Copyright © 2015 Osnabrücker Ersttäter
Alle Rechte der einzelnen Geschichten
liegen beim jeweiligen Autor
Cover: Steve Cotten
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Kurzinhalt
Erfahren Sie, welches Geheimnis der Uhu auf dem Dom hütet, warum früher der Stadtteil Dodesheide gemieden wurde, was der Page eines renommierten Hotels zu berichten hat, worauf Sie bei Spätvorstellungen im Kino achten sollten und was Sie bei einem römischen Essen in Kalkriese erwartet.
Mit Krimis, historischen Erzählungen und Thrillern bieten die Mitglieder der Schreibgruppe „Osnabrücker Ersttäter“ in ihrem ersten gemeinsamen Buch einen facettenreichen Überblick ihres Schaffens. Die Friedensstadt und der Landkreis Osnabrück bilden den perfekten Rahmen für zwölf in sich abgeschlossene Geschichten. Für gute Unterhaltung und Überraschungen ist in dieser Sammlung garantiert gesorgt.
Die Osnabrücker Ersttäter sind eine Gruppe von Schreibbegeisterten aus Osnabrück und Umgebung. Schon mehrere dieser Talente können eigene Veröffentlichungen vorweisen. Mit dieser Anthologie legen die Ersttäter ihre erste Sammlung von Kurzgeschichten vor. Es sind überwiegend Krimis, aber auch andere Genres sind vertreten, was die Vielfältigkeit der Gruppe widerspiegelt.
Weitere Informationen gibt es auf: www.ersttäter.de
1. Marie Winnefeld: Ein Tag in Germanien
(Krimi)
2. Regina König: Der Alte Fritz
(Erzählung)
3. Iris Foppe: Herzstillstand
(Krimi)
4. Uta Dierkes: Mareke B.
(Erzählung)
5. Stefan Wollschläger: Spätvorstellung
(Krimi)
6. Rita Roth: Morgengrauen
(Krimi)
7. Martin Witte: Erste Nacht
(Thriller)
8. Silke Meyer: Felix liebt ...!
(Thriller)
9. Melanie Jungk: Der geborene Ermittler
(Krimi)
10. Gisela Seekamp: Das Patent
(Krimi)
11. Elisabeth Ibing: Wohin mit den Herzen
(Thriller)
12. Alexander Delgardo: Leider Verloren
(Krimi)
- Ein Krimi -
„Varus, ich komme dich zu warnen.“
„Warnen Segestes? Wovor?“
„Eine Verschwörung, ein Aufstand gegen dich und die Legionen Roms!“
Varus schmunzelte: „Wer sollte denn so tollkühn sein, gegen uns das Schwert zu erheben?“ Den Becher Wein, den Varus beim Eintreten Segestes auf dem Tisch abgestellt hatte, nahm er wieder in seine Hand.
„Der Mann, der deinen Wein trinkt.“ Segestes zeigte auf Arminius, der etwas abseits saß.
Arminius sah in seinen Becher und wendete sich grinsend an Varus: „Ja, Segestes spricht die Wahrheit, ich werde deine Legionen auf dem Marsch angreifen, sie besiegen und dich mit meinem Schwert umbringen!“
Die angespannte Stille im Zelt wurde nur durch den leichten Wind unterbrochen, der über die Zeltwände strich.
Segestes verzweifeltes Gesicht richtete sich hilfesuchend auf Varus, der nachdenklich von einem zum anderen sah und lauthals auflachte. „Ich danke dir, Segestes, für deine Warnung. Nun sei mein Gast und trink einen Becher Wein mit uns.“ Varus winkte die Dienerin, die mit einem Weinkrug in der Ecke stand, heran.
Segestes redete weiter auf Varus ein: „Ich beschwöre dich Varus, traue Armin…“
Ein lautes Knacken unterbrach Segestes und ein dicker Ast stürzte auf Arminius. Die Dienerin schrie auf und ließ den Weinkrug fallen. Varus und Segestes versuchten die Zeltplane, die der Ast mitgerissen hatte und auf Arminius lag, zur Seite zu schaffen.
Hinzueilend rief die Dienerin: „Thorge ist dir was passiert?“ Als Antwort kam nur ein Stöhnen unter der Plane hervor. Frauke half den beiden Männern, Thorge von der Zeltplane zu befreien. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt Thorge sich den linken Oberarm. Unter seiner Hand rann Blut hervor. „Schnell meinen Rucksack!“, rief Frauke.
Im selben Moment kam eine Frau aus dem Publikum, das Frauke völlig vergessen hatte, auf sie zu. „Ich bin Ärztin, lassen Sie mich mal machen.“ Schon begann sie, Thorges Arm zu untersuchen. Frauke nutzte die Gelegenheit sich umzusehen; das provisorisch aufgebaute Zelt lag auf dem Boden. Sie hatten Stöcke in die Erde gerammt und dazwischen Planen gespannt, als Andeutung von Zeltwänden. Über den Ast, der auf Thorge gekracht war, hatten sie eine Plane ausgebreitet. Das Publikum, neunundzwanzig Leute waren heute dabei, hatte sich anscheinend schon ein wenig vom Schrecken erholt und stand in Grüppchen herum. Frauke hörte eine Frau sagen: „Hoffentlich nichts Schlimmes.“ Ein Mann mit schwarzen, leicht angegrauten Haaren kam auf Frauke zu und fragte bestürzt: „Mein Gott Frauke, ist dir was passiert? Kann ich helfen?“
„Nein, nein Alwin, danke.“
Alwin war sehr dünn, sehr groß und wie immer zu warm gekleidet. Er war nicht im üblichen Sinne schön, aber dennoch sehr attraktiv. Wie so oft hatte er seine linke Hand in der hinteren Hosentasche. Frauke hatte ihn geschäftlich kennengelernt und mittlerweile waren sie gute Freunde geworden.
In der Zwischenzeit hatte die Ärztin mit Fraukes Erste-Hilfe-Set, das sie bei ihren Event-Wanderungen immer im Rucksack hatte, Thorges Oberarm verbunden. Sein Arm lag in einer Schlinge aus Stoff, die in seinem Nacken zusammengebunden war. „Nichts wirklich Schlimmes“, sagte die Ärztin. „Eine Schürfwunde und ordentliche Prellungen. Sie sollten sich schonen und den Arm möglichst nicht bewegen.“ Mit Blick auf den heruntergefallenen Ast fügte sie noch hinzu: „Das hätte auch böse enden können.“ Frauke verstand sofort was die Ärztin meinte. Wenn Thorge den Ast auf den Kopf bekommen hätte, in dieser Szene spielte er ohne Rüstung und Helm ... Schnell schob sie den Gedanken beiseite.
Frauke wusste nicht, was sie zuerst tun sollte: Sich um Thorge kümmern, das Publikum beruhigen, mit den Schauspielern reden, aufräumen oder abbauen. Sie ging schon auf das Publikum zu, drehte dann jedoch wieder um und ging zu Thorge. Der saß immer noch auf dem Boden und sah leichenblass auf den herabgestürzten Ast.
„Thorge, ich werde die Veranstaltung beenden.“
Überraschenderweise antwortete Thorge: „Nein, es geht schon wieder, kein Problem, nur ein Kratzer.“
Er versuchte aufzustehen, was mit dem Arm in der Schlinge nicht einfach war. Frauke half ihm und genoss die kurze Berührung. Thorge fuhr sich mit der rechten Hand durch seine schulterlangen blonden Haare.
„Nein, wirklich. Es geht schon wieder.“
Frauke stellte sich vor, wie in den zwei Szenen, die noch gespielt würden, Arminius mit einem Arm in der Schlinge auf der Bühne stand. Nun ja, dachte sie, Kampfverletzung - kann man machen.
Zum Publikum sagte sie selbstbewusst: „Ein bedauernswerter Unfall, zum Glück ist nichts Schlimmes passiert. Unserem Arminius-Darsteller geht es schon wieder ganz gut, er hat sich entschieden weiterzuspielen, das heißt wir werden unsere Wanderung fortsetzen.“ Eigentlich war ihr mehr danach aufzugeben. Die freudigen Gesichter der Wandertruppe bestärkten sie allerdings darin, weiterzumachen.
Es wäre auch wirklich schade, gerade jetzt da sie mit ihrer Idee endlich Erfolg zu haben schien. Dieses neue Event Wandern mit Varus, dessen Idee sie selber entwickelt und umgesetzt hatte, kam anscheinend gut an.
Ein ängstlicher Wanderer fragte: „Ist denn für unsere Sicherheit gesorgt?“
Was sollte sie darauf antworten?
Ja, wir haben vorher jeden Baum auf der Wegstrecke untersucht ob nicht vielleicht ein Ast lose ist, dachte sie.
„Machen Sie sich keine Sorgen, es war nur ein Unfall, Ihnen wird nichts passieren“, sagte sie. „Wir wandern in zehn Minuten weiter, freuen Sie sich auf das römische Essen heute Abend.“
Ungefähr zehn Kilometer waren es noch bis zum Ziel. Fünfzehn Kilometer hatte Frauke als Wanderstrecke geplant. Am Anfang nach der Firmengründung von ArtMeo – die Kunst zu Wandern hatte sie fünfundzwanzig Kilometer lange Strecken im Programm gehabt, natürlich immer garniert mit einem Kunstevent. Doch es stellte sich schnell heraus, dass viele Kunstinteressierte ihre Kondition überschätzten. Vor einem Jahr hatte Frauke ihre Firma gegründet und war immer noch stolz darauf, dass sie es geschafft hatte, ihre Idee, die anfangs alle belächelt hatten, in die Tat umzusetzen. Eigentlich war sie Mechatronikerin, damals war sie eine der ersten gewesen, die diesen Beruf erlernt hatte. Ihr größtes Hobby war allerdings immer schon das Wandern gewesen. Leider entwickelte sich der Gewinn nicht so wie er sein sollte. Ehrlich gesagt stand sie kurz vor der Pleite. Nach einem Jahr hatte sie schon wieder einen Kredit aufnehmen müssen und die Bank stellte sich im Moment leider quer, weshalb sie auch Alwin eingeladen hatte, mit zu wandern. Alwin war bei der Bank für Kreditvergaben zuständig. Sie hatte ihn kennengelernt, als sie eine Bank zur Finanzierung suchte und ihr Businessplan schon von etlichen Instituten abgelehnt worden war. Alwin war gleich Feuer und Flamme für ihre Idee gewesen und hatte das Geld bewilligt. Danach hatte er sie oft zum Essen eingeladen und sie hatten sich angefreundet.
Frauke trug immer noch das Gewand der Dienerin. Sie verschwand hinter einem Baum, zog sich um und wechselte schnell von den Sandalen in die Wanderschuhe. Ihre langen roten Haare band sie zu einem Zopf zusammen und ging zu den Wanderern zurück. Alle hatten ihre Rucksäcke schon wieder aufgesetzt und Frauke gab ihnen ein Zeichen, dass es weitergehen konnte. Die Schauspieler waren noch mit dem Aufräumen beschäftigt. Thorge winkte Frauke zu sich.
Thorge zeigte ganz aufgeregt auf den heruntergefallenen Ast. „Sieh mal hier!“ Er lenkte Fraukes Blick auf ein fast durchsichtiges Band, das am Ast befestigt war. „Und dann das hier! Das sieht nicht aus wie abgeknickt.“
Tatsächlich, Frauke sah sich die Bruchstelle des Astes genauer an, es waren ganz deutlich Sägespuren zu erkennen.
„So sieht kein Ast aus, der abgebrochen ist.“
Beide sahen sich ungläubig an.
„Aber was …, wer … du meinst doch nicht?“ Mehr bekam Frauke nicht heraus. Sie sah, dass ihre Wandergruppe schon viel zu weit entfernt war. „Du, ich muss hinterher.“
Alwin wartete ein Stück weiter auf sie und meinte: „Du siehst blass aus.“
„Ja, ganz schön viel Aufregung.“ Frauke war in diesem Moment froh mit Alwin reden zu können. „Die Schauspieler räumen noch auf und fahren dann mit dem Transporter zum nächsten Auftrittsort.“
„Du meinst die Amateure, richtige Schauspieler sind das ja nicht“, antwortete Alwin mit einem ironischen Zug um den Mund.
Frauke ärgerte dieser Satz, sie war glücklich diese Truppe gefunden zu haben und fand, dass sie sehr gut spielen konnten. Ihre Entscheidung, als Statistin mitzuspielen, bereute sie allerdings mittlerweile. Das hatte sie doch unterschätzt, die Wandergruppe führen und noch selber mitspielen war zu viel. Bei den Proben hatte sie Lust bekommen mitzumachen und Thorge hatte sich anscheinend gefreut, als sie fragte. Sie fand Thorge vom ersten Moment an sehr attraktiv und hatte es so hinbekommen, mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Ob ihre Gefühle auf Gegenseitigkeit beruhten wusste sie leider nicht; er war nett zu ihr und redete gerne mit ihr, aber ob das etwas zu bedeuten hatte?
In der nächsten Szene hatte sie sogar einen Satz übernehmen können, darauf hatte sie sich eigentlich schon gefreut. Jetzt hatte sie ganz andere Sorgen. War der Ast wirklich angesägt worden? Und warum? „Wer macht denn so was?“, dachte sie laut.
Alwin sah sie verwirrt an. „Thorge hat vorhin an dem Ast ein Band entdeckt und der Ast war anscheinend angesägt. Thorge ist ja Tischler, der weiß wie Sägespuren aussehen.“
„Was! Wer sollte so etwas machen?“
„Keine Ahnung, wenn es Absicht war, wer sollte denn Thorge was Schlechtes wollen? Und warum?“
„War es denn klar wo das Zelt aufgebaut wird?“
Frauke dachte laut nach: „Ja, wir haben bei der Generalprobe gestern die Stöcke für die Zeltplanen in die Erde gerammt, die Löcher haben sie bestimmt heute wieder benutzt. Und die Plane für das Zeltdach hatten wir gestern auch über den gleichen Ast geschlagen.“
„Vielleicht war es ja auch nur Zufall? Oder vielleicht galt es Deiner Firma? Hast Du nicht inzwischen Konkurrenz bekommen?“
„Ja, in Münster versucht jemand meine Idee nachzuahmen, aber meinst du? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.“ Fieberhaft dachte Frauke nach, wobei Alwin sie beobachtete. Sorgenvoll zog sie ihre Augenbrauen zusammen.
„Letztens habe ich eine E-Mail bekommen, ein komischer Typ, so ein Hobbyhistoriker. Erst wollte er mitwandern, dann hat er mir eine böse E-Mail geschrieben, ich würde nicht den Originalweg wandern, auf dem die römischen Legionen sich damals Kalkriese genähert hätten. Ich hab ihm geantwortet, dass ich das wisse, aber der Originalweg über die jetzige Bundesstraße gehe. Er hat dann noch mal eine E-Mail mit historischen belegten Fakten geschrieben. Aber meinst du, so jemand versucht mein Wander-Event zu sabotieren?“
„Möglich ist alles, Spinner gibt’s ja genug.“
Frauke liebte den Wald und wanderte leidenschaftlich gerne, leider konnte sie heute die Atmosphäre nicht genießen. Ihre Gedanken kreisten. Galt das Ganze wirklich ihr oder Thorge? Oder war es Zufall? Sollte sie vielleicht doch lieber den Wandertag beenden? Wenn es tatsächlich Absicht war, passierte dann noch etwas? Sie müsste das Geld, das die Kunden schon bezahlt hatten, zurückzahlen. Das konnte sie sich nicht leisten. Das römische Essen war schon längst gebucht. Es gab nicht wirklich römisches Essen, leider hatte Frauke niemanden gefunden, der römisch oder germanisch kochen konnte. Es wurde ein deutsches Grillen mit römisch verkleideter Bedienung. Alle waren hungrig und… Weiter kam sie mit ihren Gedanken nicht, denn beinahe wäre sie in die junge Frau hineingelaufen, die mitten auf dem Weg angehalten hatte, um ihr Schuhband zuzubinden. Frauke merkte erst jetzt, dass sie schon kurz vor der nächsten Aufführung waren.
Jetzt kam Fraukes großer Auftritt. Schnell eilte sie an den Wanderern vorbei und traf auf Thorge und die anderen Schauspieler. Alle standen schon bereit. Frauke warf sich ein Gewand über und zog die Wanderschuhe aus, diese Szene spielte sie barfuß.
Die Wandergruppe hatte sich im Halbkreis um die Schauspieler herum verteilt. Thorge, also Arminius, stand mit einigen germanischen Kriegern zusammen. Er hatte die rechte Hand auf seinem Schwert abgelegt, das mit der Spitze im Boden steckte. Sein linker Arm ruhte in der Schlinge. In der Mitte stand ein Baumstumpf. Neben Frauke, die zu Beginn der Szene am Rand wartete, standen ein Krug mit Wasser und eine große Schale, die aussah wie ein großer Teller mit einem breiten Rand und einer Vertiefung.
Arminius begann: „Auf dem freien Feld haben wir keine Chance gegen Varus und seine Legionen. Bei einem offenen Angriff wären wir verloren.“
Ein Krieger rief: „Wir kämpfen trotzdem!“
„Nein, Varus zieht mit zwanzigtausend Mann, völlig aussichtslos. Doch die Römer fürchten unseren Wald. Sie hassen den Morast und die engen Täler. Wir müssen sie in unsere Wälder locken.“
Arminius winkte Frauke, die als Priesterin verkleidet war, herbei. „Hohe Priesterin, sag uns, ob die Götter uns wohlgesonnen sind.“
Sie ging in die Mitte zum Baumstumpf, reichte Arminius den Krug mit Wasser und hielt mit beiden Händen die Schale fest. Augenblicklich spürte sie einen stechenden Schmerz in ihren Händen, beinahe hätte sie die Schale fallen gelassen. Arminius schüttete Wasser hinein. Schnell stellte sie die Schale auf dem Baumstumpf ab und beugte sich mit ihrem Gesicht darüber. Fraukes lange rote Haare fielen komplett um den Rand der Schale herum. Allerdings sah sie nicht in das Wasser, sondern auf ihre Hände und erschrak. Doch die Szene musste weitergehen. Sie hob ihre blutverschmierten Hände in den Himmel und rief: „Die Götter sind mit uns, sie prophezeien uns einen großen Sieg.“
Alle Germanenkrieger hoben ihre Speere und Schwerter in den Himmel und jubelten: „Die Götter sind mit uns!“
Die Wandergruppe klatschte laut Beifall, alle waren begeistert von der Aufführung. Frauke war so schnell sie konnte in den Wald gerannt und lehnte sich an einen Baum.
Neben ihr tauchte Alwin auf und redete aufgeregt auf sie ein. „Frauke, das gehörte doch nicht zu der Szene oder? Zeig mal! Nein, du blutest wirklich! Wo ist dein Verbandskasten?“
Frauke war mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Hocke gegangen und hatte sich dann auf den Boden gesetzt. Sie sah sich entsetzt ihre Hände an. Die Einschnitte waren nicht sehr tief, taten im Handinneren aber sehr weh. Alwin hatte den Verbandskasten schon gefunden und fragte: „Wie ist das denn passiert?“
Frauke konnte noch keinen klaren Gedanken fassen. „Ich weiß es nicht.“ Nachdem er Jod auf die Wunden aufgetragen hatte, war Alwin damit beschäftigt, ihre Hände zu verbinden. „Bei der Probe gestern lief doch alles glatt, oder?“
„Ja, da … ich weiß auch nicht … gestern waren an der verfluchten Schale nicht so scharfe Kanten.“ Aufgebracht setzte sie hinzu: „Das hätte ich doch gemerkt.“
„Wirklich merkwürdig. Du meinst, du hast dich an dem Teller geschnitten?“
„Ja …, nein … ich weiß auch nicht.“ Frauke brach in Tränen aus.
Nicht weil ihre Hände schmerzten, sondern weil sie das Gefühl hatte, dass gerade ihre gesamte Existenz den Bach runter ging. Alles lief heute schief. Es fing schon mit dieser Mahnung in ihrem Briefkasten an. Über 2.000 €! Wo sollte sie so viel Geld hernehmen? Sie schluchzte hemmungslos und hatte ihre verbundenen Hände um ihre Knie gelegt.
In Gedanken stand ihr Vater vor ihr. Schon wieder nur eine Drei. Du wirst nie eine richtig gute Schülerin. Nie richtig gut!, hallte es in ihren Gedanken nach, wieder reichte es nicht, was sie tat.
Alwin hatte sich neben sie gesetzt und seinen Arm um sie gelegt. Das tat gut, obwohl sie sich wünschte, Thorge säße dort. Frauke wischte sich mit dem Priesterinnengewandärmel durch ihr Gesicht und starrte tränenverschleiert in den Wald hinein. Alwin reichte ihr ein Taschentuch. Wo war eigentlich Thorge? Frauke sah sich um, konnte ihn aber nirgendwo entdecken.
Sie hatte sich allmählich beruhigt und ihr Atem ging wieder langsamer. „Ich sage die Veranstaltung ab, es hat ja alles keinen Sinn mehr.“
Alwin sah sie ernst, aber freundlich an. „Wenn die Germanen auch so schnell aufgegeben hätten, würden wir hier jetzt Italienisch sprechen.“
Erst sah Frauke ihn groß an, dann musste sie lachen. Er hatte recht, jetzt aufgeben? Nein.
„Erhol dich noch ein wenig, ich geh mit der Gruppe weiter und sage ihnen, dass du nachkommst.“
Frauke nickte.
Plötzlich schien Alwin es eilig zu haben.
Sie blieb noch kurz sitzen und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Was war das an der Schale bloß? Wo war die überhaupt? Frauke rappelte sich auf und ging zum Weg zurück.
Frauke suchte immer noch nach der Schale, als Thorge auf sie zukam. „Ich such dich schon überall, was machst du denn noch hier?“ Und mit Blick auf ihre verbundenen Hände: „Was ist das?“
Sie schilderte ihm alles und fragte: „Weißt du wo die Schale ist?“
„Nein, die hab ich auch schon gesucht. Als ich die Requisiten wegräumen wollte, stand nur noch der Krug hier. Aber wenn irgendwas mit der Schale war … also dann … ich meine, vielleicht war das auch kein Zufall?“
„Ja, soweit bin ich auch schon.“
„Aber dann galt der Anschlag ja auf jeden Fall nicht mir“, sagte Thorge, sah Fraukes vorwurfsvollen Blick und fügte schnell hinzu: „Nein, so war das nicht gemeint, ein Anschlag ist auf jeden Fall schlecht, egal ob auf dich oder mich. Aber wer macht denn so was?“
„Vorhin habe ich dich schon gesucht. Wo warst Du denn?“ Thorge sah sie misstrauisch fragend an und Frauke beeilte sich zu sagen: „Nein, so war das nicht gemeint.“
Tief Luft holend erklärte Thorge: „Ich bin schnell zum Transporter gegangen. Hatte doch glatt mein Handy angelassen und die ganze Zeit Angst, das es klingelt. Wie peinlich, Arminius in voller Rüstung und darunter klingelt das Handy. Deshalb bin ich schnell weg als die Szene vorbei war.“
Frauke musste lächeln.
„Wenn der erste Anschlag nicht wirklich mir galt, dann vielleicht doch deiner Firma? Oder“, fügte er süffisant lächelnd hinzu, „du hast einen durchgeknallten Verehrer, der meint, er kann dich so beeindrucken.“
„Wie meinst du das denn?“
„Keine Ahnung, vielleicht tritt er am Ende als Retter auf, ein James Bond in Böse?“
„Das wäre aber wirklich ganz schräg gedacht; du liest zu viele schlechte Thriller.“
Frauke begleitete Thorge noch bis zu der Stelle an der er in Richtung Transporter abbog und eilte dann ihrer Wandergruppe hinterher. Sie schob alle Gedanken an das eben Geschehene zur Seite und mischte sich unter die Wanderer. Die Stimmung war nach wie vor gut. Ein Mann gratulierte ihr zum gelungenen Auftritt in der letzten Szene. Er meinte, das mit dem Blut an ihren Händen hätte total echt ausgesehen und fragte, wie sie das gemacht hätten.
Frauke versteckte schnell ihre verbundenen Hände in den Taschen ihrer Wanderhose und antwortete: „Ach, das sind halt so Theatertricks“, und fügte lächelnd hinzu: „Die verrate ich Ihnen nicht.“
Zum Glück gab der Mann sich mit dieser Antwort zufrieden.
In ungefähr einer halben Stunde würden sie am Ziel ankommen, einem Gasthof in der Nähe von Kalkriese. Frauke hatte versucht, das römische Essen auf dem Gelände von Kalkriese stattfinden zu lassen, aber leider hatte sie das Museum von dieser Idee nicht überzeugen können. Der Gasthof hatte einen großen Garten, eine Terrasse und es gab sogar eine kleine Bühne, auf der die Schlussszene stattfinden würde.
Frauke spielte in dieser letzten Szene nicht mehr mit. Darüber war sie jetzt sehr froh. Ihre letzten Nächte hatte sie weitestgehend schlaflos verbracht, sie hatte die gesamte Organisation immer wieder durchdacht, aber keine Lücken entdecken können. Für den Abschluss des Abends im Gasthof hatte sie lange mit dem Wirt verhandeln müssen, bis alles ihren Vorstellungen entsprach. Aber auch das hatte sie gelöst. Und jetzt diese Anschläge oder was auch immer es war.
Mittlerweile waren sie am Gasthof angekommen. Ein Pärchen unter den Wanderern stritt sich schon wieder, nicht wirklich ernst, sie hatten wohl eher eine seltsame Art zu flirten. Die Frau hatte etwas gesagt, das Frauke akustisch nicht verstanden hatte und er antwortete: „Bleib mal ganz geschmeidig.“ Den Satz hatte Frauke von ihm heute schon öfter gehört.
Der Bus, der die Wanderer zum Domplatz in Osnabrück zurückfahren würde, stand schon auf dem Parkplatz. War das wirklich erst heute Morgen gewesen als sie von dort losgefahren waren?
Ein junger Kellner, der gerade noch das letzte Stück der Terrasse sauber fegte, stellte den Besen zur Seite und begrüßte Frauke. Er hatte sich schon als Römer verkleidet und informierte Frauke darüber, dass alles vorbereitet sei. Auf dem Buffet stand schon die Vorspeise bereit.
Eine Kellnerin ging an ihnen vorbei. Sie trug zwei Fackeln. „Die brennen irgendwie nicht, ich hole neue.“ Sie ging durch die weit offen stehende Tür in den Gasthof. Frauke sah von hier aus dieses Präparat an der Wand hängen, das ihr schon beim ersten Besuch nicht gefallen hatte. Wahrscheinlich eine Eule oder ein Uhu. Die ganzen Diskussionen mit dem Wirt hatte Frauke noch gut in Erinnerung. Nein, Sie können kein Schwert in die Bühne rammen, wer repariert mir das denn hinterher? Diese Szene hatten sie in Thorges Garten geprobt und niemand wollte das gelungene Ende wieder ändern. Thorge hatte dann extra für die Schlussszene eine Platte aus Holz gebastelt und mit Moos überzogen, die nun auf der Bühne lag.
Der letzte Auftritt sollte nach der Vorspeise stattfinden. Frauke ging gedankenverloren hinter die Bühne um nachzusehen, ob dort alles in Ordnung war. Fast wäre sie über Thorges Rucksack gestolpert, konnte sich im letzten Moment aber fangen.
Thorge zog Frauke aufgeregt beiseite. „Frauke, ich bin noch mal zurück in den Wald gegangen, mir ließ das keine Ruhe mit deinen verletzten Händen. Ich habe die Schale gefunden, sie lag ein paar Meter weiter unter Laub versteckt. Hier sieh selber.“
Frauke starrte fassungslos auf die Schale. Thorge hatte sie umgedreht und Frauke konnte die scharfen Spitzen sehen, die mit Klebeband so fest gemacht waren, dass sie ein wenig über den Rand standen. Die hatten ihr also in die Hände geschnitten. „Was ist das?“
„Ich schätze das sind Klingen von einem Cuttermesser.“
„Aber du hast doch die Requisiten aus dem Transporter zu der Stelle gebracht an der wir gespielt haben. Ist dir denn dabei nichts aufgefallen?“
„Nein, da war nichts. Ich habe die Schale ja auch angefasst, als ich sie dort hin getragen habe, da hätte ich doch was merken müssen. Aber warte mal, wir hatten noch Zeit, nachdem wir die Szene vorbereitet hatten und sind zum Transporter zurückgegangen, in der Zeit kann ja jemand … “
Frauke unterbrach ihn: „Dann ist das Ganze also doch gegen mich oder meine Firma gerichtet. Wenn jemand es auf dich abgesehen hätte, wäre doch das mit der Schale nicht passiert. Es war doch klar, dass nur ich die in der Szene anfasse.“
Thorge nickte.
„Ich breche die Veranstaltung ab, die Schlussszene findet nicht statt!“, sagte Frauke energisch.
Thorge schüttelte den Kopf. „Nein, dann war alles umsonst. Das Wander-Event kommt super an bei den Gästen, damit werden wir noch viel Erfolg haben.“
Hatte er gerade wir gesagt? Frauke musste kurz schmunzeln.
„Hör mal, ich hab die ganze Bühne abgesucht und alles was wir für die Schlussszene brauchen überprüft. Ich habe nichts gefunden. Wird schon gut gehen.“
Frauke war hin- und hergerissen. Was sollte sie nur tun? Gleich würde das Essen beginnen, ein bisschen Zeit hatte sie noch. Vielleicht galt der nächste Anschlag den Gästen? Oh Gott, nein! Sie schob den Gedanken schnell beiseite. Sekundenlang hatte sie sogar schon Thorge verdächtigt, aber das konnte nicht sein, oder doch? Wenn sie verliebt war konnte Frauke sich nicht mehr auf ihre, sonst sehr gute, Menschenkenntnis verlassen.
Frauke stand am Rand der Terrasse und scannte alle Gäste einen nach dem anderen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass einer von ihnen, oder doch? Dann wanderte Fraukes Blick zur Bühne. Blitzartig schoss Frauke so etwas wie ein Plan in den Kopf. Wie sie darauf gekommen war, wusste sie später selber nicht mehr.
Der Rucksack stand unbeaufsichtigt an einen Stuhl gelehnt. Alle Gäste waren bereits am Buffet mit der Vorspeise beschäftigt. Die Dämmerung hatte schon begonnen und alle Scheinwerfer auf der Bühne überstrahlten das Fackellicht auf der Terrasse. Es war ganz leicht. Mit einer schnellen Bewegung hatte sie den Rucksack gepackt und war damit verschwunden. Trotzdem schlug ihr Herz bis zum Hals. Sie war schnell vor den Gasthof gelaufen, versteckte sich hinter einem parkenden Auto und öffnete mit zitternden Händen den Rucksack. Oben durchgeschwitztes T-Shirt, Trinkflasche, weiter unten Klebeband, Cuttermesser! Frauke war fassungslos, sie hatte Recht gehabt. Als nächstes fand sie im Rucksack ein iPad, sie schaltete es an. Zum Glück kein Passwort. Auf dem Desktop fand sie einen Ordner mit ihrem Namen. Eine andere Datei hieß Meine Geliebte. Die öffnete sie als erstes und fand seitenlange Liebesgedichte. Das Dokument Szenenablaufplan beachtete sie nicht weiter und öffnete die Datei Chronik. Die begann an dem Tag, als sie sich kennengelernt hatten, Frauke scrollte nach unten und konnte nicht fassen, was sie dort las: Jetzt habe ich Frauke bald so weit, bald hab ich es geschafft, sie ist schon ganz verzweifelt und dann trete ich als ihr Retter auf, ihr emotionaler Retter. Und ich werde ihr mein Geld anbieten um ihre Firma zu retten. Dann endlich wird sie verstehen, dass ich sie liebe und sie wird auch mich lieben. Heute waren wir uns schon ganz nah. Ich habe ihre wundervollen roten Haare berührt … Weiter las Frauke nicht, ihr Entsetzen schlug schlagartig in Wut um. Sie drehte den Rucksack um und schüttete den kompletten Inhalt auf den Boden.
Dort lagen jetzt Reste eines Stromkabels und kupferne angesägte Stücke. Was sollte das bedeuten? Sie hob einen Zettel auf, faltete ihn auseinander und las Funk-Schalter-Set Zwischenstecker, max. Reichweite 25 m, Einsatzort Außenbereich.
Panik erfasste sie und ihr Herz begann zu rasen. Frauke verstand nicht genau was sie dort gefunden hatte, war aber davon überzeugt, dass es nichts Gutes bedeutete. Sie packte rasch alles wieder ein, versteckte den Rucksack hinter einem Strauch und rannte zurück Richtung Terrasse. Kurz vorher bremste sie ab, drückte sich an die Hauswand und versuchte ihren Atem zu beruhigen. Sie schielte um die Ecke und überblickte den kompletten Außenbereich. Die Schlussszene hatte gerade begonnen.
Arminius hatte mit seinen Kriegern die Bühne betreten. Alle machten sich bereit zum Kampf. Es herrschte angespanntes Schweigen.
Fraukes Gedanken rasten … Funk-Schalter … Reichweite …
Arminius trat in die Mitte, hob sein Schwert in den Himmel und rief: „Germanen! Varus und seine Legionen kommen – jetzt gilt es: Freiheit oder Tod!“
Alle hoben ihre Schwerter in den Himmel und riefen: „Freiheit oder Tod!“
Reichweite 25 m … Kupfer … Außenbereich … Kabel …
Mit lautem Getöse verschwanden alle hinter der Bühne. Es waren laute Kampfgeräusche zu hören, Schwert auf Schwert, Stoff der zerriss, Schreie.
Stromkabel … Kupfer …
Abgekämpft und mit Blut verschmiert kamen alle Germanen wieder auf die Bühne.
Strom und Kupfer! … Funk-Schalter!!!
Frauke starrte auf die Bühne und sah aus dem Augenwinkel wie Alwin etwas aus seiner Hosentasche zog. Sie sprang wie eine Leopardin auf ihn zu und stürzte sich auf ihn. Beide landeten auf dem Boden, der Funk-Schalter fiel Alwin aus der Hand und lag ein paar Meter weiter unter dem Tisch.
Arminius rief laut: „Keine Römer in Germanien!“, und rammte sein Schwert in die moosbedeckte Platte.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 09.11.2015
ISBN: 978-3-7396-2241-5
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