durch verworrene Gänge in einen Raum in dem ausschließlich ein Tisch stand mit mehreren Stühlen.
„Hier können wir ungestört reden. Zuberi sagst du, den ersten König der Wüste?“ Nakia nickte ihm entgegen.
„Dann solltest du nun aufmerksam zuhören, da dies sehr wichtig ist. Du wirst nun einiges hören, was kein Mensch außerhalb dieses Tempels weiß. Du musst schwören, dass du es niemals jemandem erzählen wirst oder es Aufzeichnen wirst“, sagte er. Nakia blickte ihn kurzzeitig etwas fragend an.
„Gut, ich schwöre.“ Sujan nickte ihr entgegen und lehnte sich zurück.
„Der Gott des Lebens auch Marrl genannt hat uns Menschen erschaffen. Er platzierte Menschen auf Athyria. Bei uns jedoch in der Wüste, bemerkte er das unsere Ahnen nicht zurechtkommen. Viele starben, verdursteten oder wurden von der Wüste verschluckt. Da dies nicht das war, was er wollte entschloss er sich dazu zu helfen. Er schuf einen weiteren Menschen, den er Zuberi nannte. Zuberi wurde als Sprachrohr von Marrl genutzt, damit er helfen konnte. Zuberi lehrte den Menschen, wie man Sandstein herstellte um Häuser zu bauen. Brachte ihnen bei, wie sie Wasserstellen finden konnten, wie sie um Oasen herum den Boden nutzen konnten, um Pflanzen anzubauen. Wie man Fische aus dem Meer fängt und wie sie sich kleiden mussten um die Hitze zu überstehen. Er brachte Ihnen alles Wichtige bei. Die Menschen bestellten ihn als König, da er sie in dieser Wüste überleben ließ. Aus diesem Grund gibt es auch die Pyramiden. Die Menschen glaubten daran, dass Zuberi in höchster Not wieder auferstehen würde um erneut zu helfen. Genau, wie sie daran glauben, dass der Sohn den Zuberi in seinem Leben zeugte, ebenfalls von Marrl berührt werden würde. Aus diesem Grund ist die Blutlinie des Königs heute noch auf dem Thron. Marrl war zufrieden mit dem was er sah. Zufrieden damit, dass seine Schöpfung nun fähig war zu überleben,“ erklärte er. Nakia hörte ihm gespannt zu bis seine Ausführungen zu Ende waren.
„Aber warum hört man den Namen Marrl so selten, dafür Zuberi so oft?“, hakte sie nach.
„Ich glaube, dass die meisten Menschen den König selbst für einen Gott halten, was er aber nicht ist und auch nie sein wird. Ich glaube sogar, dass niemand seit Zuberi je wieder von einem Gott berührt worden ist.“
„Hm… Das heißt, dass der heutige König ein ganz normaler Mensch ist der Fehler macht, wie andere auch. Aber wenn dieser Gott wirklich existiert, warum lässt er das dann zu?“
„Nun, Marrl seine Wege sind unergründlich. Und es gibt nicht nur ihn, sondern auch andere und ich glaube, dass bei der Größe dieser Welt, wesentlich mehr existiert, als die Kraji oder riesige Wüstenkreaturen.“
„Na, davon ist denke ich auszugehen, da hinter der Wüste noch so viel Unbekanntes liegt. Warum wagt sich aber niemand aus der Wüste?“ Sujan blickt sie kurz nachdenklich an.
„Es heißt, dass es am Anfang auch Menschen gab, die genau das getan haben. Es ist aber nichts darüber bekannt, was aus ihnen geworden ist. Vermutlich ist das aber auch genau der Grund. Das einzige, was wir wissen ist, dass es außerhalb im Westen Dörfer gibt mit Menschen die hellere Haut besitzen als wir und unser Salz gerne kaufen. Manche Händler erzählen auch Geschichten über andere Wesen, wie menschengroße Ratten oder große dünne Gestalten mit langen Ohren, die man Elfen nennt. Und da gibt es wohl auch unterschiedliche Rassen. Dunkel-, Wald-, und Hochelfen. Es heißt, dass ihre Magie sie viele hunderte von Jahren leben lässt. Bisher hat aber niemand je darüber gesprochen, wo diese herkommen. Mehr kann ich dir dazu leider auch nicht sagen.“ Nakia nickt zufrieden.
„Gut das ist immerhin schon eine ganze Menge. Ich denke, dass irgendwann noch einiges mehr bekannt sein wird.
„Wir haben aber auch eine Bibliothek im Haus, wo du einiges nachlesen kannst, wenn du das möchtest.“
„Dafür müsste man mir erst das Lesen und Schreiben beibringen…“ Sujan fällt die Kinnlade hinunter, als er diese Worte hört.
„Ich werde mit Shukran sprechen, dass ich dich unterrichten darf und dann werden wir jeden Tag daran üben, denn das ist das wichtigste überhaupt!“
Nakia legt den Kopf leicht zur Seite und blickte ihn fragend an. Sujan bemerke diesen Blick und seufzte.
„Nun es ist ganz einfach. Zum einen kannst du nur damit Bücher lesen die andere geschrieben haben und erfährst Ereignisse die lange zurück liegen. Wenn du selbst schreiben kannst, dann kannst du dein Wissen an andere weitergeben, indem du sie aufschreibst und es wird nicht in Vergessenheit geraten. Das ist genau wie mit der Magie…“
„Magie?“ Sujan blickte sie erneut verdutzt an.
„Weißt du denn gar nichts?“
„Doch, wie man Kleidung näht“, konterte sie mit einem Lächeln. Sujan rollte kurz seine Augen.
„Nun gut. Ich werde dir auch die Geschichte um den Meteor erzählen, der auf Athyria gefallen ist. Es heißt, dass im Jahr Null die Götter Zwist untereinander hatten, wodurch einer von Ihnen einen Meteoriten auf die Erde lenken konnte. Dieser splitterte und traf an unterschiedlichen Stellen auf Athyria. Die magische Energie, so wird sie von uns genannt drang aus den Splittern heraus und erschuf wohl neues Leben und veränderte altes Leben. Diese Energie durchdrang alles. Auch die Menschen und im Grunde ist jeder Mensch zu Magie fähig, aber viele wissen es nicht und es ist auch ein streng behütetes Geheimnis. Splitter in der Nähe oder gar sie zu berühren verstärken die magischen Möglichkeiten eines Menschen sogar noch.“
Nakia blickte ihn verblüfft an.
„Das heißt, auch ich könnte Magie einsetzen?“ Sujan nickte ihr entgegen.
„Das wirst du hier auch im Tempel erlernen, wenn du soweit bist. Du wirst erst Ta’tokry, sowie lesen und schreiben lernen. Danach wirst du lernen Menschen auf herkömmliche Weise zu verarzten und Tote zu bestatten, wie es bei Königen der Fall ist. Dann wirst du die Magie lernen und wie man sie einsetzt.“
„Das heißt, ich werde eine ganze Weile hier sein…“ seufzte Nakia. Sujan nickte ihr entgegen.
„Sei froh, dass du diese Chance hast, denn es gibt selten Menschen, vor allem in jungen Jahren, die diese Chance erhalten. Wenn, dann sind es adlige oder die Söhne des Königs, aber keine Händlers Kinder.“
„Naja… ich wurde vermutlich nur wegen meiner Augenfarbe hier hingebracht, sonst wäre ich auch nicht anders als die anderen Kinder die dort geblieben sind“, erklärte sie. Sujan blickte sie nachdenklich an.
„Nun es gibt eine alte Prophezeiung, dass ein Kind mit blauen Augen geboren wird und die Welt verändert, aber mehr ist daraus nicht bekannt und keiner weiß, wie das geschehen wird“, sagte er.
„Und ihr glaubt, dass soll ich sein? Das glaube ich nicht“, kicherte sie.
„Wer weiß, dass wird sich irgendwann herausstellen, denn niemand wird seinem Schicksal entgehen, aber nun sollen wir dies hier beenden. Ich werde nun zu Shukran gehen und mit ihm sprechen. Zurück findest du?“
„Ja, aber wo ist hier die Krankenstation ich würde gern nachsehen wie es Anwar geht.“
„Dann komm, ich bring dich hin. Es liegt auf meinem Weg.“
Nakia erhob sich von ihrem Platz und wurde von Sujan auf die Krankenstation begleitet. Dort angelangt verabschiedete er sich und ging weiter. Nakia betrat die Station und blickte sich um. Es war niemand wirklich vor Ort und die meisten Betten waren leer. Sie suchte nach dem Bett, indem Anwar lag und blickte ihn an.
„Anwar?“, sagte sie. Anwar öffnete die Augen und blickte sie an.
„Da bist du ja… ich muss dir danken… du hast mein Leben gerettet… Ich stehe in deiner Schuld“, brachte er hervor. Nakia lächelte ihn herzerweichend an.
„Mach dir darum keine Sorgen. Ich habe dir doch gesagt ich passe auf dich auf.“
„Ja… aber dennoch werde ich das wieder gut machen. Ich werde Tag und Nacht üben, damit ich dich einmal beschützen kann!“, versprach er. Nakia nickte ihm knapp entgegen.
„Wenn dies dein Wunsch ist, dann tue dein Bestes. Ich glaube, dass du das erreichen kannst.“ Sie unterhielten sich über ihre Kindheit und bemerkten dabei, dass sie gar nicht so verschieden waren. Beide wuchsen allein bei ihren Müttern auf, ohne Vater, nur hatte Anwar nicht das Glück, dass seine Mutter etwas bestimmtes gut konnte. Sie hatten deswegen immer wenig Geld und waren froh, wenn sie etwas zu essen hatten. Nach einer Weile verabschiedeten sich die beiden voneinander und Nakia ging auf Erkundungstour im Tempel. Sie traf dabei einige Priester und Priesterinnen, die ihr zunickten. Für sie war der Tempel riesig und sie dachte immer, dass so groß ein Palast sein würde. Sie fand einige Türen, die in verschiedene Räume führten und einige die abgeschlossen waren. Als sie alles gesehen hatte ging sie in Richtung ihres Zimmers. Auf dem Weg dorthin lief sie Sujan schnurstracks in die Arme.
„Ah, da bist du ja. Ich habe mit Shukran gesprochen und ich darf dich unterrichten. Wir werden morgen früh beginnen.“ entgegnete Sujan ihr.
„Gut, Sujan? Warum sind manche Türen hier eigentlich abgeschlossen?“, fragte sie mit unaussprechlicher Neugierde.
„Hinter manchen dieser Türen liegen Geheimnisse verborgen. Nur wenigen ist es gestattet diese zu sehen. Aus diesem Grund wurden die Türen abgeschlossen. Darüber brauchst du dir aber noch keine Gedanken machen. Und nun entschuldige mich. Ich muss mich auf morgen vorbereiten.“ Nakia nickte ihm entgegen und setzte ihren Weg zu ihrem Zimmer fort.
>> Ich möchte aber jetzt wissen, was hinter diesen Türen ist und nicht erst in ein paar Jahren! Vielleicht haben sie dort einen Schatz? Oder sie wissen doch viel mehr als sie sagen? Verdammt… warum bin ich nur so neugierig? <<, dachte sie. Im Zimmer angekommen legte sie sich in ihr Bett und schlief rasch ein.
Die folgenden vier Jahre lernte Nakia rascher und schneller, als jeder vor ihr. Sie lernte Ta‘tokry, Kranke mit bestimmten Pflanzen zu behandeln, Tote einzubalsamieren und das Lesen und Schreiben. Sie war nun zwölf und langsam begann auch ihr Körper sich zu verändern. Sie las jegliche Bücher und verließ den Tempel nur noch für Übungen. An einem Morgen wurde sie von Shukran mit einem lauten klopfen an ihrer Tür geweckt. „Ja... hallo? Was ist? Wer ist da?“, drang es verschlafen aus dem Zimmer. Shukran öffnete die Türe und blickte zu ihr. Nakia stand rasch auf, als sie ihn erblickte und zog sich etwas über.
„Wir sind der Meinung, dass du nun bereit bist. Du bist die erste Priesterin, die so früh für ihre Prüfung bereit war“, erklärte er.
„Prüfung? Welche Prüfung?“ sagte sie verwirrt.
„Mach dich fertig und komm in die große Halle von da aus begleite ich dich weiter.“ Nakia tat, wie ihr gesagt wurde und Shukran entfernte sich aus ihrem Zimmer. Nachdem sie bereit war, verließ sie ihr Zimmer und ging zur Halle, wo Shukran und zwei weitere Priester, die mit Speeren bewaffnet waren, auf sie warteten. Nakia beschlich ein ungutes Gefühl und ihr Körper spannte sich an.
„Geht es um eine Kampfprüfung?“, fragte sie neugierig.
„Nein, es geht um eine Prüfung deines Glaubens“, erwiderte Shukran. Er wandte sich herum und ging voraus. Nakia folgte ihm und die beiden Priester folgten. Sie gingen einige Gänge entlang bevor sie an eine Tür gelangten. Shukran holte einen Schlüssel heraus und öffnete diese. Dahinter verbarg sich eine Treppe, die nach unten führte.
>> Ein Raum unter dem Sand? <<, ging es Nakia durch den Kopf.
„Du weißt, dass du alles, was in diesem Tempel passiert, für dich behalten musst“, sagte er, während er die Treppe hinabstieg. Nakia erwiderte nichts und folgte ihm in die Tiefe. Unten angelangt gelangten sie durch einen Gang der erneut zu einer Tür führte. Diese Tür wurde von Shukran aufgeschlossen. Dahinter befand sich ein großer leerer Raum. In der Mitte des Raumes stand ein Sockel, auf dem etwas in einer violetten Farbe glühte.
„Dies ist der Raum, wo wir erfahren werden, ob du magische Energie in dich aufnehmen kannst ohne verrückt zu werden. Manche Menschen werden bei der Berührung der Splitter verrückt, da sie die Macht der Energie nicht aushalten. Das heißt entweder du bestehst oder du wirst heute noch sterben“, erklärte er. Nakia nickte ernst, als hätte sie ihm nicht richtig zugehört. Ihr blick hing an dem glühen des Splitters.
„Darf ich beginnen?“, fragte sie und Shukran nickte.
Nakia nährte sich langsam dem Splitter. Bereits auf dem Weg dorthin bemerkte sie die Anziehungskraft des Splitters und wie seine Energie ihren Körper zu durchstoßen schien. Sie ließ sich davon nicht beirren und trat weiter auf ihn zu. Als sie vor ihm stand und die Hand ausstreckte um ihn zu berühren blickte sie kurz über die Schulter und erspähte die Priester, die bereit waren sie zu töten. Sie atmete einmal tief durch, bevor sie den Splitter berührte. Eine Macht durchfuhr ihren Körper, die sie nicht für möglich hielt. Plötzlich wurde ihr schwarz vor Augen. Sie sah Bilder vor ihren Augen, die aber nicht real sein konnten. Sie sah, wie sie Königin wurde und mit jemandem über das Land herrschte. Sie sah auch, wie dieser jemand in den Tempel kommen würde. Plötzlich verschwanden die Bilder aus ihrem Kopf und ihre Augen öffneten sich. Sie stand immer noch vor dem Splitter, den ihre Hand berührte. Sie nahm die Hand herunter und wandte sich herum. Sie ging zurück zu Shukran.
„Ein komisches Gefühl.“ Shukran nickte und lächelte leicht.
„Nun bist du bereit die Magie zu erlernen und wirst in jegliche Geheimnisse eingeweiht, die wir besitzen. Sujan wird deine magische Lehre übernehmen. Er ist einer der talentiertesten Priester im Umgang mit der Magie.“
>> Sollte ich darüber reden, was ich gesehen habe? …<<, dachte sie und folgte Shukran wieder an die Oberfläche.
„Für heute gehst du dich ausruhen und morgen beginnt dein neuer Stundenplan“, erklärte er, bevor er sich von ihr abwandte. Nakia nickte knapp und begab sich auf den Weg in Richtung Zimmer. Sie ging nicht in ihr Zimmer hinein, sondern klopfte bei Anwar.
„Ja?“, kam es aus dem Zimmer. Nakia trat hinein und sah Anwar der mittlerweile abgenommen hatte und sogar Muskeln aufgebaut hatte an.
„Anwar… ich kann dir doch vertrauen oder? Und wenn ich dir etwas erzähle wird das bei dir bleiben“, fragte sie leicht unsicher.
„Aber natürlich du hast mir einst das Leben gerettet und nie würde ich irgendwem von etwas erzählen, dass du mir sagst. Ich würde es bis mit in mein Grab nehmen“, erwiderte er.
„Gut. Ich hatte eben meine Prüfung ganz unverhofft. Ich habe dabei Dinge gesehen. Die zeigten mir, wie ich Königin sein werde und mit einem anderen über die Medin Wüste herrschen würde. Sie zeigten mir auch, dass der Mensch, der König sein würde, irgendwann hier im Tempel auftauchen würde. Ich weiß nicht genau, ob ich das glauben soll. Es zeigte mir nämlich nicht, wie das ganze geschehen wird.“
Anwar blickte sie nachdenklich an und erhob sich daraufhin von seinem Platz.
„Wenn es die Wahrheit ist, dann müsste der Erstgeborene Sohn vom König irgendwann hier auftauchen. Soviel ich weiß befindet der sich aber momentan in der Kampfausbildung. Das heißt, dass dies noch dauern kann.“
„Seit ich das nun gesehen habe, will ich auch das das geschieht und ich werde alles dafür tun. Alles.“
„Wenn ich dir behilflich sein kann dann sag es mir.“
„Werde ich, aber zuerst muss ich die Magie beherrschen lernen, denn nur dann ist es sinnvoll etwas zu unternehmen“, entgegnete sie ihm mit einem leicht düsteren grinsen. Sie verließ den Raum und ging in ihr eigenes Zimmer. Sie setzte sich an den Tisch und nahm sich Papier und Feder zur Hand um einige Dinge zu notieren.
Zwei Jahre lang trainierte sie jeden Tag die Magie und übertraf jeden Magier im Tempel mit ihrer Schnelligkeit und Präzision der Anwendung. Es war beinahe so, als wäre sie dafür geboren gewesen. Sujan schaute ihr dabei zu, wie sie einem Menschen ein Bein heilte, dass eigentlich hätte abgenommen werden müssen. Sie schaffte es mittels ihrer heilenden Hände dieses Bein zu retten und der Mann wurde wieder ganz gesund.
„Ich kann dir nichts neues mehr beibringen. Du hast Dinge gelernt, für die manche Jahrzehnte benötigen. Ich muss gestehen das ich neidisch auf dich bin Nakia“, erklärte Sujan.
„Dann werde ich vielleicht irgendwann dir etwas Neues beibringen können“, erwiderte sie grinsend. Sujan begann ebenfalls zu grinsen und nickte ihr entgegen.
„Dies war nun jedenfalls die letzte Stunde. Ab jetzt wirst du alleine weiter machen und die Magie selbst erforschen müssen.“ Nakia nickte bei diesen Worten und verbeugte sich vor ihm. Nakia ließ ihn zurück und ging zu dem Zimmer von Anwar um dort einfach einzutreten. Anwar war wie gewohnt in seinem Zimmer und trainierte für sich. Nakia räusperte sich, da er sie anscheinend nicht reinkommen gehört hatte. Erst jetzt wandte er den Kopf zu ihr mit einem Lächeln und blickte sie an.
„Es ist so weit. Nun werde ich deine Hilfe benötigen. Wir werden gemeinsam Shukran umbringen“, sagte sie und Anwar wurde blass.
„Du willst was? Aber warum? Er war doch unser Ausbilder im Kampf“, erkläre er.
„Ja und er ist der Batal des Tempels. Ich will diesen Tempel beherrschen, damit ich von hier aus meine Ziele weiterverfolgen kann und dafür muss Batal Shukran sterben! Ich werde den Prinzen, wenn er hier ankommt selbst ausbilden, denn nur so kann ich ihm näherkommen.“ Anwar beruhigte sich kurz daraufhin und seufzte.
„Du hast mein Leben gerettet, also was muss ich tun?“
„Du wirst ihn beobachten und mir Bericht erstatten, wie sein Tagesablauf ist. Ich will wissen, wann er in seinem Zimmer ist, wann er in seinem Arbeitszimmer ist und wann er nicht hier ist. Dann werde ich alles vorbereiten. Und an dem Tag, wo es soweit ist wirst du dafür sorgen, dass niemand es mitbekommt, wenn ich ihn töte. Daraufhin sagen wir, dass wir ihn tot aufgefunden haben und es keinen rechtmäßigen Nachfolger gibt. Ich werde den anderen dann klar machen, dass ich am schnellsten gelernt habe und sie alle übertreffe und das einzig richtige ist, wenn ich seinen Platz einnehme. Wenn sich mir jemand in den Weg stellt, werden wir ihn ebenfalls töten.“ Anwar lauschte den Ausführungen aufmerksam und nickte ab und an.
„Gut ich fange sofort an.“ Anwar bewegte sich aus seinem Zimmer heraus und begann seine Aufgabe.
Fünf Tage später war es bereits soweit und Nakia hatte alle benötigten Informationen. Es sollte in seinem Arbeitszimmer passieren. Sie hatte bereits alles Wichtige besorgt um es wie einen Unfall zu inszenieren. In der Nacht betrat sie das Arbeitszimmer von Shukran und brachte ihre Fallen an. Sie hatte in einem Buch davon gelesen, wie man mit einfachen Mitteln eine Flüssigkeit herstellt, die sehr gut brennt und eine die bei Aufprall in Flammen aufgeht. Sie verteilte die Flüssigkeit über den Möbeln und auf dem Boden. Auch seinen Stuhl übergoss sie mit der Flüssigkeit, bevor sie den Raum verließ. Anwar wartete auf sie. Sie warteten ein wenig, da kam er auch bereits um die Ecke und verschwand in seinem Büro. Er war alleine und Nakia ergriff diese Chance und klopfte an.
„Ja?“
Nakia öffnete die Türe und hielt eine Phiole hinter ihrem Rücken versteckt. Sie trat ein und schloss hinter sich die Türe.
„Ich muss mit euch reden und das dringend“, sagte Nakia.
„So? Worum geht es denn?“, fragte er.
„Nun… Darum, dass ich eure Nachfolgerin werde…“, entgegnete sie ihm und holte die Phiole hinaus die sie ihm entgegenwarf. Die Phiole explodierte an seinem Oberkörper und der mit Flüssigkeit durchtränkte Raum, sowie Shukran fingen Feuer. Er schrie und lief hin und her. Er versuchte sich auf dem Boden zu wälzen, aber es war sinnlos. Als er sich nicht mehr rührte verließ sie das Büro, wo Anwar bereits auf sie wartete.
„Es kam niemand vorbei. Es ist alles still“, erklärte er.
„Gut dann laufen wir nun durch die Gänge und rufen „Feuer“, damit die Priester herkommen und das Feuer löschen.“
Sie liefen los und riefen lauthals „Feuer“ durch den Tempel. Nach und nach kamen die Priester angerannt und erblickten das Feuer. Sie liefen in einen Raum um daraus Eimer zu holen und begaben sich zu einem Brunnen, um Wasser zu holen und das Feuer zu löschen. Nachdem das Feuer gelöscht war, erblickten sie die Leiche von Shukran.
„Oh nein… Shukran…“ sagte Sujan traurig. Ein Gemurmel brach unter den Priestern aus und es war zu vernehmen.
„Was sollen wir nun tun?“
„Wer wird nun Batal?“
„Wie soll es weiter gehen?“
Nakia wartete einen Moment ab.
„Ich werde seinen Platz einnehmen“, platzte sie heraus und alle wandten sich zu ihr und blickten sie an. In manchen Gesichtern konnte sie ein leichtes schmunzeln erkennen, doch das von Sujan, blieb hart.
„Ja genau, ihr habt richtig gehört und wer das nicht einsehen möchte, kann mich gerne herausfordern im Ta’tokry um herauszufinden, ob er wirklich besser ist als ich.“ Die Gesichter der Priester wurden neutral. Die meisten schienen sie anzuerkennen, doch einer blickte sie an und entgegnete ihr mit einem scharfen Blick.
„Ich werde es nicht einfach so hinnehmen“, sagte Sujan.
„Das habe ich mir bereits gedacht. Wollen wir es gleich hier herausfinden? Denn jetzt sind alle hier und können selbst sehen, was geschehen wird“, entgegnete sie ihm. Sujan nickte ihr entgegen und die Priester traten zurück um den beiden Kontrahenten Platz zu machen. Sujan begab sich in Stellung ebenso wie Nakia. Sie umkreisten sich einen Moment bevor sie angriffen. Nakia hatte Glück, dass ihr Meister zwar gut in Magie war, aber dafür schlecht im Kampf. Sie griff nach seinem Arm, der ihr entgegen schnellte und drehte ihn so, dass sie sein Anlauf ausnutzen konnte um ihn über sich hinweg zu schleudern. Sujan fiel hart auf den Boden und blieb einen Moment unten, bevor er sich aufraffte. Sujan blickte sie abschätzend an. Er wartete ab und es geschah eine Weile gar nichts. Sie standen sich einfach gegenüber. Nakia der das zu langweilig wurde, ging auf ihn zu und vollführe eine Angriffstechnik, die er nicht kennen konnte, da sie diese aus einem ihrer Bücher hatte. Sie traf ihn an einem bestimmten Punkt zwischen Schulter und Arm. Plötzlich wurde sein Arm schlaff und er konnte diesen nicht mehr bewegen.
„Was… Was hast du gemacht?!“, schrie er.
„Ich habe viel gelesen und in manchen Büchern stehen Dinge, die wohl keinem hier bekannt sind. Aber Mach dir keine Sorgen nach kurzer Zeit kannst du ihn wieder bewegen. Allerdings kann ich dich genauso auch mit einem Fingerzeig umbringen“, erwiderte sie. Sujan starte sie an. Er ließ sich auf die Knie fallen und senkte den Kopf bis die Stirn auf den Boden traf.
„Ich gebe auf Batal Nakia. Es tut mir leid, dass ich mich gegen euch stellen wollte,“, sagte er. Nakia die seine Fähigkeiten zu schätzen wusste, nickte ihm entgegen.
„Gut, noch jemand?“ Ihr Blick viel durch die Runde von Priestern, die sich alle samt auf die Knie fallen ließen um ihr Respekt zu zollen.
„Dann kümmert euch darum das Shukran ordentlich ins Reich der Toten übergehen kann. Und dann schaut, dass dieser Raum wiederhergerichtet wird“, befahl sie. Sie wandte sich von den Priestern ab und ging schnurstracks in ihr Zimmer um einen Moment ruhe zu finden. Dort angelangt atmete sie tief durch. Körperlich war sie ziemlich am Ende ihrer Kräfte und sie legte sich erst einmal auf ihr Bett.
>> Das war der erste Plan. Jetzt muss ich schauen, wie ich an den Prinzen komme. <<
Zwei Jahre, nachdem sie Batal geworden ist, saß sie in ihrem neuen Büro und brütete über Schriften, als es an er Tür klopfte.
„Ja?“ Die Tür öffnete sich und Sujan trat herein. Er ließ sich auf einem Stuhl nieder und blickte sie an.
„Ihr habt mich rufen lassen?“
„Ja, da ich deine Hilfe benötige. Ich bin nun mittlerweile sechzehn und möchte dich um etwas bitten, dass mir sehr wichtig ist.“ Er blickte Nakia an und legte leicht den Kopf schief.
„Ich möchte, dass du mich vorübergehend vertrittst, da ich etwas zu erledigen habe, dass vermutlich etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen wird.“
„Was habt ihr denn vor?“, harte er nach. Nakia schüttelte daraufhin den Kopf.
„Das brauche ich dir nicht zu verraten. Also machst du es?“ Sujan blickte kurz nachdenklich, nickte aber.
„Gut, dann wäre das nun erledigt. Ich werde morgen aufbrechen. Heute Abend werde ich den anderen Brüdern und Schwestern diese Nachricht überbringen. Rufe bitte alle kurz vor Sonnenuntergang in der Halle zusammen.“ Sujan nickte erneut und erhob sich von seinem Platz. Er verließ das Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter sich. Nakia verließ kurz darauf ebenfalls das Arbeitszimmer um sich die wichtigsten Dinge zusammen zu packen die sie benötigte. Als die Sonne langsam unterging, trat sie vor die Priesterschaft und verkündete ihre Abwesenheit. Anschließend zog sie sich in ihr Zimmer zurück, um am nächsten Morgen ausgeschlafen zu sein.
Der nächste Morgen kam und sie verließ bereits in aller Frühe den Tempel mit ihrem Sack Kleidung. Sie trug normale Kleidung, als sei sie ein ganz normales Mädchen von gehobenem Hause. Sie folgte der Straße von Osten nach Westen durch das adeligen Viertel bis sie beim Palast ankam. Sie blickte das Gebäude mit einem leicht misstrauischen Blick an.
>> Dann versuchen wir mal unser Glück. Ich hoffe, dass das nun gut geht, aber wenn das was ich gesehen habe damals stimmt. Dann müssen die mich aufnehmen <<, dachte sie und beruhigte sich mit diesen Gedanken etwas. Sie setzte ihr zuckersüßes Lächeln auf und blickte zu den Wachen. Sie hatte ihre körperlichen Reize betont und sie spürte die lüsternen Blicke der Wachen auf ihrem Körper. In ihr begann eine innere Wut zu kochen, jedoch ließ sie sich nach außen nichts anmerken.
„Die Herren, ich würde gerne mit dem König sprechen, da ich ein Anliegen an ihn habe, dass ihn sehr erfreuen dürfte.“ Die beiden Wachen blickten sich kurz an und daraufhin wieder sie. Einer von beiden kratzte sich am Kopf.
„Ich werde einmal beim König nachfragen, aber laufen sie nicht weg!“, sagte er und lief schleunigst in Richtung Palast. Sie blickte ihm kurz nach und sah den zweiten Wachmann mit ihrem Lächeln an.
„Ist dies nicht eine schwere Arbeit? Den ganzen Tag hier rumstehen und einfach darauf warten, dass irgendwas passiert? Es gäbe doch sicherlich Dinge, die du lieber tun würdest oder?“ Der Wachmann schluckte schwer und versuchte seinen Blick von ihr fern zu halten.
„Nun… nun… natürlich… es gäbe immer Dinge, die man lieber machen würde, als hier rum zu stehen, aber es gibt dafür Münzen und man kann sich etwas leisten, dass reicht als Grund um es zu tun“, stotterte er. Nach einigen Momenten kam der andere komplett außer Atem angerannt und blickte zu Nakia. Er nickte kurz und deutete mit einer Hand zum Eingang des Palastes. Daraufhin beugte er sich vor und legte die Arme auf die Knie um erst einmal wieder zu Luft zu kommen. Nakia lächelte kurz und wandte sich in Richtung Palast. Sie ging mit federnden Schritten darauf zu, am Eingang erwartete sie bereits ein Diener des Königs. Er musterte das Mädchen und hob leicht eine seiner Brauen an.
„Sie möchten also unsere Majestät sprechen?“, fragte er mit einer hochgestochenen Sprechart. Nakia nickte ihm entgegen.
„Nun denn, dann folgt mir bitte. Majestät erwartet euch in seinem Arbeitszimmer.“ Nakia trat an ihm vorbei und er schloss die Türe. Er ging voraus und brachte Nakia zum Arbeitszimmer. Er klopfte sogar für sie an. Nachdem der König herein gebeten hat steckte der Diener kurz den Kopf durch die Tür um ihm mitzuteilen, dass ein Mädchen mit ihm sprechen wolle.
„Los, bring sie schon herein“, hörte man durch die Türe. Der Diener öffnete die Tür ganz, damit sie eintreten konnte. Nach ihr wurde die Tür geschlossen und Khnemu musterte das Mädchen mit lüsternen Blicken.
>> Männer sind doch alle gleich… <<, dachte sie sich und setzte wieder ihr zuckersüßes lächeln auf. Nakia ließ sich auf dem Stuhl nieder und blickte den König an während sie ihren Blick zu Boden lenkte.
„Eure Majestät, ich bin zu euch gekommen, da ich nicht mehr weiß wohin ich soll. Ich hatte die Hoffnung, dass ihr eine Aufgabe für mich in eurem Haus habt. Ich tue wirklich alles.“ König Khnemu lehnte sich grinsend zurück.
„Wirklich alles?“ Nakia atmete kurz durch und nickte dann auf die Frage hin.
„Dann zeig es mir Mädchen…, wenn du gut genug bist, dann darfst du bleiben und ich werde dich als Dienerin behalten, aber ich werde dich auch zu mir rufen, wenn ich dich brauche“, sagte er auffordernd. Nakia zögerte, bevor sie sich von ihrem Platz erhob und um den Schreibtisch herumtrat. Nakia kniete sich vor ihn und begann den König zu streicheln.
>> Da musst du nun durch und dann bist du hier! Dann kannst du auf den richtigen Moment warten und den König überzeugen, dass sein Sohn in den Tempel soll <<, dachte sie. Sie befreite den König aus seiner Kleidung und begann kniend ihm mit ihrem Mund einen wundervollen Höhepunkt zu bescheren. Anschließend blickte der König sie an und keuchte kurz.
„So etwas habe ich noch nie erlebt… Du darfst bleiben… Wie heißt du Mädchen?“
„Nakia Ahid Majestät.“
„Gut Nakia dann begebe dich nach unten und sag meinen Bediensteten sie sollen dir die Zimmer zeigen und dich einer Arbeit zuteilen.“
Nakia nickte und erhob sich um das Arbeitszimmer zu verlassen. Vor der Tür lehnte sie sich an die Wand und Tränen rannen ihr über das Gesicht. Sie fühlte sich ausgenutzt und dreckig.
>> Ich hoffe wirklich, dass ich das richtige tue. <<
In dem Jahr darauf schuftete sie am Hofe als Dienerin. Der König bestellte sie sehr oft zu sich und verlangte alle möglichen Dinge von ihr in seinem Bett. Das Gefühl vom Benutzt werden ließ nicht nach und jedes Mal vergoss sie ein paar Tränen. Aber sie bemerkte nach einiger Zeit auch, dass der König sie zu bestimmten Themen nach Rat fragte und er ihre Antworten in Betracht zog. Nach fast zwei Jahren hatte sie den König so weit, dass er ihr aus der Hand fraß, denn er war so abhängig von ihr, dass er es gar nicht mehr ohne sie im Bett aushalten konnte. Es kam der Tag, an dem er und sein erster Sohn Jadar El Hadary sich auf den Weg in den Westen machen wollten. Als sie eine Woche vor der geplanten abreise, bei Khnemu im Gemach war, verlangte dieser, dass sie zu Jadar ginge um ihm den Harem anzubieten. Als gute Dienerin ging sie natürlich und klopfte bei Jadar an der Türe.
„Ja?“, kam es in einem leicht genervten Ton aus Jadars Gemächern. Nakia prüfte kurz, ob ihr Schleier richtig saß und öffnete anschließend die Türe um den Raum zu betreten.
„Prinz Jadar, Euer Vater schickt mich. Er hat mir befohlen Euch mitzuteilen, dass er sich freuen würde, wenn ihr Euch für die kommende Nacht eine Frau aus dem Herrscher Harem aussuchen würdet, da Eure Reise mehrere Wochen andauern wird“, sagte sie mit einer gefühlvollen Stimme.
>> Das soll mein Mann werden? Der sieht richtig gut aus… <<, dachte sie, wodurch sich ein Lächeln auf ihre Lippen legte. Jadar hob seine Brauen und blickte Nakia verblüfft an. Sein Blick blieb an ihren Augen für einen Moment, der ihr wie eine Ewigkeit schien.
„Nein, danke. Richte meinem ehrenwerten Vater aus, dass ich den Schlaf brauche um seiner Aufgabe gerecht zu werden“, entgegnete Jadar ihr. Nakia verneigte sich tief vor Jadar und verließ ohne ein weiteres Wort an ihn zu richten seine Gemächer. Sie ging wieder zurück zu König Khnemu und berichtete ihm kurz von Jadars Antwort. Khnemu hob nur kurz die Schultern.
„Wer nicht will der hat schon und nun komm her. Ich kann es nicht mehr erwarten.“ Sagte er lüstern zu ihr.
Die Woche bis zur Abreise verging und am Vorabend wolle König Khnemu natürlich seine Nakia bei sich haben. Nakia hat auf diesen Tag gewartet und wusste nun war es Zeit. Sie verabreichte dem König unbemerkt in einem Getränk, welches er nach dem Verkehr immer trank ein Mittel, dass ihn nach einer gewissen Zeit unbeholfen machen würde. Er würde Lähmungserscheinungen davontragen und wisse nicht, wie ihm geschieht. Spätestens dann müsste er umkehren. Nakia hoffte, dass Jadar weiter reiten würde und seinen Vater nachhause schicken würde, damit sie ihn versorgen könne und somit mehr Einfluss auf ihn hätte. Am nächsten Tag ritt der König mit Jadar vom Palast fort und Nakia atmete erleichtert durch.
>> Endlich… Es wird nicht mehr sehr lange dauern und dann wird Jadar im Tempel sein. << Bei diesen Gedanken breitete sich auf ihrem Gesicht ein Lächeln aus.
Nachdem Tage vergangen waren kam ein Alma mit Khnemu in die Stadt zurück. Er war alleine mit ihm, dass bedeutete, dass Jadar wirklich alleine weiter geritten ist. Dies war ihre Chance. Sie sorgte dafür, dass der Alma den König in den Palast brachte in seine eigenen Gemächer. Als sie seine Wunden sah hob sie ihre Brauen an.
„Du darfst nicht sterben!“, rief sie verzweifelt.
„Er wird durchkommen. Ich werde ihm ein Gegengift geben. Das Bein noch einmal ordentlich nähen und verbinden. Ich werde einmal am Tag nach ihm sehen. Es ist nur seltsam, als ich mit ihm auf dem Weg zurück war und er zwischenzeitlich zu sich kam hatte er Lähmungserscheinungen in Armen und Beinen. Er sagte die hatte er bereits, als er in seinem Zelt war, was erklären würde, warum er nicht hinauskam, als es den Angriff gab,“ erklärte der Alma. Nakia nickte knapp und scheuchte den Alma davon, damit er das Gegengift besorgen konnte. Nakia blickte Khnemu an und hockte sich neben ihn auf das Bett.
>> Du wirst wieder und danach schickst du deinen Sohn in den Tempel. <<
Der Alma kam nach einiger Zeit zurück und verabreichte Khnemu das Gegenmittel, bevor er sich um das Bein kümmerte. Als er mit seinen Aufgaben fertig war verließ er die Gemächer des Königs.
>> Ich könnte dir nun helfen, aber… das würde vor dem Alma auffallen und unsere Magie im Tempel soll nicht an das gemeine Volk fallen. Du selbst hast dem Tempel diese Anweisung übergeben. Wie sollte ich dem Alma das morgen denn sonst erklären? Allerdings wenn es dir schlechter gehen sollte, dann werde ich eingreifen, egal ob ich damit eine deiner Regeln breche. <<
Nakia blieb Tag und Nacht bei ihm und achtete auf König Khnemu. Nach vier Tagen wachte er auf und es schien ihm besser zu gehen.
„Hey, du bist ja wach. Wie geht es dir?“
„Es… Es…“ sagte er, bevor er begann zu husten. Nakia nahm einen Krug Wasser zur Hand, hob ihn etwas an und hielt es ihm an den Mund, damit er trinken konnte.
„Danke“ kam es von ihm, bevor Nakia ihn wieder hinunter legte.
Khnemu erholte sich schnell und wollte auch Nakia nach ein paar weiteren Tagen bereits wieder in seinem Bett haben. Sie ließ es zu und als sie nebeneinanderlagen wandte sie den Kopf zu ihm.
„Khnemu? Darf ich mit dir über etwas reden, dass mir am Herzen liegt?“
„Ja natürlich, was gibt es denn?“
„Dein Sohn. Er ist ohne dich weiter geritten und ich denke, dass dies keinen guten Einfluss auf die Mahari hat. Ich meine, überleg einmal, denn er befielt diese nun.“ Khnemu blickte sie nachdenklich an.
„Wenn ich so darüber nachdenke, dann hast du Recht, aber was denkst du soll ich nun dagegen unternehmen?“
„Du kannst jetzt gerade nichts tun, aber wenn er nach Hause zurückkehrt. Du könntest zum einen alle Aufzeichnungen vernichten lassen, worin dies erwähnt wird und zum anderen jedem der darüber nur ein Wort verliert die Zunge herausschneiden. Und was Jadar angeht… Nun was würdest du sagen, wenn du ihn in eine Priesterausbildung im Tempel schickst? Da lernt er mehr, als nur den Kampf“, erklärt sie Khnemu. Erneut blickt er sie nachdenklich an.
„Ich lasse mir das einmal durch den Kopf gehen. Ich habe ja noch etwas Zeit das zu entscheiden.“
„Ja, danke das du mir dein Ohr geliehen hast“, gab Nakia lächelnd zurück.
Die Tage vergingen für Nakia, als würde die Zeit stillstehen. Sie hoffte, dass es nicht mehr lange dauern würde, damit es endlich weiter ginge. Nach einigen Nächten, die sie mit Khnemu verbringen musste der sich beinah schon komplett erholt hatte, kam Jadar endlich wieder. Sie wusste nun ist es bald vorbei, aber dennoch musste sie abwarten, was Khnemu nun tun würde. Sie hatte Glück Khnemu entschied sich dazu Jadar wegzuschicken. Als sie dies hörte, als Jadar mit Fawlik durch den Gang ging beschloss sie so schnell es ginge in den Tempel zurückzukehren. Sie schlich durch die Gänge um sich anders zu bekleiden und holte ihre Münzen, bevor sie sich aus dem Palast davon stahl mit einem Korb in der Hand. Den Wachen am Haupttor entging sie dadurch, dass sie behauptete, dass sie auf den Markt gehen würde. Sie ging vom Palast auch tatsächlich kurz auf den Markt um ein paar Früchte zu besorgen die sie mit in den Tempel nehmen wollte. Als sie vom Markt Richtung Tempel ging, schmunzelte sie als sie Jadar und Fawlik vor den Stufen erblickte.
Der Tempel
Jahr 23 - 25, Athyrianischer Zeitrechnung
Jadar, der immer noch am Eingang des Tempels die Dame anblickte, vergaß jegliche Etikette in diesem Augenblick. Fawlik stand neben ihm und blickt zu Jadar hinauf.
„Ich bin Batal Nakia Ahid und dies ist mein Tempel. Ihr müsst der Sohn des Königs, Jadar sein“, sagte sie in seine Richtung.
„Ja, ja genau und das ist mein Freund Fawlik. Mein Vater hat befohlen, dass er ebenfalls hier im Tempel lernen soll“, gab Jadar mit einer unsicheren Stimme zurück. Nakia nickte den beiden entgegen.
„So soll es sein. Ich werde Jadar ausbilden und Fawlik du wirst von Sujan ausgebildet, da ihr vom Alter zu weit auseinander seid. Eure Zimmer werden jedoch direkt nebeneinander sein und ihr könnt euch oft sehen. Solange ihr in eurer Ausbildung seit, ist es euch nicht gestattet in eure Heimathäuser zurückzukehren. Erst wenn ihr die Ausbildung abgeschlossen habt“, erklärte sie. Die beiden blickten sie leicht geschockt an.
„Das heißt, wir dürfen den Tempel nicht verlassen?“, fragte Fawlik. Nakia nickte ihm entgegen.
„Außer es wird von euren Ausbildern verlangt.“
Die beiden blickten sich kurz an und nickten Nakia entgegen.
„Gut, dann werde ich euch nun eure Zimmer zeigen und ihr könnt euch einrichten. Ihr könnt euch entweder etwas im Tempel umschauen oder euch ausruhen. Wir kommen auf euch zu, wenn euer Training beginnt.“
„Dürfte ich euch gleich einen Moment unter vier Augen sprechen?“, warf Jadar ein. Nakia nickte, bevor sie sich zum Tempel wandte um mit den beiden zu ihren Zimmern zu gehen. Dort zeigte sie zuerst Fawlik sein Zimmer. Sie schloss die Tür und ging mit Jadar zu seinem Zimmer. Sie trat mit hinein und verschloss hinter sich die Tür.
„Kann es sein das wir uns schon einmal im Palast begegnet sind?“, fragte Jadar. Nakia stand wie angewurzelt ohne Regung für einen Moment dort und schien nachdenklich. Sie nickt ihm entgegen.
„Ja, ich bin damals zu euch gekommen, um euch die Nachricht eures Vaters zu überbringen. Bevor ihr nach Themera aufgebrochen seid.“
„Wie kommt es, dass ihr im Palast wart?“ Nakia setzt sich auf einen Stuhl und deutet ihm an, dass er sich ebenfalls setzen solle. Jadar setzt sich ihr gegenüber und blickt sie mit fragendem Blick an.
„Es ist nicht ganz so einfach, aber ich möchte ehrlich mit euch sein. Damals in meiner Ausbildung, ich war bereits weit fortgeschritten, da hatte ich eine Vision davon das ihr in den Tempel kommen würdet. Ich habe mich vor gut zwei Jahren in den Palast begeben. Ich musste mir einen Überblick verschaffen, wie es dazu kommt und habe noch versucht euren Vater davon abzubringen, da es für euch natürlich nicht das Beste ist, wenn ihr verpasst, was euer Vater mit dem Land anstellt und was für Gesetze er erlässt“, erklärte sie ihm mit betrübter Stimme. Jadar nickte ihr entgegen.
„Aber warum wolltet ihr mir dahingehend helfen? Ich meine, das kann doch nicht der einzige Grund sein.“ Nakia schüttelte kurz den Kopf.
„Die Ausbildung im Tempel ist nicht ganz ungefährlich und es wird eine Prüfung geben, wo ihr sterben könntet und ich wollte dies verhindern. Immerhin seid ihr der zukünftige König.“ Jadar nickte zu ihren Ausführungen.
„Dann habt ihr es zu meinem Schutz und zum Schutz des Reiches getan.“ Nakia nickt ihm entgegen.
„Ich finde, dass ihr… ein gut aussehender Mann seid, wenn es mir gestattet ist das zu sagen.“ Jadar begann unwillkürlich zu lächeln. Nakia erhob sich von ihrem Platz und wandte sich zur Tür.
„Ich hoffe ich konnte eure Fragen zufriedenstellend beantworten. Nun entschuldigt mich bitte, denn ich muss noch etwas vorbereiten. Ich werde dich dann zur ersten Stunde abholen.“ Nakia öffnete die Zimmertür und verließ den Raum.
>> Ich muss gestehen, dass mir das alles etwas seltsam vorkommt, aber dennoch schien sie mir ehrlich zu sein. Immerhin ist sie der Batal des Tempels. Und ungewöhnlich mit ihren blauen Augen ist sie auch… <<, dachte sich Jadar und ein Schmunzeln entwich ihm. Er begann seine Kleidung in den Schrank zu räumen und legte sich anschließend nachdenklich auf sein Bett. Es dauerte nicht lange und es klopfte an der Tür.
„Ja?“
Fawlik trat in den Raum hinein.
„Jadar? Hör mal… ich bin dir dankbar, dass du mich mit hier hingenommen hast und bin auch dankbar dafür, dass ich hier nun lernen kann. Was ich dir damit sagen will, wenn ich irgendwann etwas für dich tun kann, dann wird es so sein. Ich möchte, dass du weißt, dass ich immer hinter dir stehe, egal was kommen mag.“ Jadar blickte ihn an und erhob sich vom Bett um auf ihn zuzugehen.
„Ich bin dir dankbar dafür und ich werde auch für dich immer ein Freund sein und werde dich in meiner Nähe behalten“, erwiderte Jadar ihm. Fawlik traten die Tränen in den Augen und er umarmte Jadar.
„Ich danke dir“, schluchzte er. Jadar erwiderte seine Umarmung und schob ihn anschließend von sich um ihm in die Augen zu blicken.
„Und nun bringen wir diese Ausbildung so schnell es geht hinter uns, damit wir hier wieder rauskommen.“ Fawlik nickte und wischte sich die feuchten Augen ab. Er wandte sich herum und öffnete die Tür um hinaus zu treten.
„Wir sehen uns dann später“, sagte er, bevor er die Tür schloss.
Jadar legte sich auf das Bett um einen Moment mit geschlossenen Augen zu entspannen. Er schlief unwillentlich ein.
Jadar schrak hoch, als eine Hand ihn schüttelte.
„Was, wer?“
„Ich bin es nur, Nakia. Du hast das Klopfen nicht gehört, deshalb bin ich reingekommen. Ich muss noch einmal mit dir sprechen,“ erklärte sie, als sie sich zu ihm an den Bettrand setzte. Er blieb liegen und streckte sich kurz, um sich anschließend aufzusetzen.
„Und zwar geht es darum, dass du ja bereits Kampferfahrung hast. Und nach meinem Stand kannst du auch bereits Lesen und Schreiben. Das heißt, dass wir das Kampftraining ausfallen lassen könnten, außer du möchtest es unbedingt. Wenn nicht würden wir ausschließlich den allgemeinen Unterricht mit dir machen und dann recht schnell zu der Prüfung gelangen. Bei deinem Freund jedoch sieht es etwas anders aus. Er wird alles machen müssen und dadurch länger an den Tempel gebunden sein, als du“, erklärte sie. Jadar runzelte die Stirn.
„Das würde bedeuten, wenn ich zwei Jahre brauchen würde, müsste er vermutlich doppelt so lange hierbleiben?“ Nakia nickte auf seine Frage hin.
„Allerdings könntest du auch seine Ausbildung fortführen, wenn du soweit bist. Ich habe noch eine weitere Bitte an dich. Ich möchte, dass du das was dir, als du unterwegs warst genau dokumentierst und dies in die Bibliothek bringst.“ Sie holt ein Buch heraus indem leere Seiten waren. Jadar hob eine Braue, als er das Buch entgegennahm und durchblätterte.
„Mein Vater hat ein Gesetz erlassen, dass kein Mensch je darüber sprechen dürfte und wird alle Aufzeichnungen, die es gibt oder geben wird vernichten lassen.“
„Das mag sein, jedoch hat dein Vater keine Macht über den Tempel. Hier entscheiden wir, was geschieht. Und schon gar nicht wird er unsere Bibliothek betreten dürfen, denn dort sind alle unsere Geheimnisse gelagert.“
„Na gut, ich werde alles niederschreiben, was geschehen ist. Gibt es etwas worauf ich besonders achten muss?“ Nakia schüttelte den Kopf.
„Es wäre gut, wenn möglichst viel auch über die Kraji enthalten wäre, alles was sinnvoll ist.“ Nakia erhob sich von seinem Bett und blickte ihn an.
„Du wirst mich in der Bibliothek finden, wenn du mich heute noch brauchst. Wir können auch dort gerne Einzelheiten wegen des Unterrichtes besprechen. Ansonsten würde ich morgen bei Sonnenaufgang mit dir beginnen.“ Nakia wandte sich zur Türe um den Raum zu verlassen. Jadar blieb auf seinem Bett sitzen.
>> Ich sollte alles aufschreiben. Na gut, wenn sie es so wünscht, werde ich es für sie tun. <<
Jadar begann noch am gleichen Abend. Jede freie Sekunde die er neben seiner Ausbildung hatte, schrieb er an dem Buch. Dabei bemerkte er, dass ihm das Schreiben sogar gefällt und entschloss, dass er nach diesem Buch noch mehr Dinge für sich selbst aufschreiben wollte. Im Sommer war es soweit und er hatte das Ziel erreicht und brachte das Buch zu Nakia. Er fand Nakia in der Bibliothek über einem Buch sitzend. Er legt das Buch vor ihr nieder.
„Ich habe es fertiggestellt und zu dir gebracht, wie du es einst verlangt hast.“ Nakia nickte ihm entgegen und nahm das Buch an sich.
„Ich werde es mir in Ruhe ansehen und anschließend in der Bibliothek lassen.“ Jadar nickte und trat um sie herum, um ihr über die Schulter zu schauen.
„Was liest du denn da?“
„Ich versuche die Geschichte der Priester nachzuvollziehen, da es an manchen Stellen Ungereimtheiten gibt.“ Jadar trat näher an sie heran und beugte sich runter, dass sein Kopf nahe ihrem war. Sie erschauerte kurz und verlor beinah die Fassung. Jadar bemerkte, wie ihm dabei wärmer wurde und das das Blut in seinen Kopf hinaufstieg. Er stellte sich wieder normal hin und schluckte, bevor er sich herum wandte um zu gehen. Auf halben Wege hielt er kurz inne.
„Du hast einen wundervollen Geruch. Den hätte ich gerne öfters bei mir“, sagte er bevor er mit schnellen Schritten die Bibliothek verließ und sie dort sitzen ließ.
>> Ich hoffe, dass sie mir nun nicht böse ist… Oh man und sie ist auch noch meine Ausbilderin… <<
Am Abend, als Jadar bereits in seinem Bett lag und die Decke anblickte klopfte es an seiner Tür.
„Ja?“
Nakia trat ein in einem nahe zu durchsichtigen Gewand und blickte grinsend zu ihm hinüber.
„Du sagtest heute, du hättest mich gerne mehr bei dir?“ Jadars Mund klappte auf, als er sie erblickte und nickte kurz auf ihren Kommentar. Ihm wurde warm im Körper und er bemerkte, dass sich bei ihm jeder Muskel anspannte und sein Lendenschurz sich anhob.
„Ja… ja…“, sagte er knapp. Er musterte sie ausgiebig, hielt sich allerdings zurück.
„Gefalle ich dir etwa so nicht?“, sagte sie provozierend, bevor sie das Gewand über die Arme streifte und es an ihrem Körper hinab zu Boden glitt. Jadar errötete und suchte nach Worten. Ehe er etwas sagen konnte, ging sie auf ihn zu und beugte sich über ihn. Ihr Körper schmiegte sich an seinem und er legt seine Arme sanft um sie herum. Er begann ihren Körper mit zarten Berührungen zu streicheln.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du wirklich zu mir kommen würdest.“
„Pscht…“, hauchte sie ihm zu, bevor sie ihre Lippen, auf die seinen drückte.
Die Tage gingen dahin und Jadar kam Nakia immer näher. Sie bildete ihn aus, doch nach dem Unterricht blieben sie zusammen und unterhielten sich über ihre Erfahrungen in der Kindheit, über die Tücken der Wüste und über den König. Nakia wurde schnell klar, dass Jadar der perfekte König werden würde. Sie blieb beinahe jede Nacht bei ihm, denn sie begann seine Nähe zu mögen und wollte es nicht mehr nur wegen ihrer Vision tun, sondern weil sie begann ihn aufrichtig zu lieben. Sie trug dennoch immer ein Geheimnis mit sich rum, dass sie in manchen Momenten zermürbte, denn sie hatte ihn belogen, was den Palast anging. Sie wollte es ihm auch irgendwann sagen, aber die richtige Zeit müsste dafür erst einmal kommen. In den Nächten, wo sie nicht bei ihm gewesen war, kümmerte sich Jadar um seinen Freund Fawlik dessen Geist sich veränderte. Er lernte fleißig und merkte, dass Fawlik irgendwann ein guter Berater für ihn sein würde. Dadurch das er mit ihm hier war, wurde die Zeit im Tempel erträglicher. Der Sommer verstrich und der Winter, sowie der Jahreswechsel, kamen näher.
Eines morgens klopfte jemand Jadar aus dem Bett. Er erhob sich und öffnete die Türe. Er erblickte Nakia und zwei Priester hinter ihr mit Speeren in der Hand.
„Du bist soweit… Deine Prüfung wird heute stattfinden…“, sagte sie mit einem leicht unsicheren Unterton. Jadar nickte ihr entgegen und trat aus seinem Zimmer heraus. Sie führte ihn durch den Tempel bis sie an die Tür kamen, die von ihr erst aufgeschlossen werden musste. Sie gingen die Treppen hinunter in den Raum, wo der Meteoritensplitter auf seinem Sockel lag. Sie atmete tief durch.
„Von der Magie und den Splittern habe ich dir bereits erzählt … nur ich habe dir bisher verschwiegen, dass wir selbst einen haben. Die Prüfung besteht daraus, dass du zu ihm gehst und ihn berührst, wenn du dies hinbekommst ohne verrückt zu werden, werden wir dich lehren mit der Magie umzugehen. Aber wenn du scheitern solltest, dann wird der Tot auf dich warten“, erklärte Nakia. Jadar nickte verstehend und blickte sie an. Er erkannte die Furcht in ihren Augen.
„Ich werde es schaffen, dem bin ich mir mehr als sicher“, entgegnete er ihr. Sie nickte ihm knapp entgegen.
„Lass dir alle Zeit die du brauchst. Du darfst beginnen.“ Nakia trat zurück und beobachtete das Ganze. Die beiden Priester traten hinter Jadar, die Speerspitzen auf ihn gerichtet. Jadar atmete tief durch und begann sich langsam auf den Splitter zuzubewegen. Nach einigen Metern blieb er stehen und wartete etwas ab. Die Energie des Splitters fiel in ihn ein und ein berauschendes Gefühl machte sich in ihm breit. Nachdem dies ein wenig abgeflaut war und er sich daran gewöhnt hatte, trat er weiter vorwärts auf den Splitter zu. Als er nah an dem Splitter war, betrachtete er ihn sich genau und das violette Glühen, dass von ihm ausging. Er wandte kurz den Kopf herum und sein Blick traf den von Nakia. Sie hatte immer noch die Furcht in den Augen, doch Jadar lächelte sie an und ihre Furcht verschwand ein wenig. Jadar griff nach dem Splitter und jeglicher Muskel in seinem Körper spannte sich an. Jadar schrie kurz auf, als wäre er von einem Speer durchbohrt wurden. Nakia riss ihre Augen auf und blickte zu Jadar. Die beiden Priester blickten erst sich und dann Nakia ratlos an. Nakia schüttelte den Kopf. Jadars Körper begann violett aufzuleuchten, als würde er in einer Flamme stehen. Nach einigen Momenten wurde diese kleiner und verschwand. Jadar wandte sich herum und auch der Splitter hatte sein Glühen verloren. Jadar blickte Nakia mit einem erhobenen Mundwinkel an.
„Ich glaube, ich habe ihn kaputt gemacht“, sagte er.
„Ich… kann das nicht glauben… die komplette Magie des Splitters ist auf dich übergesprungen… Was hast du gefühlt? Hast du irgendwas gesehen? Wie fühlst du dich?“, fragte sie hastig.
„Ich weiß, dass es sich anfühlte, als würde es mich zerreißen. Gesehen habe ich nichts und zwar gar nichts außer Schwärze, aber mir geht es gut. Ich fühl mich ausgeschlafen.“ Nakia musterte ihn kurz und nickte dann nachdenklich.
„Priester lasst uns allein!“, rief sie und die beiden Priester sputeten sich, aus dem Raum heraus zu gehen. Jadar runzelte die Stirn und blickte sie fragend an, bevor er den nicht mehr glühenden Splitter auf dem Podest niederließ.
„Jadar… da du die Prüfung bestanden hast und ich weiß, dass du weiter Leben wirst möchte ich nie wieder solch eine Angst um dich spüren. Ich möchte … ich möchte … ich möchte, dass du mein Gemahl wirst bis zu unserem Tode“, sagte sie mit gefühlvoller Stimme und senkte den Blick nach unten, abwartend. Jadar war im ersten Moment sprachlos, begann aber mit einem Lächeln auf sie zuzugehen und legte seine Arme um sie herum.
„Du bist die Frau, die mich schon seit langsam angezogen hat. Du bist etwas Besonderes und das wusste ich seit dem ersten Moment. Ja… Ich werde dich zu meiner Gemahlin nehmen.“ Nakia traten die Tränen in die Augen und sie hob den Kopf an, damit sie ihre Lippen sanft auf die seinen legen konnte. Nachdem sie sich lösten blickten sie sich gegenseitig in die Augen.
„Dann brauchen wir ja nur noch einen Priester, der uns vermählt“, sagte er grinsend.
„Wir haben genug, aber ich möchte das Sujan uns in den Stand, der Vermählten erhebt. Er hat mich damals ausgebildet und ist ein treuer Vertreter gewesen, als ich nicht hier war“, erklärte sie ihm.
„Gut, so soll es sein dann frag ihn und wir setzen etwas fest, dass wir vermählt werden. Ich werde wohl nur Fawlik einladen und der Rest des Tempels wird wohl vor Ort sein“, grinste er.
„Was ist mit deinem Bruder und deinem Vater?“ Jadar schüttelte den Kopf.
„Ich kann einen Menschen, der im tiefsten seines Herzens kein guter Mensch ist, den er aber vorgibt zu sein, nicht an meiner Hochzeit teilnehmen lassen. Mein Bruder … Nun wir hatten nie die beste Beziehung zu einander.“
„Nun gut, es ist deine Entscheidung. Wenn wir vermählt sind, dann wirst du mit mir gemeinsam den Tempel leiten, aber dennoch werde ich dich in der Magie ausbilden. Nicht das du denkst, dass du deswegen bereits alles gelernt hast.“ Jadar schmunzelte auf diese Ausführung hin und nickte. Sie versuchte ernst zu bleiben, aber musste dann auch schmunzeln und zog ihn zu sich heran um ihn erneut einen Kuss aufzudrücken. Sie lösten sich von einander und begaben sich gemeinsam in die Halle. Sie trennten sich und Jadar begab sich zu Fawliks Zimmer. Er trat in das Zimmer ein mit einem Lächeln.
„Fawlik! Es ist etwas Unglaubliches passiert“, erzählte er schnell. Fawlik der gerade in einem Buch las, blickte auf und hob verwirrt seine Augenbrauen.
„Was gibt es denn so Unglaubliches?“
„Nakia hat mich gefragt, ob ich mich mit ihr vermählen will und ich habe ja gesagt!“, sagte er mit lauter Stimme und einem lachenden Unterton. Fawlik begann zu grinsen.
„Das ist doch wunderbar! Dann hast du nun endlich ein Mädchen an deiner Seite, dass dich auch wirklich mag“, erwiderte Fawlik. Er stand von seinem Platz auf und die beiden führten einen kurzen Freudentanz auf.
Am Abend, als der Jahreswechsel bevorstand und alle in der Halle zusammentrafen stand Nakia neben Jadar und blickte ihn an.
„Jadar… ich möchte jetzt den Bund zwischen uns schließen… Zum Jahresübergang“, flüsterte sie ihm zu.
„Was jetzt? Aber ich habe doch gar nicht die richtige Kleidung an…“, erwiderte er.
„Das macht mir nichts und Sujan würde uns auch jetzt vermählen, wenn wir es wünschen.“
Jadar blickte sie an und bemerkte, wie ein Flehen in ihrem Blick aufleuchtete. Er seufzte.
„Ich kann es dir nicht abschlagen, also gut, dann werden wir es jetzt tun.“
Nakia lächelte erleichtert auf und begab sich nach vorne, damit sie vor allen Anwesenden stand. Sie holte tief Luft.
„Brüder und Schwestern. Ich habe euch etwas mitzuteilen und bitte Sujan, bitte auch zu mir. Ich und Jadar werden uns heute noch bevor der Jahreswechsel vorüber ist vermählen lassen!“, sprach sie laut und ihre Stimme hallte durch die Halle. Sujan trat nach vorn und auch Jadar begab sich auf den Weg. Die beiden stellten sich in Sujans Richtung und er begann mit der traditionellen Vermählungsrede. Jadar und Nakia lächelten sanft und gaben sich das „Ja“-Wort kurz bevor das neue Jahr eingeläutet wurde. Beide begannen den traditionellen Tanz einzuleiten und die Priester begannen mit zu tanzen, obwohl gar keine Musik oder ähnliches vorhanden war. Doch dann begannen die Priesterinnen zu singen, was den Tanz wundervoll untermalte und die Stimmen hallten durch die Halle. Fawlik der auch in der Halle war stand am Rand und klatschte rhythmisch in die Hände zum Gesang. Andere Priester stimmten bei Fawlik mit ein und es entstand trotz weniger Mittel ein warmes Gefühl im Raum.
„Nun ist es doch schöner geworden, als ich es mir hätte erträumen könnte, meine Gemahlin“, flüsterte Jadar, während sie tanzten. Nakia lächelte ihm entgegen und legte ihren Kopf an seine Schulter. Die Zeit verging und nacheinander verließen die Priester langsam die Halle um in ihre Gemächer zurückzukehren. Fawlik blieb mit Nakia und Jadar am Ende alleine zurück. Er ging zu den beiden hinüber um ihnen mit einem Lächeln auf den Lippen zu gratulieren. Die beiden umarmten ihn und die drei gingen gemeinsam in Richtung ihrer Zimmer.
„Dann wünsch ich euch heute Nacht viel Spaß …“ sagte Fawlik breit grinsend. Jadar und Nakia liefen beide leicht rot an, bevor sie ihm entgegen nickten. Fawlik verschwand in seinem Zimmer, sowie Jadar mit Nakia in seinem verschwand.
Am nächsten morgen wurden beide von einer Erschütterung geweckt.
„Was war denn das?“, fragte Jadar. Nakia blickte sich kurz um und zuckte mit den Achseln. Nicht viel später klopfte es an der Türe.
„Batal Nakia wir brauchen euch sofort! Ein Stollen in der Salzmine ist eingebrochen und es gibt jede Menge verletzte!“, rief jemand von draußen.
„Ich bin auf dem Weg!“, rief Nakia zurück und blickte zu Jadar.
„Komm, ich brauche bestimmt deine Hilfe.“ Jadar nickte. Beide zogen sich an und machten sich auf den Weg zum Mineneingang im Jabal Alma. Aus der Mine heraus kamen bereits Minenarbeiter gelaufen und eine Rauchwolke drang heraus.
„Ein ziemliches Chaos“, sagte Jadar. Nakia nickte knapp.
„Aber wir müssen dort hinein und denen helfen, die verletzt wurden.“
„Ihr Bergleute, wenn ihr laufen könnt, geht zum Tempel, dort wird euch geholfen, wenn ihr verletzt seid!“, rief sie in Richtung der Bergleute. Jadar und Nakia blickten sich kurz an und begaben sich in die Mine hinein. Nachdem alle Bergleute draußen waren hörten sie in der Tiefe stöhnende Geräusche. Sie folgten dem Geräusch tief in die Mine hinein. Vorsichtig bahnten sie sich einen Weg durch herumliegendes Geröll. Jadar erblickt eine blutige Hand, die unter einem etwas größeren Geröllhaufen hervorblickt. Nakia nimmt die Hand zwischen die Finger, bevor sie den Kopf schüttelt.
„Suchen wir weiter“, sagt sie und Jadar blickte der Hand mit einem leichten entsetzen an. Er löste seinen Blick und folgt Nakia weiter hinein. In einem ausgehobenen Raum lagen mehrere Arbeiter unter Felsen. Manche haben sich das Bein oder den Arm eingeklemmt und kamen nicht frei. Andere wurden von riesigen Felsbrocken zerquetscht und ihre Überreste lagen verteilt, als hätte man eine Frucht zum platzen gebracht. Jadar überfiel eine Gänsehaut, als er dies betrachtete.
>> Das ist doch … Nein, so will ich niemals verenden … ich finde einen Weg den Tod zu überlisten, damit ich ewig für das Volk sorgen kann, denn nur dann kann so etwas verhindert werden. << Nakia blickte zu Jadar hinüber.
„Jadar! Nun komm, ich brauche deine Hilfe. Ich bekomme die Steine nicht alle alleine bewegt!“, rief sie. Jadar wandte sich zu ihr und sah wie sie versuchte einen Felsen vom Bein eines Arbeiters zu heben. Er trat zu ihr hinüber und zusammen schafften sie es. Der Arbeiter schrie auf, verzog das Gesicht und sein Bein hing lediglich noch an einem Fetzen aus Haut und Muskeln.
„Wir räumen sie erst alle frei und die, die laufen können gehen zum Tempel. Die, die nicht laufen können, versorgen wir hier“, erklärte Nakia. Jadars Blick heftete sich geschockt an das Bein des Mannes.
„Jadar?! Hörst du mir überhaupt zu?“ Jadar schüttelte sich kurzerhand und blickte zu Nakia.
„Was? Ja … ich habe es gehört … erst alle Männer freiräumen…“, wiederholte er. Nakia und Jadar begannen nach und nach die Männer zu befreien. Einige konnten gehen und Nakia schickte sie in Richtung des Tempels. Zwei jedoch, hatten sich so schwer verletzt, dass sie keine Möglichkeit hatten aufzustehen, geschweige denn die Mine zu verlassen. Nakia und Jadar versorgte die Männer vor Ort, soweit, dass sie stabil waren und blickten sich anschließend an.
„Wir müssen sie nacheinander zum Tempel bringen“, sagte Nakia, woraufhin Jadar nickte.
„Ich schaue, dass ich was finde, damit wir sie transportieren können.“ Jadar begab sich aus der Mine hinaus und fand ein Tuch, dass eine Lore voll Salz abdeckte. Er nahm es und verschwand wieder in der Mine.
„Das müsste ausreichen“, sagte er als er zurück war. Sie legten einen der Arbeiter auf das Tuch und brachten ihn in den Tempel in einen abgeschirmten Raum. Nakia beauftragte einen Priester erneut in die Mine zu gehen um den zweiten Mann hinaus zu holen.
Nakia verschloss die Tür und blickte Jadar an.
„Zeig mir was du gelernt hast. Solange er ohnmächtig ist wird er davon nichts mitbekommen. Aus diesem Grund können wir nun gefahrlos Magie anwenden.“ Jadar nickte und streckte seine Hände über dem Körper des Arbeiters aus. Er begann eine magische Lichtfarbende Aura um sich aufzubauen, die nach und nach in den Körper des Arbeiters hinein fuhr und dafür sorgte, dass Wunden verschlossen wurden und Knochen zusammenwuchsen. Die Aura flachte ab, sowohl bei Jadar als auch bei dem Arbeiter. Jadar blickte Nakia an, die ihn mit einem Lächeln ansah.
„Gut gemacht, du hast es geschafft. Er wird aber vermutlich noch eine Weile schlafen. Danach wird er sich wieder top fit fühlen und kann gehen.“
„Das ist gut, aber es ist nicht richtig, dass Menschen auf so grausame Weise ihr Leben lassen müssen.“
„Ist denn der Krieg besser?“ Jadar schüttelt den Kopf.
„Es muss einen Weg geben, dass alles zu verhindern … und ich werde ihn finden, aber dazu muss ich lange genug leben ...“, fügte er hinzu. Nakia hob kurz eine Braue an.
„Was meinst du damit?“, fragte Nakia
„Nun, um das alles zu schaffen, muss ich dem Schicksal des Todes irgendwie entgehen. Ich muss einen Weg finden, damit ich ewig lebe und dafür sorgen kann, dass derartige Fälle nie wieder geschehen“, erklärte er. Nakia legte leicht den Kopf schräg, zuckte aber mit den Achseln. Jadar blickt Nakia in die Augen.
„Ich werde anfangen zu forschen und irgendwann werde ich mein Ziel erreichen und dann werden wir auch ewig zusammen sein können.“ Jadar lächelte ihr zu, woraufhin sie ebenfalls ein Lächeln auf ihre Lippen legte.
Daraufhin begann Jadar zum einen seine Ausbildung fortzusetzen und zu gleich in der freien Zeit die Magie zu erforschen. Er schrieb jede seiner Fortschritte auf und Dokumentierte seine Arbeit. Dies verfolgte er bis ein weiteres Jahr vergangen war und sich der Winter näherte. Ein normaler Bürger kam in den Tempel. Dieser unterhielt sich in der Halle mit einem Priester, als er Jadar entdeckte und auf diesen zustürmte.
„Prinz Jadar?“ fragte er ungläubig. Jadar wandte sich ihm zu und nickte.
„Wie … wieso seid ihr hier?“, fragte er neugierig.
„Weil mein ehrenwerter Vater es so wollte“, antwortete er.
„Ihr wisst aber, dass euer Vater bereits seit dem Eintritt in das neue Jahr tot ist und euer Bruder auf dem Thron sitzt?“ Jadar blickte ihn geschockt an.
Der falsche König
Jahr 25, Winter, Athyrianischer Zeitrechnung
Jadar ging in seinem Zimmer auf und ab die Hände hinter dem Rücken verschränkt und blickte nachdenklich auf den Boden.
>> Mein Bruder sitzt nun auf dem Thron? Eigentlich wäre ich der rechtmäßige Nachfolger… Mein Bruder hat den Bürgern erzählt, dass ich verschwunden sei und er nicht wüsste wo ich bin. Aber das ist nicht möglich an dem Abend, wo ich bei meinem Vater saß und er noch mit meinem Bruder sprach müssen sie darüber gesprochen haben mich in den Tempel zu schicken. Wenn dem nicht der Fall wäre, dann hätte Vater ihm es doch hinterher mitgeteilt? Warum hat er mich nicht geholt, als es auf das Ende zu ging? Noch nicht einmal, als er in seine Gruft gebracht wurde durfte ich dabei sein und ich bin sein erst geborener Sohn! <<
Jadars Kopf rotierte und seine Gedanken ließen ihm keine Ruhe. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass Nakia sich in sein Zimmer eingefunden hatte und am Tisch saß. Sie beobachtete ihn mit ihren Augen während er zerstreut durch das Zimmer lief. Sie blickte selbst nachdenklich drein.
„Gemahl… Ist alles in Ordnung mit dir? Dein herumlaufen macht mir langsam Sorgen.“ Jadar blieb abrupt stehen, sein Blick traf auf den ihren.
„Nein, nichts ist in Ordnung. Mein Vater ist tot und das bereits seit fast einem Jahr. Niemand hat mir bescheid gegeben oder mich informiert. Es hieße ich sei verschwunden und mein Bruder hat die Krone an sich genommen.“ Nakia blickte ihn mit einem geschockten Blick an. „Nicht einmal als mein Vater in seine Gruft gebracht wurde durfte ich anwesend sein um mich von ihm zu verabschieden!“ Nakia saß für einige Momente sprachlos da, bevor sie sich erhob und zu ihm ging um ihn in den Arm zu nehmen. „Es wird alles gut werden mein Gemahl“, hauchte sie ihm mit leiser Stimme ins Ohr. „Vielleicht sollte ich dich zu deinem Bruder begleiten und wir schauen, was dabei rauskommt, denn immerhin bist du der rechtmäßige König der Medin Wüste“, erklärte sie. Jadar blickte sie an.
„Ja, das ist wahr. Vielleicht gibt mein Bruder ja garkeinen so schlechten König ab?“ Nakia die ihn immer noch im Arm hielt zog die Augenbrauen hoch.
„Und selbst wenn hat er doch nicht das Recht dazu sein Volk mit falschen Informationen, bezüglich seines Bruders, zu füttern oder?“ Jadar seufzt und drückt sie sanft an sich heran.
„Du hast Recht. Wir sollten ihn aufsuchen und mit ihm reden, denn das ist wirklich nicht richtig. Danke, nun geht es mir zumindest etwas besser und ich freue mich, dass du meine Gemahlin bist. Ich kann mich immer auf dich verlassen.“ Nakia lächelte sanft, löste sich von ihm und legte ihre Lippen auf die seinen. Sie lösten sich voneinander und blickten sich tief in die Augen. Die Zeit strich dahin, bis es plötzlich an der Türe klopfte.
„Ja?“, rief Jadar, bevor er sich neben Nakia stellte und zur Türe blickte. Fawlik trat in den Raum ein.
„Oh, entschuldige ich wollte euch beide nicht stören, aber ein Bote vom König ist eingetroffen und hat eine Nachricht für dich Jadar“, erklärte Fawlik. Jadar hob eine Braue an und griff nach Nakias Hand um gemeinsam mit ihr und Fawlik zum Haupteingang zu gehen und den Boten aufzusuchen.
„Wenn man gerade davon spricht muss natürlich auch direkt so etwas passieren“, murmelte Jadar leise. Nakia verzog die Mine zu einem leichten grinsen und Fawlik blickte verwirrt zu ihm. Jadar bemerkt Fawliks Blick und winkte mit der freien Hand kurz ab, bevor sie auf den Boten zutraten.
„Ich bin Jadar El Harady, erster Sohn des Königs Khnemu der Medan Wüste. Ihr habt eine Botschaft für mich?“ Der Bote warf einen abschätzenden Blick auf Jadar und seine beiden Begleiter.
„Ja, König Narmar El Harady möchte, dass ihr in drei Tagen in den Palast kommt. Er hat vor kurzem durch einen Bürger erfahren, dass ihr euch hier befindet und lässt euch bitten zu erscheinen. Eine Absage wird er nicht tolerieren. Er wird euch zur Mittagsstunde abholen lassen“, erklärte der Bote. „Gut richtet meinem Bruder aus, dass ich seine Einladung annehme.“ Der Bote verbeugte sich vor ihm und drehte sich herum, um den Rückweg anzutreten. Jadar wandte sich herum und atmete tief durch.
„Ich möchte, dass ihr beide mich begleitet.“ Er blickte nacheinander Nakia und Fawlik an. Beide nickten ihm entgegen.
„Jadar du weißt, dass du dich immer auf mich verlassen kannst, egal was geschieht“, entgegnete Fawlik ihm. Jadar nickt ihm entgegen mit einem seichten Lächeln.
„Gut, dann werden wir in drei Tagen zusammen zu meinem Bruder gehen. Ich muss gestehen, dass ich nicht weiß, was uns dort erwarten wird.“
„Das ist egal, mein Gemahl. Warte die Zeit ab,“ erwiderte Nakia ihm während sie seine Hand drückte.
Die kommenden drei Nächte waren für Jadar mehr als unangenehm, da er von Gedanken geplagt und Alpträumen heimgesucht wurde. Nakia begann sich nachts um ihn zu sorgen und war froh, als der Tag endlich gekommen war. Es sollte nun endlich ein Ende haben und Jadar wieder ruhig schlafen können.
Am morgen erhob sich Nakia und weckte zärtlich ihren Gemahl Jadar mit einem streichen über die Wange und sanften lieblichen Worten. Jadar öffnete langsam die Augen und das erste was er zu sehen bekam war das Gesicht seiner Geliebten. Er verzog das Gesicht zu einem sanften lächeln und erhob sich aus seinem Bett.
„Heute ist es soweit. Wir werden in den Palast gerufen“, hauchte Nakia ihm entgegen. Jadar nickte und setzte sich auf.
„Ich weiß und ich bin froh, dass es endlich soweit ist, damit ich endlich meinen Bruder zur rede stellen kann. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass er davon nichts gewusst haben soll, immerhin war ich lange genug weg und mein Vater hätte ihn unterrichten können.“
„Wir werden es herausfinden und nun mach dich fertig. Möchtest du deinen Bruder vom Thron verstoßen?“ Jadar blickte sie kurz nachdenklich an, während er sich erhob um sich anzukleiden.
„Ehrliche Antwort?“ Nakia nickte.
„Ich kann es dir nicht beantworten. Ich denke, dass kommt darauf an, was nun die Wahrheit ist und wie er mit dem Volk umgeht. Ich wollte immer ein guter König sein, der ewig herrscht und wenn ich einen Weg finde ewig zu Leben dann kann ich auch seine Regentschaft einfach abwarten.“ Nakia blickt ihn nachdenklich an, aber sie nickte ihm entgegen.
„Gemahl… ich muss dir noch etwas sagen, dass ich nun lange mit mir rumgetragen habe… Als ich damals meine Prüfung hatte, da sah ich bereits wie ich an deiner Seite sitze, während du über die Wüste herrschst“, sie senkte den Kopf.
„Es tut mir leid, dass ich es dir nicht gesagt habe… Nur ich habe nicht gesehen, wann es so sein wird...“, fügte sie leise an. Jadar blickte sie nachdenklich an und begann leicht zu lächeln, bevor er nach ihren Händen griff.
„Es ist egal, was du gesehen hast oder was nicht. Wichtig ist doch, dass ich dich liebe und du mich. Ich mein die Bilder hätten sich irren können, denn wenn wir uns nie in einander verliebt hätten, dann würde es nie dazu kommen“, erwiderte er. Sie hob ihren Kopf an und blickte ihn glücklich an.
Fawlik betrat ohne zu klopfen den Raum und lief rot an.
„Verzeiht, ich habe heute wohl meine Gedanken nicht alle beisammen“, sagte er. Nakia und Jadar wandten sich zu ihm und blickten ihn an. Fawlik hob den rechten Arm und kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
„Eigentlich wollte ich fragen, ob wir gemeinsam Essen. Habe aber wohl das klopfen vergessen.“ Jadar und Nakia blickten sich an und begannen zu lachen. Fawlik vor Charm noch mehr errötete blickte die beiden verwirrt an.
„Was ist?“, frage Fawlik
„Nichts, es ist alles in Ordnung Fawlik. Ja wir kommen mit dir gerne etwas essen. Hast du einen Vorschlag?“, fragte Nakia.
„Nun ich habe gedacht, da heute ja der bestimmte Tag ist, gehen wir auf den Markt. Essen das was uns schmeckt, wie eine Art Festmahl“, erklärte Fawlik. Jadar nickte ihm entgegen.
„Das ist eine hervorragende Idee.“ Nakia nickte ebenfalls zu dem Vorschlag und die drei machten sich mit einem gemütlichen Gang auf den Weg zum Markt. Wie jeden Tag, war der Markt voll gedrängt von Menschen, die ihre Einkäufe erledigten. Die drei störte dies an diesem Tage nicht und sie gingen durch die Mengen hindurch, als wären sie nicht vorhanden. Sie blickten über die Stände die gut gefüllt waren mit allerlei Speisen. Sie nahmen die verschiedenen Düfte in sich auf und ein lächeln lag auf ihren Gesichtern. Fawlik griff von einem der Stände eine Frucht herunter die er bisher noch nie gesehen hatte und blickte den Verkäufer verdutzt an.
„Was ist das?“, fragte er neugierig.
„Eine Banane erst ganz neu! Wir haben sie von außerhalb! Kostet nur zwei Münzen heute!“, erwiderte der Verkäufer. Fawlik blickte hinüber zu Jadar mit fragender Mine.
„Drei Stück davon“, entgegnete Jadar dem Verkäufer. Der Verkäufer nimmt noch zwei weitere Bananen und hielt sie Jadar hin. Fawlik begutachtete seine noch einmal, bevor sie sich gemeinsam von dem Stand abwandten und ein paar Schritte auf Seite traten. Sie staden sich gegenüber und blickten sich die Banane an.
„Und wie isst man diese… Banane jetzt?“, fragte Nakia neugierig. Fawlik biss einfach in die Banane hinein und kaute drauf rum. Er verzog leicht das Gesicht, bevor er die Schale nach und nach aus seinem Mund herauszog. Als Jadar und Nakia dies bemerkten konnten sie sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Das war nun irgendwie falsch... Aber innen ist sie lecker!“, sagte Fawlik. Jadar und Nakia drehten und wendeten die Banane um einen Anfang zu finden und sie zu schälen, was ihnen auch kurz darauf gelang. Sie steckten den weichen Teil der Banane in den Mund und kauten darauf herum. Sie nickten knapp.
„Schmeckt wirklich nicht schlecht“, erwiderte Jadar und lächelt. Fawlik fummelte mit seinen Fingern an der Banane herum und versuchte den Rest des weichen inneren aus der Schale herauszubekommen. Es erinnerte eher an einen Brei, als er damit fertig war und nicht mehr an eine straffe Banane. Er steckte es sich dennoch in den Mund und schleckte sich anschließend die Finger ab. Ihre Füße trugen sie noch einige Zeit weiter über den Markt, bevor sie sich auf den Rückweg zum Tempel machten. Dort angelangt standen bereits zwei Mahari und ein Diener des Palastes vor den Türen des Tempels. Die drei blieben vor den Treppen stehen und blickten hinauf zu den Personen mit leicht verwirrtem Blick.
„Warum Wachen?“, sagte Jadar leise.
„Vielleicht zu deinem Schutz?“, erwiderte Nakia. Sie blickte nachdenklich die Treppen hinaus, als sich die Mahari und der Diener umwandten und die Treppen hinunterstiegen. Nakia blickte Jadar an.
„Ich muss noch einmal kurz in den Tempel. Ich beeile mich“, sagte sie rasch, bevor sie die Treppen zum Tempel hinauf stürmte. Der Diener trat vor Jadar und streifte mit seinem Blick kurz Fawlik.
„Ihr seid Prinz Jadar El Hadary?“ Jadar nickte ihm entgegen.
„Gut, dann folgt uns bitte in den Palast.“
„Moment, wir warten noch auf meine Gemahlin und Fawlik mein treuester Freund wird uns ebenfalls begleiten“, erklärte Jadar.
„Wie ihr wünscht, mein Prinz“, erwiderte der Diener.
„Jadar ich habe ein ungutes Gefühl“, murmelte Fawlik ihm zu, als er die Mahari die einfach stramm dahinter standen musterte. Jadar legte Fawlik eine Hand auf die Schulter.
„Keine Sorge, es wird alles gut gehen“, erklärte er. Nakia kam die Treppe des Tempels hinuntergerannt und war außer Atem. Sie hatte sich eine Tasche umgebunden. Jadar hob eine Augenbraue an. Nakia deutete ihm mit einem Blick an, dass er nun nichts sagen solle.
„Gut ich denke wir können los“, sagt Jadar zu dem Diener. Der Diener nickt ihm kurz entgegen und geht voraus. Jadar, Fawlik und Nakia folgen ihm und am Schluss gehen die Mahari hinter ihnen her.
Sie kamen ohne größere Probleme im Thronsaal an und auf dem Thron saß, wie zu erwarten war Narmar. Im Thronsaal standen Wachen vor den Türen und auch der Hinterausgang wurde von Wachen bewacht. Jadar blickte seinen Bruder an der mit einem grinsen da saß und sie anblickte.
„Bruder, schön dich zu sehen. Wir dachten schon du wärst tot“, sagte Narmar.
„Ach Brüderchen, tue nicht so, als hättest du nicht gewusst, wo ich war und ich glaube hätte der Bürger mich nicht gesehen, wäre ich auch nicht hier“, erwiderte Jadar und Narmar sein grinsen wurde breiter.
„Da stimme ich dir ausnahmsweise zu, dass du ohne diesen Bürger nicht hier wärst. Aber er musste ja auch unbedingt zu mir kommen. Leider ist er vor kurzem von uns gegangen.“ Jadar runzelte die Stirn.
„Du weißt das mir der Thron zusteht, denn ich bin der erste Sohn von Khnemu El Hadary! Du bist der Zweitgeborene und hast nicht das Recht Bürger hinrichten zu lassen.“
„Ja, das ist wahr ich bin der Zweitgeborene und dennoch sitze ich hier auf dem Thron und nicht du!“ Fawlik und Nakia blickten sich im Thronsaal vorsichtig um. Die Wachen im Raum spannten ihre Muskeln an und blickten angespannt zu König Narmar.
„Nun, was willst du von mir? Warum bin ich hier? Und vor allem, warum hat man mir nicht einmal bescheid gegeben, dass Vater tot ist! Nicht mal an seiner Beisetzung durfte ich teilnehmen!“, sagte Jadar leicht aufgebracht. Narmar blickte ihn mit nachdenklicher Miene an, bevor er ein breites lächeln auf das Gesicht legte.
„Ich will, dass du für immer verschwindest aus dieser Welt und aus der Geschichte“, erklärte Narmar. Jadar hob die Augenbrauen an und blickte sich im Raum um.
„Nakia… bring Fawlik in Sicherheit“, sagte Jadar. Nakia und Fawlik blickten ihn beide verwirrt an. Nakia hielt eine Hand in ihrer Tasche.
„Nein, dass kriegen wir hin…“, erwiderte Nakia.
„WACHEN ergreift sie!“, rief Narmar.
Fawlik und Jadar begaben sich in Kampfstellung. Die Wachen kamen mit ihren Waffen auf sie zu. Nakia holte eine Phiole aus der Tasche und warf diese auf den Boden. Eine Rauchwolke erschien und ließ den Thronsaal im Nebel untergehen.
„Raus hier!“, rief Nakia. Geschützt durch den Nebel gelangten sie bis zur Türe ohne von den Wachen erwischt zu werden und konnten durch diese hinaustreten. Sie rannten durch den Palast in Richtung Ausgang. Eine Wache kam ihnen entgegen. Fawlik setzte sie mit einem geschickten Trick gegen den Kopf außer Gefecht und sie rannten weiter. Kurz vor der Ausgangstüre stellten sich zwei weitere Wachen sich Ihnen in den Weg. Nakia stellte sich dem einen in den Weg und mit schnellen Fingerbewegungen und Treffern sorgte sie dafür, dass der Wache die Hände hinunter hingen und die Waffe fallen ließ. Der andere wurde von Fawlik attackiert. Die Wache wirbelte ihre Waffe herum und Fawlik duckte sich unter der Waffe hindurch um die Wache mit einem Tritt aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die Wache fällt zu Boden und sie können durch die Vordertüre aus dem Palast hinaustreten.
„Bald ist es geschafft!“, rief Fawlik. Am Eingangstor warteten keine Wachen auf sie und sie konnten vom Palast entkommen. Sie blieben allerdings nicht stehen und rannten bis zum Tempel zurück.
„Aber was machen wir nun, hier werden sie uns suchen!“, sagte Jadar, als sie die Tempelstufen erstürmten.
„Folgt mir!“, sagte Nakia. Sie traten in den Tempel ein und Nakia führte sie durch die Gänge. An einem Fackelhalter blieb sie stehen und drückte diesen hinunter. Eine Wand begann sich zu verschieben und eine Treppe nach in die Tiefe offenbarte sich. Sie traten die Treppe hinunter und die Wand verschloss sich wieder. Sie kamen in einen Raum, wo Betten und ein Tisch mit mehreren Stühlen stand. Eine Tür führte in einen weiteren Raum, indem Lebensmittel lagerten. Sie saßen sich gemeinsam an den Tisch und atmeten erst einmal tief durch.
„Das war nicht das was ich erwartet habe“, sagte Jadar zu den beiden.
„Nun es ist aber so nur…“ Fawlik unterbrach den Satz, als Nakia ihm andeutete zu schweigen.
„Es gibt nun nur einen Weg. Wir müssen den König loswerden“, erklärte Nakia.
„Wie stellst du dir das vor?“, fragte Jadar. Nakia blickte ihn nachdenklich an.
„Mir fällt schon etwas ein, aber wir werden vorerst hier unten bleiben müssen.“ Die drei blickten sich an und nickten.
Es vergingen zwei Nächte, bevor Nakia an Jadar herantrat.
„Ich habe eine Idee, aber ich bin noch nicht sicher, wie wir dies umsetzen. Wir müssen dafür sorgen, dass wir Narmar in der Pyramide eures Vaters einsperren. Da wird niemand nach ihm suchen und er kann schreien so viel er will. Es wird niemand kommen um ihn zu retten. Dazu müssten wir aber genau wissen, wie die Pyramide aufgebaut ist und wir müssten ihn dort hineinbekommen“, erklärte Nakia.
„Es gibt eine Möglichkeit… Ich stelle mich ihm und bitte ihn um einen Wunsch, dass er mich zu Vater bringt“, sagte Jadar. Sowohl Fawlik, als auch Nakia blickten ihn entsetzt an.
„Nein! Was ist, wenn du ihn nicht dazu bekommst?“, erhob Fawlik seine Stimme.
„Ich kenne meinen Bruder besser und ich weiß, dass er das respektieren wird, allerdings brauch ich euch, da er mich vermutlich in Fesseln dahin bringt müsstet ihr kommen und mich da rausholen.“ Die beiden blickten Jadar an und nickten ihm entgegen.
„Gut, ich weiß wie die Pyramide aufgebaut ist. Ich werde euch eine Karte anfertigen, aber es wird ein paar Tage dauern, da die Gänge sehr verwinkelt sind.“
Die beiden nickten ihm entgegen. Die Zeit dort unten erschien Fawlik und Nakia, wie eine halbe Ewigkeit, aber sie konnten in diesem Moment nicht viel tun, außer abwarten bis Jadar fertig wurde. Als dies der Fall war blickten die drei auf die Karte und Jadar zeichnete ihnen genau den Weg zu der Grabkammer ein. Er zeigte ihnen alle Fallen auf, die eingebaut wurden. Die beiden lauschten ihm aufmerksam, bevor sie nickten. Nakia deutete auf einen Raum der tief verborgen lag, aber an dem sie vorbei mussten um zur Grabkammer zu gelangen.
„Hier, dieser Raum, da können wir ihn einmauern“, erklärte sie. Jadar blickte sich den Raum an und nickte.
„Das würde gehen, aber um das zu arrangieren brauchen wir mehr Leute“, erwiderte Jadar.
„Lass dies nur meine Sorge sein“, sagte Nakia.
„Gut, also ich werde mich morgen früh stellen. Ihr sorgt dafür das alles bereit ist. Ich werde meinem Bruder sagen, dass ich zumindest meinem Vater die letzte Ehre erweisen möchte. Bevor die Sonne untergeht wird er mit mir nicht dort auftauchen. Dazu kenne ich meinen Bruder einfach zu gut. Er ist faul, aber hält sich an Traditionen“, erklärte Jadar.
„Dann werde ich mit Nakia gehen und helfen. Ich hoffe, dass alles gut geht“, sagte Fawlik mit einem Stirnrunzeln. Jadar nickte ihm entgegen mit einem Lächeln, bevor er seufzte.
„Ich wünschte nur, dass es einen anderen Weg gäbe, aber das was ich nun gehört habe, dass er einen unserer eigenen Bürger hinrichten ließ. Das kann man nicht tolerieren… Er ist beinah schlimmer als es mein Vater war…“ Ein trauriger Blick legte sich auf Jadars Gesicht. Nakia strich ihm über den Rücken.
„Es bleibt keine andere Wahl. Er wird dich suchen lassen bis er dich hat und verschwinden lassen kann, wenn du ihm nicht zuvorkommst.“ Jadar nickt ihr entgegen. Fawlik blickt die beiden nachdenklich an. Sie studierten erneut die Karte, damit auf keinen Fall etwas schief gehen konnte und am nächsten Morgen verließen sie den Raum unter der Wüste. Jadar küsste Nakia leidenschaftlich und umarmte Fawlik, bevor er aus dem Tempel hinaus trat um in Richtung Palast zu gehen. Als er bei den Toren ankam begab er sich auf die Knie und hob die Hände hinter den Kopf.
„Narmar! Du willst mich!? Dann komm und hol mich!?“, rief er laut heraus. Die Wachen vor den Toren richteten bereits die Waffen auf ihn und befahlen ihm aufzustehen. Sie durchsuchten ihn nach Waffen und befahlen ihm zu folgen. Eine Wache lief vor ihm und eine hinter ihm. Sie schafften Jadar in den Thronsaal. Narmar kam kurze Zeit später in den Thronsaal und setzte sich mit einem selbstgefälligen Grinsen auf den Thron.
„Da bist du ja wieder. Hast du eingesehen, dass es so das beste für das Land ist?“
„Ich werde mich dir ergeben, aber ich habe eine Bitte an dich… Ich möchte Vater die letzte Ehre erweisen dürfen, so wie es die Tradition verlangt“, erklärte Jadar. Das Grinsen entwich seinem Gesicht.
„Ich werde es mir überlegen, aber nun… wirst du erst einmal dein neues zuhause kennen lernen, wo du auf deinen Tod warten wirst, Bruder. Wachen! Führt ihn hinunter!“ Die Wachen traten hinter Jadar und führten ihn unter den Palast, wo kleine Zellen warteten. Ein mörderischer Gestank nach Verwesung lag in der Luft. Als sie durch die Gänge gingen konnte Jadar in einige Räume einen Blick werfen, wo allerlei Folterinstrumente aufgebaut waren.
>> Was hat mein Bruder hier getan? <<, fragte er sich. Am Ende des Flures öffneten die Wachen eine schwere Holztüre und ließen Jadar eintreten, bevor sie die Türe schlossen. Jadar blickte sich kurz um. Es gab nur ein Bett, kein Fenster, nichts. Es roch nach Exkrementen in diesem Raum und so sollte er sterben? Jadar legte sich auf das Bett, was beinahe unter ihm zusammenbrach.
Als es langsam Abend wurde und sich nichts Tat wurde Jadar langsam ungeduldig und begann in seiner Zelle auf und ab zu laufen.
>> Er wird doch nicht wirklich die Tradition ausblenden? << Dieser Gedanke schreckte Jadar ab und er setzte sich auf das Bett nieder. Kurz darauf drehte sich ein Schlüssel in der Türe und sie wurde geöffnet. Eine Wache blickte in die Zelle.
„Folge mir, der König erwartet dich.“ Jadar nickt nur und erhebt sich um der Wache zu folgen. Am Haupteingang des Palastes erwartete ihn bereits sein Bruder.
„Da ich die Tradition wahren will werden wir nun zu Vater gehen.“ Jadar nickte ihm entgegen.
„Danke Bruder.“
„Aber wenn du versuchst zu fliehen oder irgendwelche anderen Anstalten machst werden wir umkehren. Wachen bindet seine Hände zusammen.“ Die Wachen banden Jadar die Hände zusammen und das Ende des Stricks wurde Narmar in die Hand gedrückt. Er zog Jadar hinter sich her wie Vieh. Narmar setzte sich auf ein vorbereitetes Kamel und Jadar durfte nebenher laufen bis zu der Pyramide. Angekommen stieg Narmar hinab und führte Jadar durch die Pyramide. Sie hatten keine Wachen bei sich, denn es war niemandem außer den Erben selbst gestattet die Grabstätten zu besuchen. Außer es wurde ein neuer König in der Pyramide beigesetzt. Sie kamen nach vielen Abzweigungen und Treppen bei der Grabkammer von König Khnemu an. Jadar hatte auf dem Weg niemanden gesehen.
>> Haben sie sich verlaufen? <<, ging es ihm durch den Kopf, bevor er sich zum Fuße des Sarkophags begab und niederkniete. Er sprach leise ein Gebet für seinen Vater und verabschiedete sich auf diese Weise. Plötzlich hörte er einen stumpfen Schlag und als er den Kopf drehte, sah er wie Narmar zu Boden ging. Jadar erhob sich und nahm die Krone zwischen die gefesselten Finger.
„Ich dachte schon ihr kommt nicht oder hättet euch verlaufen.“ Nakia fiel ihm um den Hals und aus einer engen Seitengasse kamen etliche Priester hervor die Narmar hoch stemmten um ihn an den richtigen Platz zu hieven. Sie begannen eine Mauer zu errichten, damit er für ewig dahinter bleiben würde. Fawlik grinste Jadar an.
„Nein, verlaufen haben wir uns nicht, aber versuch mal so viele Priester in ein kleines Versteck zu bekommen. Das ist gar nicht so einfach!“, sagte Fawlik grinsend.
„Ich bin froh, dass du lebst“, flüsterte Nakia ihm zu, bevor sie ihn von den Fesseln befreit. Jadar setzt sich die Krone auf den Kopf und beobachtete, wie die Priester nach und nach die Wand hinaufzogen. Kurz bevor die Kammer in der Narmar nun lag verschlossen war kam er anscheinend zu sich, denn seine Schreie hallten ihnen entgegen. Jadar wandte sich ab und ging mit schnellen Schritten zum Ausgang der Pyramide. Nakia und Fawlik folgten ihm.
„Das heißt wir werden nun in den Palast gehen?“, fragte Fawlik. Jadar nickte, bevor er an das Kamel herantrat und sich auf dies hinauf hievte. Er hielt Nakia die Hand hin und zog sie zu sich.
„Ist das in Ordnung Fawlik, wenn du dann auf deinen Füßen nachkommst?“, fragte Jadar. Fawlik winkte ab mit einem Schmunzeln.
„Klar! Hey ich bin Jung und du der König!“ Jadar lächelte ihm entgegen und trieb das Kamel an um mit Nakia zum Palast zu reiten. Als sie vor dem Haupttor standen und die Wachen sie erblickten streckten sie ihre Waffen ihm entgegen.
„Ich bin der rechtmäßige Erbe des Throns. Mein Name ist Jadar El Hadary und ich befehle euch mich durch zu lassen. Mein Bruder Narmar hat ein falsches Spiel gespielt und jeden Menschen der Wüste belogen, damit er selbst auf den Thron konnte! Doch nun ist er fort und wird nicht wieder zurückkehren!“, rief Jadar. Die Wachen blickten sich kurz an und stellten sich gerade auf und verneigten sich, bevor sie das Tor öffneten. Jadar ritt das Kamel hinein und übergab es dem Stalljungen, der etwas verdutzt blickte. Er trat zur Haupttüre des Palastes und blickte die Wachen an.
„Ruft alle Bewohner des Palastes zusammen in den Thronsaal! Sofort!“, befahl er mit eiserner Stimme. Nakia blickte zu Jadar und lächelte ihn an.
„Du bist richtig großartig, wenn du befehle gibst, da wird mir glatt warm in meiner Kleidung…“ Jadar blickte sie mit einem Lächeln an und trat in den Palast in Richtung des Thronsaals. Er trat ein und begab sich zum Thron um darauf platz zu nehmen. Nakia stellte sich neben ihn.
„Ich brauch auch einen Platz“, sagte sie grinsend. Jadar nickte, blickte zu ihr hinauf und zwinkerte. Als alle Bewohner des Palastes eingetroffen waren, erhob sich Jadar vom Thron.
„Ich bin Jadar El Hadary der erste Sohn des Khnemu El Hadary und rechtmäßiger Anwärter auf den Thron der Mediner Wüste. Mein Bruder Namar hat es durch eine List geschafft euch glauben zu lassen, dass es mich nicht mehr gäbe, dabei wusste er genau, wo ich war. Nun ist seine Herrschaft Vergangenheit und ich nehme seinen Platz ein! Ich weise hiermit an, dass Boten an alle großen Städte ausgesandt werden um eine Versammlung einzuberufen! Des Weiteren soll ein zweiter Thron neben dem meinen gebaut werden, denn meine Gemahlin Nakia El Hadary wird mit mir gemeinsam über das Reich herrschen. Ein Schmied soll ihr eine Krone anfertigen!“, verkündete er selbstsicher mit ernster Miene. Die Bewohner vielen auf die Knie und berührten mit ihrer Stirn den Boden, als Zeichen der Ehrfurcht.
„Steht auf und geht meinen Anweisungen nach“, sagte er. Die Menschen erhoben sich und als sie zur Türe hinaus waren hörte man ein begeistertes Jubeln vor dem Thronsaal. Jadar hob eine seiner Augenbrauen an und blickte zu Nakia.
„Was hat mein Bruder gemacht? Dass die so glücklich sind?“, fragte er und Nakia hob die Schultern.
Der neue König
Jahr 26, Jahresbeginn, Athyrianischer Zeitrechnung
Jadar saß in seinem neuen Büro und durchsuchte die Aufzeichnungen nach den Taten die sein Bruder in seiner Zeit als König vollbracht hatte, bevor das Treffen mit den Stadtverwaltern stattfand. Er fand heraus, dass sein Bruder den Menschen zugestand Sklaven zu halten um alltägliche Arbeiten für sie zu verrichten. Nicht nur das, sondern auch führte er Sklavenmärkte in den Städten ein. Die Gesetze, die dazu ausgearbeitet wurden, waren mehr als grauenhaft. Jeder Sklavenhalter darf seinen Sklaven im eigenen Ermessen Quälen und sogar töten, wenn er es für richtig hält. Es klopfte plötzlich an seiner Türe.
„Ja?“, rief er laut. Die Türe öffnete sich und Nakia trat in den Raum herein um sich vor ihm an den Tisch zu setzen. Sie blickte ihn an.
„Mein Gemahl, die Männer sind fertig damit im Thronsaal mir einen Thron herzurichten. Ich bin auch gerade aus dem Tempel zurückgekehrt und habe mich gefragt, wie wir damit umgehen, da wir schließlich nicht nur nun das Reich unter uns haben, sondern uns auch der Tempel zusteht. Du bist der erste Priesterkönig, den das Volk jemals besaß und ich denke, dass es falsch wäre dies in irgendeiner Form außeracht zu lassen.“ Jadar lehnte sich zurück und blickte sie nachdenklich an.
„Hast du denn einen Vorschlag, wie wir das machen könnten?“, fragte er.
„Nun wir könnten vielleicht eine unterirdische Verbindung bauen lassen vom Palast zum Tempel. Diese dürfte natürlich nicht offensichtlich sein. Man könnte eine Art Geheimtüre bauen lassen“, erklärte sie.
„Über den Keller muss ich mir auch noch Gedanken machen, wo du gerade von unterirdisch sprichst…“ Nakia musterte ihn kurz und blickte ihn fragend an.
„Ich habe mir überlebt, ob wir einen Teil des Kellers so umfunktionieren, dass ich darin meine Studien der Magie fortführen kann. Da bin ich zum einen ungestört und zum anderen vor neugierigen Blicken verschont. Ich bin immer noch auf der Suche nach einem Mittel, dass uns ewig leben lässt, damit unsere Herrschaft auch ewig währt.“ Nakia nickte ihm knapp entgegen, bevor er wieder ansetzte.
„Die Idee mit dem Tunnel finde ich gar nicht verkehrt, denn es wäre eine Möglichkeit die Nähe zum Tempel aufrecht zu erhalten. Gut… ich würde sagen nehmen dies an angriff. Meine liebste… ich bin froh, dass du in dieser Zeit bei mir bist… Mein Bruder hat dem Reich einiges angetan… Die Sklaverei eingeführt… Viele gute Menschen… auch mein einstiger Ausbilder Sethos wurden ohne genauere Prüfung durch ihn zum Tode verurteilt. Ich hoffe nun auf das Treffen mit den Stadtherren um einiges wieder grade zu rücken.“
„Mach dir keine Sorgen, wenn es einer grade rücken kann, dann bist du es“, sagte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie erhebt sich und bewegt sich um den Tisch herum. Er folgt ihr mit seinem Blick und hebt leicht eine Braue an. Sie beugt sich zu ihm hinunter und legt ihre Lippen auf die seinen, bevor sie sich auf seinen Schoß setzt und ihm in die Augen blickt.
„Du bist alles das, was dein Bruder nie hätte sein können“, flüsterte sie ihm leise zu. Sie legt die arme über seine Schultern und blickt ihm tief in die Augen.
„Und du bist sogar der bessere Kämpfer, denn du hast es geschafft dir mein Herz zu erobern.“ Sie beginnt ihn anzulächeln. Jadar lächelt sie ebenfalls an. Er legte dabei seine Arme um ihre Hüfte sanft herum und begann sie zu streicheln. Es klopfte plötzlich an der Türe und Jadar blickte sie an.
„Na… immer, wenn es gerade interessant wird“, sagte er leise. Nakia grinste ihn breit an und erhob sich von seinem Schoß.
„Ja? Wer stört? Kommt herein.“ Die Tür öffnete sich und Fawlik trat in den Raum hinein. Er verbeugte sich knapp und blickte die beiden nacheinander an.
„Tut mir leid, wenn ich störe aber hier möchte jemand dringend Lady Nakia sprechen. Er sagte sein Name sei Anwar.“ Nakias Augen wurden groß und nickt Fawlik knapp zu.
„Bring ihn bitte herein“, entgegnete sie Fawlik. Dieser schloss die Türe und verschwand. Nakia blickte Jadar an.
„Anwar ist mein ältester Freund. Er hat mit mir im Tempel angefangen zu lernen. Ich hatte ihn damals, nach Nifaya gesandt, nachdem du in den Tempel kamst um nach dem Rechten zu sehen, da ich mir nicht sicher war, was dein Vater dort anrichten würde“, erklärte sie rasch. Es klopfte bereits wieder an der Türe.
„Ja, kommt rein“, rief Jadar. Durch die Tür trat Anwar, aber er sah nicht mehr aus, wie der Priester der er einst gewesen ist. Nakia hob geschockt die Hand an ihren Mund heran, denn Anwars Gesicht war durch mehrere lange Narben, die einer Tierkralle ähnelten entstellt.
„Was… Was ist denn mit dir passiert?“, fragte Nakia spontan heraus. Nachdem Anwar sich vor den beiden verbeugt hatte, blickte er kurz zwischen den beiden hin und her.
„Die Kraji… Nachdem König Narmar erlassen hatte, dass es rechtens wäre Sklavenhandel zu betreiben wurde grade Nifaya zu einer Hochburg des Handels dafür und es wurden zum Großteil Kraji angeboten. Sowohl Männer als auch Frauen arbeiten nun tagtäglich dort für die Händler. Es kommt manchmal leider aber auch vor, dass die Kraji Menschen angreifen und so bin ich zu meiner Narbe gekommen. Ich hoffe, dass reicht an Ausführungen, meine Königin“, erklärte er. Nakia nickte ihm sachte entgegen.
„Warum seid ihr gekommen?“, fragte Jadar nach und fixierte Anwar mit seinem Blick.
„Eure Majestät, ihr habt die Stadtverwalter eingeladen und einer meiner Informanten hat mich darüber informiert, dass die Verwalter, sich zuvor in Tadiry zusammensetzen wollen ohne euch“, erklärte Anwar. Jadar legte seine Stirn kraus.
„Warum sollten sie dies tun? War mein Bruder ihnen so wichtig?“
„Nun euer Bruder hat sie mit Münzen nahezu überschüttet um ihre vollkommene Loyalität zu erhalten. Wenn ich das so sagen darf denke ich, dass sie euch zwar anhören werden, aber erst dann entscheiden werden, ob sie auch euch Loyal gegenüber sind. Die Menschen haben sich unter Narmars Herrschaft verändert. Dies ist jedoch nur meine Meinung.“ Jadar nickt ihm entgegen und blickt hinüber zu Nakia.
„Ich denke, dass wir bei der Versammlung die Wachen verstärken sollten mein Gemahl. Damit wir zumindest sicher sein können, dass dort uns nichts im Wege liegt.“ Jadar nickt ihr entgegen.
„Anwar ich möchte, dass du wieder hier in der Stadt bleibst. Wir richten dir gerne ein Zimmer hier im Palast ein“, erklärt Nakia. Anwar verbeugte sich vor den beiden und wendete sich herum um aus der Türe heraus zu treten. Jadar blickte Nakia mit fragendem Blick an.
„Ich denke, dass wir die Wachen verstärken sollten und anschließend die Bauherren informieren sollten über die Pläne mit dem Keller. Es wäre gut, wenn wir einen Boten in den Tempel schicken der Sujan zu uns bestellt, damit wir ihm auch von unseren Plänen berichten und du solltest dir das Ausmaß der Sklaverei ansehen. Soviel ich mitbekommen habe werden Sklaven auch bereits hier in Bariya angeboten. Mir sind vor kurzem erst Kraji begegnet, als ich auf dem Markt war“, erklärte Nakia. Jadar setzte eine nachdenkliche Miene auf, bevor er ihr entgegen nickte.
„Kümmerst du dich um den Boten und die Bauherren? Ich denke, frische Luft würde mir guttun.“ Nakia nickte Jadar entgegen. Jadar erhob sich von seinem Platz und legte sanft die Lippen auf die von Nakia. Er wandte sich herum und verließ den Palast um in Richtung Markt zu marschieren.
Jadar blickte von einer Anhöhe über den Marktplatz und konnte in der Ferne nicht das Ende erblickt. Überall tummelten sich die Leute und zwischendrin erkannte er tatsächlich den ein oder anderen Kraji der mit Einkäufen bepackt sich durch die Menge drückte. Einige Momente später konnte er einen Menschenhaufen ausmachen, die sich um ein provisorisches Zelt herumdrängten.
>> Ich denke, dass sollte ich mir ansehen…<<, durchlief es seine Gedanken, bevor er sich auf den Weg dorthin machte. Die Menschen blickten ihn teilweise verstört an. Sie verbeugten und knicksten vor ihm, ehe sie ihre Wege fortsetzten. Er erreichte das Zelt und die Leute machten ihm Platz, damit er hinein gehen konnte. Es wurde eine Art Bühne aufgestellt und dort standen gefesselt mehrere Kraji, aber auch Menschen. Vor ihnen ein rundlicher Herr der eine Auktion abhielt. Vor der Bühne standen die Menschen dicht gedrängt und Jadar verschränkte die Arme um sich das Schauspiel anzusehen. Der rundliche Händler tritt an einen stattlichen Kraji heran der ihn missbilligend mustert mit seinen goldbraunen Augen.
„Seht ihn euch an ein stattliches Exemplar eines Kraji. Sehr stark und überaus intelligent. Er ist nahezu unbeschädigt und steht in der Blüte seiner Jugend. Wir beginnen bei zweihundert Münzen. Er kann alles. Kämpfen, schwere Gegenstände trage und im Spurenlesen ist er sehr gut ausgebildet. Also höre ich zweihundert Münzen?“ Die Menge begutachtete den Kraji, bevor der erste die Hand hob.
„Höre ich zweihundertfünzig?“ Ein weiterer hob die Hand…
Dieses Schauspiel wiegelte sich hoch bis tausend Münzen, bevor der Händler einem älteren Adligen den Kraji verkaufte. Jadar schüttelt kurz den Kopf, als der Verkäufer das Säckchen mit Münzen entgegennahm.
„Es tut mir leid Leute, aber das war der letzte nun sind alle verkauft. Die Käufer können sich nun ihre Ware abholen“, rief der Verkäufer durch das Zelt. Die Leute wandten sich herum und blickten Jadar mit geschocktem Blick an. Sie neigten ihre Häupter und verneigten sich vor ihm, bevor sie das Zelt verließen. Der Händler ließ die Sklaven von der Bühne führen durch einen seitlichen Eingang. Jadar ging nach vorne auf den Verkäufer zu.
„Seit wann verkauft ihr hier eure Sklaven?“ Der Händler wandte sich ihm zu und bekam große Augen, bevor er den Blick senkte.
„Seit, über einem Jahr, mein König“, erwiderte er. Jadar nickte leicht.
„Woher bekommt ihr eure Sklaven?“
„Nun ich bezahle Männer dafür, dass sie über die Grenzen der Wüste hinaus gehen und dort Kraji einfangen…“
„Und weshalb sind Menschen unter ihnen, aus unserem eigenen Volk!?“
„Nun… diese Menschen sind Diebe und Arme, die froh sind, wenn sie etwas zu essen bekommen.“ Jadar klappte kurz sprachlos den Mund auf.
>> So hat er es also gemacht um die Sklaverei einzuführen… Alles was man aus irgendeinem Grund töten würde oder Menschen, die sonst sterben würden, begeben sich in die Sklaverei um zu überleben…<<
„Ihr könnt gehen“, erwiderte Jadar knapp, bevor er sich umwandte um das Zelt zu verlassen und weiter über den Markt zu ziehen. Als er eine Sklavin erblickt geht er auf sie zu und blickt ihn an.
„Halt Kraji“, richtet er einer Kraji aus die ihn daraufhin anblickt.
„Ja, Herr?“, sprach sie in einem gebrochenen Medinisch.
„Wie behandelt man euch?“, fragte er die Sklavin. Sie Sklavin blickte ihm kurz ins Gesicht und ihre Ohren zuckten, bevor sie wieder hinabblickte.
„Nun, wenn man gefügig ist und macht, was der Herr will… Dann gibt es keine Probleme… Aber, wenn man etwas falsch macht, dann schlagen sie uns… Aber eure Spezies hat es dort schwieriger… grade die Weibchen werden müssen euch Männer versorgen…“, erklärte sie. Jadar nickte ihr knapp entgegen und entließ sie aus der Befragung. Er wandte sich in Richtung Palast und trat darauf zu.
>> Wir sollten die Gesetze für die Sklaverei ändern, aber… Die Befürchtung ist nahe, dass es wie einst bei Sham in Nifaya dazu kommen wird, dass die Menschen die Abschaffung nicht zulassen würden. Ich sollte dieses Thema bei der Versammlung ansprechen. <<
Als er im Palast ankam, kam Fawlik gerade die Treppe hinunter und blickte zu ihm.
„Jadar ein Bote war vorhin hier und hat ausrichten lassen, dass die Stadtverwalter in zwei Wochen hier sein werden“, sagte er frei heraus.
„Wunderbar, dann haben wir noch etwas Zeit… hör mal was hältst du von dieser Sklavengeschichte?“ Fawlik blickte ihn nachdenklich an.
„Nun, wenn ich darüber nachdenke… Wenn ich damals die Möglichkeit gehabt hätte dann hätte ich mich vermutlich lieber versklaven lassen, als dass ich verhungere oder bei Sayari einziehe. Das muss ich leider offen zugeben. Allerdings, dass sie Kraji gegen ihren Willen einfangen und dann als Sklaven nutzen, das ist etwas ganz anderes. Ich denke, dass man das ganze sehr gespalten betrachten kann“, erklärt er, während Jadar ihm aufmerksam zuhört.
„Hm… Ja, da ist wohl etwas Wahres dran. Allerdings habe ich mich vorhin mit einer Kraji Sklavin unterhalten und sie sagt, dass sie bei nicht befolgen der Regeln, geschlagen werden und Frauen missbraucht werden, wo ist dann der Unterschied zu Sayari?“ Fawlik hob die Schultern.
„Gut, wenn man es so sieht hast du recht, aber es ist immer noch besser als zu verhungern… zumindest als Mann. Vielleicht kannst du aber auch ein Gesetz schaffen, dass diese Art des Missbrauchs und der Bestrafung verhindert?“ Jadar nickte ihm entgegen.
„Ich werde mich nun erst einmal wieder meinem täglichen körperlichen Training widmen.“
„Ach! Wo du gerade Training sagst. Kannst du bei dem Mahari Trainingsplatz vorbeischauen und dem Lehrer sagen, dass er mir den Befehlshaber vorbei schickt? Seit ich weiß, dass Sethos nicht mehr ist muss ich wissen unter wessen Befehl die Mahari nun stehen.“ Fawlik nickte und hob eine Hand zum Abschied, bevor er den Palast verließ und hinaus ging.
Jadar begab sich in die Bibliothek des Palastes und suchte sich aus den Bücherregalen ein altes Geschichtsbuch heraus um darin zu blättern und seine Gedanken frei zu bekommen. Er hatte allerdings leider nicht viel Zeit und Nakia trat aufgebracht herein.
„Wie kann das nur sein!?“, rief sie empört. Jadar blickte sie entgeistert an.
„Was ist passiert?“, frug er rasch.
„Sujan er ist nicht im Tempel und es fehlen auch einige unserer Priesterbrüder und Schwestern. Allerdings weiß keiner, wo die abgeblieben sind. Sie wissen nur, dass er ihnen gesagt hat, dass er mit einigen Brüdern und Schwestern auf Forschungsreise gehen würde. Sie können aber auch nichts Genaueres sagen, da es kurz nachdem wir deinen Bruder eingemauert haben gewesen sein muss und im Tempel ziemlicher Aufruhr herrschte. Ich habe die übrigen Brüder und Schwestern mitgebracht und werde sie hier im Palast unterbringen, denn ich kann sie schließlich nicht alle alleine im Tempel schalten und walten lassen, wie sie wollen“, erklärte Nakia. Jadar blickte sie an und nickte mehrmals während sie erklärte.
„Und bevor du mich nun gleich fragst. Ja, ich habe mit den Bauherren gesprochen und sie werden morgen in aller Frühe beginnen mit den Arbeiten am Keller“, fügte sie hinzu. Jadar hob einen Mundwinkel leicht an, legte das Buch aus der Hand und erhob sich von seinem Platz. Er ging auf Nakia zu und drehte sie herum. Seine Hände legte er an ihre Schultern und begann mit langsamen Bewegungen sie zu massieren.
„Reg dich nicht auf… bleib ruhig. Er wird nur auf eine Expedition gegangen sein. Immerhin gibt es mit Sicherheit noch Dinge in der Wüste zu entdecken“, erklärte er mit sanften Tönen.
„Wie viele Priester haben wir nun hier im Haus? Uns und Fawlik ausgenommen.“
„Zwanzig“, antwortete sie mit leicht genießerischen Unterton.
„Die bekommen wir unter und in zwei Wochen werden die Stadtverwalter hier sein“, erklärte er.
„Bis dahin werden wir unsere Wachen verstärken und den Priestern es hier angenehm machen trotz der Umbauten. Und wenn diese abgeschlossen sind dann haben sie einen einfachen Weg zum Tempel, wenn sie etwas brauchen“, sagte er. Nakia nickte und begann sich zu entspannen. Es klopft an der Türe und ein Diener tritt in den Raum hinein.
„Entschuldigt die Störung Majestät, aber in eurem Arbeitszimmer warten Akhenaten. Ihr hättet wohl nach ihm schicken lassen.“ Jadar blickte kurz nachdenklich drein.
„Ach ja, der neue Führer der Mahari. Ich komme sofort.“ Der Diener verbeugte sich kurz und schloss hinter sich die Türe.
„Ich würde dich bitten, dass du mit mir kommst, denn immerhin untersteht er auch dir“, erklärt Jadar. Nakia nickte und die beiden begaben sich aus der Bibliothek in Richtung des Arbeitszimmers. Dort angelangt wartet bereits auf dem Flur ein stattlicher Mahari mit grober Muskulatur und wartete straff. Er blickte den Gang entlang, als die beiden auf ihn zuschritten. Er verbeugte sich tief vor den beiden.
„Mein König, meine Königin…“, begrüßte er die beiden. Die beiden Schritten voraus in das Arbeitszimmer und Akhenaten trat den beiden nach. Sie setzten sich an den dort stehenden Tisch und blickten den Befehlshaber an.
„Ihr seid nun der neue Befehlshaber der Mahari wurde mir zugetragen. Leider konnte ich bisher eure Bekanntschaft nicht machen. Habt ihr für mich Zahlen, wie viele Mahari zurzeit im Reich sind und wie sie eingesetzt sind?“, fragte Jadar. Akhenaten nickte und holte ein kleines Notizbüchlein mit Ledereinband heraus um es aufzuschlagen und dann vor Jadar auf dem Tisch zu platzieren. Jadar und Nakia blickten hinein und begutachteten die Zahlen mit einem leichten nicken.
„Das sieht gut aus. Ich möchte das ihr mehr Männer abstellt für den Palast in zwei Wochen, wenn die Versammlung stattfindet. Des Weiteren interessiert mich die derzeitige Situation von Themera.“ Jadar blickte den Befehlshaber mit forschendem Blick an.
„Nun Majestät, Themera hat sich in der letzten Zeit etwas gewandelt. Sie haben dort reichlich Mahari und bilden auch selbst aus, da es durch den Sklavenhandel immer wieder zu Problemen kam, da Kraji über die Grenze in unser Reich eingedrungen sind. Allerdings unterstehen diese Mahari alleine Sham aus Nifaya. Man könnte mittlerweile sagen das jeder Stadtverwalter sein eigenes Territorium gut unter Kontrolle hat und Mahari erfolgreich… nun ja mal mehr oder weniger erfolgreich ausbildet.“ Akhenaten zog eine Karte heraus und breitete sie auf dem Tisch aus. Darauf eingezeichnet zu sehen, war die komplette Mahari Wüste und darin eingezeichnet die Grenzen jeden einzelnen Territoriums. Es war unschwer zu sehen, dass Nifaya mit eines der größeren Territorien war. Jadar blickte sich die Karte an.
„Diese Grenzen, wie werden diese eingehalten?“, fragte er neugierig.
„Nun… es gibt an den Grenzen speziell eingerichtete Posten, die mit Nahrung und täglichem Bedarf einmal die Woche eingedeckt werden. Jeder der Stadtherren legt sehr viel wert auf sein Land…“, erwiderte er. Jadar hob eine Hand ans Kinn und blickte kurz hinauf zu Nakia.
„Haben wir eigentlich den einzigen Tempel in der Wüste?“ Nakia nickte ihm entgegen.
„Es gibt nicht so viele Menschen, die gerne das Amt eines Priesters bekleiden möchten. Der Glaube ist nicht sehr weit verbreitet“, klärt sie ihn auf.
„Gut Befehlshaber ihr könnt wieder an eure Aufgaben gehen.“ Akhenaten erhob sich und verbeugte sich, bevor er das Arbeitszimmer verließ.
„Wir sollten die Menschen an den Glauben erinnern, denn wenn ich an diese Grenzen und Posten denke, dann kann es sehr schnell passieren, dass die Stadtverwalter gegenseitig in Streit verfallen und das wäre nicht gut für das Land und noch weniger für die Menschen, denn jede größere Stadt liefert etwas, dass die anderen benötigen… Seien es die Waren von außerhalb die in Nifaya ankommen, die Fische aus Shallaha, die Feldfrüchte aus Zahraty, die Seide aus Zahray oder das Salz von uns. Wir müssen sie davon überzeugen, dass es innerhalb des Landes keiner Grenzen bedarf und sie an unseren ersten König und die Götter erinnern, denn er hat unseren Vorfahren alles gezeigt und nicht nur einen Teil, den man benötigt um hier zu überleben“, erklärte Jadar.
„Ich stimmt dir zu, mein Gemahl. Dann sollten wir uns gut auf die Versammlung vorbereiten“, erwiderte Nakia. Jadar seufzte leise auf.
„Ich finde es unvorstellbar, dass sich in so einer kurzen Zeit, so viel verändern kann und ich gar nichts davon mitbekommen habe, während der Zeit im Tempel.“
Die Tage verstrichen und die Arbeiter befolgten die Befehle zum Ausbau des Kellers und der Umgestaltung. Sie ließen zwar je zwei Folter Räume und Zellen bestehen, aber dies lag daran, dass Jadar möglichst schnell den Geheimgang gebaut haben wollte. Die Priester, die er im Palast beherbergte lebten sich gut ein und es gab jeden Abend eine große Tafel für alle im Palastlebenden Personen, dazu gehörten für Jadar auch die Diener und sogar der Stalljunge. Er kam seinem Ziel ein guter König zu werden näher und näher. Auch Nakia war sehr angetan von Jadar seiner Art mit den Menschen des Reiches umzugehen und ihr Lächeln munterte ihn jedes Mal auf, wenn er sich nicht sicher war, ob er das Richtige tun würde. Es kam der Tag, an dem die Versammlung stattfinden würde. Der Thronsaal wurde mit je vier Wachen pro Türe bestückt um jeder Unwegsamkeit entgegen treten zu können. Jadar war innerlich angespannt, aber von Angst spürte er keine Spur. Er und Nakia saßen auf ihren Thronen, als die Stadtverwalter mit ihren Leibwachen eintraten und sich an ihre gewohnten Plätze saßen. Jadar erhob sich vom Thron und blickte die Stadtverwalter nacheinander an.
„Ich freue mich, dass ihr alle erschienen seid. Ich habe einiges mit euch zu besprechen, denn mir sind einige Unstimmigkeiten im Reich aufgefallen zwischen mir und meinem verschwundenen Bruder“, sprach er laut und ernst. Die Stadtverwalter blickten ihn zuhörend an.
„Zum einen die Sklaverei. Es ist nicht richtig, dass jeder sie behandeln darf, als wären sie Vieh. Dann eure Reichsgrenzen. Wozu? Wozu frage ich euch braucht ihr diese? Die Wüste Medin, war immer ein geeintes Land und in jeder eurer Städte werden Waren hergestellt die von den anderen benötigt werden. Auch unser erster König hat allen Menschen, dass gleiche Wissen vermittelt und nicht nur einzelnen. Drum möchte ich darüber sprechen, diese aufzuheben und mein dritter Punkt für diese Zusammenkunft ist der Glaube. Ihr alle wisst, dass ich auch als Priester ausgebildet wurde und mir viel auf, dass vielen Menschen der Glaube fehlt. Ich möchte, dass Tempel gebaut werden und der Glaube wieder verbreitet wird“, erklärte er. Stadthalter Aten aus Shallaha erhob sich und blickte zu Jadar.
„Aus welchem Grund sollen wir die Grenzen aufheben? Diese Grenzen zeigen uns und wann wir in dem Gebiet eines anderen sind. Und wir brauchen keinen Glauben! Es will doch niemand wirklich Priester werden“, erklärte er. Die anderen Stadtverwalter stimmten darin ein mit einem „Genau“. Nakia hob ihre Brauen an.
„Das kann ja heiter werden“, murmelte zu sich selbst. Die Versammlung dauerte bis zum Abend, bevor Jadar sie abbrach ohne ein wirkliches Ergebnis zu erzielen. Die Stadtverwalter verließen den Palast, nachdem Jadar sie aufforderte am nächsten Tag erneut zu erscheinen um die Versammlung fortzusetzen. Jadar und Nakia gingen in Richtung ihrer Gemächer.
„Das kann doch nicht sein, wie kann man nur so stur sein!“, murrte Jadar.
„Mein Gemahl, rege dich nicht auf, dass wird nichts bringen. Ich habe das Gefühl, dass es egal sein wird, was du ihnen sagst und Sie ihre Meinung nicht ändern werden. Ich habe die Versammlung beobachtet und irgendwas kam mir komisch vor“, erklärte Nakia.
„Dir kam etwas komisch vor?“ Nakia nickte.
„Ich kann dir aber leider nicht genau sagen, was es war, dass dieses Gefühl auslöste.“ Jadar blickte sie nachdenklich an. Sie betraten gemeinsam ihr Gemach und legten sich in das Bett hinein. Jadars Gedanken ließen ihm keine Ruhe und er fand erst spät einen angenehmen Schlaf. In der Nacht bemerkte Jadar, dass Nakia öfters das Bett verließ und einige Zeit später zurückkam. Nach dem dritten Mal, war Jadar es leid.
„Was ist eigentlich los? Du bist nun zum dritten Mal aufgestanden“, sagte Jadar verschlafen.
„Eigentlich wollte ich dir das noch nicht sagen, da du schon genug Stress hast… Aber du wirst Vater.“ Jadar riss die Augen auf und setzte sich auf.
„Was?! Wirklich?!“, rief er laut, woraufhin Nakia nickte. Jadar stürzte sich beinahe auf sie und umarmte sie mit einem Lachen.
„Das ist ja großartig!“ Jadar schmiegte sich an Nakia und legte seine Hand auf ihren Bauch. Nakia lächelte ihn an und Nakia schloss die Augen. Nach kurzer Zeit schlief diese ein und Jadar war munter. Nach dieser Überraschung beobachtete er Nakia den Rest der Nacht.
>> Ich werde Vater und bekomme einen Nachfahren… <<, dieser Gedanke ließ er sich durch den Kopf gehen und jedes Mal standen ihm die Tränen in den Augen. Die Nacht verging und als Nakia aufwachte, blickte Jadar sie mit einem Lächeln an.
„Ich hoffe du hattest eine wundervolle Nacht“, hauchte er ihr entgegen. Nakia nickte mit einem etwas verwirrten Blick, bevor sie sich beide erhoben und anzogen. Sie gingen gemeinsam etwas essen. Anschließend in den Thronsaal, wo sie warteten.
„Wäre es schöner einen Jungen oder ein Mädchen zu haben?“, fragte Jadar.
„Beides wäre schön, Hauptsache gesund und es wird sicher nicht unser einziges Kind bleiben. Ich denke das unser erstes Kind ein Mädchen wird, wenn es bei mir so ist, wie bei meiner Mutter“, erklärte sie. Jadar nickte und ein Lächeln lag weiterhin auf seinem Gesicht.
„Sobald mein Forschungsraum fertig ist, werde ich mich wieder an die Arbeit machen und nach einem Weg suchen ewig zu leben, damit auch unser Kind ein ewiges Dasein hat mit uns“, sagte er. Nakia blickte kurz zu ihm hinüber und zögernd nickte sie.
Die Zeit verging Stunde um Stunde, doch niemand tauchte auf. Jadar wurde langsam ungeduldig, da die Sonne bereits ihren Höchststand überschritt.
„Das kann doch nicht sein! Sind die nun einfach davongelaufen?“ Nakia legte ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter.
„Lass sie… vielleicht kommen sie noch zur Besinnung. Wir müssen uns nun auch um unsere Stadt kümmern.“
„Du hast recht, dass was ich ihnen mitteilen wollte habe ich getan. Leider gab es keine Entscheidung, aber vielleicht kommt dies in den nächsten Tagen und sie beraten selbst noch gemeinsam“, entgegnete Jadar ihr, bevor sich beide erhoben und aus dem Thronsaal gingen.
Tag der Veröffentlichung: 16.06.2018
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