LIEBESGLÜCK UND BÜCHERTRAUM
ROMANTISCHE KOMÖDIE
AMELIE WINTER
BUCHBESCHREIBUNG
Sorcha liebt Bücher – zum Leidwesen ihres Vaters, dessen Traum es war, ihre Karriere als Kickboxerin zu unterstützen. Nach jahrelangem Profitraining verbringt sie nun lieber Zeit in ihrem Buchladen als im Boxstudio. Dort begegnet ihr unverhofft Patrick. Er war der Junge, mit dem sie ihren allerersten Kuss hatte – und jetzt erkennt er sie nicht mal mehr! Das einstige Mauerblümchen hat sich zu einer hübschen Frau gewandelt, der es leichtfällt, den Männern den Kopf zu verdrehen. Da er ihr damals das Herz gebrochen hat, wittert Sorcha die Gelegenheit, ihm eine Lektion zu erteilen – oder ihn wenigstens zu vermöbeln, so wie er es verdient hat! Leider begreift sie recht bald, dass Patrick in all den Jahren nichts von seinem Charme eingebüßt hat und dass die erste Liebe immer etwas Besonderes bleiben wird.
INHALT
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
1
Patrick zog rasch das Handy aus der Hosentasche und schaute nach, wie spät es war. In fünf Minuten würde er sich mit Harper vor Riley’s Bridal Salon treffen. Seine Freundin wollte heiraten. Dafür benötigte sie ein Brautkleid, aber eigentlich hätte Bridget sie begleiten sollen.
Er beschleunigte seine Schritte, hastete die Straße entlang und bog dann um die Ecke, bis er Harper vor dem Laden entdeckte. Sie war eins achtundachtzig groß und deswegen nicht zu übersehen. Bestimmt mussten sie das Kleid in der Länge anpassen.
Schnaufend winkte er ihr zu. Harper schaute verdutzt. Ihr rotes Haar glitzerte in der Sonne. Ihr Gesicht war makellos wie immer, nur einzelne Sommersprossen zierten ihre Nase.
»Was machst du denn hier?!«, fragte sie unwirsch.
»Bridget kann nicht kommen. Also springe ich für sie ein!«
Harper runzelte die Stirn. Nun wirkte ihr Gesicht noch strenger als sonst. Ihre von Natur aus hochgezogenen Augenbrauen verliehen Harper einen sehr herrischen Blick. Ihre großen Hände steckten in den großen Taschen ihres großen Frühlingsmantels. Wenigstens trug sie niedrige Schuhe, dann musste Patrick seinen Kopf nicht gar zu sehr in den Nacken legen, um zu ihr aufzuschauen.
»Aber …!«, begann sie und wirkte aufgeregt. »Bridget wollte doch … Das ist wichtig!« Sie presste die Lippen zusammen wie ein trotziges Kind.
»Tut mir leid. Du wirst mit mir Vorlieb nehmen müssen«, grummelte er. »Bridget liegt mit einer hässlichen Migräne im Bett!« Seine beste Freundin reagierte empfindlich auf Wetterumschwünge. Bridget war nicht kleinzukriegen, aber wenn das Wetter verrücktspielte, oder wenn sie ihre Tage hatte, dann war es ratsam, ihr aus dem Weg zu gehen.
Harper zog das Handy aus der Manteltasche und tippte eilig darauf herum.
»Warum hat sie mir nicht geschrieben?«, jammerte sie und legte das Telefon ans Ohr. Patrick seufzte tief. Als Bridget ihn vorhin angerufen und ihn gebeten hatte, Harper ins Brautmodengeschäft zu begleiten, hatte er geglaubt, sie würde sich einen Scherz mit ihm erlauben. Als ihm klargeworden war, dass sie es ernst meinte, hatte er dennoch zugesagt. Aber dass Harper enttäuscht sein würde, hatte er gewusst.
»Hey Bridget!«, rief sie ins Telefon. »Warum …?« Sie brach ab. »Wie geht es dir?«, hakte sie besorgt nach. Dann lauschte sie gespannt. Patrick sah sich derweil um. Die Boutique wirkte von außen sehr unscheinbar. Aber die Kleider, die im Schaufenster ausgestellt waren, sahen toll aus.
»Du hättest doch absagen können«, grummelte Harper. Patrick bereute es bereits, dass er sich dazu hatte überreden lassen, Harper zu begleiten. Sie tat immer so, als könnte sie ihn nicht leiden. Weil er sie ständig triezte? Dabei hatte Harper doch ein dickes Fell. Das mochte er an ihr.
»Ist okay! Dann erhol dich gut!« Sie legte auf und drehte ihr Gesicht ruckartig zu ihm hin. Ihre verdrießliche Miene ließ ihn erschaudern.
»Und? Gehen wir jetzt rein?«, sagte er unwirsch.
Harper zögerte. »Ich gehe lieber nach Hause.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und marschierte los. Patrick starrte ihr mit offenem Mund hinterher. Doch dann setzten sich seine Beine abrupt in Bewegung, und er hastete auf Harper zu. Energisch packte er sie am Arm und zog sie zur Ladentür. Sie beschwerte sich lautstark.
»Wir sind doch schon da! Jetzt suchen wir ein Kleid für dich aus!«
»Du wirst dich doch nur lustig machen!«, schimpfte sie.
»Was ist aus der selbstbewussten Harper geworden?«, seufzte er.
»Ich will am Tag meiner Hochzeit perfekt aussehen! Und deswegen brauche ich Bridget, die mich berät, und nicht einen Clown wie dich, der nichts ernst nimmt!«
»Ich nehme nichts ernst?«, wiederholte er amüsiert und ließ sie los. »Warum bin ich dann hier?!« Kopfschüttelnd ging er allein in die Boutique. »Ich sehe mir jetzt die Kleider an!«, rief er ihr entschieden zu.
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Eine hübsche schlanke Frau mit langen brünetten Haaren stand hinter der Ladentheke.
»Ich suche ein Kleid«, sagte Patrick seufzend und ließ die Schultern hängen. Sie zog die Augenbrauen hoch und schien sich über ihn zu amüsieren. »Für meine Freundin da draußen!«, fügte er rasch hinzu und zeigte mit dem Finger zur Tür. Im nächsten Moment kam Harper herein und wirkte unglücklich. Wie ihr Verlobter Shane das nur aushielt? Wenn ihr etwas nicht passte, dann ließ sie es jeden um sich herum spüren. Zum Glück gab es nicht viele Dinge, die Harper missfielen. Sonst war sie doch immer cool drauf.
»Hi«, sagte Harper. »Das Kleid ist für mich.« Sie warf Patrick einen bitterbösen Blick zu.
»Was schwebt Ihnen denn vor?«, fragte die freundliche Frau hinter der Theke.
»Ich weiß noch nicht! Darf ich mich mal umsehen?«
»Natürlich!«
Harper ging zum Kleiderständer, wo mehrere Stücke ausgestellt waren. An den Wänden hingen Fotos mit Models in Brautkleidern. Innen war die Boutique ziemlich schick. Patrick setzte sich derweil entspannt auf das antike Chippendale-Sofa mit der champagnerfarbenen Polsterung, als sein Handy bimmelte. Bridget hatte ihm geschrieben.
›Ist Harper sauer?‹, stand da.
›Nein. Sie ist nur enttäuscht. Ich mach das schon! Du kannst dich auf mich verlassen.‹ Harper war nie sauer. Sie war die einzige Frau, die es schaffte, zugleich kompliziert und unkompliziert zu sein.
Er steckte das Handy wieder weg und schaute zu ihr hinüber. Kritisch begutachtete sie ein Kleid nach dem anderen. Von Mode verstand sie eine Menge. Sie brauchte niemanden, der ihr bei der Suche nach einem hübschen Brautkleid half. Außerdem hatte Harper eine gute Figur. Welches Kleid würde nicht toll an ihr aussehen? Ihre Hüften und Schultern waren recht breit, aber die Taille war schmal. Obwohl sie schlank war, wirkte sie kurvig. Einzig ihre immense Körpergröße war ein Problem.
Patrick hörte ein leises Geräusch, das nach einer Nähmaschine klang.
»Entschuldigen Sie mich kurz«, sagte die attraktive Verkäuferin. Sie verschwand im hinteren Teil des Ladens, und Patrick war jetzt mit Harper allein.
»Hast du was gefunden, das dir gefällt?«
»Ich weiß nicht …«
»Probier einfach mal eins an!«
»Die sind mir alle zu klein«, nuschelte sie.
»Deswegen sind wir hier! Die nähen dir ein Kleid, genau wie du es haben willst!« Er hatte sich schlaugemacht, bevor er hierhergekommen war. Bridget hatte ihm nur den Namen der Boutique genannt, die Adresse hatte er selbst herausgesucht. Dabei hatte er die Gelegenheit genutzt, sich auf der Website umzuschauen. Riley’s Bridal Salon erfüllte alle Wünsche.
Harpers Laune schien sich nicht zu bessern, und Patrick beobachtete sie gespannt. Wenn es um ihre Beziehung ging, dann machte sie sich so viele unnötige Sorgen. Shane war ihr doch vollkommen verfallen. Er liebte sie über alles. Sie hätte bei der Hochzeit einen weißen Müllsack tragen können, und Shane würde sie umwerfend finden – zu Recht! Auch wenn Patrick sie gerne wegen ihrer Größe und ihres harschen Auftretens triezte, Harper war alles andere als hässlich.
Die Verkäuferin kam zurück. Sie war nicht allein.
»Ich bin Riley«, stellte sich ihre Begleitung vor. War das die Riley, nach der das Brautmodengeschäft benannt war? Sie war klein – aber der Busen war erstaunlich groß. Zur langweiligen Jeans trug sie ein kariertes Hemd, und um ihren Hals hing ein Maßband. Patrick schmunzelte, als er die giftgrünen Crocs sah. Aber noch schlimmer waren die bunten Ringelsocken!
»Haben Sie ein Brautkleid gefunden, das Ihnen gefällt?«, fragte sie freundlich. Sie hatte eine erstaunlich angenehme Stimme. »Ich kann es anpassen. Das ist kein Problem!« Die dunkelblonden, leicht gelockten Haare trug sie bis zur Schulter.
Harper hatte sich endlich ein Kleid ausgesucht.
»Das vielleicht?«, fragte sie und wirkte unschlüssig.
Riley hingegen schien die Wahl gut zu finden. »Wollen Sie es anprobieren?« Harper nickte und folgte ihr in den hinteren Teil des Ladens, wo sich die Umkleidekabine befand.
»Soll ich dir beim Anziehen helfen?«, rief Patrick ihr hinterher.
»Das hättest du wohl gerne!«
»Schon gut, Boss!« Er nannte sie immer ›Boss‹, nur um sie zu triezen. Ihr resolutes Auftreten war der Grund dafür. Zudem hatten sie beruflich häufig miteinander zu tun – und da gab Harper gerne den Ton an.
Mit einem schiefen Grinsen schlug er die Beine übereinander. Noch nie zuvor war er in einem Brautmodengeschäft gewesen.
Er konnte es noch gar nicht glauben, dass seine Freunde endlich – endlich! – heiraten würden. Es hatte auch verdammt lange gedauert, bis die beiden sich ihre Gefühle füreinander hatten eingestehen können. Die zwei gehörten eindeutig zusammen. Jeder hatte es gewusst! Ihre Liebe war so kitschig, dass er nur den Kopf darüber schütteln konnte.
Ob er selbst auch mal heiraten würde? Bestimmt nicht! Die Ehe war mit einer Menge Verantwortung verbunden. Lieber ließ er die Dinge einfach auf sich zukommen – und die Frauen. Davon gab es etliche da draußen, die Gefallen an ihm fanden und an welchen er Gefallen fand. Warum sich allzu früh festlegen, wenn die Auswahl so groß war? Zudem konnte er sich nicht vorstellen, wie er in einem Smoking aussah, denn meist trug er nur Jeans und ab und zu ein Sakko, damit er mit Shane mithalten konnte. Der warf sich nämlich gerne in Schale. Seit dem College waren sie befreundet. Gemeinsam hatten sie eine Beratungsfirma gegründet. C&C Consulting unterstützte Unternehmen in ganz Irland.
Shane war Erfolg sehr wichtig – und gutes Aussehen auch. Patrick war bei Weitem nicht so eitel. Sein Kinn rasierte er nur deswegen glatt, weil ihm die Bartpflege zu aufwendig war. Das nussbraune Haar schnitt er immer dann kürzer, wenn es zu mühsam wurde, es zu bändigen. Er ernährte sich gesund und ging ab und zu mit Shane ins Fitnesscenter, um ein paar Gewichte zu heben. Bis zur totalen Erschöpfung auf dem Laufband zu rennen, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter ihm her, überließ er lieber seinem Freund. Dem fiel es zum Glück kaum auf, dass Patrick im Fitnesscenter öfter am Handy spielte als trainierte. Dennoch sah er fit, gesund und sportlich aus. Seinen guten Genen sei Dank!
Harper kam aus der Umkleidekabine heraus. Der Rock endete weit über den Knöcheln, aber das mit Spitze verzierte Oberteil war hübsch. Patrick wandte sich zur Seite, legte den Arm auf die Rückenlehne des Sofas und schaute gespannt zu Harper hin. Vor dem Spiegel drehte sie sich nach links und nach rechts. Der Rock schwang bei jeder Bewegung mit. Am Rücken war das Kleid offen. Harpers Brustkorb war zu breit, somit war es unmöglich, den Reißverschluss zu schließen.
»Was sagst du?«, fragte sie und schaute zu ihm hin.
Sie wollte wirklich seine Meinung wissen? Patrick guckte überrascht. Das Kleid war hübsch, aber eindeutig zu klein. Wäre es in ihrer Größe, sähe es bestimmt gut aus. Bevor er antworten konnte, trat Riley an die zukünftige Braut heran. In Windeseile steckte sie etliche Sicherheitsnadeln in den Stoff hinten am Rücken. Dann zog sie ein weißes Band durch die Nadeln und schnürte das Oberteil wie ein Korsett.
»Das ist nur provisorisch, damit sie sich besser vorstellen können, wie das Kleid aussieht«, erklärte sie. Das Oberteil saß nun ziemlich gut, auch wenn es nach wie vor zu klein war. Harper wirkte nachdenklich.
»Ich würde Ihnen zu einem kürzeren Rock raten«, sagte Riley.
»Glauben Sie, das sieht gut aus?«
Riley nickte enthusiastisch. Sie zauberte eine Dose mit Stecknadeln aus der Tasche ihrer Jeans hervor. Mit flinken Fingern zog sie einen Rockzipfel hoch und steckte ihn unter der Taille ab. Den Vorgang wiederholte sie viele Male, bis der gesamte Rock nur noch bis zu Harpers Knien reichte. Daraufhin verwandelte sie ein Stück Seidenstoff in einen breiten Gürtel, den sie um Harpers Taille band. So fiel es auch nicht mehr auf, dass das Oberteil zu kurz war. Patrick beobachtete den Prozess gespannt. Er war beeindruckt. Die Kleine war talentiert! Aber nichts anderes hatte er erwartet. Harper verstand es, kompetente Leute auszuwählen. So war es ihr gelungen, ein erfolgreiches Online-Business auf die Beine zu stellen, das ihren Namen trug. Harper’s feierte bald sein zehnjähriges Bestehen. Dort konnte man Handgemachtes erwerben: Handtaschen, Schmuck, Dekorationsstücke und vieles mehr. Das Sortiment vergrößerte sich ständig. Seit Kurzem betrieb sie sogar ein Geschäft in der Innenstadt. Vor einer Woche hatte sie es eröffnet.
»Was sagst du jetzt?«, meinte sie und grinste stolz. Sie drehte sich hin und her. Wieder schwang der Rock bei jeder Bewegung mit. Harper wirkte zufrieden. Sie war ›happy‹. So nannte Shane sie immer: Happy. Sie ließ sich nie unterkriegen. Nichts und niemand konnte sie aufhalten. Die Hochzeit würde bestimmt perfekt werden – und die Braut würde jedem die Schau stehlen.
»Shane ist ein Glückspilz«, rutschte es ihm heraus. Das Kleid war elegant, aber auch verspielt. Harpers lange und wohlgeformte Beine kamen wunderbar zur Geltung, aber ihr Lächeln war die Krönung. Wenn sie so lächelte, war sie unglaublich hübsch. Shane war eindeutig ein Glückspilz.
Riley verschwand kurz und kam mit einem Musterkatalog wieder, den sie eilig aufblätterte. »Wollen Sie sich einen anderen Stoff aussuchen?«
Patrick reckte den Hals, um auf die Muster schielen zu können.
Riley fuhr derweil fort: »Ich würde Ihnen zu einem Kleid in diesem Stil raten, aber die Details können wir ändern.«
»Die Träger würden mir etwas breiter besser gefallen«, sagte Harper. »Dann wirken meine Schultern schmaler. Oder vielleicht versuchen wir es mit einem Neckholder-Oberteil?«
»Neckholder-Brautkleider sind Klassiker!« Riley ging nach hinten und forderte Harper auf, sie zu begleiten. Patrick zögerte. Sollte er sich zu den Frauen gesellen?
»Kommst du?«, rief Harper ihm zu.
Mit einem schelmischen Grinsen machte er sich auf den Weg. »Du tust nur so, als würdest du mich nicht mögen, stimmt’s?«
»Natürlich mag ich dich! Shane und Bridget lieben dich! Also muss ich dich zumindest mögen!« Sie seufzte theatralisch, aber sie lächelte dabei.
»Mich mag eben jeder!«, gab er sich zuversichtlich.
Gespannt trabte er hinter den Frauen her. Sie erreichten ein winziges Nähzimmer, das sehr unordentlich aussah. Ein großer Sessel stand in der Ecke, etliche Stoffballen stapelten sich in den Regalen, und der Nähtisch war unaufgeräumt. Patrick guckte zur Schneiderpuppe, als Riley einen Zeichenblock hervorzauberte und hastig ein paar Linien kritzelte, die sich in kürzester Zeit in eine erstaunlich detailreiche Skizze eines Kleides verwandelten.
»Wie gefällt Ihnen so etwas?«, fragte sie und schaute auf. Sie reichte Harper nicht mal bis zur Schulter.
»Ich finde es toll!«
»Möchten Sie mehr Spitze oder weniger?«
»Welche Spitze haben Sie zur Auswahl?«
Riley kramte in einer Schublade. Patrick schielte derweil interessiert auf die Zeichnung.
»Du weißt, dass du zu so einem Kleid hohe Schuhe tragen musst?«, merkte er leise an. Harper verzog augenblicklich das Gesicht. »Ich meine, was du unter einem langen Rock trägst, sieht ja keiner. Aber bei einem kurzen Rock …«
»Müssen ja nicht sieben Zentimeter sein! Shane stört das nicht!«, verkündete sie stolz.
»Darf ich es ihm sagen?« Patrick grinste hämisch. »Dass seine Braut bei der Hochzeit zehn Zentimeter größer sein wird als er?«
Er liebte es, die beiden deswegen aufzuziehen. Wenn Shane sie in einem hübschen Hochzeitskleid sah, würde es ihm ohnehin den Atem rauben. Shane war nicht klein. Aber an Harpers Größe reichte er wie viele andere Männer nicht heran.
»Du nervst!«, sagte sie trotzig.
»Und du bist unsensibel!«, jammerte er. »Ich bin euer Trauzeuge! Schon vergessen? Ich werde neben dir wie ein Zwerg aussehen!«
»Darum geht es also? Hast du Angst vor großen Frauen?«, spottete Harper.
»Etwas …« Patrick lachte schallend.
Er maß eins achtundsiebzig. Somit war er größer als die meisten Frauen, aber ein Winzling, wenn er neben Harper stand.
Schweigend lauschte er dem Gespräch der beiden Damen. Die Skizze wurde immer umfangreicher. Harper wählte den Stoff aus, und Riley machte sich Notizen.
»Sie können sich gerne hinsetzen«, sagte sie zu Patrick und deutete auf den großen runden Sessel, der in der Ecke stand. Er machte es sich dort bequem. Entspannt schloss er die Augen und ruhte sich aus, während er dem Geschnatter der Frauen und dem Geräusch des Stiftes lauschte, der über das Blatt Papier wetzte.
Die Hochzeit sollte in drei Monaten stattfinden. Das würde knapp werden mit dem Kleid! Warum hatten es die beiden mit dem Heiraten plötzlich so eilig?
»Wir sind fertig!«, flötete Harper. Sie trug nach wie vor das Kleid, das am Rücken zugeschnürt war. Mit ihren nackten Füßen stand sie auf einem flauschigen Teppich.
»Dann lasst mal sehen«, sagte Patrick und richtete sich ächzend auf. Harper erklärte ihm mit einer Engelsgeduld bis ins kleinste Detail, wie das fertige Brautkleid aussehen würde.
»Verrate bloß Shane nichts!«, trug sie ihm auf.
»Ich schweige wie ein Grab.«
Shane hatte keine Ahnung, dass Patrick in so einer wichtigen Angelegenheit seiner zukünftigen Braut beratend zur Seite stand. Schnell holte er das Handy heraus und machte ein Foto von der Skizze. Dann machte er noch eins von Harper.
»Hey! Das schickst du doch nicht Shane!«, schimpfte sie.
»Quatsch! Das ist für Bridget!« Vermutlich lag sie gerade in ihrem Bett und schlief bei zugezogenen Vorhängen: kein Licht, keine Geräusche – nur so überstand sie ihre Kopfschmerzattacken. Bridget litt schon seit vielen Jahren an Migräne. Rauchen verstärkte ihre Anfälle, deswegen wollte sie es sich abgewöhnen.
Patrick drückte auf ›Senden‹ und verstaute das Handy wieder in der Hosentasche.
Harper zog sich in die Umkleidekabine zurück. In wenigen Minuten stand sie wieder in Jeans und Mantel vor ihm. Sie bedankten und verabschiedeten sich. Harper wirkte glücklich und zufrieden. Sie grinste wie ein Honigkuchenpferd und sah nun noch hübscher aus.
»Schickst du auch mir die Fotos?«
»Sicher.«
Gerade wollte Patrick das Telefon zücken, als es klingelte. Bridget war dran. Sofort hob er ab.
»Hey«, grüßte er sie. »Alles okay?«
»Ich lebe noch«, gab sie krächzend zurück.
»Dann ist ja gut!« Er lachte hell.
»Das Kleid sieht super aus! Ein kurzer Rock? Daran hätte ich nie gedacht!«
»Diese Riley hat’s echt drauf.«
»Gibst du mir mal Harper?«
»Klar!« Er reichte das Telefon weiter. Harper stutzte, bevor sie es entgegennahm.
»Geht’s dir wirklich gut?«, fragte sie sogleich.
Patrick schaute sich derweil um. Eine CoffeeStar-Filiale war doch gleich in der Nähe. Er hatte Lust auf einen Kaffee. Was sollte er mit dem angebrochenen Tag noch tun? Ob Harper schon was vorhatte?
»Ich find’s auch super«, sagte sie strahlend. »Ruh dich aus!« Sie gab ihm das Handy zurück. »Bridget will dir noch was sagen.«
Patrick drückte das Telefon ans Ohr.
»Könnt ihr ein Buch für mich abholen?«, fragte seine Freundin.
»Klar! Wo?«
»Die Buchhandlung ist gleich in der Nähe des Brautmodengeschäfts. Sorchas Bücherwelt steht über dem Eingang.«
»Was hast du bestellt?«
»Hol es einfach ab, okay?«
»Mach ich! Soll ich später vorbeikommen und dir eine Tasse Tee machen?«
»Hilft die gegen Migräne?«
»Man soll doch viel trinken!«
»Hast du an einem Samstagnachmittag nichts Besseres zu tun? Hast du kein Date?«
»Mein Charme zieht nicht mehr bei den Frauen. Ich werde alt! Meine besten Jahre sind vorbei!«
Bridget lachte hell am anderen Ende der Leitung. Zumindest war es ihm gelungen, sie aufzumuntern.
»Wir sehen uns später!« Er legte auf und wandte sich Harper zu. »Bist du noch immer sauer, weil ich dich begleitet habe?«
»Nein! Du hast deine Sache echt gut gemacht!«
»Tatsächlich?«
Er hatte sich doch nur wie ein Statist bei einem Theaterstück gefühlt. Plötzlich schlang sie von hinten ihre langen Arme um ihn, und sofort schnellte sein Puls in die Höhe. Umarmte ihn Harper gerade? Sonst war sie doch eher knausrig, wenn es darum ging, Zuneigung zu zeigen – nur bei Shane nicht. Den küsste und umarmte sie immerzu. Sie überschüttete ihn mit ihrer Liebe!
»Hör auf mit dem Quatsch! Jetzt habe ich Gänsehaut! Guck mal!« Er krempelte den Ärmel hoch und zeigte ihr die klitzekleinen Härchen, die auf seiner Haut senkrecht nach oben standen.
Harper kicherte vergnügt und ließ ihn wieder los. Mit dem Kleid schien sie wirklich zufrieden zu sein. Ihre gute Laune war der Beweis.
»Hast du noch etwas Zeit?«, fragte er.
»Wofür?«
»Ich soll für Bridget ein Buch abholen. Gleich hier in der Nähe soll eine Buchhandlung sein.«
»Da drüben!« Patricks Blick folgte Harpers ausgestrecktem Zeigefinger. Auf der anderen Straßenseite entdeckte er einen Laden, wo Sorchas Bücherwelt oben stand. Von außen wirkte die Buchhandlung winzig, eingeklemmt zwischen einer Apotheke und einem Elektrogeschäft.
Sorcha … Der Name war selten. Patrick hatte mal jemanden mit diesem Namen gekannt. Aber das war schon lange her.
Harper schritt voraus zur Ampel, damit sie die Straße überqueren konnten. Sie warteten geduldig, bis es grün wurde.
Der Tag war gut verlaufen. Harper hatte ihr Traumkleid gefunden. Das war alles, was zählte.
2
»Liest du wieder Ulysses?«, meinte Eva amüsiert.
»Ist schon zehn Jahre her, seit ich das Buch gelesen habe. Mir war danach!«
Sorcha stopfte es in ihre Handtasche, damit sie es später nicht vergaß. Sie las James Joyce’ Meisterwerk, weil sie dieses Jahr unbedingt nach Dublin fahren wollte, um dort den Bloomsday zu feiern. Es handelte sich dabei um einen alljährlichen Gedenktag zu Ehren von Ulysses, benannt nach der Hauptfigur Leopold Bloom. Fans und Leser des Romans suchten regelmäßig am sechzehnten Juni die von Joyce detailreich beschriebenen Orte auf, wo das fiktive Geschehen stattgefunden hatte.
Außerdem wollte sich Sorcha in Dublin mit ihrer älteren Schwester treffen, die dort mit ihrer Familie lebte. Sie hatten sich seit zwei Monaten nicht mehr gesehen.
»Wie kannst du dich nur durch diese siebenhundert Seiten quälen!«, stöhnte Eva, dabei liebte sie es, Bücher zu lesen. Aber Ulysses war ihr zu anstrengend.
»Es sind siebenhundertundzwanzig.«
»Dann viel Vergnügen!«
Eva ging heute früher. Sie musste ihren achtjährigen Sohn vom Fußballspielen abholen, weil ihr Mann geschäftlich im Ausland war. Sonst erledigte er das immer am Freitagabend. Kurz schaute sie auf ihre zarte Armbanduhr mit dem silbernen Sonnenschliff-Ziffernblatt, ein Geschenk ihres Mannes zum Hochzeitstag.
»Mach dich ruhig auf den Weg! Es ist momentan sowieso nichts los!«, sagte Sorcha. »Ich kümmere mich um alles!«
Sorcha führte die Buchhandlung seit drei Jahren. Es war nur ein kleiner Laden, dennoch gab es hier die unterschiedlichsten Bücher zu entdecken: von den aktuellen Belletristik-Bestsellern bis zu Werken von Kleinverlagen und auch Sach- und Fachbücher. Wer etwas über die Geschichte Irlands lernen wollte, war hier genauso richtig. In Sorchas Bücherwelt gab es etliche Bücher über die keltische Mythologie und das irische Erbe. Auch die Werke bekannter irischer Schriftsteller hatte Sorcha auf Lager: Neben James Joyce’ Romanen hortete sie Klassiker von Oscar Wilde und C. S. Lewis. Vor Kurzem hatte sie eine Sparte für ›Sport und Gesundheit‹ eingerichtet. Das Sortiment vergrößerte sich ständig, und der Platz wurde weniger.
Vorher hatte ein altes Ehepaar den Laden geführt. Sorcha hatte von der Schließung erfahren und die Buchhandlung übernommen. Sie hatte hier einiges verändert, aber viele Raritäten behalten. Die Menschen kamen hier herein, ließen sich von der Atmosphäre verzaubern und stöberten in den überfüllten Regalen, bis sie den einen oder anderen Schatz entdeckten. Diese wundervolle Erfahrung wollte Sorcha erhalten.
»Ich bleibe noch zwanzig Minuten«, sagte Eva.
»Bist du sicher?«
»Das Fußballtraining endet erst um sechs.« Es war kurz nach fünf.
Sorcha ließ ihren Blick über die kreativ gestalteten Tische schweifen, auf denen sie die neuesten Bestseller mit Plakaten und Prospekten verkaufsfördernd präsentierte.
Hier war sie von Büchern umgeben – da fühlte sie sich wohl. Sie liebte es, in fremde Gedankenwelten abzutauchen. Als sie noch klein gewesen war, hatte sie es kaum erwarten können, endlich Lesen zu lernen. Sie erinnerte sich deutlich daran, wie sie stolz nach Hause gekommen war und ihrer Mom berichtet hatte, den Buchstaben S für Sorcha gelernt zu haben. Sie war ein fleißiges Kind gewesen, eine gute Schülerin – und eine gute Sportlerin. Über Letzteres hatte sich besonders ihr Dad gefreut. Er war ein ehemaliger Kickboxprofi und unterrichtete den Sport seit vielen Jahren in seinem eigenen Studio. Er hatte gehofft, zumindest eine seiner beiden Töchter fürs Kickboxen begeistern zu können. Sorcha fiel es leicht, Muskeln aufzubauen. Ihr Körper war stark, und ihre Schläge waren schnell. ›Du bist ein Naturtalent!‹, hatte ihr Dad immer zu ihr gesagt. ›Du wirst es weit nach oben schaffen!‹
Anfangs hatte sie gerne geboxt, da ihr Dad doch so stolz auf sie gewesen war. Er hatte sie mit Lob überschüttet. Sorcha war sich wichtig vorgekommen. Aber nach dem Training hatte sie sich häufig in ihrem Zimmer verschanzt und aufregende Geschichten gelesen, um dem monotonen Alltag zu entfliehen: Schule, Training, wieder Schule, wieder Training. Sogar am Wochenende hatte sie trainieren müssen! Kickboxen erforderte eine gute Grundkondition. Da reichte es nicht, nur hart zuschlagen zu können. Wenn sie das Training geschwänzt hatte, war ihr Dad sauer gewesen. Sorcha hatte bald erkannt, dass sie dem Kickboxen nicht ihr ganzes Leben widmen wollte.
Ihre Gedanken drifteten ab. Die Profikarriere hatte sie im Alter von siebenundzwanzig Jahren beendet. Mittlerweile boxte sie nur noch in ihrer Freizeit und auch dann eher selten. Aber mit dem Preisgeld hatte sie sich ihren Traum von der eigenen Buchhandlung erfüllen können.
Die Türglocke ertönte. Zwei neue Kunden traten ein und schauten sich gespannt um. Der Laden wirkte winzig, wenn man eintrat, vielleicht sogar ein wenig schäbig. Sorcha hatte den Großteil der ursprünglichen Einrichtung beibehalten. Sie mochte nicht nur alte Bücher, sondern auch alte Möbelstücke. Die dunklen Regalbretter waren längst durchgebogen, weil sich über Jahrzehnte hinweg etliche Bücher darauf gestapelt hatten. Jede Ecke erzählte eine Geschichte.
Ein schmaler Gang führte nach hinten, wo sich der Raum dann ausdehnte. Die meisten Kunden wunderten sich darüber, wie viel Platz hier war und dass es tausende Bücher zu entdecken gab.
Die beiden Neuankömmlinge wirkten unschlüssig, und Sorcha eilte hin, um sie willkommen zu heißen und ihnen ihre Hilfe anzubieten.
»Ich sehe mich kurz um«, sagte die Frau. Sie war groß. Sehr groß. Waren die beiden ein Paar? Der Größenunterschied war beachtlich.
»Wonach suchst du? Nach einem Buch mit dem Titel Wie werde ich die perfekte Braut?«, fragte ihr Begleiter.
»Ich werde auch ohne Ratgeber die perfekte Braut sein!« Sie grinste selbstsicher. Wollten die zwei heiraten?
»So viel Zuversicht! Da wird sich Shane freuen!«
»Was meinst du damit?«
»Er macht sich Sorgen, … dass du dir Sorgen machst.«
»Shane übertreibt«, seufzte sie.
»Er liebt dich total und will, dass alles gut läuft.«
»Das tut es und das wird es!«, erwiderte sie mit einem breiten Lächeln.
»Weiß ich doch! Ich beneide euch. Aber ihr macht euch immer wegen Kleinigkeiten verrückt!«
Sorcha wollte nicht lauschen, aber ihr Blick wanderte unweigerlich zu dem Mann und seinem dichten Haarschopf, der sich offenbar nur schwer bändigen ließ. Die Stimme kam ihr bekannt vor. Das Gesicht hatte er zur Seite gedreht. Lässig stand er neben dem Bücherregal, die Arme in den Taschen seiner dunkelblauen Jeans vergraben. Er trug einen weinroten Pulli und darunter ein Hemd. Gut sah er aus. Irgendwie cool. Was mehr an seinem Auftreten lag als an seinen Klamotten, obwohl die Sachen einen hochwertigen Eindruck machten.
Sie ging zurück zur Ladentheke und wartete, bis die neuen Kunden einen Wunsch äußerten oder um Rat fragten. Verstohlen schielte sie ein weiteres Mal zu dem Kerl hin.
»Was starrst du so?«, flüsterte Eva ihr ins Ohr. »Gefällt er dir?«
»Was?«
»Sieht nicht schlecht aus!« Eva grinste breit.
Mit Männern hatte Sorcha bisher wenig Glück gehabt. Ben hatte eine große Familie gewollt – mindestens drei Kinder, besser vier! – und Sorcha war dazu nicht bereit gewesen. Keith war nach London gezogen, und da Sorcha ihr Leben in Cork City nicht hatte aufgeben wollen, war es zur Trennung gekommen. Anthony hatte es zugesetzt, dass sie mit ihrem Buchladen mehr verdiente als er mit seinem Job als Datenanalyst. So war es gekommen, dass Sorcha mit dreiunddreißig Jahren single war. Es hatte bisher nie gepasst. Irgendein Problem hatte es immer gegeben, für welches Sorcha nur eine Lösung hatte finden können: Trennung. Gab sie zu früh auf? Sie liebte ihre Bücher, ihren kleinen Laden und die Stadt. Sie wollte ihr Leben nicht wegen eines Mannes umkrempeln müssen.
»Er kommt mir bekannt vor«, sagte Sorcha leise.
»Du kennst ihn?«
»Weiß nicht …«
Sie hatte das Gefühl, eine vergessen geglaubte Erinnerung würde wieder in ihrem Gedächtnis aufflackern, wie eine kleine Flamme, die der leiseste Windzug zum Erlöschen bringen konnte. Energisch schüttelte sie den Kopf.
Die beiden sahen sich im hinteren Teil des Ladens um und tuschelten miteinander. Grinsend drehte sich der Mann von seiner Freundin weg und schlenderte lässig zur Ladentheke. Sorcha hatte das Gefühl, ihr Herz setzte einen Schlag aus. Plötzlich erinnerte sie sich! Mit gesenktem Kopf und einem breiten Lächeln kam er auf sie zu. Erst als er die Theke erreichte, schaute er auf. Ihre Blicke trafen sich. Vor ihr stand Patrick. Der Patrick, der auf der Highschool neben ihr gesessen hatte. Der Patrick, in den sie so arg verknallt gewesen war. Der Patrick, der ihr ihren ersten Kuss geklaut hatte. Nun gut, eigentlich hatte Sorcha ihn geküsst, aber dennoch …! Er sah wirklich gut aus … Aus dem Jungen von damals war ein Mann geworden, auch wenn das nussbraune Haar noch genauso zerzaust und das freche Lächeln genauso toll war wie eh und je. Da keine Metalldrähte seine Zähne verunstalteten, war das Lächeln sogar noch schöner.
Sie hielt seinem Blick stand, und er zog die Stirn in Falten. Erkannte er sie auch? Sorcha hatte damals wie ein Junge ausgesehen: flachbrüstig, muskulös, die Haare kurz geschnitten.
»Ich soll ein Buch für meine Freundin abholen«, erklärte Patrick freundlich, während er sie musterte. Sorcha war es gewohnt, dass Männer sie anstarrten. Früher hatte sie kaum ein Junge beachtet oder gar um ein Date gefragt, jetzt hingegen wurde sie ständig angemacht. Ihr Körper war nach wie vor gut durchtrainiert, aber der Busen war nun größer. Die Pickel waren verschwunden, die Zahnspange war raus, das Haar war nun lang, blond und gewellt. Eva beneidete sie um ihre widerspenstige Lockenmähne, da ihr eigenes Haar nur sehr dünn war. Mit einem schulterlangen Stufenschnitt versuchte sie, ihm mehr Volumen zu verleihen.
»Wie heißt das Buch?«, fragte Sorcha freundlich.
»Bridget Jones«, sagte er.
Sorcha stutzte. Sie hatte die Bestellungen der Kunden alle im Kopf, aber Bridget Jones hatte niemand bestellt. Doch dann erinnerte sie sich.
»Deine Freundin heißt Bridget Jones«, hakte sie nach.
»Genau! Ich weiß nicht, welches Buch ich für sie abholen soll.« Er lächelte charmant – und Sorcha fand ihn umwerfend. Sie starrte ihm etwas zu lange ins Gesicht, bevor sie unter der Theke nach dem Buch suchte. Flink scannte sie den Barcode ein.
»Willst du eine Tüte, oder soll ich dir das Buch wie ein Geschenk einpacken?«
»Eine Tüte reicht.« Er hob das Buch hoch und las laut vor: »Endlich Nichtraucher von Allen Carr.«
Seine Begleitung trat zur Theke. »Ob das hilft?«, fragte er sie.
»Die Nikotinpflaster helfen jedenfalls nicht.«
»Ich habe ihr gesagt, sie soll’s mal mit Yoga probieren«, meinte Patrick schmunzelnd.
»Und ich habe ihr die Zigaretten aus der Handtasche geklaut.«
»Das ist konsequent!«
»Sie hat sich sowieso gleich neue gekauft.« Die große Frau seufzte tief.
Er legte das Buch wieder zurück auf die Theke, und Sorcha stopfte es in die Einkaufstüte. Bevor er ging, schaute er ihr nochmal ins Gesicht. Er erkannte sie bestimmt! Aber warum sagte er dann nichts? Obwohl Sorcha ja auch etwas hätte sagen können. ›Lange nicht gesehen‹ oder einfach nur ›Wie geht’s dir?‹. Sorcha war zwar gut darin, ihre Kunden zu beraten, aber Smalltalk war nicht ihr Ding. Meist sprach sie mit anderen Menschen nur über Bücher.
»Die Locken sind super«, meinte er aus heiterem Himmel. »Man sieht sich!« Er lächelte schelmisch. Die beiden verließen den Laden, und Sorcha starrte ihnen verwundert hinterher.
»Die Locken sind super«, wiederholte Eva amüsiert. »Der Kerl hat mit dir geflirtet! Eindeutig!« Sie lachte schallend, aber Sorcha verdrehte nur die Augen.
»Man sieht sich. Wenn er wiederkommt, fragte er dich bestimmt um ein Date!«
»Da wäre er nicht der Erste!« Sorcha hatte sich daran gewöhnt, dass ab und zu ein Kunde mit ihr flirtete.
»Du gefällst eben den meisten Männern«, meinte Eva lapidar.
»Hübsch zu sein ist ein Fluch«, grummelte Sorcha. »Mit mir flirten immer die Falschen.« ›Die Locken sind super‹ – also hatte er sie erkannt! Früher hatte sie diese Locken nämlich nicht gehabt.
»Aber er gefällt dir doch, oder nicht?«
»Patrick?« Sorcha schnaubte.
»Woher …? Er hat doch seinen Namen gar nicht genannt …«
»Ich kenne ihn von der Highschool. Er hat mir meinen ersten Kuss geklaut!« Sie spürte, wie die Hitze in ihre Wangen stieg. Sorcha wurde nie rot, weil ihr etwas peinlich war, sondern nur, weil der Zorn in ihr aufloderte.
»Im Ernst?« Eva machte große Augen, bevor sie reflexartig zur Tür schaute, durch welche die beiden gerade eben verschwunden waren.
»Ich war damals sehr verknallt in ihn«, gab Sorcha widerwillig zu. »Er hat mir das Herz gebrochen«, ergänzte sie theatralisch.
»Erzähl!« Eva stützte sich lässig mit dem Arm an der Theke ab, den Blick erwartungsvoll auf Sorcha gerichtet.
»Das ist eine peinliche Geschichte!«
»Peinliche Geschichten sind doch die besten!«
»Aber nicht für den, der sie erzählen muss!«
»Jetzt sei mal nicht so zimperlich!«
»Ich war ihm zu hässlich, okay?«
»Was?« Eva lachte ungläubig, während sie ihren Blick von Sorchas Haaransatz bis zu ihren schicken Stiefeletten schweifen ließ. »Du warst ihm zu hässlich? So gut sieht er nun auch nicht aus! Du bist doch eine Zehn, und dieser Kerl ist höchstens eine Acht!«
»Er hat vor seinen Freunden über mich gelästert. ›Ich steh nicht auf hässliche Mädchen‹, hat er gesagt.«
Evas Mund klappte erschrocken auf. »Echt jetzt?«, japste sie.
Sorcha nickte eifrig. »Sie haben sich über meine Haare, meinen kleinen Busen und meine Brille lustig gemacht.« Sorcha erinnerte sich noch an jedes Wort, das aus Patricks Mund und den Mündern seiner Freunde gekommen war. Jedes einzelne war wie ein Stich ins Herz gewesen. Damals war sie nach Hause gerannt, hatte sich in ihrem Zimmer verschanzt und stundenlang nur geheult. Sie war nicht stolz darauf! Aber in Patrick war sie schwer verknallt gewesen. Sie hatte Spaß mit ihm gehabt. Ständig hatte er im Mittelpunkt gestanden und immerzu Menschen um sich geschart. Mit Mädchen und Jungs war er gleichermaßen befreundet gewesen. Jeder hatte ihn gemocht, aber eine Freundin hatte er nicht gehabt. Sie hatten sich in der Schule immer nett unterhalten, also hatte sie ihn mal ins Studio eingeladen. Er war sportlich gewesen und hatte gerne Fußball gespielt. Kickboxen hatte er auch mal ausprobieren wollen.
Sie schüttelte energisch den Kopf. Niemals hätte sie gedacht, dass er so fies sein konnte! Seine nette Art war nur aufgesetzt gewesen. Genau wie Sorcha hatte auch er Pickel und eine Zahnspange gehabt. Seine war schneller rausgekommen als ihre, denn er hatte sie nur zwei Jahre lang getragen. Zudem war er ein echter Streber gewesen, aber niemand hatte ihn gemobbt. Seine extrovertierte Art, seine Hilfsbereitschaft und sein Humor hatten dazu geführt, dass ihn keiner ausgegrenzt hatte. Jeder hatte ihn cool gefunden.
»So ein Idiot«, murmelte Eva betroffen, während sie Sorcha verstohlen inspizierte. Die Brust war nicht mehr flach, ihr Haar war umwerfend – die Männer liebten es, offenbar auch Patrick! – und die dicke Brille ließ sie meist zu Hause. Die Kontaktlinsen trug sie nie länger als neun Stunden am Tag. Gleich nach der Arbeit nahm sie die Dinger raus. Vor Kurzem war ihr eine Linse unter das Augenlid gerutscht. So etwas war verdammt unangenehm!
»Danach mochte ich ihn nicht mehr!«, sagte Sorcha trotzig und warf mit einer energischen Handbewegung ihre blonde Lockenmähne zurück.
Sorcha hatte Patrick wirklich gern gehabt. Ihn zu küssen, hatte sie sehr viel Überwindung gekostet. Es war ihr nie leichtgefallen, aus sich herauszugehen, da sie sehr introvertiert war. Sie wollte lieber nicht daran denken, wie sie stundenlang in ihrem Zimmer gehockt hatte, seinen Namen in ihr Notizbuch geschrieben und mit etlichen Herzchen verziert hatte. Wie sie ihn angehimmelt hatte! Das war ihr heute noch peinlich. Die Liebe war immer peinlich. Die erste Liebe ganz besonders.
Aber Sorcha hatte ihre Lektion gelernt. Sie hatte kein weiteres Mal den ersten Schritt gemacht. Stattdessen hatte sie ihr Haar lang wachsen lassen und ihre Eltern angebettelt, ihr Kontaktlinsen zu kaufen. Sie hatte Patrick beweisen wollen, dass sie nicht hässlich war! Aber er hatte sie nicht länger beachtet, und Sorcha war sich dumm vorgekommen.
»Hatte er gar nicht Angst, dass du ihm für seine blöden Sprüche einen rechten Haken verpasst?«, witzelte Eva. Sie kannten sich erst seit zwei Jahren. Dennoch wusste Eva, dass Sorcha früher erfolgreich geboxt hatte. In der Schule hatte es niemand gewagt, sie offen zu mobben. Sie hatte ihre Mitschüler eingeschüchtert. Einer hatte sich mal über ihre schiefen Zähne lustig gemacht, da hatte sie ihm die Faust ins Gesicht gerammt. An das Drama, das darauf gefolgt war, erinnerte sie sich bis heute. Ihre Eltern hatten sich mit den Eltern des Jungen und der Schulleiterin getroffen. Sorcha hatte sich feierlich bei ihm entschuldigen müssen. Sie hätte ihre eigene Kraft unterschätzt, hatte sie behauptet. Dem Jungen war das Ganze peinlich gewesen, schließlich hatte ihn ein Mädchen verprügelt. Ihre Mom hatte genuschelt, so etwas käme bestimmt nie wieder vor. Ihr Dad hingegen hatte nur aufrecht mit verschränkten Armen und einem starren Gesicht
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Texte: Amelie Winter
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Tag der Veröffentlichung: 06.02.2023
ISBN: 978-3-7554-3173-2
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